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DIE PRAXIS DER EINSICHTSMEDITATION

Eine detaillierte Darstellung der Vipassanā-Meditation

Essentials of Insight Meditation Practice Englischer Originaltitel

Ehrw. Sujiva

Deutsche Übersetzung 2004 von Thomas Michael Zeh Überarbeitet 2006 von Ursula Wurstemberger

1. Auflage 2004 Berlin

2. Auflage (revidiert) 2006 Berlin

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Titel der englischen Originalausgabe: Essentials of Insight Meditation Practice © 2000 by Sujiva ISBN 983-9245-02-3 2. Auflage 2006 Copyright © 2004-2006 by Michael Zeh Verlag www.zeh-verlag.de Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-937972-07-2

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Es gibt Leiden, aber keinen Leidenden Taten existieren, obwohl es keinen Täter gibt Verlöschen gibt es, aber keine verlöschende Person Obwohl es einen Pfad gibt, gibt es niemanden, der ihn geht. Visuddhi magga

Namo tassa bhagavato arahato sammasambuddhasa - Ehre sei Ihm, dem Erhabenen, Heiligen, vollkommen Erwachten –

Die vier Pfeiler der Achtsamkeit

So habe ich gehört. Einst weilte der Erhabene unter dem Kuru-Volk, bei einer Ortschaft der Kuru mit dem Namen Kammāsadamma. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: „Ihr Mönche!“ – „Ehrwürdiger!“ antworteten da jene Mönche dem Erhabenen. Und der Erhabene sprach also:

„Dies ist der einzige Weg, o Mönche, zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Beenden von Schmerz und Trübsal, zur Gewinnung des rechten Pfades, zur Verwirkli-chung von nibbāna, nämlich die vier Pfeiler der Achtsamkeit. Welche vier? "Da weilt der Mönch bei der Körperbetrachtung beim Körper, eifrig, wissensklar und achtsam, um Begierde und Trübsal hin-sichtlich der Welt zu überwinden; er weilt bei der Gefühlsbetrachtung bei den Gefühlen, eifrig, wissensklar und achtsam, um Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt zu überwinden; er weilt bei der Geist-betrachtung beim Geist, eifrig, wissensklar und achtsam, um Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt zu überwinden; er weilt bei der Geist-objektbetrachtung bei den Geistobjekten, eifrig, wissensklar und acht-sam, um Begierde und Trübsal hinsichtlich der Welt zu überwinden...“ (dīgha-nikāya 22)

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Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe ..................................................... 10

Vorwort .................................................................................................... 11

1. Satipa88hāna Vipassanā-Meditation .......................................... 12 Körperbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit .................................... 12 Gefühlsbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit................................... 13 Bewusstseinsbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit.......................... 13 Geistobjektbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit ............................. 13

2. Grundlegende vorbereitende Anweisungen ............................ 15 Ruhe- und Einsichtsmeditation ................................................................... 15 Wahres Glück und falsches Glück .............................................................. 15 Die Natur der Achtsamkeit.......................................................................... 16 Meditations-Retreat ..................................................................................... 17 Gehmeditation ............................................................................................. 18 Sitzmeditation.............................................................................................. 21 Andere tägliche Aktivitäten......................................................................... 26

3. Praktische Aspekte der Satipa88hāna-Meditation ................ 27 Achtsamkeit................................................................................................. 27 Achtsamkeit auf den Körper........................................................................ 29 Achtsamkeit auf die Gefühle....................................................................... 35 Achtsamkeit auf das Bewusstsein ............................................................... 36 Achtsamkeit auf die Geistobjekte................................................................ 38

4. Achtsamkeit auf den Körper........................................................ 43

5. Achtsamkeit auf die Gefühle ........................................................ 47

6. Achtsamkeit auf das Bewusstsein & auf die Geistobjekte . 52 Die Hemmungen.......................................................................................... 52 Die Sinne ..................................................................................................... 54 Die Bedeutung des Notierens der Absicht. ................................................. 55 Die Reise in die Achtsamkeit ...................................................................... 57 Nicht-Selbst und die Unstetigkeit des Bewusstseins................................... 58 Die Priorität der Achtsamkeit...................................................................... 60

7. Die fünf Hemmungen...................................................................... 62 Mattigkeit und Müdigkeit............................................................................ 63 Unruhe und Sorgen...................................................................................... 64 Vorbereitende, die Konzentration fördernde Meditationen ........................ 65

8. Die Priorität der Objekte .............................................................. 67 Systematisches Notieren & wahllose Bewusstheit...................................... 67

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Die vier Grundlagen der Achtsamkeit .........................................................73

9. Die fünf geistigen Kontrollfähigkeiten ......................................74 Die fünf geistigen Kontrollfähigkeiten ........................................................74 Konzentration und Energie ..........................................................................75 Wie balanciert ihr die fünf Kontrollfähigkeiten?.........................................77 Das Balancieren der Fähigkeiten ist dynamisch ..........................................81 Wenn wir Fortschritte in der Meditation machen........................................82

10. Das Balancieren der fünf Kontrollfähigkeiten .....................84 Das Balancieren von Energie und Konzentration........................................84 Das Balancieren von Glaube und Weisheit .................................................88 Andere Wege die Fähigkeiten der Energie und Konzentration zu balancieren ...................................................................................................90

11. Schärfen der geistigen Kontrollfähigkeiten ..........................97 Neun Wege zur Schärfung der Fähigkeiten.................................................97 Andere Möglichkeiten die Fähigkeiten zu schärfen oder zur Reife zu bringen .......................................................................................................104 Die Lehrrede Meghiya ...............................................................................107 Die Sieben Punkte......................................................................................108

12. Arten der Konzentration ...........................................................109 Richtige und falsche Konzentration...........................................................109 Wichtige Aspekte der Konzentration.........................................................110 Zwei verschiedene Wege ...........................................................................110 Die charakteristische Natur der Konzentration bei der Samatha- und Vipassanā-Meditation ................................................................................112 Vipassanā ...................................................................................................113 Die Erfahrung der verschiedenen Vipassanā-Stufen .................................114 Das kontinuierliche Notieren um die Realität zu erfahren ........................116 Die Einzigartigkeit der Vipassanā-Konzentration .....................................116 Jhāna-Stufen in der Samatha-Meditation...................................................117 Einsichtsstufen in der Vipassanā-Meditation ............................................118 Benötigte Fähigkeiten, um die Ruhemeditation (Samatha-Meditation) zu meistern......................................................................................................118

13. Die Unterschiede zwischen Ruhe- und Einsichtsmeditation....................................................................................................................122 Achtsamkeit, um zwischen richtiger und falscher Konzentration zu unterscheiden .............................................................................................122 Samatha und vipassanā .............................................................................122 Samatha bhāvanā und vipassanā bhāvanā ................................................123 Das Fortschreiten bei samatha bhāvanā ....................................................123 Ānapānasati ...............................................................................................125 Der Fortschritt des Ānapāna-Objektes.......................................................126 Der Fortschritt des Vipassanā-Objektes ....................................................128

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Zusammenfassung ..................................................................................... 131

14. Einsicht verstehen........................................................................ 132 Einsicht und Verstehen.............................................................................. 132 Die Entwicklung von Einsicht................................................................... 133 Was ist ein Konzept?................................................................................. 134 Achtsamkeit............................................................................................... 136 Einsichtswissen ......................................................................................... 137

15. Einsichtswissen in Kurzform ................................................... 140 Einsicht in die drei allgemeinen Daseinsmerkmale .................................. 140 Die wahre Natur der Realität..................................................................... 142 Leiden ........................................................................................................ 143 Die verschiedenen Stufen des Einsichtswissen......................................... 145 Das Hauptziel ist Läuterung ...................................................................... 146 Dinge auf die man achten sollte ................................................................ 146 Die zehn Trübungen der Einsicht.............................................................. 147 Ihr könnt schwierige Situationen antreffen ............................................... 147 Drei Modelle, die den Meditationsfortschritt beschreiben........................ 148 Einige Worte zu nibbāna........................................................................... 149 Ein letztes Wort ......................................................................................... 151

16. Die Wildnis des Geistes .............................................................. 152 Die fünf Verhärtungen............................................................................... 152 Die fünf Fesseln......................................................................................... 156 Die nächsten Schritte um im dhamma und vinaya Fortschritte zu erzielen................................................................................................................... 160 Vier Grundlagen des Erfolgs für spirituelles Weiterkommen................... 160

17. Wichtige Punkte für den Vipassanā-Fortschritt ............... 162 Tugend....................................................................................................... 162 Buddhistische Metaphysik ........................................................................ 162 Wege um unsere Praxis zu verbessern ...................................................... 163 Konzentration ............................................................................................ 164 Andere wichtige Faktoren ......................................................................... 165

18. Die Gratwanderung: Achtsamkeit im Alltag ..................... 168 Anpassung ................................................................................................. 168 Fluten der Befleckungen ........................................................................... 168 An der Oberfläche bleiben ........................................................................ 169 Die Gratwanderung (Living on the edge) ................................................. 173 Zusammenfassung ..................................................................................... 176

Anhang ................................................................................................... 177

A. Die fünf Hemmungen (nīvara�a)....................................................... 178 Sinnesbegehren (kāmachanda).................................................................. 178

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Übelwollen (vyāpāda)................................................................................181 Mattigkeit und Müdigkeit (thīna-middha).................................................183 Unruhe und Sorgen (uddhacca-kukkucca).................................................185 Skeptischer Zweifel (vicikicchā) ...............................................................187 Zusammenfassung......................................................................................187

B. Konzept und Realität....................................................................190

C. Schwierige Situationen auf dem Weg .....................................198 Weshalb entstehen Probleme? ...................................................................198 Die vier Schutzmeditationen......................................................................205 Anhaltende Praxis ......................................................................................205

Empfohlene Bücher ............................................................................207

Lebenslauf..............................................................................................208

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Vorwort zur deutschen Ausgabe Es freut mich, dass diese auch für Anfänger hervorragend geeignete An-

leitung zur Meditation nun auch in Deutsch erhältlich ist. Der Ehrw. Sujiva, einer der meines Erachtens kompetentesten Meditationslehrer unserer Zeit, lehrt hier in allen Einzelheiten die Einsichtsmeditationspraxis.

Die aufwendige Produktion des englischen Originals mit ihren schönen Bildern, Sinnsprüchen etc. kann ich leider aus Zeitgründen (da es noch eine Menge weiterer wichtiger Werke zu übersetzen gibt) momentan nicht an-fertigen. So habe ich mich dann auch erst mal auf das Wesentliche, nämlich den eigentlichen Text beschränkt.

Außerdem wurde der Anhang etwas gekürzt und verändert. Die Über-setzung des SatipaSShāna-Sutta wurde weggelassen, da es inzwischen genug deutsche Übersetzungen gibt (z. B.In „Geistestraining durch Achtsamkeit“ von Nyanaponika) und auch die Meditationsanleitung von Mahasi Sayadaw, da sie schon ausführlich in dem im selben Verlag erschienenen Buch „Der Weg zum Nibbāna“ Mahasi Sayadaw u. a. beschrieben wurde. Zusätzlich wurde der Lebenslauf des Ehrw. Sujiva angepasst.

