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Die nützliche Erinnerung: Geschichtsschreibung, "mos maiorum" und die römische Identität Author(s): Francisco Pina Polo Source: Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte, Bd. 53, H. 2 (2004), pp. 147-172 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/4436721 . Accessed: 06/09/2013 20:17 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte. http://www.jstor.org This content downloaded from 129.93.16.3 on Fri, 6 Sep 2013 20:17:57 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Die nützliche Erinnerung: Geschichtsschreibung, "mos maiorum" und die römische Identität

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Die nützliche Erinnerung: Geschichtsschreibung, "mos maiorum" und die römische IdentitätAuthor(s): Francisco Pina PoloSource: Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte, Bd. 53, H. 2 (2004), pp. 147-172Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/4436721 .

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DIE NUTZLICHE ERINNERUNG: GESCHICHTSSCHREIBUNG, MOS MAIORUM

UND DIE ROMISCHE IDENTITAT

Die romische Aristokratie nahm den Sieg gegen Karthago und den Imperialis- mus im Mittelmeerraum zum AnlaB, die Geschichte ihrer Gemeinschaft aufzu- schreiben. Wichtigstes Ziel war die Klarung der Position im intemationalen Zusammenhang - insbesondere sollte die Grofe Roms in der Vergangenheit gegenuber den ostlichen Mittelmeerstaaten hervorgehoben werden. Dariiber hinaus sollte die Geschichtsschreibung die Form und soziookonomische Struk- tur des romischen Staates als Fortsetzung einer ruhmreichen Tradition rechtfer- tigen, die die soziale und politische Vormachtstellung der nobilitas ausdruck- lich legitimierte. Diese beiden wesentlichen Ziele bestimmten die Wahl der geschichtlichen Ereignisse, die in Erinnerung gerufen werden sollten und deren Eintragung und Ubermittlung jahrhundertelang der strengen Kontrolle gerade jener aristokratischen Familien oblag, die eine bis dahin noch nicht geschriebe- ne Geschichte zu ihrem eigenen Nutzen entwerfen konnten.

Der Wille, die Geschichte Roms erstmalig zundchst in griechischer und kurze Zeit spater in lateinischer Sprache zu schreiben, sowie die Notwendig- keit, die Eigenart der Romer anhand des mos maiorum1 zu definieren und zu konkretisieren, stehen in engem Zusammenhang mit dem romischen ,,Nationa- lismus".2 Die Darlegung der Zusammenhange, die von der nobilitas zu Beginn der romischen Geschichtsschreibung zwischen mos maiorum, Geschichte und ,,Nationalismus" konstruiert wurden, ist das Hauptanliegen des vorliegenden Beitrags.

* Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Projekts ,,Mos maiorum: la manipulaci6n politica de la tradici6n en la antigua Roma", das von der Regierung von Arag6n (Spanien) finanziert wurde.

I Zum Begriff mos maiorum H. Rech, Mos maiorum. Wesen und Wirkung der Tradition in Rom, Diss., Marburg 1936; B. Linke/M. Stemmier (Hgg.), Mos maiorum. Untersuchun- gen zu den Formen der Identitatsstiftung und Stabilisierung in der romischen Republik, Stuttgart 2000 (insbesondere W. B16sel, ,,Die Geschichte des Begriffes mos maiorum von den Anfangen bis zu Cicero", 25-97); M. Braun/A. Haltenhoff/F.-H. Mutschler (Hgg.), Moribus antiquis res stat Romana. Romische Werte und romische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., Munchen/Leipzig 2000.

2 Der Begriff Nationalismus entsteht eigentlich in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts und ist fuir fruhere Epochen nur begrenzt anwendbar. Die Identitatskonstruktion einer Gemeinschaft als wesentliches Element ist darin aber knapp zusammengefaBt. In diesem Sinne ist der Terminus ,,Nationalismus" hier verwendet.

Historia, Band LIII/2 (2004) i Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart

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148 FRANCISCO PINA POLO

Geschichte und Nationalismus

Wie alle Nationen war Rom eine ,,imagined community" in dem Sinne, in dem Anderson diesen Ausdruck benutzt hat.3 Lange wurde in Rom die Niederschrift wichtiger Ereignisse in Form von Chroniken praktiziert, und gleichzeitig wurden Erziihlungen und Legenden mundlich tradiert. Es bestand jedoch keine Notwen- digkeit, eine Geschichte als solche zu schreiben: Rom machte jahrhundertelang von der Schrift Gebrauch, jedoch nie zum Zweck der Geschichtsschreibung. Das Interesse der romischen Gemeinschaft an ihrer Vergangenheit bestand eindeutig bereits vor der Niederschrift ihrer Geschichte, aber erst am Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr. stellte sich die Frage ihrer zeitlichen, sozialen und geogra- phischen Definition. Die Geschichte ist ein grundlegendes Merkmal der Konti- nuitat einer Gesellschaft. So wie das Gedachtnis die Identitat eines Individuums begrundet, so festigt die Geschichte als kollektives Gedachtnis die Identitat einer Gemeinschaft und ermoglicht es dieser, sich selbst zu definieren und sich ihrer Existenz bewuBt zu werden.4 Dafur ist nicht nur eine gemeinsame Vergangenheit erforderlich, wesentlich ist ein gemeinsames Wissen um diese Vergangenheit.

Zur Festigung des Bildes eines ,,imaginierten Roms" kam es bereits in den letzten Jahren des 3. Jahrhunderts v. Chr. mit dem Werk des Fabius Pictor und in der ersten Halfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. mit den Geschichtswerken von Cincius Alimentus, Acilius und Postumius Albinus in griechischer Sprache so- wie des Cato und Cassius Hemina in lateinischer Sprache. Das bis dahin teilweise in Form von Mythologie uberlieferte Wissen wurde nun fiir die Geschichtsschrei- bung aufgegriffen, so daB aus fragwurdiger Mythologie respektierte Geschichte wurde. Um den Texten Glaubwurdigkeit zu verleihen, war eine gewisse Rationa- lisierung notwendig; ein Aufwand, der friher uberflussig gewesen war.

Als aufstrebende Macht in der Mittelmeerwelt muBte Rom seine GroBe und seine beruhmte Herkunft hervorheben. Damit benotigte Rom eine Geschichte in Schriftform und eine geschichtliche Erklarung seiner Ausdehnungspolitik. Das Imperium muBte auf einer glorreichen Vergangenheit, auf makellosen Sitten beruhen und in Institutionen verankert sein, die von weisen Vorfahren geschaf- fen worden waren. Mit einer eigenen Geschichte wurde einer bestimmten Gemeinschaft ihre Vergangenheit vor Augen gefiihrt und das BewuBtsein ihrer

3 B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationa-

lism, London 1991 ('1983). 4 G. Leff, History and Social Theory, New York 1971, 115. Vgl. D. Lowenthal, El pasado

es un pais extrafno, Madrid 1998 (ICambridge 1985), 288 und 311: ,,la difusi6n de toda forma de historia ... alienta el sentimiento de pertenencia a unas instituciones coherentes, estables y duraderas". J. Assmann, Das kulturelle Gedachtnis. Schrift, Erinnerung und

politische Identitat infruhen Hochkulturen, Munchen 1992, 23: ,,Die Schrift ermoglicht

als externalisiertes Gedachtnis eine ungeahnte Ausdehnung zur Wiederaufnahme gespei- cherter Mitteilungen und Informationen".

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 149

eigenen Wurde zuteil werden. So wurde den Rormem das Wissen um ihre Vergangenheit das bestatigen, was sie selbst waren. Die Vergangenheit erhielte Vorbildcharakter und vermittelte den Zeitgenossen ein Gefuhl von Sicherheit.

Mit diesem Ausdruck des romischen ,,Nationalismus" wurde eine Tradition der Selbstidentifizierung des romischen Volkes angestrebt. Bei einer soichen Tradition handelt es sich haufig um eine Erfindung, eine Mythifizierung der Vergangenheit, was allerdings ihre Wirkungskraft nicht beeintrachtigt.5 Eine Tradition ist genau in dem Grade wahr, in dem das Geschehen von der Gemein- schaft als Tradition anerkannt, ritualisiert und schlieBlich zu Geschichte wird. Dadurch erklirt sich, daB bei einer dem Nationalismus eigenen kollektiven Mythifizierung immer als erstes die Geschichte mythifiziert wird. Die Erfah- rungen der Vergangenheit eignen sich namlich hervorragend als Argumente zur Rechtfertigung zukunftiger Moglichkeiten: Die Vergangenheit wird als Quelle der Wahrheit empfunden und die Tradition als Handlungsanleitung zur indivi- duellen wie auch zur kollektiven Nutzung akzeptiert.

In jeder aus nationalistischer Sicht fixierten Geschichte lassen sich zwei Aspekte zum Prinzip der nationalen Identitat auffiihren: das Alter und die Kontinuitat eines Volkes einerseits und andererseits seine Verschiedenheit von anderen. Weit zuriickreichende Urspringe und dauerhafte Wesenszuge bezeu- gen die Abgrenzung eines Volkes gegenuber anderen Identitaten.6 Ein weiteres Merkmal des Nationalismus ist das Hervorheben der engen Beziehung zu den Vorfahren, die an der Entstehung der Nation beteiligt waren und dieser ihren Sinn verleihen. Die Vereinigung mit den Ahnen verschafft der Gemeinschaft ihre Glaubwurdigkeit durch die Bestatigung ihrer Kontinuitat.

Vaterland, Geschichte und Tradition sind also eng zusammenhangende Be- griffe. Jede Nation muB eine eigene Geschichte haben, um sich nach innen immer wieder neu zu behaupten, aber auch, um sich nach auBen hin zu differenzieren. Eine Nationalgeschichte verleiht den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft einen Zusammenhalt, indem sie nicht nur aufzeigt, was die Personen vereint, sondern auch, was sie voneinander trennt. Dadurch wird das BewuBtsein des ,,Wir" gegeniiber ,,den Anderen" gefestigt. Diese Differenzierung hat zur Folge, was Todorov die ,,nationale Praferenz" gegenuber anderen Volkern nennt.7

5 I. Fox, La invenci6n de Espania, Madrid 1997, 14: ,,No olvidemos que la construcci6n de una identidad nacional no trata siempre de lo veridico y que incluye de vez en cuando la mitificaci6n (hasta la falsificaci6n) de ciertos momentos hist6ricos". Bezeichnend ist der Untertitel des Werkes, das E. Hobsbawm dem Nationalismus widmete: Nations and Nationalism since 1788: Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990.

6 Cato (orig., 2,1 Chassignet und Beck/Walter = Serv., ad Verg. Aen., 1 1,715) verachtet die Ligurer, da sie unfahig seien, sich ihrer eigenen Ursprunge zu erinnern, was zweifelsfrei ein Zeichen von Barbarei sei.

7 T. Todorov, On Human Diversity. Nationalism, Racism and Exoticism in French Thought, Cambridge Mass./London 1993 (11989), 250: ,,a preference for one's own people over

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150 FRANCISCO PINA POLO

Beim Studium der Ursprunge Roms muB man eher von Genealogie als von Geschichte sprechen. Die Gemeinschaft wird als ein Geflecht von Verwandt- schaftsbeziehungen verstanden, deren Wurzeln bis zu einem weit entfemten, mythischen Vorfahren zuruckreichen. Die Romer zogen es vor, Trojaner und somit anders zu sein,8 wobei sie sich nicht scheuten, sich der Welt als das Ergebnis einer vielfaltigen ethnischen und kulturellen Mischung zu prasentie- ren. Ihre Prasenz in Latium fuhrten sie auf die Zeit unmittelbar nach dem Trojanischen Krieg zuruck, d.h. auf die Anfange der Geschichte der Mittel- meerwelt, wodurch ihre GroBe von Anfang an deutlich wurde.9 Als Stadt bestand Rom erst seit Romulus, aber tatsachlich hatte Roms Geschichte schon viel fruiher mit Aneas begonnen. Nach dessen Ankunft in Latium entwickelte sich eine romische Bevolkerung durch Genealogie bis zur tatsachlichen Grin- dung der Stadt, wie dies aus den Erzahlungen aller fruhen romischen Historiker implizit hervorgeht.1I

others (the ,national preference')"; 177: ,,in practice, the patriot is almost always also an ethnocentrist. No sooner has my relativist judgment been pronounced than I render it absolute: being a Frenchman, I declare that France is superior to all countries, not just for me but for everyone"; 181: ,,to defend and exalt one's fatherland means preferring it to other countries (and to humanity)".

8 A. Momigliano, ,,The Origins of Rome", CAH VII 22, Cambridge 1989, 56. Der erste Ideologe des baskischen Nationalismus, Chaho, erfand einen Mann namens Aitor, den er als Vorfahren aller Basken und als universellen Vater (aus dem Baskischen ,,aita" = ,,Vater") darstellte, um die Basken von alien anderen iberischen V6lkem, die vermeintli- che Nachkommlinge des Tubal waren, abzugrenzen. Damit zog er auch eine deutliche Grenze zwischen Basken und Semiten, da Aitor ein Arier gewesen sei (J. Juaristi, El linaje de Aitor: la invencio'n de la tradicion vasca, Madrid 1987, 96-97).

9 P. Nora, ,,Entre memoire et histoire. La probl6matique des lieux", in: P. Nora (Hg.), Les lieux de memoire. 1. La Republique, Paris 1997, XXXI: ,,Plus les origines etaient grandes, plus elles nous grandissaient. Car c'est nous que nous venerions a travers le passe". In diesem Kontext der Nutzung der ,,Geschichte" sind wiua Q chaftliche Argumente zur Unterstutzung von Theorien nicht erforderlich. Z.B. beschreibt Davant den Ursprung des baskischen Volkes: ,,El origen de los Vascos ... se pierde en la noche de los tiempos"; die Basken seien ,,los descendientes no mestizos de las poblaciones que ocuparon Europa en el paleolitico", und es gabe eine Verbindung zwischen den Rassen des Palaolithikums und der Gegenwart (J.L. Davant, Historia del pueblo vasco, Zarauz 1977, 18 und 166).

10 Bezeichnend ist, daB Cato der trojanischen Legende von der Grundung Roms ihre nahezu endgUltige Form gab und ihr dadurch als Geschichtsschreiber Authentizitat verlieh (vgl. J. Perret, Les origines de la 1W6gende troyenne de Rome (281-31), Paris 1942, 540-541). Seine Erzahlung bildete die Grundlage fiir Vergils Aeneis, ein Gedicht Uber nationale Identitat, die Aneas zum Vorfahren der Romer sowie aller Italiker machte: ,,Vergil begins the project of getting Rome and the Italians to cohere very simply, by providing them with a common source" (K. Toll, ,,Making Roman-ness and the Aeneid", Classical Antiquity 16 [1997] 42). So erreicht die Entwicklung der historisch-kulturellen Verbindung der Romer mit den Italikern, die schon Cato in seinen Origines implizit verfochten hatte, mit der Aeneis ihren Hohepunkt.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 151

Anders als in der griechischen Welt hatte in Rom die bis zur Zeit des Augustus geschriebene Geschichte immer einen nationalen und ethnozentri- schen, also keinen universellen Charakter:11 Wenn die romische Geschichte Weltgeschichte wurde, war dies eine Folge der Tatsache, daB sich Rom in einem Reich von weltumspannenden Dimensionen entwickelte, doch von Inte- resse blieb einzig und allein Rom. Die Werke Fabius Pictors, des Autors der ersten Gesamtnationalgeschichte Roms,12 und Catos, des Verfassers der ersten Geschichte Roms in lateinischer Sprache, sind Meilensteine der Geschichts- schreibung. Die Schriftform, das Ansehen und die gesellschaftliche Stellung verliehen den Verfassem auctoritas,13 und ihre Arbeiten wurden zu einem Anhaltspunkt fur all jene, die in den folgenden Jahrzehnten romische Geschich- te schrieben. Die Tatsache, daB Rom nun zum ersten Mal eine Geschichte in Schriftform besaB, verlieh dem kollektiven Gedachtnis eine Stabilitat, die auch in den folgenden Jahrhunderten andauerte.14

Sowohl Fabius Pictors als auch Catos Werk liegt ein romischer ,,Nationalis- mus" zugrunde. Trotz der zeitlichen Nahe ihres Schaffens wurden sie jedoch von unterschiedlichen geschichtlichen Gegebenheiten beeinfluBt. Timaios hat- te mit seinem Werk in der griechischen Welt das Interesse fur Rom geweckt, aber aus romischer Sicht konnte das nicht ausreichen. In Zusammenhang mit dem endgultigen Sieg uber Karthago muBte sich Rom als Zivilisation mit einer Geschichte darstellen, die jener der hellenistischen Staaten ebenburtig war. Darin bestand die Aufgabe der ersten Historiker Roms.

1 1 A. Momigliano, ,,Fabius Pictor and the Origins of National History", in: Ders., The Classical Foundations of Modern Historiography, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990, 81ff.: Die Romer schufen den Prototyp einer modernen nationalen Geschichte, wozu die Griechen aus Mangel an politischer Einheit nicht in der Lage waren; umgekehrt ,,the Romans had been both a city and a nation" (S. 85). Vgl. C.W. Fornara, The Nature of History in Ancient Greece and Rome, Berkeley/Los Angeles/London 1983, 41 und 53.

12 Momigliano, ,,Fabius Pictor" (wie Anm. I 1) 108: ,,(Fabius Pictor) created the form for the expression of national consciousness: possibly he contributes to the creation of national consciousness itself, such as we understand it". D. Timpe, ,,Fabius Pictor und die Anfan- ge der romischen Historiographie", ANRW I 2 (1972) 928-969, bezeichnet Fabius Pictor als ,,Archegeten" der Geschichte Roms. Vgl. Liv., 1,44,2: Fabius Pictor scriptorum antiquissimus; 1,55,8: antiquior est (Fabius); Dion. Hal., ant., 7,71,1.

13 Plin., n.h., 7,100: Cato ... optimus orator, optimus imperator, optimus senator; Quint., 12,11,23. U. Walter, ,,Die Botschaft des Mediums. Uberlegungen zum Sinnpotential von Historiographie im Kontext der romischen Geschichtskultur zur Zeit der Republik", in: G. Melville (Hg.), Institutionalitdt und Symbolisierung, Koln/Weimar/Wien 2001, 269.

14 Lowenthal, El pasado es un pais extrano (wie Anm. 4) 312: ,,la estabilidad de la historia se debe en su mayor parte a su difusi6n en forma impresa"; 337: ,,S6lo la conservaci6n y la difusi6n del conocimiento hist6rico a trav6s de la escritura ... diferencia claramente pasado y presente".

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Fabius Pictor ubemahm sicherlich griechische historiographische Muster und schrieb auf Griechisch, da dies die Sprache der Kultur jener Zeit war.15 Diese Entscheidung beruhte jedoch nicht nur auf literarischen Kriterien; es lag ihr vielmehr auch eine wesentliche ideologische Komponente zugrunde. Hatte Fabius Pictor sein Werk in lateinischer Sprache verfaBt, so hatte es kaum von der Bevolkerung Italiens gelesen werden konnen. Des Griechischen dagegen war eine groBe Anzahl von Menschen im Mittelmeerraum machtig. In der griechisch-hellenistischen Welt besaB die Geschichtsschreibung eine lange Tra- dition. Die Geschichte Roms konnte der AuBenwelt am besten auf Griechisch und entsprechend den griechischen Regeln vermittelt werden; ihre Glaubwur- digkeit erhielt sie durch ihre literarische und ,,wissenschaftliche" Form.'6 Andererseits schrieben in derselben Epoche Naevius und Ennius eine histori- sche Epik auf Latein, die fur den intemen Gebrauch gedacht war.17

Auch uber die Verwendung des Griechischen hinaus lassen gewisse Merk- male in Fabius Pictors Werk darauf schlieBen, daB er sich vorwiegend an ein griechisch-hellenistisches Publikum wandte. Wenngleich er seine chronologi- sche Struktur im allgemeinen auf romische Ereignisse stutzt, fuhrt er an, daB Rom im ersten Jahr der achten Olympiade gegrundet wurde, womit er zweifel- los das Verstandnis seiner griechischen Leserschaft erleichtert.18 Auch die Angabe von Geldbetragen in Talenten und die detaillierte Beschreibung des Zeremoniells wahrend der Ludi lassen eine Leserschaft vermuten, die mit der

15 Momigliano, ,,Fabius Pictor" (wie Anm. 11) 99: ,,We should not be far from the truth if we said that Fabius wrote history in Greek because everybody else was doing so". Vgl. auch E.S. Gruen, The Hellenistic World and the Coming of Rome, Los Angeles 1984, 254. Zur Verwendung hellenistischer Modelle durch Fabius Pictor siehe D. Timpe, ,,Mund- lichkeit und Schriftlichkeit als Basis der fruhromischen Uberlieferung", in: J. von Ungem- Sternberg/H. Reinau (Hgg.), Vergangenheit in mundlicher Uberlieferung, Stuttgart 1988, 275-277.

16 H. Beck/U. Walter (Hgg.), Die fruhen romischen Historiker 1. Von Fabius Pictor bis Cn. Gellius, Darmstadt 2001, 24.

17 Zur inhaltlichen Ahnlichkeit der ,,nach aulen gerichteten Geschichtsschreibung" und des ,,nach innen gerichteten Epos" siehe F.-H. Mutschler, ,,Norm und Erinnerung: Anmer- kungen zur sozialen Funktion von historischem Epos und Geschichtsschreibung im 2. Jh. v. Chr.", in: Braun/Haltenhoff/Mutschler (Hgg.), Moribus antiquis (wie Anm. 1) 89-105. Zum Epos als ideologischem und kulturellem Erbe der nationalen romischen Gemein- schaft M. Citroni, Poesia e lettori in Roma antica. Forme della comunicazione letteraria, Roma/Bari 1995, 33-37. Allgemeines in S.M. Goldberg, Epic in Republican Rome, Oxford 1995.

18 F. Pictor, Fr. 8 Chassignet und Beck/Walter = Dion. Hal., ant., 1,74,1. Aus demselben Grund datiert Cincius Alimentus in seiner ebenfalls auf Griechisch geschriebenen Ge- schichte Roms die Stadtgrundung in das vierte Jahr der achten Olympiade. Vgl. auch U. Knoche, ,,Roms alteste Geschichtsschreibung" (zuerst 1939), in: V. Poschl (Hg.), Romi- sche Geschichtsschreibung, Darmstadt 1969, 234; M. Chassignet (Hg.), L'Annalistique romaine, Paris 1996, LII; Beck/Walter (Hgg.), FRH I (wie Anm. 16) 91-92; 141-142.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 153

romischen Kultur nicht vertraut war.19 Wie Walter aufzeigt,20 ist das Entschei- dende jedoch die Grundbotschaft, die aus den erhaltenen Fragmenten des Werkes von Fabius Pictor hervorgeht: Der Senator und Geschichtsschreiber betont, daB Rom bereits seit seiner Grundung als Staat eine gute institutionelle Organisation, wirtschaftlichen Reichtum und eine bedeutende militarische Macht besitzt.

Fabius Pictor wollte Rom der Welt vorstellen und schrieb auf Griechisch, um seine Botschaft einem breiten, gebildeten Publikum zu vermitteln, das auch einen kleinen Teil der romischen Elite einschloB.21 Er hatte sein Werk jedoch in erster Linie fur Griechen geschrieben, weil er der Welt Roms Macht aufzeigen wollte. Moglicherweise hat Pictor im Jahre 216, als er als romischer Botschaf- ter zum Befragen des Orakels nach Delphi gesandt wurde, den EntschluB gefaBt, eine Geschichte Roms auf Griechisch zu schreiben.22 Am Ort des Heiligtums von Delphi, wo traditionsgemaB Menschen aus den entfemtesten Gebieten des Mittelmeerraums zusammentrafen, wurde sich Pictor moglicherweise der Unkenntnis der Geschichte Roms in der hellenistischen Welt bewuBt. Des gleichen wollte er die romische Sicht bezuglich der Konflikte mit den Karthagern dem propunischen Bericht des Philinos sowie den Schrif- ten, die Silenos aus Calacte oder Sosylos aus Sparta im Auftrag Hannibals schrieben, entgegensetzen.23

Knapp eine Generation spater zeigte Cato, daB Geschichtsschreibung nicht unbedingt auf Griechisch erfolgen muBte.24 Dies war durchaus nicht selbstver- standlich. Nicht nur Fabius Pictor und Cincius Alimentus hatten vor ihm auf Griechisch geschrieben; fast gleichzeitig mit Cato schrieben auch C. Acilius und A. Postumius Albinus, Senatoren mit einem gewissen EinfluB auf die romische Politik ihrer Zeit, die Geschichte Roms von ihren Anfangen bis ins 2. Jh. noch auf Griechisch.25

19 Beschreibung der Ludi in Fr. 20 Chassignet und Beck/Walter = Dion. Hal., ant., 7,71,1- 73,5; Tarquinius zahlte vierzig Talente fur den Bau eines Tempels, der luppiter Capitoli- nus gewidmet war: Fr. 15 Chassignet und Beck/Walter = Liv., 1,55,7-9.