Das englische Original können sie zusätzlich, wenn sie mögen, auf der Website des Michael Zeh Verlages herunterladen (www.zeh-verlag.de). Ein Dankeschön an Ursula Wurstemberger, die die 1. Auflage komplett neu überarbeitet hat.

Berlin, den 08.07.2006

Thomas Michael Zeh

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Vorwort Dieses Buch ist eine Sammlung von Gesprächen, die, anlässlich des von

mir geleiteten Eröffnungs-Retreats im Blue Mountain Einsichtsmeditations-zentrum in Australien im März 1996, gehalten wurden. Da die frühere Auf-lage dieses Buches, „A Pragmatic Approach to the Practice of Vipassanā“ Meditation, vergriffen ist, soll nun auch diese Ausgabe dem gleichen Zweck dienen, nämlich neue Vipassanā-Yogis in ihrer Praxis mit den dazu benötigten Informationen zu versorgen. Da eine lange Zeit seit der Ver-öffentlichung der ersten Auflage vergangen ist und meine Erfahrungen in der Zwischenzeit gewachsen sind, wurde es erforderlich einige neue Ab-schnitte hinzuzufügen.

Außerdem wurden Themen in der früheren Ausgabe erwähnt, die dort nicht näher erklärt worden sind. Zum Beispiel Details, um die fünf geistigen Fähigkeiten auszubalancieren. In dieser aktuellen Auflage werden sie nun ausführlich besprochen.

Ich möchte allen danken, die mithalfen, dass das Buch verfügbar ist, wie Hor Tuck Loon und Lai Fun, David Llewelyn, Quek Jin Keat, Tan Joo Lan und den vielen Spendern.

Sujiva BUDDHIST WISDOM CENTRE, Petaling Jaya, Malaysia.

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1. Satipa88hāna Vipassanā-Meditation In vielen buddhistischen Traditionen basiert die Einsichtsmeditation auf

den vier Pfeilern der Achtsamkeit, wie sie im SatipaSShāna-Sutta erwähnt werden.

Die Einzigartigkeit der burmesischen Einsichtsmeditations-Methode, die von Mahasi Sayadaw gelehrt wurde, liegt darin, dass der Anfänger als Hauptobjekt die durch den Atem steigende und fallende Bauchdecken-bewegung benutzt. Später werden auch mehrere andere Objekte verwandt.

Da es erhebliche Unterschiede in den Anweisungen der verschiedenen Lehrer gibt, ist in vielen Fällen die Entscheidung, welche der Anweisung man benutzt, abhängig von der eigenen persönlicher Erfahrung und Fähig-keit.

Satipa))hāna oder die vier Pfeilern der Achtsamkeit wurden vom Buddha als der eine und einzige Weg für die Läuterung der Wesen genannt. Die entsprechende Lehrrede beschreibt verschiedene in vier Kategorien unterteilte Meditationsobjekte, die dazu verwendet werden Achtsamkeit auf die Dinge, so wie sie sind, zu entwickeln. Es sind:

• Kāyanupassanā satipa))hāna • Vedananupassanā satipa))hāna • Cittanupassanā satipa))hāna • Dhammanupassanā satipa))hāna

Körperbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit

(kāyanupassanā satipa))hāna) Innerhalb dieses Abschnitts gibt es verschiedene Kapitel: 1. Atemachtsamkeit 2. Körperhaltung 3. Wissensklarheit 4. Nichtschönheit des Körpers 5. Die vier Elemente 6. –14. Leichenbetrachtungen auf unterschiedlichen Stufen des Zerfalls

Es ist ersichtlich, dass einige dieser Betrachtungen am Anfang reine

Ruhemeditationsübungen sind, die sich später, wie im Schlussvers des SatipaSShāna-Sutta genannt, in Einsichtsmeditationsübungen wandeln.

„...Auf diese Weise verweilt er, indem er die Ursprungsfaktoren im

Körper betrachtet, oder er verweilt, indem er die Auflösungsfaktoren im Körper betrachtet, oder er verweilt, indem er die Ursprungs- und Auf-lösungsfaktoren im Körper betrachtet...“

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Gefühlsbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit

(vedananupassanā satipa))hāna) Hier werden neun Gefühlskategorien genannt, die als Achtsamkeits-

objekt dienen. Die ersten drei Kategorien sind:

Das Wohlgefühl, das Wehgefühl und das Weder-Weh-noch-Wohl-Gefühl

Diese drei Gefühle werden dann weiter unterteilt im Hinblick darauf, ob sie körperlich (4-6) oder geistig (7-9) sind.

Bewusstseinsbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit

(cittanupassanā satipa))hāna) Die Bewusstseinsarten, die Achtsamkeitsobjekt sein können sind: 1. Gierbehaftetes Bewusstsein 2. Gierfreies Bewusstsein 3. Hassbehaftetes Bewusstsein 4. Hassfreies Bewusstsein 5. Verblendetes Bewusstsein 6. Unverblendetes Bewusstsein 7. Zusammengezogenes Bewusstsein 8. Abgelenktes Bewusstsein 9. Erhabenes Bewusstsein 10. Nicht-Erhabenes Bewusstsein 11. Übertreffliches Bewusstsein 12. Nicht-Übertreffliches Bewusstsein 13. Ruhiges Bewusstsein 14. Unruhiges Bewusstsein 15. Befreites Bewusstsein 16. Unbefreites Bewusstsein

Geistobjektbetrachtung als Grundlage der Achtsamkeit

(dhammanupassanā satipa))hāna)

1. Die fünf Hemmungen 2. Die fünf Anhaftungsgruppen 3. Die sechs internen und externe Sinnengrundlagen 4. Die sieben Erleuchtungsfaktoren 5. Die vier edlen Wahrheiten Die Körperbetrachtung (kāyanupassanā satipa))hāna) wird zuerst als

Hauptobjekt zur Ausbildung der Achtsamkeit genommen, weil sie: 1. grob, also leicht erkennbar ist, 2. in einem bestimmten Grade oder die meiste Zeit wahrnehmbar und

einfach ist

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3. und nicht schmerzhaft ist (wie z. B. die Gefühlsbetrachtung sein kann).

So kann die Körperbetrachtung über lange Zeit ohne Stress angewandt werden.

Wenn man achtsam körperliche Prozesse notiert, bemerkt man irgend-wann auch den mentalen Prozess, der damit einhergeht. Am Anfang der Praxis bestürmen den Geist meist viele Befleckungen und Gedanken und durch längeres Sitzen entstehen häufig Schmerzen.

Später werden durch Verbesserung der Achtsamkeit und Konzentration auch feinere Objekte leicht notiert.

Am Anfang der Sitzmeditationsübung stehen folgende Objekte:

• das Steigen und Fallen der Bauchdecke, • die Sitz- und Berührungsempfindungen, • Denken oder Ruhelosigkeit, • Schläfrigkeit, • Hören von Geräuschen. • Schmerzen und angenehme Gefühle. Das „Steigen“ und „Fallen“ der Bauchdecke wird zuerst als Hauptobjekt

der Meditation genommen. Aber wenn es sehr schwach wird, werden statt-dessen die Sitz- und Berührungsempfindungen notiert. Während längerer Sitzperioden werden dann Schmerzen und Gefühle stattdessen notiert. Andere weniger häufige Objekte werden auch notiert und wenn sie wieder verschwinden, kehrt man zur Beobachtung des Hauptobjektes zurück.

Für die Gehmeditation gilt dasselbe. Der Gehprozess ist das Haupt-objekt und die anderen Objekte (Schmerzen, Denken, Sehen, Hören etc.) sind sekundäre Objekte.

Auf diese Weise können die körperlichen und geistigen Phänomene achtsam, so wie sie als Prozess erscheinen und verschwinden, beobachtet werden.

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2. Grundlegende vorbereitende Anweisungen Das Hauptziel der buddhistischen Meditation ist es den Geist von allen

negativen Tendenzen – wie Gier, Hass und Verblendung – durch geistiges Training zu reinigen. Wenn alle negativen Tendenzen entfernt sind, ist der Geist vom Leiden befreit. Das tatsächliche Ziel ist sehr hoch, es zielt auf die komplette Aufhebung des Leidens. Dieser Prozess findet nicht nur in einem Leben statt, sondern erstreckt sich über viele Existenzen.

Ruhe- und Einsichtsmeditation

Es gibt zwei Meditationsarten Ruhemeditation und Einsichtsmeditation. Der wichtigste Faktor beider Meditationsarten ist die geistige Entwicklung der Achtsamkeit.

Ruhemeditation ist die Konzentration eines ruhigen friedlichen Geistes. Sie hat zum Ziel den Geist kontrolliert und achtsam auf ein Objekt zu richten und ihm nicht zu erlauben abzuschweifen. Der Geist ist dann dadurch wie eine nicht flackernde Kerzenflamme vollständig in Ruhe. Das ist die Natur der Ruhemeditation. Der Geist wird dadurch sehr friedlich und kraftvoll, da die Konzentration die eines reinen unbefleckten Geistes ist.

Einsichtsmeditation ist anders. Sie ist nicht nur damit beschäftigt, den Geist ruhig zu halten. Sie beschäftigt sich mit durchdringender Beobach-tung, ohne zu denken, ohne irgendwelche Vorstellungen. Sie erlaubt dem Geist die wahre Natur der Dinge, so wie sie sind, zu verstehen. Sie durch-dringt Dinge, wie die Natur des Geist-Körper-Prozesses, die Natur der Person und die Natur der Welt. Durch das Verstehen der Natur der Existenz hat der Geist dann keine Probleme mehr mit dem Wesen der Existenz. Der Geist versteht die wahre Natur der Dinge und wird dadurch gereinigt. Durch dieses Verfahren transzendiert der Geist alles. Er transzendiert die konzeptionelle Realität, er transzendiert die bedingte Realität und geht schließlich in einen unveränderlichen Zustand der absoluten Realität ein. Durch lange Praxis ist es das, was letztendlich vom Geist erfahren wird.

Am Anfang unserer Übung müssen wir zuerst das Wesen der Achtsam-keit erfassen und sie dann - solange wir leben - weiterentwickeln. Die An-wesenheit von Achtsamkeit bestimmt den Unterschied zwischen wahrem und falschem Glück und - ob man wirklich lebt oder eigentlich tot ist.

Wahres Glück und falsches Glück

Wahres Glück ist, wenn wir echten „Seelenfrieden“ haben. Falsches Glück, wenn Gier und Aufregung den Geist überwältigen. Dies kann auch eine Angelegenheit von Leben und Tod werden. Sonst kann es z. B. pas-sieren, dass wir durch Unachtsamkeit einen Unfall verursachen. Achtsam-keit kann auch unsere Wiedergeburt im Himmel oder in der Hölle be-stimmen, da nach der Lehre des Buddha Kamma-Resultate von heilsamen oder unheilsamen Taten abhängen. Diese Kamma-Resultate werden uns in den Himmel, zur Erde oder zur Hölle bringen. Letztendlich ist es Achtsam-keit, die den Unterschied zwischen nibbāna und samsāra (ewiges Glück und ewiges Leiden) macht. Deshalb ist es nicht wichtig, wie wir leben, wo

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wir leben und wer wir sind. Die praktizierte Achtsamkeit macht den bedeut-samen Unterschied.

Da wir Achtsamkeit entwickeln möchten, ist es nötig eine klare Vorstel-lung vom Wesen der Achtsamkeit zu haben.

Die Natur der Achtsamkeit

Es gibt mehrere charakteristische Faktoren der Achtsamkeit. Der erste Faktor ist Geistesklarheit. Das heißt, ein reiner klarer Geist, der frei ist von Gier, Ärger, Langeweile, Wahnvorstellungen und Fantasien. Wenn Gier oder Anhaften, Ärger oder Hass, Wahn oder Langeweile im Geist ent-standen sind, ist der Geist nicht richtig klar. Würdet ihr z. B. bei einem Be-trunkenen sagen, dass sein Geist klar ist? So ein Geist ist nicht klar, sondern völlig durcheinander. Alles, was er will, ist wahrscheinlich noch mehr Alkohol trinken um seine Sorgen zu ertränken. Ein anderes Beispiel ist, dass jemand ärgerlich wird, die Beherrschung verliert, sehr traurig oder de-pressiv ist. Würdet ihr denken, das dieser Geist klar ist? Nein, dieser Geist ist nicht klar. Dieser Geist ist schwer, dunkel, aufgeregt, düster und töricht. Achtsamkeit ist ein sehr klarer Zustand des Geistes. Wenn ihr sehr wach-sam seid, dann ist euer Geist klar und ungestört. Dies wird Geistesklarheit genannt. Euer Geist ist dann wie klares Wasser, wie der klare Himmel.

Der zweite charakteristische Faktor der Achtsamkeit ist Stabilität, Stille und Frieden. Lasst uns einmal die Gegensätze vergleichen. Wenn der Geist einer Person Ärger erfährt, ist er aufgeregt, nicht ruhig, nicht stabil. Er ist gestört wie aufgerührtes oder kochendes Wasser. Auch wenn der Geist Ver-langen erfährt, ist er aufgeregt und gestört und nicht ruhig und fest. Wenn der Geist nicht ruhig, friedlich und fest ist, ist er in einem verwirrtem Zu-stand. Er ist stumpf. Der Geist, der ruhig, friedvoll und fest ist, ist genauso, als wenn wir aus einer guten Meditation oder einem guten Schlaf heraus-kommen. Wir haben keine Sorgen. Es ist geradeso, als wenn wir am Strand schlendern oder als wenn wir zu Hause ein gutes Buch lesen. Unser Geist ist dann ruhig und fest. Dies ist natürlich jetzt nicht eine Beschreibung des meditativen Zustandes, sondern die Beschreibung eines ruhigen und festen Geistes. Wenn wir uns in einem Zustand der Ruhe, Stetigkeit und Fried-lichkeit befinden, sollten wir, wenn uns jemand beschimpft, in Ruhe ver-bleiben und nicht verstört werden. So ist der Zustand der Achtsamkeit fried-lich, glücklich und stressfrei. Es ist charakteristisch für die Achtsamkeit, dass, wenn Geistesklarheit, Stabilität, Ruhe und Frieden erreicht sind, ein dritter Faktor ins Spiel kommt.

Dieser dritte Faktor ist die Wachsamkeit des Geistes. Der Geist wird nicht im schlechten, sondern im guten Sinne empfindsam. Empfindsam zu sein im schlechten Sinne heißt, wenn wir durch jemanden, der etwas Ärger-liches sagt, gestört werden. Im guten Sinne empfindsam bedeutet, sehr ruhig, wachsam, stabil und scharfsinnig zu sein darüber, was jetzt gerade passiert. Man weiß genau im Einzelnen und mit großer Klarheit, was gerade geschieht. Bitte stellt euch diese Eigenschaften der Achtsamkeit vor. Versucht den Zustand der Achtsamkeit zu erfassen, sobald ihr ihn habt.

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Wenn wir sicher erkennen können, dass diese Qualitäten in unserem Geist existieren, können wir tatsächlich sagen, dass wir achtsam sind.

Es gibt auch noch einen anderen Typ von Achtsamkeit mit ähnlichen Eigenschaften, der während der Einsichtsmeditation entsteht. Dieser Zu-stand ist wie ein Licht, wie eine Bewusstheit, die in uns selbst konzentriert ist, in unsere eigenen Geist- und Körperprozesse. Das letztendliche Ziel der Einsichtsmeditation ist es, nach innen zu schauen und dort unsere eigene Natur zu entdecken. Nur weil wir unsere eigene Natur nicht verstehen, tauchen Befleckungen wie Gier, Hass und Verblendung und damit das ganze Leiden auf.

Es gibt bestimmte spezielle Eigenschaften, die mit Achtsamkeit in der Einsichtsmeditation verbunden sind. Die erste der Eigenschaften ist „nicht denken“. Wir denken nicht, wir beobachten nur. Das heißt aber nicht, dass wir während eines Retreats überhaupt nicht denken. Aber wenn wir denken, wissen wir achtsam darum. In der formalen Meditationsübung wird das Denken jedoch zur Seite gelegt und der Geist beobachtet mit konzentrierter Achtsamkeit ohne zu denken. Die zweite Eigenschaft (nachdem wir aufge-hört haben zu denken) ist, dass der Geist auf die Gegenwart oder die gegenwärtigen Ereignisse ausgerichtet ist. Wir gehen nicht in die Ver-gangenheit oder Zukunft. Wir halten den Geist auf die Gegenwart gerichtet und wissen, was mit unserem Meditationsobjekt geschieht.

Zusammengefasst gibt es folgende Qualitäten der Achtsamkeit:

• Der Geist ist klar, ohne Gier, Hass und Verblendung. Der Geist muss

frei von aller Verwirrung und Aufregung sein. • Der Geist ist stabil, ruhig, ungestört und friedvoll. • Sobald der Geist frei, ruhig, stabil und ungestört geworden ist,

machen wir den Geist nun scharf und empfindsam (empfänglich). Wenn die Achtsamkeit scharf und empfindsam ist, richten wir sie immer wieder auf unser Meditationsobjekt. Wenn wir unsere Acht-samkeit wiederholt so auf das Meditationsobjekt lenken, während wir die ganze Zeit wissen, was im gegenwärtigen Moment passiert, dann steigt der Prozess der Einsichtsentwicklung auf.

Wie werden wir uns in dieser Welt bewegen, wenn wir achtsam sind?

Wir bewegen uns dann glücklich, ruhig und effizient. Wir entwickeln aber nicht nur Achtsamkeit um uns glücklich in dieser

Welt zu bewegen, sondern versuchen wesentlich mehr zu entfalten als nur das.

Meditations-Retreat

Während dieser Zeit der eigentlichen Meditation, wenn unsere gesamte Energie auf das Erkennen, was in uns vorgeht, gerichtet ist (also in den Geist- und Körperprozessen), ziehen wir den meisten Nutzen aus ihr. Während des Retreats ist unser Leben auf eine minimale Anzahl von

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Aktivitäten reduziert. Diese Aktivitäten können so unterteilt werden: Geh-meditation, Sitzmeditation und andere alltägliche Aktivitäten.

Was auch immer für eine dieser Tätigkeiten gerade ausgeführt wird, der Zweck der Praxis ist immer:

• den Geist in der Gegenwart zu halten, • die Achtsamkeit klar, ruhig und gegenwärtig zu halten, • zu sehen, was mit unserem Meditationsobjekt gerade passiert. Während der Gehmeditation ist der Gehprozess das Objekt der Acht-

samkeit. Während der Sitzmeditation ist das Objekt das „Steigen“ und „Fallen“ der Bauchdecke. Und in anderen alltägliche Aktivitäten ist unser Objekt dasjenige, was wir gerade tun und darum zu wissen.

Gehmeditation

Es ist üblich, die Gehmeditation nach Geschwindigkeit einzuteilen: • Zügiges Gehen • Moderates Gehen • Langsames Gehen

Zügiges Gehen

Zügiges Gehen ist ein Gehen, das schneller ist als unser normales Gehen. Es kann auch beinahe zum Laufen werden. Wenn wir zügig gehen, halten wir unseren Geist auf den Schritt gerichtet. Um den Geist besser auf den Schritt zu halten, können wir mental sagen „Links, Rechts, Links Rechts...“ oder „Gehen, Gehen....“. Normalerweise wird auf einer geraden nicht zu langen Strecke gegangen. Am Ende der Strecke drehen wir dann um.

Während langer Retreats wird zügiges Gehen manchmal nach ausgiebi-gen Sitzperioden zur Vertreibung der Müdigkeit angewendet. Nach fünf oder zehn Minuten zügigem Gehen können wir dann zum moderaten Gehen wechseln.

Moderates Gehen

Während eines kurzen Retreats wird meistens in moderatem Tempo ge-gangen. Zuerst müssen wir uns unserer stehenden Körperhaltung bewusst werden. Die stehende Haltung ist eine gute Ausgangsbasis um unsere Acht-samkeit auf unsere Füße hinunterzulenken. Wenn wir so stehen, nehmen wir zuerst einen tiefen Atemzug und entspannen uns. Entspannung ist eine der ersten Schritte um die Achtsamkeit zu erwecken. Wenn wir verspannt sind, können wir nicht locker und achtsam sein. Wenn wir wissen, dass unser Körper entspannt ist, lassen wir unseren Geist klar werden, ohne irgendeinen Gedanken. Haltet den Geist einfach ruhig, klar und geistig ent-spannt.

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Während der Gehmeditation sind unsere Augen nach unten gesenkt, sie schauen jedoch nicht etwas Bestimmtes am Boden an. Unsere Augenlider sind halb geschlossen, wenn wir entspannt sind. Nur wenn wir wirklich etwas anschauen wollen, sehen wir geradeaus. Sonst sind unsere Augen abwärts gerichtet.

Wir fokussieren nichts, weil wir unsere Achtsamkeit auf unsere Fuß-sohlen gebracht haben. Wenn wir das Bewusstsein vom Kopf zu den Fuß-sohlen bringen, werden wir wissen, dass der Körper aufrecht und fest steht. Ihr könnt geistig notieren „Stehen, Stehen...“ Seid euch dabei des ganzen Körpers bewusst. Wir müssen sicher gehen, dass wir echte Bewusstheit wie die, die wir früher beschrieben haben, besitzen: klar, stetig, ruhig, sehr wachsam und empfindsam zur stehenden Körperempfindung. Erst dann bringen wir das Bewusstsein auf die Fußsohlen. Das achtsame Bewusstsein ist wie ein Licht, das exakt an einem Punkt scheint. Wir halten unseren Geist sehr ruhig und empfindsam, klar und wachsam und dann lenken wir unsere Bewusstheit aufs Ziel. Durch die den Boden berührenden Fußsohlen haben wie entsprechende Empfindungen wie Gewicht, Untergrundstruktur, Hitze, Kälte oder nur klare Bewusstheit.