20 U. Walter, ,,Die Botschaft des Mediums" (wie Anm. 13) 264-265. 21 Beck/Walter (Hgg.), FRH I (wie Anm. 16) 58-59. 22 Zur Gesandtschaft Pictors in Delphi, Liv., 22,57,5; 23,11,1-6; Plut., Fab., 18; App.,

Hann., 27. Vgl. Knoche, ,,Roms alteste Geschichtsschreibung" (wie Anm. 18) 233; Chassignet (Hg.), L'Annalistique romaine (wie Anm. 18) L-LIII; Beck/Walter (Hgg.), FRH I (wie Anm. 16) 57.

23 Pol., 1,14,1-3 (vgl. 3,8,1-8) betont die Karthago-freundliche Haltung des Philinos im Gegensatz zur proromischen Position Fabius Pictors. Vgl. B.W. Frier, Libri Annales Pontificum Maximorum: The Origins of the Annalistic Tradition, Roma 1979, 282.

24 Im aligemeinen zu M. Porcius Cato D. Kienast, Cato der Zensor, Heidelberg 1954; A.E. Astin, Cato the Censor, Oxford 1978; J.-N. Robert, Caton ou le citoyen, Paris 2002.

25 Cato belachelt Postumius Albinus' Bitte, man m6ge seine mangelhafte Kenntnis der griechischen Sprache entschuldigen (Pol., 39,1).

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154 FRANCISCO PINA POLO

Als Cato seine Origines verfaBte, war die politische Situation im Mittel- meerraum eine vollig andere, da er sein Werk gegen 168 begann,26 als die militarische Ubermacht Roms und der Zerfall des makedonischen Reiches feststanden. Nun sah es Cato als seine Aufgabe an, die kulturelle und morali- sche Vorherrschaft Roms und der Romer zu verdeutlichen. Von dieser Uberle- genheit sollten nicht nur die Besiegten, sondern vielmehr auch die Romer selbst uberzeugt werden. Die griechische Sprache zu verwenden ware absurd gewesen, hatte er doch damit die Uberlegenheit der hellenischen Kultur anerkannt, wiihrend er genau das Gegenteil bezweckte.27 Wie ware nach dem Sieg bei Pydna28 die griechische Sprache zu rechtfertigen gewesen, die Sprache von Volkern, die, obgleich gelehrt, ein militarisches Debakel und in den Augen der Romer sicher auch eine moralische Niederlage gegenuiber Rom erlitten hatten?29

In diesem Rahmen steht die Einfuhrung von Latein als Sprache fur die Geschichtsschreibung fur einen kulturellen ,,Nationalismus", ausgehend von einer unangefochtenen Uberlegenheit der romischen Zivilisation und ihrer

26 Im zweiten Buch (orig., 2,16 Chassignet und Beck/Walter = Plin., n.h., 3,114) wird der Krieg gegen Perseus als chronologischer Bezug zur Grundung Amerias erwahnt. Vgl. Nep., Cato 3,3: (Cato) senex historias scribere instituit. Dazu M. Chassignet, ,,Caton et l'imp6rialisme romain au lIe siecle av.J.-C. d'apres les Origines", Latomus 46 (1987) 288.

27 Eher als ein Gegner der griechischen Zivilisation war Cato vielmehr ein Verfechter der romischen Kultur (dazu E.S. Gruen, Culture and National Identity in Republican Rome, Ithaca, New York 1992, 52-83; M. Jehne, ,,Cato und die Bewahrung der traditionellen res publica", in: G. Vogt-Spira/B. Rommel [Hgg.], Rezeption und Identitat, Stuttgart 1999, 1 18). Es steht fest, daB Cato von der griechischen Literatur, die er gut kannte, beeinfluBt wurde. Dies wird ersichtlich aus Catos methodischer Sicht; aulerdem nahm er konkrete Elemente der griechischen Mythologie auf. Allerdings bediente er sich in seinem Werk nicht der griechischen Chronologie. Den Ursprung Roms datierte er 432 Jahre nach dem trojanischen Krieg (1,17 Chassignet und Beck/Walter = Dion. Hal., ant., 1,74,2). Wie bei der Entscheidung fur die lateinische Sprache liegt auch hier eine ideologische Erklarung zugrunde: Cato sucht nach einem universellen Ereignis, das als Anfang der Geschichte des Mittelmeerraums anerkannt ist, statt ein ausschlieBlich griechisches Ereignis wie die Olympiaden heranzuziehen. M. Chassignet, Caton. Les Origines, Paris 1986, 15, ist der Ansicht, diese unubliche Datierungsweise musse aus einer griechischen Quelle stammen.

28 Die Bedeutung des romischen Sieges uber Perseus erschlieBt sich aus der in Catos Geschichtswerk enthaltenen Rede Pro Rhodensibus (orig., 5,3 Chassignet und Beck/ Walter = Gell., 6,3,14; 16; 26; 36-38; 50). Der Redner betont darin, daB Rom zu diesem Zeitpunkt im Mittelmeerraum keine ernst zu nehmenden Gegner besitzt.

29 F. Klingner, ,,Cato Censorius und die Krisis des r6mischen Volkes", Die Antike 10 (1934) 257; E. Badian, ,,The Early Historians", in: T.A. Dorey (Hg.), Latin Historians, London 1966, 9-10. E. Gabba, ,,Il consenso popolare alla politica espansionistica romana fra III e II sec. a.C.", in: W.V. Harris (Hg.), The Imperialism of Mid-Republican Rome, Roma 1984, 126, zeigt, wie die militarische Vorherrschaft Roms uber die griechischen Staaten die ausdruckliche oder stillschweigende Anerkennung der kulturellen Uberlegenheit Grie- chenlands relativierte.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 155

Ausbreitung im gesamten Mittelmeergebiet: Wenn es eine politische Abhan- gigkeit der Griechen von den Romem gab, konnte eine kulturelle Unterord- nung Roms gegenuber den Griechen nicht langer hingenommen werden. Der Wahl der lateinischen Sprache liegt eine deutliche politische Botschaft zugrunde. Die Verwendung einer gemeinsamen, der Bevolkerung eigenen Sprache starkte aus einer ,,nationalistischen" Perspektive die Antriebskrafte der kollektiven Identitat der Gemeinschaft.30 Dadurch eroffnete Cato der lateinischen Ge- schichtsschreibung einen Weg, der ebenso wenig ruckgangig gemacht werden konnte wie das neue Bild der Romer von sich selbst und der sie umgebenden Welt.

Laut Nepos3' gleicht die chronologische Struktur der sieben Bande der Origines jener aus Fabius Pictors Werk. Der erste Teil war den Ursprungen und der Zeit der Monarchie Roms gewidmet; der zweite beschrieb die Zeit zwischen den Punischen Kriegen und Catos Tod. Die Besonderheit dieses Werkes in Bezug auf die Vorfahren sowie die spateren Geschichtsschreiber Roms lag in der Beschaftigung mit den italischen civitates, deren Ursprung Cato erforsch- te.32 Schon die Tatsache, daB er Italien in eine Geschichte Roms einbezieht, laBt Catos Absichten erkennen: Die Vergangenheit der Italiker ist durchaus von Interesse, da ihr gesamtes Gebiet dem romischen Staat einverleibt wurde. Man kann von einem integrierenden ,,Nationalismus" sprechen: Die Romer waren

30 Gruen, Culture and National Identity (wie Anm. 27) 81-82; C. Letta, ,,L' 'Italia dei mores romani' nelle Origines di Catone", Athenaeum 62 (1984) 24, betont die Bedeutung der Origines fur Catos ,,ideologia nazionalistica".

31 Nep., Cato 3,3-4. 32 Cat., orig., 1,4 Chassignet und Beck/Walter = Dion. Hal., 1,1 1,1. Catos Beweggrunde,

ausnahmsweise die Geschichte italischer Stadte in sein Werk aufzunehmen, wurden bereits umfassend diskutiert. Nach Astin, Cato the Censor (wie Anm. 24) 227-231, hat sich Cato moglicherweise an Timaios orientiert, indem er bei den Nachbarvolkem Roms von einer kulturellen Einheit ausging. Jedenfalls erkennt Astin in Catos Werk keinen ideologischen Hintergrund. Letta (,,L' 'Italia dei mores romanii" [wie Anm. 30] 416ff.) hingegen vermutet, Cato wollte die kulturelle Einheit auf eine ethnische Grundlage Roms und ganz Italiens stutzen. Die Moglichkeit einer ,,jtalienidee", eines ,,Italiengedanken" bzw. der ,,unity of the Italian people" als politisches Konzept bei Cato ist von verschiede- nen Autoren verfochten worden: Kienast, Cato der Zensor (wie Anm. 24) 108 und 135; R.E. Smith, ,,Cato Censorius", G&R 9 (1940) 164; Chassignet, ,,Caton et l'imperialisme romain" (wie Anm. 26) 291-293. Th. Hantos, ,,Cato Censorius. Die Grundgedanken seiner Politik", in: P. Kneissl/V. Losemann (Hgg.), Imperium Romanum. Studien zur Geschichte und Rezeption, Stuttgart 1998, 317-333, vermutet, aus den erhaltenen Texten lasse sich nicht auf die Einheit, ,,sondern die Vielheit Italiens" (326) schlieBen, die Cato hervorheben wollte, als er den italischen Aristokratien anhand der romischen Geschichte die Autoritat Roms vor Augen fuhren wollte (327). W. Kierdorf, ,,Catos ,Origines' und die Anfange der romischen Geschichtsschreibung", Chiron 10 (1980) 209-221, vermutet, die Italiker an sich interessierten Cato nicht; sie seien nur als Verbundete oder Gegner Roms bzw. als Angehorige seines Imperiums von Bedeutung.

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die Hauptpersonen der Geschichte ihrer Stadt, aber die Tatsache, daB ganz Italien erobert wurde, erlaubte vorzuschlagen, Italien ware eigentlich Rom.

Parallel zur Ausdehnung des romischen Staates im Mittelmeerraum findet im 2. Jh. v. Chr. eine Damonisierung des Gegners, eine negative Charakterisie- rung ,,der Anderen", statt, unabhangig davon, ob sie nun Griechen oder Barba- ren sind.33 Bei dieser Entwicklung ist es notwendig, die Rolle der Italiker als socii zu unterstreichen, als Alliierte, die zwar eine niedrigere rechtliche Stel- lung einnehmen, jedoch eine politisch privilegierte Beziehung zu Rom haben und mit den Romern auch kulturelle und moralische Merkmale teilen: Gegenu- ber ,,den Anderen" werden die Italiker von den Romrnem als zugehorig akzep- tiert. Diese Eigenheiten betont Cato, wenn er Italiae disciplina et vita lobt.34 Catos Werk war jedoch trotz der Erwahnung von italischen Stadten eine natio- nale Geschichte Roms. Interessant ist, daB die Romer weder wahrend der Eroberung Italiens noch danach eine Niederschrift ihrer Geschichte fur erfor- derlich hielten; sie taten es vielmehr, um sich den Volkern im Mittelmeerraum zu zeigen und um sich von ihnen abzugrenzen. Catos Modell ist somit gepragt einerseits durch die Integration der Italiker in das Romertum und andererseits durch die Differenzierung von den unterlegenen Griechen.

Abgesehen von der Bedeutung, die er den Italikern beimiBt - und auch von der Anonymisierung der Protagonisten in der Geschichte Roms -, ist die Verwendung des Latein auf jeden Fall die ausschlaggebende Neuigkeit in Catos Geschichtswerk. Cato schrieb nicht fur die Welt, sondern fur die Romer und folglich auf Latein.35 Damit war er der Erste, der das romische Identitatsgefuhl literarisch verbreitete. Seine Botschaft richtete sich insbesondere an die romi- sche Aristokratie und bestand im Wesentlichen darin, daB eine Uberwindung ihrer Komplexe gegenuber den Griechen erforderlich sei. Eine angebliche moralische Uberlegenheit der Romer implizierte eine Wachsamkeit gegenuber den schadlichen Einflussen aus dem ,,Ausland" und der vermeintlichen kosmo- politischen Dekadenz. Die Rormer muBten eine Universalitat des Imperiums anstreben, jedoch bei gleichzeitiger Erhaltung ihrer Eigenart. Dazu war eine genaue Definition dessen notig, was Cato als genuin romische Werte verstand.

In jeder nationalistischen Geschichtsschreibung wird die moralische Uber- legenheit der Gemeinschaft betont, deren Geschichte als vorbildlich dargestelilt wird. Auch Cato verteidigte in seinen politischen und literarischen Aktivitaten sowie in seiner Geschichtsschreibung einen moralischen ,,Nationalismus": Rom nahm aus ethischer Sicht eine Vormachtstellung gegenuber anderen Volkern

33 Gabba, ,,II consenso popolare" (wie Anm. 29) 125. 34 Cat., orig., 3,9 Chassignet und Beck/Walter = Serv., ad Verg. Aen., 9,600. 35 Mutschler, ,,Norm und Erinnerung" (wie Anm. 17) 11 1: ,,Was er (Cato) zu sagen hatte,

hatte er nicht wie die ersten Geschichtsschreiber Roms den Griechen, sondern seinen senatorischen Standesgenossen, daruberhinaus den Angehorigen des sich herausbilden- den Ritterstandes und allenfalls noch den lokalen Eliten Italiens zu sagen".

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ein. Das ging aus seiner Geschichte und insbesondere aus dem mos maiorum hervor. Cato war jedoch der Ansicht, daB selbstverstandlich nur das Verhalten der Elite der gesamten Gemeinschaft als Vorbild dienen konnte.

Cato kritisiert die in tabula apudpontificem enthaltenen Daten, da er diesen Angaben, wie z.B. den Getreidepreisen und Eklipsen, keine groBe Bedeutung beimit.36 Fur ihn sind andere Ereignisse wichtiger. Er berucksichtigt in seiner Geschichte jene Phimnomene, die fur die Gemeinschaft forderlich und muster- haft sind: Abgesehen von der Vermittlung reiner Information liegt ihm die patriotische und moralische Ausbildung seiner Leser am Herzen.37 Neben der chronologischen und faktischen Gliederung eines Fabius Pictor38 baut Cato in seinen Origines eine ideologische Struktur auf, auf deren Grundlage das romi- sche Volk aus der Perspektive der Fuhrungsschicht seiner Zeit definiert wird. Die Interessen der Herrschenden des zweiten Jahrhunderts v. Chr. stehen dabei im Vordergrund.

Verwaltung und Kontrolle des Gedachtnisses

An dieser Stelle stellt sich die Frage, wer in Rom fur die Schaffung und Aufrechterhaltung dieser von den fruhen romischen Historikern bestatigten Tradition, die von ihnen in eine notwendige Wirklichkeit umgewandelt wurde, verantwortlich war. Herrschende Klassen neigen dazu, die Vergangenheit ihrer Gemeinschaft nach den eigenen Bedurfnissen zu gestalten. Zur Vermeidung einer Manipulation wird heute die Darstellung geschichtlicher Ereignisse pro-

36 Cat., orig., 4,1 Chassignet und Beck/Walter = Gell., 2,28,4. Allerdings scheint aus Texten Ciceros (de orat., 2,52) und Servius' (ad Verg. Aen., 1,373) hervorzugehen, daB in den pontifizischen Archiven sehr wohl bedeutende politische und militarische Ereignisse vermerkt wurden. Vgl. dazu Momigliano, ,,Fabius Pictor" (wie Anm. 11) 95-97, der vermutet, die Annales Maximi konnten zum Zeitpunkt ihrer Veroffentlichung Ende des 2. Jh. v. Chr. manipuliert worden sein und Material enthalten, das bereits von den Histori- kern in jenem Jahrhundert gesammelt worden war.

37 Diesen Zweck erfUllten die romischen exempla, die mit den griechischen Verhaltensmu- stern vergleichbar sind. So wird z.B. das mutige Verhalten des Militartribunen Q. Caedi- cius im Jahre 258 v. Chr. gelobt, ahnlich dem beispielhaften patriotischen Opfer des Griechen Leonidas (Cat., orig., 4,7a Chassignet und Beck/Walter = Gell., 3,7,1-19). Ein ahnlicher moralischer Eifer ist auch in den Fragmenten I und 2 (Peter) von Sempronius Asellio zu finden (vgl. Gell., 5,18,8-9), sowie bei Cicero, der die Geschichte als magistra vitae bezeichnet (de orat., 2,35-36) und sie zu einem Instrument moralischer Erziehung erhebt. Des weiteren Liv., praef., 10; Sall., bell. lug., 4,5.

38 Fabius Pictor markierte mit dem Dezemvirat den Endpunkt der ersten Periode der romi- schen Geschichte und stellte den Ersten Punischen Krieg als Wendepunkt der republika- nischen Geschichte dar (Chassignet, Caton. Les Origines [wie Anm. 27] XXIII; Kierdorf, ,,Catos ,Origines"' [wie Anm. 32] 223).

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fessionellen Geschichtsschreibern uberlassen; Historiker und Geschichtsdo- zenten werden damit beauftragt, und in der Vielfalt der Ansichten und Interpre- tationen liegt ein gewisser Schutz gegen die einseitige Instrumentalisierung der Geschichte. In Rom hingegen oblag die gesamte Kultur und Bildung der Aristo- kratie, und ihre Uberlieferung wurde grundsatzlich im Familienkreis realisiert. Ein offentliches Bildungssystem gab es nicht, und nur wohlhabende Familien konnten Privatlehrer beschaftigen.

Wenn die Fixierung von Traditionen fur die Herausbildung einer nationalen Identitat weitgehend als ideologisch-literarische Arbeit verstanden wird, so war in Rom ausschlieBlich die Aristokratie dazu befahigt; sie bestimmte die natio- nalen Werte und gab diese von Generation zu Generation weiter. Der einge- schrankte Zugang zu Kultur und Bildung verhinderte das Entstehen einer alter- nativen nationalen Geschichte, es sei denn, diese hatte sich innerhalb der Elite selbst entwickelt. Durch den Konsens der Aristokratie bezuglich der Grundzu- ge der Geschichte wurde diese Diskrepanz nicht mehr wahrgenommen bzw. blieb auf eine minimale Ausdrucksform beschrankt.

Die in Rom seit Fabius Pictor geschriebene Geschichte reprasentiert eigent- lich nicht das ,,kollektive Gedachtnis", sondern das Gedachtnis der an der Spitze des Staates stehenden Aristokratie, wobei die Projektion ihrer Ideale und ideolo- gischen Grundsatze mit einflieBt. Es handelt sich folglich um ein selektives Gedachtnis, ein Klassengedachtnis. Gehen wir von dem von Nora aufgezeigten Gegensatz zwischen den Begriffen ,,Gedachtnis" und ,,Geschichte" aus,39 so war die romische Aristokratie eine Klasse mit Gedachtnis und Geschichte. Die Plebs hingegen besaB keine eigene Geschichte, aber sehr wohl ein eigenes Gedachtnis, das oftmals in Widerspruch zur Version der Geschichte der Oberschicht stand.

Einige Beispiele sind bekannt, die auf diese Diskrepanz deuten. Im Jahr 121 v. Chr. gab Opimius den Bau des Tempels der Concordia in Auftrag, der auf dem Forum als ,,lieu de memoire" an den Sieg der Oligarchie uber den inneren Feind erinnern sollte. Der Tempel war kein Zeichen der Versohnung aller romischen Burger, sondern stand fur die symbolische Sakralisierung der Strafe der Anstifter und Teilnehmer eines Aktes, den die meisten Aristokraten fur eine seditio hielten, fur eine fortdauemde Erinnerung an das unangemessene politi- sche Verhalten der Volkstribunen Tiberius und Caius Gracchus. Fur die Plebs jedoch wurden die beiden Bruder zu Martyrem. Da es nicht moglich war, den Grabern der Volkstribunen zu huldigen, denn die Morder hatten ihre Leichen in

den Tiber geworfen, verehrte die Plebs die Orte der Verbrechen als eigene ,,lieux de memoire" und stellte spontan Statuen der Gracchen auf.40

39 Nora, ,,Entre memoire et histoire" (wie Anm. 9) XIX.

40 Plut., C. Gr., 17,8-9. Vgl. F. Marco Sim6n/F. Pina Polo, ,,Concordia y libertas como

polos de referencia religiosa en la lucha politica de la Repu'blica tardia", Geri6n 18 (2000)

261-292; F. Marco Sim6n/F. Pina Polo, ,,Mario Gratidiano, los compita y la religiosidad

popular a fines de la Republica", Klio 82 (2000) 154-170.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die r6mische Identitat 159

Bereits vor der Existenz einer geschriebenen Geschichte Roms achtete die Aristokratie streng auf die Einhaltung von Verhaltensvorschriften, die in den exempla maiorum vorgegeben waren und verbreitet wurden, sowie auf die Uberlieferung geschichtlicher Ereignisse.41 Jahrhundertelang waren die ponti- fices damit beauftragt, relevante Daten uber und fur die Gemeinschaft auszu- wahlen.42 Damit schufen sie einen Grundbestand an Fakten, die spater fur die Geschichtsschreibung von groBem Nutzen waren. Sie waren hieromnemones, wie sie gelegentlich in griechischen Quellen genannt werden.43 Die Mitglieder der Aristokratie, die uber die Beziehungen zwischen Gottern und Gemeinschaft wachten, verwalteten auf diese Weise auch das Gedachtnis der Romer; ihre auctoritas rustete die von diesen Spezialisten gesammelten Erinnerungen mit Glaubwurdigkeit aus.44

Die Daten, die in die Geschichte Roms eingehen sollten, stammten aber nicht nur aus den Archiven der pontifices. Auch die Theaterauffuhrungen in den Ludi publici eigneten sich dazu, ein breites Publikum uber bestimmte Ereignis- se in Kenntnis zu setzen, so daB sie ein Mittel fur die Sozialisierung des kollektiven Gedachtnisses wurden.45 Entscheidend war jedoch, daB die Inhalte

41 Den Zusammenhang zwischen exempla und mos maiorum beschreibt K.-J. Holkeskamp, ,,Exempla und mos maiorum. Uberlegungen zum kollektiven Gedachtnis der Nobilitat", in: H.-J. Gehrke/A. Moller (Hgg.), Vergangenheit und Lebenswelt, Tubingen 1996, 301- 338. Holkeskamp fa8t diese Beziehung wie folgt zusammen: ,,Die Vorfahren sind im wahrsten Sinne des Wortes die ,Urheber' (auctores) des mos maiorum" (316). Vgl. A. Haltenhoff, ,,Institutionalisierte Geschichten. Wesen und Wirken des literarischen ex- emplum im alten Rom", in: Melville (Hg.), Institutionalitat (wie Anm. 13) 213-217.

42 Uber die annales maximi unter anderen Frier, Libri Annales (wie Anm. 23); G.P. Ver- brugghe, ,,On the Meaning of Annales, on the Meaning of Annalist", Philologus 133 (1989) 192-230.