Wenn wir viele Empfindungen spüren, gehen wir normalerweise davon aus, dass sie wahr sind. Wir müssen unsere Bewusstheit auf diese Empfin-dungen fokussieren. All diese Empfindungen sind Grunderfahrungen, bevor andere abgeleitete Formen und Gedankenprozesse beginnen. Wie zum Bei-spiel die Idee, wer wir sind, was wir sind und was um uns los ist. Wenn wir diese Grundempfindungen erfasst haben, fangen wir normalerweise an darüber nachzudenken und so entwickelt der Geist dadurch noch andere weitere Vorstellungen. Diese Grundempfindungen sind die rudimentäre Form der Erfahrung und Existenz und der Anfang, bevor all die kompli-zierten Dinge erscheinen.

Wenn wir uns dieser Empfindungen bewusst geworden sind, fangen wir an zu gehen – linker Schritt, rechter Schritt, linker Schritt, rechter Schritt, wir sagen mental „Links, Rechts, Links, Rechts.“ Mentales Notieren „Links, Rechts“ hilft uns den Geist auf das Objekt gerichtet zu halten, damit wir nicht anfangen zu denken.

Gewöhnlich sind die Hände vor oder hinter dem Körper gefaltet. Die Füße sollten nicht zu hoch gehoben werden, sonst steht ihr nicht sicher und fest. Der Platz zwischen euren Füßen sollte auch nicht zu groß sein, weil ihr so auch nicht stabil steht. Das Schritttempo sollte moderat langsam sein und die Schritte sollten nur halbe Länge haben. Wenn ihr noch langsamer geht, werdet ihr das Gefühl haben, als würden eure Füße parallel über den Boden gleiten. Hebt nicht mit Absicht euer Bein hoch. Wenn sich der Körper vor-wärts bewegt, heben sich die Fersen automatisch. Dreht eure Fersen dabei nur wenig.

Dann schiebt den Fuß vorwärts und setzt ihn ab. Das Ablegen sollte wie bei einem langsamen natürlichen Gang geschehen. Stellt sicher, dass ihr achtsam, klar, stabil, friedvoll und sehr wachsam seid und genau darauf zielt, was mit dem Schritt gerade passiert. Dies scheint ein sehr einfaches Verfahren zu sein, aber der Geist gehorcht normalerweise nicht. Er kann

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nicht für lange Zeit auf den Fuß fokussiert sein, sondern wandert sonst wo hin. Er denkt oder er wird stumpf. So hat er natürlich keine Achtsamkeit mehr.

Denken während der Gehmeditation

Es gibt zwei Arten des „Denkens”:

1. Wir wissen, dass wir denken. Sobald wir wissen, dass wir denken, geht das Denken weg. In diesem Fall müssen wir mit dem Gehen nicht aufhören.

2. Wir wissen, dass wir denken, aber wir können damit nicht aufhören. In diesem Fall müssen wir anhalten und geistig notieren „Denken, Denken...“ Wenn wir das Denken achtsam erkennen, geht es weg. Wenn es weggegangen ist, sind wir wieder bewusst. Dann können wir unseren Geist wieder zu den Fußsohlen bringen und weiter-machen.

Manchmal taucht das Denken während der Gehperioden öfter auf und

ihr müsst häufiger stoppen. Eine andere Störung ist Langeweile. Beim Gehen fangen wir dann an herumzugucken. Wenn wir bemerken, dass wir herumschauen, müssen wir geistig notieren „Schauen, Schauen“. Falls wir das Nichtgelingen bemerken, halten wir an, notieren geistig „Stehen, Stehen“ und beginnen von vorn.

Man könnte dies als das „Surfen des Gehens“ bezeichnen. Die Wellen wären dann die Erscheinungen, die uns umgeben. Bemerken wir, dass wir unsere Achtsamkeit verloren haben, sollten wir einen festen Stand finden um uns selbst wieder auszubalancieren und von vorn zu beginnen.

Manchmal neigt der Geist zu starken Störungen. Auch wenn wir an-halten und notieren „Denken, Denken... ,“ tendiert er noch zu Fantasien und inneren Monologen. Wenn das passiert, müssen wir zügig gehen „Links, Rechts, Links, Rechts...“ mit kontinuierlichem Tempo.

Beobachtungen während der Gehmeditation

Sobald wir dafür ein Gefühl bekommen haben und kein Denken mehr vorhanden ist, folgt der Geist einem bestimmten Rhythmus. Wenn der Geist dann diesem Rhythmus und Schritttempo folgt, ist es auch einfacher den Erscheinungen zu folgen. Es ist genauso, als würden wir tanzen und in den Rhythmus der Musik kommen.

Wir werden bemerken, dass der Geist dem Gehen bei einem bestimmten Tempo, in einem bestimmten Rhythmus bequem folgen kann, und wenn wir ihn so halten, baut sich die Achtsamkeit und Konzentration aus. Es gibt hier drei Prozesse:

1. Das Erwecken der Bewusstheit Wir versuchen uns zu entspannen und unseren Geist zu klären, ver-suchen achtsam zu sein auf alles, was wir denken. Wir können er-kennen, ob der Geist stumpf ist oder irgendwohin wandert. Wenn dem

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so ist, heißt das, dass wir nicht achtsam sind. Deshalb müssen wir dann die Bewusstheit zurückbringen und uns selbst stabilisieren. 2. Wenn erst einmal die Achtsamkeit erweckt worden ist, folgen wir mit Bewusstheit dem Objekt. Also den Fußschritten: „Links, Rechts, Links, Rechts...“ Es ist nicht so, als würde man auf ein festes Ziel schießen, sondern eher auf ein sich bewegendes Ziel wie eine Videokamera, die der Bewegung folgt. 3. Wenn wir es schaffen dem Objekt eine Zeit lang zu folgen, kommen wir zur dritten Phase der Meditation. Die eigentliche Phase der Ein-sichtsmeditation ist Beobachtung. Nur wenn wir dem Objekt richtig folgen können, kann das Beobachten gut ausgeführt werden. Während der dritten Phase der Meditation muss die Beobachtung des

Gehens mit langsamerem Tempo erfolgen. Jetzt beobachten wir die Empfindungen. Wenn wir z. B. unseren hinteren Fuß anheben, nehmen wir eine Zugkraft wahr. Wie wir dies erfahren, ist davon abhängig wie klar und scharf wir unser Ziel in diesem Prozess erfassen. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wie fühlen wir uns, wenn wir eine Tasche anheben? Wenn die Muskeln anziehen, können wir normalerweise die Anspannung des Hochhebens fühlen. Wenn die Tasche allerdings nicht so schwer ist, fühlen wir nur den Hebemoment und nicht die Anspannung. Wir wählen nicht aus, was wir empfinden. Wir richten unseren Geist auf das Objekt und erlauben unserem Geist die Erfahrung aufzunehmen.

Beim Anheben des Fußes notieren wir im Geiste „Heben, Heben“ und beobachten dabei die Hebeempfindung. Beim Vorwärtsschieben sagen wir mental „Schieben, Schieben“ und beobachten die Schiebeempfindung. Die Schiebeempfindung ist in etwa so, als wenn wir einen Einkaufswagen im Supermarkt schieben. Wie fühlt sich dieses Schieben an? Natürlich mag es sich ein wenig schwerer nach einem Essen anfühlen, aber wenn sich euer Geist leicht fühlt, dann ist die Bewegung schneller und wir fühlen nur die Schiebebewegung.

Wenn wir unseren Fuß ablegen, sagen wir mental „Ablegen, Ablegen“ und fühlen die Aufsetzempfindung. Es ist wieder wie das Ablegen unserer Tasche ablegen. Auf welche Weise fühlen wir sie? Da ist eine Art von Ent-spannungsgefühl. Wenn wir unseren Fuß ablegen und den Boden berühren, können wir wieder die Fußsohle spüren. Wir verfolgen so jetzt jeden Schritt. Und zwar beobachten wir die Abfolge von Empfindungsvorgängen, die von der Wade bis zur Sohle beim Gehen auftreten. Diese Empfindungen finden noch vor der Konzeptbildung statt. Dies ist die direkt zu beobach-tende Realität.

Sitzmeditation

Nach der Gehmeditation machen wir in sitzender Haltung weiter. Wie bei der Gehmeditation sollten wir zuerst entspannen. Dazu nehmen wir

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einen tiefen Atemzug. Entspannung ist eine der ersten Bedingungen, damit Achtsamkeit entstehen kann. Nachdem wir entspannt sind und einen klaren Geist haben, richten wir unsere Achtsamkeit auf die Bauchdecke. Wenn wir ein- und ausatmen, gibt es eine durch die Atmung verursachte Bauch-deckenbewegung. Wir nennen die Aufwärts- oder Aufbewegung das „Heben“. Wir nennen die Abwärts- oder Abbewegung das „Senken“. Wenn Anfänger diese Bewegung nicht gut erkennen können, können sie die Hände auf die Bauchdecke legen oder dort falten.

Damit ihr die Bewegung besser spürt, nehmt ein paar tiefe Atemzüge. Wenn die Bauchdecke sich hebt, sagt mental „Heben“ und wenn sie sich senkt, sagt mental „Senken“. Wenn unser Geist denkt, schläfrig ist oder stumpf, dann können wir die hebende oder fallende Empfindung überhaupt nicht spüren. Wenn die hebende oder senkende Bewegung nicht da ist, heißt das gewöhnlich, dass wir nicht achtsam sind. Es ist genauso wie in der Gehmeditation, zuerst seid achtsam und dann folgt achtsam dem Objekt. Wenn wir erst mal dem Heben und Senken mit Achtsamkeit folgen können, wird die Konzentration aufgebaut.

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Wenn die Konzentration aufgebaut ist und wir jedem „Heben“ und „Senken“ sorgfältig vom Anfang bis zum Ende folgen, können wir die Empfindungen auch beobachten. Es ist wie das Beobachten des Auf und Ab von Wellenbewegungen. Die Bewegung geht auf und ab gemäß ihren Be-dingungen. Wir versuchen ihnen dann noch näher und präziser zu folgen, als ob unser Geist immer näher an die Wellenbewegung geht – „Heben“ und „Senken“ – aufwärts und abwärts. Dann beobachten wir, wie die Be-wegung Stück für Stück aufsteigt, bis sie stoppt und dann Stück für Stück oder Moment für Moment wieder auf die gleiche Art und Weise absteigt. Seid achtsam, folgt und beobachtet den Vorgang.

Wahrscheinlich sind wir nicht von Anfang an fähig, dem Objekt so leicht zu folgen und mit ihm mitzugehen. Gewöhnlich „springen“ wir nach einer Weile über das Objekt hinweg, weil unsere Achtsamkeit, also unser Fundament, nicht stabil ist. Das heißt, dass Wellen von Gedanken kommen und uns „wegplatschen“, und wir deshalb wieder in Gedanken verloren sind. In dem Moment, wo wir wieder zu Sinnen kommen „Oh! Ich habe gedacht! Mein Geist wanderte!“ sollten wir „Denken, Denken..., Bewusst, Bewusst...“ notieren. Sobald wir wieder achtsam sind, hören die Gedanken auf. Wenn wir mit den Gedanken mitgehen, gibt es kein Ende und wir werden höchstwahrscheinlich die ganze Meditationsperiode denkend ver-bringen. Wenn die Gedanken verschwinden, stabilisieren wir unsere Acht-samkeit wieder und beobachten unser Objekt, wie es auf und ab geht.