43 Dion. Hal., ant., 8,55,3; 10,57,6; Str., 5,3,2. Dazu F. Cassola, ,,Problemi della tradizione orale", Index 28 (2000) 16-17: In der griechischen Welt waren berufsmaBige Verwahrer des kollektiven Gedachtnisses weit verbreitet. Aristoteles nennt sie mnetmones und hie- romnemones (Pol., 6,132 lb). Vgl. L. Capogrossi, in: M. Talamanca (Hg.), Lineamenti di storia del diritto romano2, Milano 1987, 27, 35, 103 und 107.

44 Timpe, ,,Mundlichkeit und Schriftlichkeit" (wie Anm. 15) 284; J. von Ungern-Stemberg, ,,Uberlegungen zur fruhen romischen Uberlieferung", in: Ungern-Stemberg/Reinau (Hgg.), Vergangenheit (wie Anm. 15) 262-264. Uber priesterliche Archive und die Beziehung zwischen Schrift und Religion in Rom siehe J. Scheid, ,,Rituel et ecriture A Rome", in: A.M. Blondeau/K. Schipper (Hgg.), Essais sur le rituel, Band 2, Louvain-Paris 1990, 1- 15; M. Beard, ,,Writing and Religion: Ancient Literacy and the Function of the Written Word in Roman Religion", in: M. Beard (Hg.), Literacy in the Roman World, Ann Arbor 1991, 35-58; sowie weitere Beitrage in La memoire perdue. Recherches sur l'administration romaine, Roma 1998.

45 T.P. Wiseman, Historiography and Imagination. Eight Essays on Roman Culture, Exeter 1994, 12ff.: ,,We have no evidence, but on a priori grounds the Roman festivals are the obvious place to imagine the Roman community's self-image being created" (vgl. Ders.,

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der Auffuhrungen von den Magistraten und letztendlich vom Senat festgelegt wurden, insbesondere von den Adilen, deren Aufgabe es war, die aufzufuhren- den Theaterstucke zu genehmigen.46 In solchen Vorfuhrungen wurden ge- schichtliche Episoden, verwoben mit mythischen Elementen und Legenden, in der Offentlichkeit dargestellt; aber es handelte sich um Begebenheiten, die von der Aristokratie als geeignet und erinnerungswurdig eingestuft wurden.47 Diese nationalen Ereignisse vermittelten bestimmte Werte und eine Gemeinschafts- auffassung, die unmittelbar mit den Interessen der herrschenden Klasse ver- knupft war. Die Oberschicht nutzte die Ludi als Instrument politischer EinfluB- nahme zur Festigung ihrer Fuhrerschaft, was durch den stets religiosen Rahmen der Theaterstucke noch betont wurde.48

Roman Drama and Roman History, Exeter 1998). Dazu auch T.J. Cornell, The Begin- nings of Rome. Italy and Rome from the Bronze Age to the Punic Wars (c.1000-264 BC), London/New York 1995, 11-12; Walter, ,,Die Botschaft des Mediums" (wie Anm. 13) 251: Die Existenz historischer Dramen stellt eine ,,sehr plausible Hypothese" dar. Dage- gen H.I. Flower, ,,Fabulae praetextae in context: when were plays on contemporary subjects performed in republican Rome?", CQ 45 (1995) 170-190. Sie widerlegt die These Wisemans, die spekulativ sei; es gabe keine Beweise fur solche Theaterauffuhrun- gen in der fruhen Republik. Vgl. dazu auch G. Manuwald, Fabulae praetextae: Spuren einer literarischen Gattung der Romer, Munchen 2001 (sowie die Rezension T.P. Wise- mans zu diesem Buch in BMCR 2002.06.13).

46 F. Bernstein, Ludi publici. Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung der offentli- chen Spiele im republikanischen Rom, Stuttgart 1998, 74-77: Ab dem Jahr 366 v. Chr. beschaftigten sich die curulischen Adile mit der cura ludorum, kurze Zeit bevor szenische Darstellungen (im Jahr 364) in den Spielplan aufgenommen wurden. Spater organisierten die plebejischen Adile die ludi plebeii (162), ludi Florales (218) und ludi Ceriales (164), wiihrend die curulischen Adile die ludi Megalenses (199) veranstalteten. Cassius Dio (54,2,3-4) berichtet, daS Augustus im Jahr 22 die Adile der cura ludorum entband und diese den Pratoren ubertrug.

47 Es sind die Namen einiger Werke bekannt, die mit der Grundung Roms zusammenhan- gen, wie z.B. Romulus oder Lupus von Naevius, Sabinae von Ennius. Vgl. Flower, ,,Fabulae praetextae" (wie Anm. 45) 189.

48 Bernstein, Ludi publici (wie Anm. 46) 268-270, 309, 352-353: Es bestand eine enge Verbindung zwischen den Ludi, den Theaterauffuhrungen und der Selbstbehauptung der nobilitas; M. Clavel-Leveque, ,,L'espace des jeux dans le monde romain: hegemonie, symbolique et pratique sociale", ANRW 11 16,3, 2535: ,,Ici les jeux fonctionnent comme instance de lgitimation, quand l'usage instrumental du passe y renforce l'identite natio- nale, y legitime la systeme et les detenteurs de 1'autorite"; Flower, ,,Fabulae praetextae" (wie Anm. 45) 171: Der Name fabula praetexta ,,suggests a play about Roman aristocrats and their status"; Walter, ,,Die Botschaft des Mediums" (wie Anm. 13) 251: ,,hier (*d.h. im Theater) wurde nicht nur eine beliebige Geschichte vor Augen geruckt, sondern ,Wissen' produziert" (vgl. ebenfalls Beck/Walter [Hgg.], FRH I [wie Anm. 161 31-32). Zu den Theaterstucken als Medium der Vermittlung ethischer Normen in der romischen Gesellschaft siehe A. Grilli, Politica, cultura e filosofia in Roma antica, Napoli 2000, 15-16.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 161

Alle anderen in Rom vorhandenen Dokumente - aber auch die Auswahl der geschichtlichen Ereignisse, die in die mundliche Tradition eingingen49 -, die Fabius Pictor seiner Geschichtsschreibung zugrunde legte, stammten von der Elite und wurden von ihr kontrolliert: Die Archive aristokratischer Famili- en;50 die laudationes funebres;51 offizielle und private Ehreninschriften; fasti consulares;52 vielleicht carmina convivalia, deren Existenz umstritten ist53 - soilten sie jedoch existiert haben, wurden die Inhalte dieser Lieder auch von den aristokratischen Gasten auf privaten Banketten festgelegt; das Archiv der Senatsentscheidungen;54 sowie Reden in contiones, geschmuckt mit histori- schen exempla.55 AuBerdem wurden im Zentrum Roms Statuen und offentli- che Denkmaler errichtet, die an Siege und andere kollektiv bedeutsame Ereig-

49 Walter, ,,Die Botschaft des Mediums" (wie Anm. 13) passim; Beck/Walter (Hgg.), FRH I (wie Anm. 16) 27-37. Insbesondere uber Muindlichkeit, Timpe, ,,Mundlichkeit und Schrift- lichkeit" (wie Anm. 15) passim; Ungern-Sternberg, ,,Uberlegungen" (wie Anm. 44) 237- 265.

50 Ph. Culham, ,,Archives and Alternatives in Republican Rome", CPh 84 (1989) 100-115, behauptet, daB weder aerarium noch tabularium in der Zeit der Republik als offentliche Archive funktionierten, und betont die Abhangigkeit der ersten romischen Geschichts- schreiber von Familienarchiven. Als Beispiel fuhrt sie an, daB der Brief, den Fabius Rullianus im Jahr 325 an den Senat richtete und den Fabius Pictor erwahnt (Fr. 24 Chassignet und Beck/Walter = Liv., 8,30,8-10), aus dem Archiv der Familie der Fabii stammte (Beck/Walter [Hgg.], FRHI [wie Anm. 16] 31 Anm. 33 und 120-122). Vgl. S.P. Oakley, A Commentary on Livy Books VI-X, Band 1, Oxford 1997, 29.

51 Pol., 6,53-54. Dazu W. Kierdorf, Laudatiofunebris. Interpretation und Untersuchungen zur Entwicklung der romischen Leichenrede, Meisenheim 1980; E. Flaig, ,,Die Pompa Funebris. Adlige Konkurrenz und annalistische Erinnerung in der Romischen Republik", in: O.G. Oexle (Hg.), Memoria als Kultur, Gottingen 1995, 115-148; H.I. Flower, Ancestor Masks and Aristocratic Power in Roman Culture, Oxford 1996; J. Arce, Memo- ria de los antepasados. Puesta en escena y desarrollo del elogiofunebre romano, Madrid 2000; Holkeskamp, ,Exempla und mos maiorum" (wie Anm. 41) 320-323; Blosel, ,,Die Geschichte des Begriffes mos maiorum" (wie Anm. 1) 37-45.

52 F. Mora, Fasti e schemi cronologici. La riorganizzazione annalistica del passato remoto romano, Stuttgart 1999; J. Rupke, ,,Fasti: Quellen oder Produkte romischer Geschichts- schreibung?", Klio 77 (1995) 184-202.

53 Cato erwahnte Lieder, die auf Banketten zu Ehren beruhmter Manner dargeboten wurden (Cic., Tusc., 4,3; Brut., 75). Vgl. N. Zorzetti, ,,The Carmina Convivalia", in: 0. Murray (Hg.), Sympotica. A Symposium on the Symposion, Oxford 1990, 289-307. Uber das Bankett als ,,Kommunikationsraum", J. Rupke, ,,Raume literarischer Kommunikation in der Formierungsphase romischer Literatur", in: Braun/Haltenhoff/Mutschler (Hgg.), Mo- ribus antiquis (wie Anm. 1) 31-52, bes. 43-46.

54 Uber die Moglichkeit der Existenz eines Archivs von senatus consulta, Liv., 3,55,13 (vgl. R.M. Ogilvie, A Commentary on Livy Books 1-5, Oxford 1984 [119651 503). U. Bre- dehorn, Senatsakten in der republikanischen Annalistik, Diss. Kiel 1968 (siehe die Rezension von J. v. Ungern-Sternberg, Gnomon 43 [19711 369-374).

55 F. Pina Polo, Las contiones civiles y militares en Roma, Zaragoza 1989.

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nisse erinnerten und somit zur Bildung eines kollektiven Gedachtnisses beitru- gen.56

Mittels ihrer strengen Kontrolle der Priesteramter und der Staatsverwaltung durch Magistrate und den Senat nahm sich die herrschende Aristokratie mehre- re Jahrhunderte lang das Recht, uber die geschichtlichen Ereignisse zu ent- scheiden, die von Jahr zu Jahr festgehalten wurden. Sie Ubernahm auch die Rolle von exklusiven Hutern dieser kollektiven Erinnerungen, die allerdings nicht dem breiten Publikum zur Verfugung gestellt wurden, bis gegen 130- 120 v. Chr. die annales der pontifices veroffentlicht wurden,57 nachdem bereits mehrere nationale Geschichtswerke verfaBt worden waren. Die Geschichte war in zunehmendem MaBe mit der auctoritas verknupft, die in einer aristokrati- schen Gesellschaft wie der romischen ausschlieBlich von der Elite ausgehen konnte.

Die von der Aristokratie ausgeubte strenge Kontrolle des kollektiven Ge- dachtnisses kam am Anfang der romischen Geschichtsschreibung zum Aus- druck, so daB die ersten Geschichtsschreiber Roms Senatoren und beruhmte offentliche Personlichkeiten waren.58 Senatoren waren mit Sicherheit Fabius Pictor, Cincius Alimentus, Acilius, Cato (Konsul 195, Censor 184 und vermut- lich Augur), Postumius Albinus (Konsul 151) und Piso Frugi (Konsul 133 und Censor 120).59 Die auctoritas, die von der Bekleidung so bedeutender politi- scher und religioser Amter ausging, untermauerte zwangslaufig die Thesen

56 M. Sehlmeyer, ,,Die kommunikative Leistung romischer Ehrenstatuen", in: Braun/Hal- tenhoff/Mutschler (Hgg.), Moribus antiquis (wie Anm. 1) 271-284; T. Holscher, ,,Die Alten vor Augen. Politische Denkmaler und offentliches Gedachtnis im republikanischen Rom", in: Melville (Hg.), Institutionalitat (wie Anm. 13) 183-211; Holkeskamp, ,,Exem-

pla und mos maiorum" (wie Anm. 41) 305-308. 57 Frier, Libri Annales (wie Anm. 23) 179ff., vertritt die Ansicht, die Annales seien erst in

der Augusteischen Zeit verfasst worden. 58 Schon M. Gelzer, ,,Der Anfang der romischen Geschichtsschreibung", in: Ders., Kleine

Schriften 3, 1964, 93-110 (11934) differenzierte zwischen der ,,senatorischen Geschichts- schreibung" der ersten Phase (,,von Fabius bis Cato") und der annalistischen des 1. Jh. v. Chr. Timpe, ,,Mindlichkeit und Schriftlichkeit" (wie Anm. 15) 273-274: ,,Die literari- sche Geschichtsschreibung ... war urspruinglich nicht nur eine Arbeit von Senatoren, sondern auch ein echt senatorisches Geschaft wie Diplomatie oder Kriegfuhrung". T.J. Cornell, Rezension von T.P. Wiseman, Clio's Cosmetics, JRS 72 (1982) 206: ,,The historical past of Rome was not a subject of purely academic interest in the Republican period, but on the contrary a matter of direct political concern to the ruling elite ... Knowledge of this tradition was not confined to specialist historians, but was widely disseminated throughout the educated upper classes ... Above all, the great noble families preserved the memory of the achievements of their ancestors, on which they based their claim to rule". Entgegnung von Wiseman in ,,The Credibility of the Roman Annalists", LCM 8,2 (1983) 20-22.

59 Q. Fabius Pictor: Pol., 3,9,4; L. Cincius Alimentus: Dion. Hal., ant., 1,74,1; C. Acilius: Liv., per., 53.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 163

dieser Staatsmanner in ihrer Eigenschaft als Geschichtsschreiber.60 So machte insbesondere die Tatsache, daB Cato einige Jahre vor dem Verfassen seiner Origines das Amt des Censors inne hatte, ihn zu einem glaubwurdigen Verfech- ter des ,,moralischen Nationalismus", der sein historisches Werk pragt.

Im zweiten Jahrhundert v. Chr. besaBen nur Senatoren auctoritas und waren somit befugt, die Geschichte der Gemeinschaft aufzuschreiben. So nutzten die Geschichtsschreiber-Senatoren die Geschichte fur eine ideologische Rechtferti- gung der Vormachtstellung ihrer sozialen Klasse. Die Zeit war gekommen, eine Vergangenheit zu erschaffen, die mit den politischen und moralischen Interes- sen der regierenden Anstokratie in Einklang war.61 Bei dieser Entwicklung war es die Aufgabe des mos maiorum, ein BewuBtsein auf der ethischen Grundlage der nobilitas zu schaffen. Es handelte sich somit um das ethische Vermogen einer sozialen Klasse, die ihre Herrschaft selbst legitimierte.

Geschichte und mos maiorum

Der Begriff mos maiorum steht im Lateinischen fur Tradition schlechthin, aber war kein starres, sondem ein dynamisches und formbares Konzept, dessen Inhalt immer wieder neu interpretiert wurde. Mos maiorum symbolisiert die Stabilitat und Kontinuitat der romischen Gesellschaft und des romischen Staa- tes.62 Diese Auffassung gibt Ennius wie folgt wieder: moribus antiquis res stat Romana virisque.63 Um wirksam zu bleiben, muBte er aber auch flexibel sein, an veranderte soziale und politische Gegebenheiten angepaBt werden und dadurch

60 D. Timpe, ,,Memoria und Geschichtsschreibung bei den Romern", in: Gehrke/Moller (Hgg.), Vergangenheit (wie Anm. 41) 289-291.

61 M. Pani, Le ragioni della storiografia in Grecia e a Roma. Una introduzione, Bari 2001, 78: ,,La storia, in definitiva, riffletteva 1'epopea della nobilitas". Wiseman, Historiogra- phy and Imagination (wie Anm. 45) 39 und 48: Die senatorischen Geschichtsschreiber des 2. Jh. konnten das ethos aus den monumenta des 3. Jh. gut nachvollziehen, da sie dem gleichen aristokratischen Umfeld angehorten und von ihren eigenen Vorfahren sprachen (die Cato trotz seiner novitas zu seinen eigenen zahlt); ihre Geschichtsberichte wurden als monumenta litterarum fur die Wahrung des Ruhms bedeutender Manner empfunden. Vgl. A. de Vivo, ,,La costruzione della memoria nelle forme della comuni- cazione di Roma antica: storiografia e codice letterario", in: AA.VV., La parola' delle immagini e delle forme di scrittura. Modi e tecniche della comunicazione nel mondo antico, Messina 1998, 181-196; ders., Costruire la memoria. Ricerche sugli storici latini, Napoli 1998.

62 M. Jehne/F.-H. Mutschler, ,,Texte, Rituale und die Stabilitat der romischen Republik", Antike Welt 31 (2000) 551-556; M. Bettini, ,,Mos, mores und mos maiorum: Die Erfin- dung der ,Sittlichkeit' in der romischen Kultur", in: Braun/Haltenhoff/Mutschler (Hgg.), Moribus antiquis (wie Anm. 1) 322-339.

63 Enn., Ann., F. 500 Vahlen.

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den Eindruck der Bestandigkeit und RechtmaBigkeit erwecken.64 Meiner An- sicht nach lassen sich als Hypothese bei der Herausbildung und Entwicklung des Begriffs mos maiorum in der republikanischen Zeit drei Phasen unterschei- den: Seine Schopfung durch das Patriziat, seine Erweiterung am Ende der Standekampfe und seine Kodifizierung am Anfang der Geschichtsschreibung in Rom im Laufe des zweiten Jahrhunderts v. Chr.

Seine Entstehung ist wohl dadurch zu erklaren, daB das Patriziat ein Instru- ment benotigte, um seine herrschende Stellung innerhalb der romischen Gesell- schaft als Nachkommen der ersten patres, der Zeitgenossen des Stadtgrunders Romulus, zu rechtfertigen.65 Der Bezug zu diesen Vorfahren hatte sicherlich bereits seit der Entstehung Roms bestanden. Doch das Konzept des mos maio- rum als solches mit politischer Bedeutung konnte erst seit Beginn der republi- kanischen Zeit verwendet werden, als das Patriziat nach dem Sturz des Konig- tums an die Macht gelangte, und stellte mit aller Wahrscheinlichkeit eine wichtige ideologische Waffe im Standekampf dar.

Die Bedeutung des Begriffs erfuhr eine Erweiterung, als die Fuhrungs- schicht im Laufe des vierten und am Anfang des dritten Jahrhunderts v. Chr. mit der Entstehung der nobilitas zunahm.66 Vor diesem Hintergrund hat der Konflikt zwischen Patriziern und Plebejern wohl zu der Ausweitung des Be- griffs maiores auf die Gesamtheit der nobilitas gefuhrt, einschlieBlich plebeji- scher Familien, die sich in die nobilitas integrieren konnten. So erhielt mos maiorum eine neue Bedeutung und wurde als ,,Standesethos" oder ,Eliten-

64 Cicero ist ein Verfechter der exempla atque instituta maiorum. Als er jedoch als Praetor fur die Genehmigung eines auBerordentlichen Kommandos fUr Pompeius pladierte, wi- derlegte er das Argument, diese Entscheidung sei gegen das mos maiorum gerichtet, da es wichtig sei, alle Handlungen an die aktuelle politische Situation anzupassen, wobei zwischen Krieg und Frieden unterschieden werden muisse: Non dicam hoc loco maiores nostros semper in pace consuetudini, in bello utilitati paruisse, semper ad novos casus temporum novorum consiliorum rationes accommodasse (Cic., imp. Cn. Pomp., 60).

65 M. Bonjour, Terre natale, Paris 1975, 15; 43-44, bringt die Begriffe pater und patria mit dem mos maiorum in Beziehung: patria stehe fur Rom, die von Patriziem bewohnte und verteidigte Stadt, wahrend sich die politische Bedeutung des Begriffs immer mehr auf die res publica und Italien ausbreite (46).

66 Anders Blosel, ,,Die Geschichte des Begriffes mos maiorum" (wie Anm. 1) 48: ,,Diese ausgeklugelte Normenstruktur hat vermutlich ihren Ursprung in der Konstituierungspha- se der Nobilitat ... So ist gerade in dieser Umbruchphase der romischen Republik im propagandistischen Versuch der Patrizier, aus ihrer generationenlangen Regierungserfah- rung gegenuber den Plebejern einen entscheidenden Gewinn zu schiagen, die Geburts- stunde des Konzeptes mos maiorum zu suchen". H6lscher, ,,Die Alten vor Augen" (wie Anm. 56) 206-207: Gegen Ende des 4. und wahrend des 3. Jh. v. Chr. wurden die ersten offentlichen Monumente im Zentrum Roms errichtet, die ,,einer Stabilisierung kollektiver Normen" dienten. Zur nobilitas, K.-J. Holkeskamp, Die Entstehung der Nobilitdt. Studien zur sozialen und politischen Geschichte der romischen Republik im 4. Jh. v. Chr., Stuttgart 1987.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 165

ethos"67 ein ethisches Instrument fur den Zusammenhalt der neuen Ober- schicht. Aus diesem Konsens heraus entwickelte sich der mos maiorum der nobilitas zu einem Modell, zu einer Art Handlungsanweisung fur das soziale und politische Verhalten der Aristokratie. Die kunftigen Staatsmanner waren gehalten, es zu befolgen, denn anderenfalls konnte die althergebrachte Ord- nung in Gefahr geraten. Zumindest der grundlegende Konsens der Fuhrungs- schicht, bei dem von einer im Begriff mos maiorum dargestellten orthodoxen Ideologie ausgegangen wurde, erlaubte keinerlei Zweifel.68

Es ist jedenfalls der mos maiorum der nobilitas, der uns bekannt ist. Er festigte sich in der letzten Zeit der Republik und entwickelte sich zu einem Verhaltensvorbild, an das sich auch die neuen nobiles halten multen, sogar jene, die aus anderen Orten stammten und keine Vorfahren in Rom hatten: Die homines novi Caius Marius und Cicero beanspruchten diese Tugenden der Vorfahren alter aristokratischer Familien fur sich, denn der Besitz der Tugen- den rechtfertigte die nobilitas jener, die sich keiner maiores ruhmen konnten.69 Wir sprechen von jenem Konzept, das wir seit den Anfangen der romischen Geschichtsschreibung finden. Dieser Zeitpunkt war ausschlaggebend, da die Umwandlung der Tradition in eine geschriebene Geschichte diese unwiderleg- bar macht. Der seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. kodifizierte mos maiorum ist das schriftliche Zeugnis der lange anhaltenden mundlichen Uberlieferung des Begriffs innerhalb der Aristokratie. Der EntstehungsprozeB dieser Traditi- on mit ethischem Inhalt fand vor der Geschichtsschreibung statt; die Tradition wird durch diese Geschichtsschreibung lediglich bestatigt.70 Dieser schriftliche mos maiorum wurde seitdem im politischen Widerstreit zum Bezugspunkt.

Die Sitten und ethischen Werte, die die romische Zivilisation kennzeichne- ten und im Leitbegriff mos maiorum ihren Niederschlag fanden, wurden von den romischen Geschichtsschreibem als Ursprung der Macht Roms angesehen.

67 B1osel, ,,Die Geschichte des Begriffes mos maiorum" (wie Anm. 1) 53 und 87. 68 G. Clemente, ,,Tradizioni familiari e prassi politica nella Repubblica romana: tra mos

maiorum e individualismo", in: J. Andreau/H. Bruhns (Hgg.), Parente et strategies familiales dans l'antiquite romaine, Roma 1990, 595-608.

69 Beispielhaft ist die Rede des Caius Marius in einer contio, nachdem er zum Konsul gewahlt worden war (Sall., bell. lug., 85). Auf ausdrucksvolle Weise wird diese fordernde Haltung eines homo novus in einigen Reden Ciceros deutlich, wie z.B. in der Rede gegen Piso. Vgl. H. Roloff, Maiores bei Cicero, Diss., Gottingen 1938, 132. Dazu M. Leigh, ,,Wounding and Popular Rhetoric at Rome", BICS 40 (1995) 201-202: ,,In one way, the ,new man' is profoundly old".