Etwas anderes kann auch noch geschehen: dass wir zwar nicht unseren Gedanken nachhängen, aber anfangen zu dösen und nicht wissen, was gerade im Moment passiert. In dem Moment, wo wir zu uns kommen, wissen wir: „Ah! Ich fühle mich schläfrig, schläfrig... Ich will wachsam bleiben. Ich will wachsam bleiben...“. Wir öffnen unsere Augen, sind bewusst und fangen von vorne an. Anfangs gibt es häufig Momente, in denen wir denken oder dösen. Jedes Mal, sobald wir dies erkennen, müssen wir unsere Achtsamkeit aufrütteln und die Bewusstheit zurück zum „Heben“ und „Senken“ bringen. Mit mehr Übung werden wir fähig werden achtsam zu bleiben, den Wellenbewegungen näher und präziser zu folgen und sie zu beobachten.

Störungen während der Sitzmeditation

Während der Sitzmeditation können viele verschiedene Dinge ge-schehen und Schwierigkeiten auftauchen. Viele Störungen warten auf uns, wenn wir sitzen. Eine davon ist Schmerz. Wir geben uns aber nicht mit den kleinen Schmerzen hier und dort ab. Wir machen einfach mit Notieren „Heben, Senken“ weiter. Manchmal kann der Schmerz sehr intensiv werden. Insbesondere wenn wir nicht gewohnt sind lange mit gekreuzten Beinen auf dem Boden zu sitzen. Wenn der Schmerz sehr stark ist, ver-lassen wir das Hauptobjekt („Heben“ und „Senken“). Wir schalten nun um auf den Schmerz, oder wenn es stark jucken sollte, auf das Jucken um dann damit die Achtsamkeit anzuregen. Das Prinzip ist dasselbe. Stellt sicher, dass euer Geist klar, wachsam stabil und achtsam ist. Dann beobachtet den Schmerz. Die Achtsamkeit ist nun auf den Schmerz gerichtet und beobach-

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tet ihn. Wir schauen und fühlen wie sich der Schmerz benimmt, ohne davon beeinflusst zu werden. Wenn wir den Schmerz lang genug beobachten und er dadurch weggehen sollte, kehren wir wieder zum „Heben“ und „Senken“ zurück. Wenn der Schmerz aber nicht weggeht und wir ihn nicht mehr aus-halten können, dann verändern wir unsere Körperhaltung achtsam. Zuerst strecken wir unsere Beine aus um sie dann wieder zurück in Position zu bringen. Der Geist wird wieder ruhig und wir richten ihn von neuem auf das „Heben“ und „Senken.“

Kurz zusammengefasst: stellt sicher, dass der Geist weder denkt noch döst. Wenn dem aber so ist, müssen wir sofort versuchen, unsere Bewusst-heit wiederzuerlangen. Bringt den Geist zum Meditationsobjekt z. B. zum „Heben“ und Senken“ und bleibt dabei. Wenn der Schmerz klarer und stärker wird, beobachten wir ihn so lange, bis wir ihn entweder nicht mehr aushalten können, oder bis er von allein weggeht. Dann kehren wir wieder zur Achtsamkeit auf das „Heben“ und „Senken“ zurück. Das Wichtigste ist die klare Bewusstheit und die Achtsamkeit auf das gegenwärtige Gefühl oder die Empfindung.

Hin und wieder ist das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke nicht wahrnehmbar. „Heben“ und „Senken“ ist nicht immer da und es verändert sich auch. Es ist schnell oder langsam, lang oder kurz, manchmal wellen-artig oder manchmal „anspannend.“ Wie eine Welle, die sich auch niemals gleich ist. Ab und zu ist sie hoch, bisweilen niedrig oder sie ist hart und manchmal sehr weich. Was auch immer für eine Empfindung erscheint, wir versuchen ihr zu folgen und sie zu erfahren, so wie sie ist. Das ist das Trai-ning der Achtsamkeit.

Sitz- und Berührungsmethode

Wenn das „Heben“ und „Senken“ nicht wahrnehmbar ist, gehen wir zu-rück auf „Sitzen“ und „Berühren.“ Wir machen uns den Hintern bewusst, der in Kontakt mit dem Kissen oder dem Boden ist und spüren die Empfin-dungen dort. Während wir sie beobachten, sagen wir mental „Berühren, Berühren...“. Zuerst spüren wir vielleicht gar nichts, aber wenn wir richtig konzentriert sind und unseren Geist lange genug auf den Berührungspunkt halten, kommt eine Serie von Empfindungswellen auf uns zu, die nun zu unserem Hauptobjekt werden. Am Anfang werden wir wenig Gebrauch von „Sitzen“ und „Berühren“ machen, weil wir das „Heben“ und „Senken“ fast immer erkennen können. Wenn das „Heben“ und „Senken“ jedoch nicht da ist, gehen wir zu „Berühren“ über und wechseln es mit „Sitzen“ ab, dass heißt, dem Beobachten der Spannung am Rückgrat. Während wir also die Empfindungen beobachten, notieren wir „Berühren, Berühren, Sitzen, Sitzen, Berühren, Berühren...“.

Gewöhnlich müssen wir nicht sehr lange „Sitzen“ und „Berühren“ be-obachten. Wenn „Heben“ und „Senken“ vorübergehend aufhört, gehen wir eben nur für eine Weile zu „Berühren“ und kommen dann wieder zu „Heben“ und „Senken“ zurück. Wenn das „Heben“ und „Senken“ für lange Zeit verschwindet, beobachten wir - wie gesagt - mehr die Berührungs-empfindungen am Hintern und den Beinen mit „Berühren, Berühren“, ge-

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folgt von der Spannung im Rückgrat mit„Sitzen, Sitzen“. Dann gehen wir ebenfalls wieder zurück zu „Heben“ und „Senken“. Warum machen wir das? Der Grund liegt in der Aufrechterhaltung unserer Kontinuität der Achtsamkeit, der Ruhe sowie der klaren Bewusstheit. Das ist sehr nützlich für uns. Gewöhnlich ist jemand nur kurze Zeit achtsam, es mangelt ihm an Kontinuität und die Achtsamkeit ist nicht tief. Er ist nicht fähig einen anhal-tenden Frieden und ein tiefes inneres Verständnis seiner selbst zu erzeugen. Wenn wir erst einmal trainiert sind diese Art der klaren Bewusstheit auf-rechtzuerhalten, wird das innere Verstehen länger und tiefer andauern. Im weiteren Verlauf wird aus dem tiefen Verstehen Einsichtswissen werden, das unseren Geist reinigen wird und uns befriedigendes Glück schenken kann.

Andere tägliche Aktivitäten

Wenn wir verstanden haben wie Sitz- und Gehmeditation durchgeführt werden, können wir uns nun dem Alltag, der einen großen Teil unseres Lebens ausmacht, zuwenden. Wir müssen achtsam allen Aktivitäten im All-tag folgen und sie präzise beobachten, z. B. vom Moment an, wo wir zur Toilette gehen, bis wir damit fertig sind. Wenn wir essen oder Wasser trinken, müssen wir auch hier Achtsamkeit praktizieren. Beim Wasser-trinken müssen wir achtsam auf das Wasser und auf die Tasse sehen, darauf achten wie wir unsere Hände bewegen, wie unsere Hände die Tasse zum Mund führen, wie wir das Wasser trinken, wie das Wasser die Kehle herunterrinnt, die Erfahrung der Kühle des Wassers, die Erfahrung der Empfindungen und wie all diese Empfindungen kommen und gehen.

Abgesehen vom achtsamen Beobachten der Aktivitäten im Alltag, ver-sucht auch die Absicht einzufangen, die jeder Handlung vorangeht. Zwischen jeder Handlung wie sitzen und gehen, gehen und stehen etc., gibt es eine Absicht oder ein Impuls. Zum Beispiel nach langem Sitzen, sagen wir nach einer halbe Stunde, möchten wir aufstehen. Wir mögen das Gefühl des Sitzens nicht mehr. Der Geist sagt uns: „Ich möchte nicht mehr sitzen. Ich möchte aufstehen.“ Es erscheint wie ein Trieb oder Drang, es erscheint als Absicht. Manchmal entsteht es auch durch Überlegen. Wenn so eine Absicht entsteht, sollten wir sie notieren. Andere Beispiele sind die Absicht aufzuwachen, aufzustehen, zu gehen oder sich zu setzen. Wir müssen all diese Absichten zur Kenntnis nehmen, weil diese Teil des Körper-Geist-Prozesses sind und wir so kontinuierliche Achtsamkeit entstehen lassen können.

Wir müssen uns all dieser Aktivitäten sehr bewusst sein. Wenn wir ihrer bewusst sind, wird der Geist friedvoll, ruhig und glücklich. Wenn wir weiter fortschreiten, verstehen wir, dass dies alles natürliche Erscheinungen sind. In den tieferen Aspekten der Praxis, wenn unsere Achtsamkeit konti-nuierlich geworden ist, kann der Geist auf korrekte Art und reine Weise wirklich konzentriert sein und der Geist springt und vermischt sich mit jedem Objekt, das kommt und geht. Dann können wir die wahre Natur des Objektes verstehen. Die Realität, die als veränderlich, leidhaft und Nicht-Selbst beschrieben wird.

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3. Praktische Aspekte der Satipa88hāna-Meditation In Malaysia scheint das Interesse am Buddhismus und vipassanā zu

wachsen. Aber nicht viele haben die Gelegenheit richtige Anleitungen von einem Meditationslehrer zu erhalten. Außerdem benötigt das Training durch einen Vipassanā-Lehrer Zeit und viel eigene praktische Erfahrungen.

Bücher können beim Erlernen von vipassanā eine große Hilfe sein. Leider gibt es nur wenig gute Meditationsbücher. Auch die paar wenigen erhältlichen guten Meditationsanleitungen, sind oft teuer und nicht überall verfügbar. Nehmt zum Beispiel die visuddhi magga (Der Weg zur Rein-heit), ein verlässlicher Kommentar und ein Handbuch für Meditations-meister. Sie wird in den meisten Buchläden nicht verkauft und wenn, dann können nur wenige es sich leisten das Buch zu kaufen.

Die in den meisten Büchern angegebenen Instruktionen sind normaler-weise zu allgemein. Jedes Individuum hat seine eigenen besonderen An-lagen und Tendenzen. Jeder reagiert unterschiedlich in verschiedenen Um-gebungen und Umständen. Hier wird der Lehrer am meisten gebraucht. Präzise passende Instruktionen kann nur ein Lehrer, der den Meditierenden beobachtet, geben. Ein Lehrer hilft auch auf vielen anderen Wegen. Er regt die Zuversicht und das Vertrauen an, gibt Ansporn und korrigiert Fehler, bevor sie außer Kontrolle geraten.