70 Die Entwicklung einer Tradition innerhalb des baskischen Nationalismus beschreibt J. Juaristi, La tradici6n romdntica. Leyendas vascas del siglo XIX, Pamplona 1986, 27 wie folgt: ,,En ausencia de historiografia, las leyendas configuran una mitologia: constituyen una visi6n estereotipada del pasado, unos c6digos morales y una cierta utopia politica. A su travds va tomando forma una imagen arquetipica del Vasco (del buen Vasco y del mal vasco)".

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Ihnen zufolge konnte das Imperium nur dank dieses mos maiorum gegrundet werden: Das Einhalten der alten Sitten sicherte den Fortbestand und den Fort- schritt des Imperiums.71 Die Triumphe Roms stellten somit eine rationale Berechtigung des mos maiorum dar, der als Ausdruck der GroBe und Wurde des romischen Volkes galt. Der Erfolg Roms war der Beweis dafur, daB die Gotter es den anderen Volkern vorzogen. Die Romer waren die Auserwahlten der Gotter, und das konnte nur an ihrer ethischen Uberlegenheit liegen, wobei die von den Ahnen ererbte pietas eines der wichtigsten Merkmale darstellte.72 Geschichte und mos maiorum waren als Ausdruck des ,,Nationalismus" im siegreichen Rom eng miteinander verflochten. Dieser Gedanke war bereits im Werk Fabius Pictors enthalten, der den Aufstieg Roms mit der Anerkennung seines moralischen Codex in Verbindung bringt.73 Cato bestatigt diese Idee und fuhrt sie weiter aus. Er mochte den mos maiorum zum nationalen Symbol erheben, ohne jedoch dessen Funktion der Rechtfertigung der politischen Vor- machtstellung der nobilitas aus den Augen zu verlieren.74

Die ersten romischen Geschichtsschreiber tendierten dazu, die vermeintli- chen historischen Daten zu idealisieren, um ihren Berichten einen beispielhaf-

71 Cic., Mur., 75: Quare noli, Cato, maiorum instituta quae res ipsa, quae diuturnitas imperii comprobat nimium severa oratione reprehendere.

72 Wir finden die Idee, das Imperium verdanke seine Entstehung der privilegierten Bezie- hung der Romer zu ihren Gottern, bei Cicero: Etenim quis est tam vaecors qui aut, cum suspexit in caelum, deos esse non sentiat ... aut, cum deos esse intellexerit, non intellegat eorum numine hoc tantum imperium esse natum et auctum et retentum? ... sed pietate ac religione atque hac una sapientia, quod deorum numine omnia regi gubernarique perspe-

ximus, omnis gentis nationesque superavimus (Cic., har. resp., 79, 19). Vgl. Cic., nat.

deor., 2,8; Font., 30-31; Plin., n.h., 3,39; 27,3; 36,118. Diesen Gedanken finden wir schon in einem Brief, der im Jahr 193 v. Chr. vom Praetor M. Valerius Messalla auf die griechische Insel Teos gesandt wurde (SIG3 601). Dazu J.P.V.D. Balsdon, Romans and Aliens, London 1979, 2: ,,The Romans were the gods' own people, in fact"; P.A. Brunt, ,,Laus imperii", in: P.D.A. Garnsey/C.R. Whittaker (Hgg.), Imperialism in the Ancient World, Cambridge 1978, 162: ,,What was most novel in the Roman attitude to their empire was the belief that it was universal and willed by the gods"; F. Pina Polo, ,,Cicer6n elegido de los dioses: la reprobaci6n religiosa del adversario politico como recurso ret6rico", in: F. Marco/F. Pina/J. Remesal (Hgg.), Religion y propaganda politica en el

mundo romano, Barcelona 2002, 57-69. 73 Badian, ,,Early Historians" (wie Anm. 29) 5-6. 74 Zur Rolle Catos bei der ,,Idealisierung" des mos maiorum durch Projektion in die

Vergangenheit und gleichzeitige ,,Selbststilisierung" als Modell eines echten romischen Burgers, H.-J. Gehrke, ,,Marcus Porcius Cato Censorius - ein Bild von einem Romer", in: K.-J. Holkeskamp/E. Stein-Holkeskamp (Hgg.), Von Romulus zu Augustus. Grofie Ge-

stalten der romischen Republik, Munchen 2000, 155-158. Nach Ansicht von Blosel, ,,Die Geschichte des Begriffes mos maiorum" (wie Anm. 1) 54-59, war Cato eine Gefahr fur den mos maiorum als Tradition der nobilitas, da er die maiores als Vorfahren aller Romer und die nationalen romischen Tugenden als dem gesamten populus zugehorig darstellte. Cato hatte damit keinen Erfolg, aber sehr wohl der homo novus Cicero (73-83).

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 167

ten Charakter zu verleihen. Diese Idealisierung schlagt sich in den Verhaltens- mustem jener Zeit nieder, als die Tradition in Schriftform umgesetzt wurde: Die Vergangenheit wurde idealisiert mit dem Ziel, die Gegenwart mit der auctoritas der Vorfahren zu rechtfertigen.75 Die Vorganger dienten als Arche- typen fur die zeitgenossischen Romer, die stillschweigend ein Bundnis mit ihren maiores schlossen.76 Dieses von Treue gepragte Verhailtnis ermoglichte den Fortbestand und das Anwachsen der Gemeinschaft. Grundsatzlich wurde alles, was von den maiores stammte, hochachtungsvoll betrachtet und schlieBlich als geschichtliche Wahrheit angenommen. Die Vorfahren hatten nicht nur eine Geschichte geschaffen, sondem gewissermaBen als Demiurgen auch neue Ge- brauche und Institutionen begrundet. Sie aufzurufen bedeutete fur einen Romer, als Wortfuhrer der Ahnen aufzutreten und somit Autoritat zu erlangen.

In gewisser Weise besaB der mos maiorum eine ahnliche Funktion wie ein Mythos. Er erklarte die Gegenwart und ermoglichte sozusagen die ewige Ruck- kehr in eine goldene Epoche Roms, namlich die ursprungliche Zeit der maiores. Durch seine Verankerung in der romischen Geschichte wird er zur legitimieren- den Wahrheit. Uber geschichtliche Details IiBt sich zwar diskutieren, aber die gesellschaftliche Struktur fugt sich in einen zeitlosen, ja sogar ewig gleichblei- benden Rahmen. Durch seine politische und insbesondere ethische Kontinuitat verleiht der mos maiorum der Gegenwart und Vergangenheit eine gemeinsame Ordnung, einen Zusammenhang. So ist die pompafunebris das hochste Symbol der ethischen Rechtfertigung der Gegenwart durch das Verhalten der Ahnen.77

Die Einhaltung der Regeln des mos maiorum sicherte das Uberleben der res publica. Die nachfolgenden Generationen erhielten die Empfehlung, Verhal-

75 Timpe, ,,Memoria und Geschichtsschreibung" (wie Anm. 60) 282, bezeichnet dies als ,,dienende Vergegenwartigung der Vergangenheit". Vgl. Holkeskamp, ,,Exempla und mos maiorum" (wie Anm. 41) 317-319.

76 Vgl. Nora, ,,Entre Mdmoire et Histoire" (wie Anm. 9) XXXI: . e culte de la continuit6, la certitude de savoir a qui et A quoi nous devions d'etre ce que nous sommes". E. Renan hielt 1882 seine beruhmte Rede mit dem Titel ,,Qu'est-ce qu'une nation?" (in: H. Psichari [Hg.], Discours et conferences. Oeuvres completes d' Ernest Renan, Band 1, Paris 1947, 889-906). Darin definiert er eine Nation als Gemeinschaft, die den Ruhm ihrer Vergan- genheit teilt, eine gemeinsame Gegenwart und einen Willen zur Zukunft besitzt, und schlieBt: ,,le culte des ancetres est de tous le plus lgitime; les ancetres nous ont fait ce que nous sommes".

77 Flaig, ,,Die Pompa Funebris" (wie Anm. 51) 124: ,,die pompafunebris brachte mithin die Ewigkeit (aeternitas) der r6mischen Ordnung zu feierlicher Darstellung". Zur symboli- schen Kraft r6mischer Totenfeiern, wie bei Polybios beschrieben, siehe M. Bettini, Anthropology and Roman Culture. Kinship, Time, Images of the Soul, Baltimore/London 1991, 176-177: ,,One who dies does not pass to his ancestors only metaphorically: his ancestors are really there to accompany him. One dies in the presence of his own past, of its proud grandeur ... The comforting presence of the ancestors is a ... sign of continuan- ce, of emulation."

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tensweisen, die sich im Laufe der Geschichte als wirksam erwiesen hatten, zu ubemehmen: Das Unveranderliche galt als Inbegriff der Sicherheit. Der mos maiorum erganzte somit die religio im sozialen Bereich. Als Kommunikations- mittel verbindet die Religion die Mitglieder der Gemeinschaft mit den Gottem durch traditionelle religiose Rituale, die eingehalten werden mussen. Auf glei- che Weise soll der mos maiorum der biirgerlichen Gemeinschaft anhand von gemeinsamen Werten, die sich bereits bewahrt haben, einen Zusammenhalt geben. Die angestrebte Unveranderlichkeit des mos maiorum hat ihr Pendant in der Bestandigkeit der heiligen Rituale. lhre logische Entsprechung ist im religi- osen Prinzip der Romer zu finden. Genau wie die Ausubung der Religion war auch der mos maiorum ausschlieBlich der Oberschicht vorbehalten. Nur sie hatte das Recht, geeignete ethische Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu kodifizieren. Wahrend die Religion der Elite eine Hegemonialstellung zuer- kannte,78 lieferte der mos maiorum die geschichtlichen Argumente fur die Rechtfertigung dieser sozialen Hegemonie.

Andererseits enthalt der mos maiorum einen personlichen Verhaltensko- dex, der die gemeinschaftliche religio unter dem Gesichtspunkt der Traditions- bestatigung erganzt. Die angestrebten individuellen Werte wurden von nationa- len Werten abgeleitet, die wiederum von den Werten der maiores stammten. Die Tugenden der Vorfahren dienten somit den neuen Burgem als Vorbilder. Der geschichtliche Erfolg der Gemeinschaft zeugte eindeutig von der Zuverlas- sigkeit dieses Wertesystems.

In der ersten Haifte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. erhielt der Begriff mos maiorum in der romischen Geschichtsschreibung einen konkreten Ausdruck durch die exempla maiorum, die sowohl in positiver als auch in negativer Form in der Geschichte des archaischen Rom angefuhrt werden. Es IaBt sich eine direkte Verbindung zwischen ius imaginum, dem Besitz der im Atrium der aristokratischen Hauser ausgestellten imagines maiorum, den exempla maio- rum sowie dem mos maiorum herstellen, in dem die Tugenden der Vorfahren der nobilitas verkorpert sind. Auf diese Weise konnte mit dem mos maiorum die Vormachtstellung der Elite begrundet und als allgemeines Verhaltensmo- dell fur die Gesellschaft eingesetzt werden. Bezeichnenderweise ordneten die Censoren im Jahr 179 an, einige Statuen aus dem Tempel des Iuppiter zu entfernen; einige Jahre spater, 158, lieBen die Censoren sogar alle Statuen, die nicht von Senat und Volk zugelassen waren, beseitigen:79 Wie aus Catos Geschichtswerk, an dem er zu jener Zeit arbeitete, hervorgeht, multen die Statuen auf offentlichen Platzen geeignete exempla darstellen.

78 Cic., leg., 2,30. 79 Plin., n.h., 34,30. Vgl. Gruen, Culture and National Identity (wie Anm. 27) 121; M.

Sehlmeyer, Stadtromische Ehrenstatuen der republikanischen Zeit, Stuttgart 1999, 152- 159; Holscher, ,,Die Alten vor Augen" (wie Anm. 56) 208: ,,Der Staat beanspruchte an den zentralen Platzen der Stadt ein Monopol des offentlichen Gedachtnisses."

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 169

Dies geschah in einer Zeit tiefgreifender Veranderungen innerhalb der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Haltung der Oberschicht. Bei dieser Ent- wicklung wurden gelegentlich die Neuerungen durch Forderungen nach einer vermeintlichen Anpassung der Verhaltensregeln der Vorfahren erklart.80 Paral- lel dazu wurde in jener Zeit innerhalb der Elite ein Streit um Tradition und Erneuerung gefuhrt, dessen Dynamik gut belegt ist. So ist die brutale Unter- druckung des bacchischen Kultes wohl darauf zurickzufuhren, daB man eine Gefahrdung des mos maiorum befurchtete.81 Und es ist die Sorge, die alte Ordnung sei bedroht, die im ersten Viertel des zweiten Jahrhunderts v. Chr. zur Verabschiedung von Gesetzen fuhrte, die Luxus und Sitten, aber auch den politischen Kampf regelten.82

Die Aneignung der Tradition durch die Aristokratie und die Auferlegung eines von den Vorfahren geschaffenen Musters bedeuten eine stillschweigende Identifikation der romischen Aristokratie mit der res publica: Die Aristokratie hat ihre eigene Geschichte und Tradition geschaffen; sie selbst bildet den Wesenskern des romischen Staates; letztendlich ist sie Rom.83 Als logische Folge erwahnt Cicero zwischen den fundamenta rei publicae den mos maiorum und begrundet so seine Verteidigung der Aristokratie.84 Es scheint logisch, daB

80 Th. Habinek, The Politics of Latin Literature, Princeton 1998, 48: ,,The assertion of mos maiorum frequently masks some novelty of interest or acquisition". In gewissen Kreisen der romischen Aristokratie, deren wichtigster Vertreter Cato war (Mutschler, ,,Norm und Erinnerung" [wie Anm. 17] 108-111: Cato als erster romischer Historiker, der den romischen Sittenverfall thematisiert hat), gait die Auffassung, zwischen der imperialisti- schen Expansion und dem moralischen Verfall in Rom gabe es eine direkte Beziehung: K. Bringmann, ,,Weltherrschaft und innere Krise Roms im Spiegel der Geschichtsschrei- bung des zweiten und ersten Jahrhunderts v. Chr.", A&A 23 (1977) 28-49.

81 J.-M. Pailler, Bacchanalia: la repression de 186 av. J.-C. a Rome et en Italie: vestiges, images, Roma 1988.

82 G. Clemente, ,,Le leggi sul lusso e la societa romana tra III e II secolo a.C.", in: A. Giardina/A. Schiavone (Hgg.), Societd romana e produzione schiavistica. Vol.3. Modelli etici, diritto e trasformazioni sociali, Bari 1981, 1-14; H.-J. Gehrke, ,,Rommischer mos und griechische Ethik. Uberlegungen zum Zusammenhang von Akkulturation und politischer Ordnung im Hellenismus", HZ 258 (1994) 597.

83 Timpe, ,,Mindlichkeit und Schriftlichkeit" (wie Anm. 15) 273 (sowie in ,,Memoria und Geschichtsschreibung" [wie Anm. 60] 280), betont die Selbstverstaindlichkeit, mit der die nobiles in Rom die Offentlichkeit (Forum und Rostra) als Schauplatz privater Veranstal- tungen, der pompa funebris, nutzten: ,,Und so sind auch die publica memoria und die privata memoria aufeinander verwiesen und miteinander verbunden. Wo wir romische Geschichtsuberlieferung verfolgen konnen, versteht sie sich als Raum der publica memo- ria, aber ihr Inhalt sind die res gestae der GroBen".

84 Cic., Sest., 98: Huius autem otiosae dignitatis haec fundamenta sunt ... qua tuenda principibus et vel capitis periculo defendenda sunt: religiones, auspicia, potestates magistratuum, senatus auctoritas, leges, mos maiorum, iudicia, iuris dictio,fides, provin- ciae, socii, imperi laus, res militaris, aerarium. Bevor Cato seine Origines verfaBte,

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parallel zur Schaffung der nationalen Geschichte Roms viele aristokratische Familien ihre eigene Geschichte erfanden und somit eine genealogische Ver- bindung zu ihren beriihmten Vorfahren, die zum groBen Teil trojanischen Ursprungs waren, herstellten.85 Auf diese Weise bewiesen die aristokratischen Familien - genau wie die Gemeinschaft als Ganzes - ihr Alter, ihre Abgrenzung und Kontinuitat und behaupteten somit ihre Identitat innerhalb der Gemein- schaft. Ihr Fortbestehen ermoglichte das des romischen Staates und erklarte dessen Erfolge; somit war die Fuhrungsposition der Aristokratie vollkommen gerechtfertigt.

Auf jeden Fall besitzt die Rekonstruktion der archaischen Geschichte Roms einen ideologischen Charakter. Der mos maiorum stellt den Kern dieser Ideolo- gie dar, und die Aristokratie ist ihre Anstifterin. Im Grunde genommen diente das Prinzip des mos maiorum dem intemen Gebrauch innerhalb der Aristokra- tie, die es geschaffen hat und an die es sich in erster Linie richtet. Es ist ein Aufruf zum Zusammenhalt der Aristokratie, die sich selbst mit Werten ausge- stattet sieht, die geeignet sind, ihre Vormachtstellung in der res publica mora- lisch zu begrunden.

Es besteht aber kein Zweifel, daB die Fuhrungsschicht eine universelle Anerkennung ihres Wertesystems anstrebte. Wenn die Plebs den mos maiorum ebenfalls annahm, so war die Herrschaft der Aristokratie gesichert und recht- maBig begrundet. Sicherlich konnte nicht das gesamte romische Volk den mos maiorum kritiklos hinnehmen. Fur die Oberschicht hingegen stand fest, daB das von ihr verteidigte Wertesystem auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet werden muBte: Es konnte keine Alternative existieren. Einerseits sollte der mos maiorum ein Symbol fur die Identifizierung aller Romer als Angehorige der Gemeinschaft sein. Andererseits jedoch bedeutete die Beschrankung des Mus- ters auf die Vorfahren, die den maiores der Aristokratie als kollektives Vorbild dienten, eine Aneignung der Tradition durch die Fuhrungsschicht mit dem Zweck der Rechtfertigung ihrer sozialen Vorrangstellung.

prasentiert Plautus eine ironische Vision des mos maiorum der nobilitas, die darauf hindeutet, daB die Mehrheit des romischen Volkes diese Tradition, die den herrschenden Klassen vorbehalten war, nicht verehrte. Vgl. Z. Hoffmann, ,,The Parody of the Idea of mos maiorum in Plautus", Oikumene 3 (1982) 217-223; Blosel, ,,Die Geschichte des Begriffes mos maiorum" (wie Anm. 1) 28-37.

85 T.P. Wiseman, ,,Legendary Genealogies in Late-Republican Rome", G&R 21 (1974) 153-164; 0. Wikander, ,,Senators and Equites V. Ancestral Pride and Genealogical Studies in Late Republican Rome", Opuscula Romana 19 (1993) 77-90; K.-J. Holkes- kamp, ,,Romische gentes und griechische Genealogien", in: Vogt-Spira/Rommel (Hgg.), Rezeption und Identitat (wie Anm. 27) 3-21; Mora, Fasti (wie Anm. 52) 92-142.

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Geschichtsschreibung, mos maiorum und die romische Identitat 171

SchluBfolgerung

Ihre erste geschriebene Geschichte bestarkte die Romer in ihrem BewuBtsein, in der eigenen stabilen Vergangenheit den Sinn ihrer ruhmreichen Gegenwart sowie ihrer kollektiven Identitat bestatigt zu finden. Ein Wesensmerkmal in diesem ProzeB war die Feststellung des mos maiorum als Trager einer Vergan- genheit, die nun zusammenhangend und koharent beschrieben werden konnte. In den Leitbegriff des mos maiorum fliegen drei Elemente ein, die jede nationa- le Identitat begrunden: Alter, Einzigartigkeit und Kontinuitat eines moralisch uberlegenen Volkes. Der mos maiorum war eine konkrete ,,Reliquie" und ver- band als solche Vergangenheit und Gegenwart. Er symbolisierte die Gemein- schaftsbeziehungen jenseits von Zeit und Individuen. In der Geschichte Roms zeugte er vom Fortbestand der Gemeinschaft mit ihren vergangenen und gegen- wartigen Tugenden und forderte somit die Selbstachtung der Romer. Mit dem mos maiorum wurde die Eigenart der Romer und des Romertums definiert, und jeder ,gute" Romer muBte zwangslaufig ein Verfechter dieser Tradition sein.

Er kann aber insbesondere als ideologisches ,,Totem" der romischen Ari- stokratie angesehen werden, als schutzendes Wahrzeichen der Oberschicht und - durch deren Fuhrerschaft - als Sinnbild der gesamten Gemeinschaft. Er vermittelte der nobilitas als sozialer Klasse ein Bewuftsein ihrer Funktion innerhalb der Gemeinschaft und verlieh ihr eine gewisse Homogenitat. Der mos maiorum diente als Identifikationssymbol der romischen Aristokratie, als Stiit- ze der romischen Geschichte und Verbindungsglied der sozialen Elite in ihrem Bestreben, die geltende Ordnung aufrecht zu halten. Damit wurde ein politi- sches Modell verfochten, dessen Erfolg man durch die Expansion Roms im Mittelmeerraum bestatigt sah. Dieser Argumentation lag der Gedanke zugrun- de, daB in Rom alles beibehalten werden muBte, weil es schon immer so gewesen war.

In der senatorischen Geschichtsschreibung wurde das Gedachtnis der nobi- litas zur Geschichte erhoben. Ein ideologisches Netzwerk, in dessen Zentrum der mos maiorum stand, wurde geschaffen, um die soziale und politische Vorherrschaft der nobilitas zu rechtfertigen. Die ideologische Akzeptanz des mos maiorum als Zeichen sozialer Integration stellte einen politischen und institutionellen Bezug her, der die Stabilitat einer Verfassung in Schriftform besaB. Man kann sogar behaupten, der mos maiorum funktionierte wie eine von den Vorfahren iiberlieferte Verfassung Roms. Das von Fabius Pictor gepragte und von Cato sowie den Geschichtsschreibern des zweiten Jahrhunderts fortge- fuhrte Modell der Gesamtgeschichte ab Urbe condita verdeutlichte historisch und moralisch die Grofe Roms seit ihrer Entstehung bis in die Gegenwart. Dabei stellten die geeigneten Fundamente der romischen civitas die Grundlage

86 Cic., rep., 2,2; leg., 2,23.

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des Imperiums dar.86 Die romische Historiographie, in die dieses Wertesystem eingebettet war, entstand und entwickelte sich untrennbar vom romischen Im- perialismus, den die Geschichtsschreibung wiederum ethisch rechtfertigte.

Mit einer ausgewahlten und teilweise erfundenen Tradition wird immer versucht, die vorhandenen Institutionen einer Gesellschaft und ihre Autoritats- beziehungen zu rechtfertigen, sowie dem Volk ein Wertesystem und Verhal- tensmuster zu vermitteln.87 In diesem Sinne verkorperte der mos maiorum ein Wertesystem, das geeignet war, die soziale Unterordnung sowie die wirtschaft- liche Ungleichheit und die eingeschrankte politische Beteiligung der Plebs zu erklaren. Als Bindeglied zwischen Tradition und Aktualitat entwickelte der mos maiorum sich Tag fur Tag als Kontrollinstrument und zur Selbstdarstel- lung der Fuhrungsschicht jeder Epoche der Geschichte Roms. Letzendlich veranschaulicht die Haltung der romischen Oberschicht die von Orwell in seinem Roman 1984 treffend formulierte These: Wer die Gegenwart beherrscht, kontrolliert die Vergangenheit; wer die Vergangenheit kontrolliert, beherrscht die Zukunft.

Universitat Saragossa Francisco Pina Polo

87 Vgl. E. Hobsbawm, ,,Introduction: Inventing Traditions", in: E.J. Hobsbawm/T. Ranger (Hgg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, 9. Dazu bemerkt Assmann, Das kulturelle Gedachtnis (wie Anm. 4) 48: ,,Vergangenheit steht nicht naturwuchsig an, sie ist eine kulturelle Schopfung."

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