Auch Meditationsanweisungen müssen oft dem Charakter des Meditie-renden entsprechend angepasst werden. Um Meditationsprobleme zu hand-haben, werden oft unterschiedliche Wege gegangen. Aber wie findet man den Weg heraus? Zweifelsfrei ist nur ein zur Verfügung stehender Lehrer in der Lage, dies zu beurteilen und zu entscheiden. Ein Lehrer muss all die verschiedenen Wege der Problemlösung kennen, damit er die beste Lösung finden kann. Er sollte seine Weisheit und seinen gesunden Menschenver-stand benutzen.

In diesem Kapitel werde ich einige Hinweise zu den eher gewöhnlichen, während der Meditation auftauchenden, Problemen geben, einige Missver-ständnisse klären und versuchen für vipassanā das richtige Verständnis zu vermitteln ohne allzu viele technische Ausdrücke zu benutzen.

Achtsamkeit

Man mag schon viele Male über vipassanā gelesen haben und sich trotzdem unsicher fühlen, ob man nun achtsam ist oder nicht. Achtsamkeit ist ein geistiger Zustand, der oft als „Gründlichkeit“,„Wachsamkeit“ oder „Bewusstheit“ beschrieben wird. Achtsamkeit ist eigentlich eine Form des Wissens und sollte vom normalen Wissen unterschieden werden. Ein Irrer weiß auch von Dingen auf seine Weise, aber er ist weit davon entfernt acht-sam zu sein. Achtsamkeit kann nicht auftreten, wenn es Gier, Zorn oder Wahn gibt. Wenn man achtsam ist, gibt es zu diesem Zeitpunkt der Acht-samkeit weder Gier, Zorn, noch Wahn. Ein achtsamer Mensch hat seinen Geist vollständig unter Kontrolle und ist in der Lage jede Situation, in der er sich befindet, gut zu handhaben.

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Während der Meditation muss man ein Objekt nicht nur erkennen, sondern muss es achtsam erkennen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Unter-schied zwischen dem reinen Tolerieren von Schmerz und dem achtsamen Beobachten. Es hat sich herausgestellt, dass ein ständiges Drillen oder Ein-üben dieses Punktes in einem Retreat notwendig ist.

Ein anderer Fehler ist es, zu versuchen verhärtet achtsam zu sein. Ein Meditierender kann so besessen sein von dem Versuch achtsam zu sein, dass er sich ständig sorgt, ob er achtsam ist oder nicht. Wenn solche Span-nungen oder Störungen auftreten, können wir sicher sein, dass die Dinge nicht richtig laufen. Entspannung oder besser entspannte Achtsamkeit ist die Antwort. Manchmal kann eine „Sich–nicht–mit–diesem-Problem-abgeben -Haltung“ (ob achtsam oder ob nicht) helfen, diese Spannungen zu lösen. Mit anderen Worten, gebt der Achtsamkeit Zeit sich allmählich und natürlich zu entwickeln.

Noch ein anderer üblicher Fehler besteht darin über die Achtsamkeit Konzentration zu legen. Wenn man aber ohne Achtsamkeit konzentriert ist, entsteht falsche Konzentration, die euch schädigen kann. Was ich hier betonen möchte ist, dass man zuerst die korrekte Methode verstehen muss, bevor man meditiert.

Wenn man sich ohne korrektes Verständnis der Methode antreibt, zeigt dies einen Mangel an Achtsamkeit und ein zwanghaftes Temperament.

Öfter Gehmeditation praktizieren, anstatt zu sitzen, ist gewöhnlich für den Anfänger mehr zu empfehlen. Die Sitzmeditation darf natürlich auch nicht hinausgezögert werden. Es ist einfacher während des Gehens achtsam zu sein, da die Objekte gröber und leichter zu beobachten sind. Beim Sitzen gibt es eine Tendenz zu denken oder daran anzuhaften Konzentration zu erlangen. Der Meditierende muss sich immer daran erinnern, dass Acht-samkeit die höchste Priorität hat.

Während der Meditation muss man versuchen nicht zu denken. Um die Wahrheit direkt zu erfahren, darf man keine Ideen oder Spekulationen darüber haben. Die Wahrheit kann nur durch reine aufnehmende Aufmerk-samkeit verstanden werden. Wenn aber doch gedacht wird, sollte es in der korrekten Art behandelt werden (ich erkläre es später unter cittanupassanā).

Wenn man ohne zu denken achtsam ist, heißt das, dass man sich nicht gleichzeitig mit der Vergangenheit oder der Zukunft befassen kann. Acht-samkeit kann nur in der Gegenwart wohnen, im gegenwärtigen Ereignis der Erscheinungen, deren spezifische Charakteristika wie Härte, Hitze etc. direkt erfahren werden.

All dies kann in einem Satz zusammengefasst werden: „Man sollte achtsam sein, die pure Aufmerksamkeit auf die gegenwärtig

erscheinenden Phänomene gerichtet, die dem Geist als spezifische Charakteristika erscheinen.“

Es gibt viele Charakteristika (Kälte, Hitze, Härte, Weichheit, Vibration etc.), die im Laufe einer Meditationsstunde erfahren werden. Mit erhöhter Achtsamkeit erfährt man ihre gegenseitigen Beziehungen. Dies führt dann zur direkten Erfahrung der drei Daseinsmerkmale, dukkha, anicca und

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anattā (Leiden, Veränderlichkeit und Nicht-Selbst). Das Endresultat ist die Eliminierung der Befleckungen und damit die Eliminierung des Leidens.

Achtsamkeit auf den Körper

(kāyanupassanā satipa))hāna) Achtsamkeit bezüglich des Körpers wird normalerweise deswegen noch

vor den anderen drei satipa))hāna (den Gefühlen, den Bewusstseinsarten und den Geistobjekten) zuerst praktiziert weil die Objekte, die bei der Acht-samkeit auf den Körper beteiligt sind, relativ grob sind. Es ist leichter, Achtsamkeit durch grobe Objekte aufzubauen als durch feine. Einige der Betrachtungsobjekte (Teile des Körpers, die Atmungs- und Leichenbetrach-tung), sind reine Ruheübungen. Von dieser Ruhe ausgehend schreitet man später zur Vipassanā-Praxis vor. Im abhidhamma wird diese Gruppe von Objekten unter rūpakhanda (Daseinsgruppe der Form oder Materie) klassi-fiziert. Dem Anfänger wird auch gelehrt achtsam auf die vier Körperhal-tungen (Sitzen, Gehen, Stehen und Liegen) zu sein.

Sitzen

Während der Praxis notiert man „Sitzen“ und „Berühren“. Was notiert man da tatsächlich? Einige visualisieren den sitzenden Körper. Das ist nicht korrekt, da vorgestellte Bilder nicht real sind. Der richtige Weg ist, nur die tatsächlichen Erscheinungen zu beobachten und zu erfahren.

Was beobachtet man? Unmittelbar sagen wir, dass wir das Wind-element, das sich durch Spannung, Festigkeit, Unterstützung, Ziehen oder Vibration ausdrückt, beobachten. Wenn man es mit purer Aufmerksamkeit erfasst, wird klar erkennbar, dass da kein „Ich“ oder „Lebewesen“ in diesem Körper ist. Es finden nur physikalische Prozesse oder Kräfte statt. Mit besserer Achtsamkeit kann man diese sich auf verschiedene Weise ver-ändernden Prozesse erkennen. Beim Beobachten der Sitzhaltung, das ist die Spannung und Steifheit etc., wird man auch viele andere Empfindungen wie Hitze, Kälte und geistige Erscheinungen wie Leiden oder externe Erschei-nungen wie Geräusche aufnehmen. Mit anderen Worten, wenn wir „Sitzen“ geistig notieren, benutzen wir es nur als Etikett um uns zu helfen, den Geist auf die Realitäten, die während des Sitzens auftauchen, auszurichten. Das Notieren richtet unsere Achtsamkeit auf den Ort der Achtsamkeit. Es hilft uns, unseren Geist auf das Meditationsobjekt gerichtet zu halten. Dabei wird auch die Konzentration entwickelt, die durch Achtsamkeit und pure Aufmerksamkeit alle auftretenden Realitäten erkennt. Wir wählen nicht was wir erfahren, sondern richten unseren Geist nur auf den „Ort“ und beobach-ten, was da auch immer erscheint.

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Berühren Man beobachtet den Ort, wo der Hintern und die Beine im Kontakt mit

dem Sitz sind. Auf die Art können einige Berührungspunkte wahrge-nommen werden.Man kann diese Berührungspunkte nun systematisch be-obachten um die Konzentration zu erhöhen. Die mit dem Beobachten ver-brachte Zeit eines Punktes variiert mit dem geistigen Zustand und der Klar-heit des Objektes. Je klarer das Objekt, umso länger kann man es beobach-ten. Wenn es undeutlich oder man selbst schläfrig ist, dann muss man sich schneller von einem zum anderen Objekt bewegen. „Berühren“ wird ab-wechselnd mit „Sitzen“ notiert. Wie auch bei anderen Objekten, beobachten wir tatsächlich die Eigenschaften der entstehenden und vergehenden Ele-mente, wenn wir „Berühren“ notieren.

Heben und Senken

Bei der Sitzmeditation wird dem Anfänger gelehrt, auf das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke zu achten. Das „Heben“ und „Senken“ könnte man als Fenster betrachten, durch das wir mehr und mehr Details erkennen. Es wird gelehrt, dass, wenn man das Heben und Senken beobachtet, man in Wirklichkeit das sich durch Bewegung ausdrückende Windelement erfasst. Aber man beobachtet auch viele andere Dinge. Es wird auch gesagt, dass man mit dem Beobachten des „Hebens“ und „Senkens“ der Bauchdecke anfangen soll. Wir sollen deswegen mit dem Beobachten des „Hebens“ und „Senkens“ beginnen, weil es uns dabei hilft, Konzentration zu entwickeln, aber auf keinen Fall sollte man mit Festhalten oder Kontrolle daran an-haften (z. B. durch unnatürliche Atmung). Das „Heben“ und „Senken“ ist dann nicht konstant und es kann beim Beobachten verschwinden. Wenn das geschieht, schaltet man auf ein anderes „Fenster“ um.

Eine häufige Frage ist, warum man nicht die Atmung am Berührungs-punkt der Nase oder der Lippen statt der Bauchdecke beobachten sollte? Das Beobachten des Atems an den Nasenlöchern sei bekannt dafür, Konzentration zu erzeugen. Ein Meditationslehrer lehrte, das nama-rūpa (Geist und Materie) einfacher wahrgenommen werden kann, wenn man das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke beobachtet. Die Atmung, notiert an der Bauchdecke, ist eindeutig gröber als an der Nasenspitze. Die drei Da-seinsmerkmale des Leidens, der Veränderung und des Nicht-Selbst treten auch klarer in Erscheinung. So wird „Rechte Konzentration“, die hier momentane Konzentration ist und auf die Realitäten zielt, entwickelt, also Konzentration mit vorherrschender Achtsamkeit. Noch einmal, Visuali-sierungen, Zählen oder kontrolliertes Atmen sind hier nicht erlaubt. Vipassanā bedeutet die Realitäten zu beobachten.

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Gehen Anfängern wird gewöhnlich geraten mehr zu gehen als zu sitzen. Ein

Lehrer sagt, dass vor jeder Sitzperiode eine Gehmeditation gemacht werden sollte. Er wies auch darauf hin, dass Arahatschaft allein durch Gehmedita-tion erreicht werden kann. Meditierende haben bestätigt, dass sie nach einer guten Gehmeditationsperiode eine bessere Sitzmeditationsperiode haben. Man darf die Bedeutung der Gehmeditation nicht unterschätzen. Nur zu sitzen und das Gehen zu vernachlässigen, macht einen zu einem Lahmen, der auf nur einem Bein geht. Gehen dient vielen Zielen beim vipassanā. Erstens ist man nicht in der Lage die ganze Zeit zu sitzen und außerdem überbrückt achtsames Gehen große Perioden von Unachtsamkeit. Auf die Kontinuität der Achtsamkeit muss grundsätzlich geachtet werden, weil sonst die benötigte Konzentration, um Einsicht zu entwickeln, nicht ent-stehen kann.

Aber auch Gehmeditation selbst ist vipassanā bhāvanā (Entwicklung von Einsicht). Jeder Schritt wird im Detail beobachtet. Es ist der Geist, der das Gehen lenkt. „Es gibt niemanden, der geht...“ Diese Erkenntnis kommt später von selbst und auf natürliche Weise, wenn der Meditierende ge-wissenhaft die immer wieder verschwindenden Erscheinungen der körper-lichen und geistigen Prozesse notiert. Gehen hat auch andere Objekteigen-schaften als die Sitzübung. Die Objekte der Gehmeditation sind gröber und variieren stärker; so ist es leichter Achtsamkeit aufzubauen. Die Gehmeditation fungiert auch als kraftvoller Ausgleichsfaktor um den Geist auf die Vipassanā-Meditation zu lenken statt samatha (Ruhemeditation) zu fördern. Beim Gehen wird auch „Umdrehen“, „Sehen“, „Hören“, „Be-absichtigen“ etc. notiert und dehnt damit die Übung der Achtsamkeit in unseren Alltag aus.

In der Gehmeditation wird eine ansteigende Zahl an Phasen notiert um dadurch die Achtsamkeit und Konzentration zu steigern. Es wird geraten genau so viele Phasen zu notieren, dass es sich noch angenehm anfühlt und nicht mehr. Man sollte vorsichtig sein und nicht den Wagen vor die Pferde spannen. Achtsamkeit ist wichtiger als die Anzahl der notierten Phasen. Wenn erst mal die Achtsamkeit aufgebaut ist, wird das Gehen durch das Beobachten von mehr Phasen, oder besser gesagt mehr Erscheinungen, ver-langsamt. Der Anfänger, der zu langsam zu gehen versucht, kann sehr ver-spannt enden, weil er versucht etwas zu beobachten, was er nur schwer empfinden kann.

Jeder Meditierende sollte seine Gehübung mit schnellen Schritten beginnen. Schnelles Gehen hilft dem Geist sich an das neue Objekt zu ge-wöhnen. Es trainiert auch die Gliedmaßen und überwältigt Müdigkeit. Dann aber wieder gibt es solche, die es übertreiben, indem sie schneller als not-wendig und zu lange gehen. Sie können dadurch vollständig abgelenkt und erschöpft sein. Gerade schnell genug, um die Achtsamkeit aufzurütteln, sollte der Tenor sein.

Wenn man in der Praxis voranschreitet, wird der Gehprozess als ein Strom von Geist und Materie, der in schneller Abfolge vergeht, angesehen. Das Gehen wird dann auf natürliche Weise sehr langsam.

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Die Gehmeditation sollte in entspannter, kräftiger Art, abhängig davon, ob überschüssige Energie da ist oder fehlt, ausgeführt werden. Hier kommt nun auch das Balancieren der Fähigkeiten ins Spiel.

Andere Erscheinungen, die während des Gehens beobachtet werden, sind Geräusche, Schmerz, Absicht, Sehen und Hören. Man hält an um sie zu notieren, wenn sie andauernd und dominant sind.

Stehen

Das „Stehen“ wird während des Gehens notiert und zwar vor dem An-fang und nach dem Ende des Gehens. Das Notieren „Stehen“ (die aufrechte Haltung) kann man auch mit „Berühren“ durch den Bodenkontakt der Fuß-sohlen abwechseln. Ein anderer Lehrer bemerkt dazu, dass Stehen selten für lange Zeit gemacht wird, weil es eine Menge Energie verlangt. Wieder ein anderer sagt, dass es speziell für Frauen und Kinder nicht für lange Zeit empfohlen wird, weil man hinfallen könnte, wenn samadhi (Konzentration) einen traumähnlichen Zustand induziert und die Knie „weich“ werden. Die Lehrer sagen, dass auch ein Schaukeln des Körpers entstehen kann und der Meditierende dadurch Furcht vor dem Hinfallen erlebt. Stehen wurde jedoch für gut befunden für diejenigen, die sehr schläfrig sind. Ich persön-lich habe noch niemanden getroffen, der hingefallen wäre. Stehen mit geringfügig getrennten Füßen verbessert die Stabilität. Wir können unsere Achtsamkeit vom Kopf bis zu den Zehen auskehren oder die stärkste Empfindung aufnehmen und dabei verbleiben. Manchmal kommt das „Heben“ und „Senken“ zurück und wird notiert.

Liegen

Diese Haltung wird normalerweise in ernster Praxis vermieden, weil sie meist mit Einschlafen endet. Wenn aber jemand sehr achtsam in dieser Stel-lung ist, kann man tatsächlich wach und wachsam bleiben und es endet nicht mit Schlaf. Wenn man zu schlafen beabsichtigt, macht man die Liegemeditation mit allgemeinerer und oberflächlicherer Achtsamkeit. Als Liegehaltung wird die „Löwenhaltung“ empfohlen. Mit dem Körper zur rechten Seite gewandt. Dies wird dem Liegen auf dem Rücken oder der anderen Seite vorgezogen, obwohl beide Haltungen auch nicht verboten sind.

Liegen wird genauso achtsam gemacht. Man notiert „Liegen“, „Be-rühren“ und wenn „Heben“ und „Senken“ erkennbar ist, notiert man „Heben“ und „Senken“. Wenn Freude aufkommt, notiert man „Freude.“ Das macht man auch so mit „Denken“, „Hören“, „Schmerzen“ etc. Wenn man sehr gut ist, kann man tatsächlich den Geist in den Schlaf fallen sehen oder ihn beim Aufwachen beobachten. Die liegende Haltung ist sehr an-genehm und führt deswegen zum Schlaf. Energie ist normalerweise nicht vorhanden.

Alltägliche Handlungen

Das SatipaSShāna-Sutta erwähnt einige wichtige Alltagshandlungen wie essen, kauen, zur Toilette gehen, Kleidung tragen, sprechen oder schwei-gend verbleiben und nach vorn oder weit weg schauen.

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Der Geist muss trainiert werden, immer und in allen Lebenslagen acht-sam zu sein. Nur dann wird er kraftvoll, durchdringend und nützlich. Immer heißt kontinuierlich. In allen Lebenslagen heißt Flexibilität. Es gibt keine Zeit, in der Achtsamkeit nicht entwickelt werden kann. So kann Einsicht jederzeit entstehen.

Gute Achtsamkeit in den alltäglichen Handlungen zu versäumen, schränkt die Nützlichkeit stark ein. Es hindert uns auch, unsere spirituellen und nichtspirituellen Beschäftigungen zu integrieren und zu balancieren.

Es gibt eine Menge Dinge in unseren alltäglichen Handlungen zu ent-decken. Unser Versäumnis zeigt uns nur, wie unempfindlich und blind wir den Dingen, die um uns herum geschehen und uns beeinflussen, gegenüber sind. Kein Wunder, dass viele Hausleute es schwierig finden sich nach der Arbeit zu konzentrieren und zu meditieren. Sie vernachlässigen diesen wichtigsten Teil ihrer Praxis.

Die Achtsamkeit auf den Körper, sagt eine Sutte, ist das einzige, das ge-lernt werden muss. Wenn wir sie perfektionieren, können wir die höchste Freiheit erlangen.

Achtsamkeit auf die Gefühle

(vedananupassanā satipa))hāna) Wenn Achtsamkeit auf die Gefühle entwickelt wird, überwindet sie die

Halluzination des falschen Glücks (das heißt etwas für Glück zu halten, was keines ist). Um diese Halluzination zu zerstören, müssen wir die Wahrheit des Leidens erkennen. Schmerz ist das Phänomen, durch das sich das Leiden selbst klar manifestiert. Schmerz ist gewöhnlicherweise das deut-lichste, aber nicht angenehme mentale Phänomen, das dem Anfänger er-scheint. Es bietet dem Meditierenden etwas Interessantes, auf das man acht-sam sein kann. Die Gefahr liegt allerdings darin, auf den Schmerz mit Zorn oder Ärger zu reagieren. In diesem Falle wäre man nicht mehr achtsam. Wenn Zorn aufsteigt, sollte der Meditierende ihn so lange notieren, bis er verschwindet. Erst dann kehrt er zum Notieren des Schmerzes zurück. Der Sinn besteht darin, so entspannt und stetig wie möglich während des Be-obachtens zu sein. Wenn man das kann, sieht man, wie Schmerz verschie-dene Formen annimmt, ziehender Schmerz, scharfer Schmerz, heißer Schmerz, brennender Schmerz etc. Ohne Achtsamkeit ist man allerdings nicht fähig dem Schmerz gegenüberzutreten. Konzentration verstärkt die Intensität des Schmerzes nur. Bloßes zorniges Tolerieren des Schmerzes ist auch ungeeignet. Es würde einen auch zur Hysterie führen. Wenn Ihr den Schmerz nicht beobachten könnt, ignoriert ihn. Wenn er nicht ignoriert werden kann, dann verändert achtsam die Haltung oder steht auf und macht Gehmeditation (was hilfreich für den Aufbau eurer Achtsamkeit ist).

Wenn wir in der Lage sind zu sehen, wie sich der Schmerz verändert und wie er verschiedene Formen annimmt, wird unsere Empfindung des Wechsels der Veränderlichkeit (anicca) schärfer werden. Der Schmerz wird auch tolerierbar. Ein nützlicher Rat ist: „Wir beobachten den Schmerz nicht damit er weggeht, sondern um unsere Achtsamkeit zu entwickeln und seine

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wahre Natur zu erkennen.“ Auf diese Weise werden wir die Anhaftung sowohl zum Körper als auch zu den Gefühlen los.

Manchmal geben die Leute auf, weil sie fürchten gelähmt zu werden oder sonst ihre Gesundheit zu beeinträchtigen. Es haben jedoch viele Meditierende über Stunden gesessen und niemand wurde je verkrüppelt oder gelähmt. Diese Furcht ist tatsächlich unbegründet.

Wenn wir angenehme Gefühle beobachten, machen wir das auch um ihre wahre Natur zu sehen, ihr Leiden oder ihr unbefriedigendes Merkmal. Dieses Gefühl entsteht gewöhnlich, wenn Schmerz aufhört, oder wenn wir auf ein angenehmes Objekt treffen. Wir müssen sehr achtsam sein, wenn ein angenehmes Objekt auftaucht, sonst könnten wir es genießen und an ihm anhaften. So wie Zorn dem schmerzhaften Objekt innewohnt, so ist Anhaften dem angenehmen Objekt innewohnend. Es gibt einige Leute, die erscheinende angenehme Gefühle fürchten, weil sie Angst davor haben, dass sie anhaften könnten. Angenehme Gefühle selbst sind jedoch nicht schädlich. Solange wir sie entsprechend notieren und nicht anhaften, sind sie harmlos. Wenn wir achtsam sind, wird unsere Konzentration stärker. Wovor wir uns hüten müssen ist Sorglosigkeit, die uns zu falscher Konzen-tration oder - als kleinere Niederlage - zum Einschlafen führen könnte.

Es ist nicht leicht den Wechsel der angenehmen Gefühle zu sehen. Wenn wir es können, werden sie sich normalerweise umwandeln zu etwas weniger angenehmen oder vielleicht sogar zu neutralen Gefühlen. Da an-genehme Gefühle vergehen, sind auch sie letztendlich unbefriedigend.

Neutrale Gefühle können gewöhnlich nur von fortgeschrittenen Meditie-renden wahrgenommen werden. Nach Meinung eines Lehrers werden sie nur ab der fünften Stufe der Einsicht, „dem Wissen von der Auflösung,“ notierbar. Auf dieser Stufe des Wissens fangen wir an die Konzepte aufzu-geben und die wahre Bedeutung von dukkha (Leiden) offenbart sich. Im Buddhismus begegnen wir manchmal dem Satz „Das Leiden der Gestal-tungen“ (sankhāra dukkha), das Unbefriedigende an dem unaufhörlichen Wechsel. Worte können diese Art des Leidens nicht beschreiben, da Worte letztendlich nur Konzepte sind. Die Natur von sankhāra dukkha muss von jeder Person selbst erfahren und verstanden werden. Wenn wir den unauf-hörlichen Wechsel wirklich erfahren, werden wir auch den Frieden ver-stehen und schätzen, der vom Stillstand herrührt.

Achtsamkeit auf das Bewusstsein

(cittanupassanā) So wie bei den anderen Pfeilern der Achtsamkeit, hat auch die Acht-

samkeit auf das Bewusstsein eine Menge an groben und subtilen Objekten. Gewöhnlich entwickeln wir Achtsamkeit auf das Bewusstsein zuerst mit gröberen Objekten. (Normalerweise werden auch Körperobjekte zuerst notiert, bevor mit dem Bewusstsein angefangen wird).

Bei der Entwicklung von Achtsamkeit auf das Bewusstsein ist „Denken“ das erste Objekt, mit dem wir Bekanntschaft machen. Denken selbst hat viele Formen wie Planen, Vorstellen, Überlegen etc. Wenn wir „Denken“ notieren, notieren wir nur, dass da „Denken“ ist. Wir befassen uns nicht mit

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dem Inhalt der Gedanken, die uns nur veranlassen mehr zu denken. Denken ist normalerweise mit Konzepten und Dingen der Vergangenheit und Zu-kunft verbunden. Wir sollten nur notieren, das da „Denken“, „Planen“, „Überlegen“ ist und nicht bei den Konzepten oder der Vergangenheit und der Zukunft verweilen. Wenn das Denken andauert, heißt das, dass wir nicht achtsam genug sind. Wenn wir sehr achtsam sind und nur pure Auf-merksamkeit üben, verschwindet das Denken in dem Moment, wo wir es bemerken und notieren.

Während wir vipassanā praktizieren, beobachten wir immer die Ver-änderung, also den Prozess des Entstehens und Vergehens. Der durch-schnittliche Mensch jedoch tendiert zum Anhaften, auch an Meditations-objekten. Manchmal mögen die Meditierenden den Samatha-Typ der Konzentration gerne. Also die Art von Konzentration, die nur auf ein Objekt gerichtet wird. Deshalb wollen einige zuerst samatha lernen. Aber wenn wir Einsicht möchten, müssen wir zu vipassanā zurückkommen und unsere Achtsamkeit bezüglich der veränderlichen Natur der Erscheinungen entwickeln. Beim vipassanā ist momentane Konzentration ausreichend. Momentane Konzentration ist Konzentration, die nicht auf ein Objekt fixiert ist, sondern sich von Objekt zu Objekt bewegt. Sie kann kontinuier-lich und ungebrochen sein und ist so in der Lage Einsicht zu entwickeln.

Wenn wir „Denken“ notieren, sollten wir es genauso ruhig wie bei den anderen Objekten (z. B. Schmerz) machen. Wir beobachten es um seine wahre Natur zu erkennen und nicht damit es weggeht. Wenn wir diese Haltung aufrechterhalten, hört das Denken ganz von alleine auf. Aber wenn wir zu erpicht darauf sind, dass es weggeht, wird es wahrscheinlich länger bleiben. Wenn wir es achtsam notieren ohne anzuhaften, werden wir eher der drei Daseinsmerkmale (Leiden, Vergänglichkeit und Nicht-Selbst) bewusst. Wenn jedoch das Denken zu lange anhält, sollten wir es komplett ignorieren und auf ein anderes Meditationsobjekt wechseln.

Laut einem Lehrer gibt es einen „Trick“ zum Beobachten der geistigen Zustände. Man notiert sie sehr energievoll und kontinuierlich. Der Geist rennt schnell und wir müssen auch schnell rennen um ihn zu fangen. Der Fluss der Befleckungen ist sehr stark und unsere Achtsamkeit muss noch stärker sein um ihn zu überwältigen. Denken und Unruhe entsteht durch unsere Befleckungen wie Gier, Zorn und Wahn. Selbst, wenn das Denken aufgehört haben sollte, sind die Befleckungen noch anwesend. Wir müssen achtsam sein und die Anwesenheit der Befleckungen wie Gier (zum Bei-spiel Nachdenken über Essen) notieren, bis sie verschwinden. Wenn wir wirklich achtsam die Befleckungen beobachten, wissen wir nicht nur um ihre Anwesenheit, sondern erkennen auch ihre wahre Natur der Unbestän-digkeit, des Nicht-Zufrieden-Stellen-Könnens und des Nicht-Selbstes.

Um achtsam die Befleckungen beobachten zu können, sollten wir z. B. auch wissen, ob wir geringfügig schläfrig sind oder nicht. Wie können wir aber ein Bewusstsein ohne Gier, ohne Zorn und ohne Wahn notieren?

„Der Geist ist schwer zu empfinden, extrem subtil, er flattert wohin er möchte. Bewacht ihn, nur ein bewachter Geist führt zum Glück.“ Es ist schwierig den Geist zu beobachten. Oft, wenn Leute es versuchen, endet es

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in einer ausdrucklosen Art von Langeweile oder einem bedeutungslosen, wandernden Geist. Je härter sie versuchen den Geist zu beobachten, desto schlechter wird es, bis sie am Ende „Sterne sehen!“ Zu versuchen den Geist zu leeren, ist auch schlecht. Der Sinn liegt darin achtsam zu sein. Wenn ihr achtsam seid, könnt ihr euch der geistigen Zustände des Geistes bewusst sein. Wenn ihr es nicht könnt, dann seid auf irgendetwas anderes achtsam. Etwas Klareres, das in unser Bewusstsein eingedrungen ist und nun unsere Aufmerksamkeit verlangt. So seid ihr auch auf dem richtigen Weg. Seid immer achtsam auf das Meditationsobjekt.

Wenn wir den Geist beobachten, müssen wir konstante Achtsamkeit anwenden. Sonst hört sie ohne unser Wissen auf. Mit mehr Erfahrung können wir achtsam der guten geistigen Zustände sein und uns bewusst werden, wenn sie sich in feinere Zustände verwandeln. Im Gleichnis vom Floss wurde gesagt, dass auch gute geistige Zustände aufgegeben werden müssen, wie viel mehr müssen dann üble Zustände aufgegeben werden? Wahr ist, dass geistige Zustände so fein und glückselig sein können, dass es einem tatsächlich so erscheint, als wäre man unbewusst. Einige machen den Fehler und halten das für Erleuchtung oder für das wahre Aufhören des Leidens. Eine Menge von subtilen geistigen Zuständen tritt auf, wenn das Bewusstsein gut ist. Das mag auf Freude, Ruhe, Konzentration oder Gleichmut zurückzuführen sein. Deshalb sagt das SatipaSShāna-Sutta : „Man ist achtsam auf das Bewusstsein, das ruhig, befreit, groß geworden ist etc.“

Achtsamkeit auf die Geistobjekte

(dhammanupassanā) Dieser Pfeiler der Achtsamkeit wird dhammanupassanā genannt.

Satipa))hāna deckt einen großen Teil an Meditationsobjekten ab. Dhamma selbst wurde als Geistobjekt übersetzt. Es beinhaltet aber eigentlich alles, auch nibbāna. Einige Objekte innerhalb der anderen Pfeiler der Achtsam-keit tauchen auch unter diesem Pfeiler auf, und wenn sie auf diese Weise bezeichnet aufgezählt werden, werden sie als geistige Faktoren (cetasika) kategorisiert. Diese Betrachtung der Achtsamkeit hilft die Wahnvorstellung von Ansichten oder einem Selbst zu löschen, indem sie uns zeigt, wie be-dingt die dhammas sind und wie sie entstehen und vergehen. Die Betrach-tung dieser Achtsamkeit ist in fünf Kategorien unterteilt: Hemmungen, Grundlagen, Daseinsgruppen, Erleuchtungsfaktoren und Wahrheiten.

Hemmungen

Die fünf Hemmungen sind Sinnesbegehren, Übelwollen, Mattigkeit und Müdigkeit, Unruhe und Sorgen und skeptischer Zweifel. Unter dieser Be-trachtung gehört Sinnesbegehren insbesondere zu dem Bewusstsein, welches an Sinnesobjekten hängt oder danach begehrt. Übelwollen gehört zu Zorn, Gewalttätigkeit und Grausamkeit. Mattigkeit und Müdigkeit be-zieht sich auf das Bewusstsein, das träge ist und von den Objekten „weg-schrumpft“. Unruhe und Sorgen gehören zum aufgeregten und verwirrten Bewusstsein. Skeptischer Zweifel gehört zu einem skeptischen oder ver-

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wirrten Zustand des Bewusstseins bezüglich der vier edlen Wahrheiten oder der drei Kleinodien.

In dieser Betrachtung kennt und notiert man nicht nur das Entstehen und Vergehen der geistigen Faktoren, sondern auch die Bedingungen, die zu ihrem Entstehen und ihrer Auflösung führen. Hier ist der Ort, wo wir ver-stehen, ob unsere Aufmerksamkeit (zu einem Objekt) „unweise“ ist und wann und wie wir „weise“ Aufmerksamkeit anwenden sollten. Diese Be-trachtung der Achtsamkeit ist im Allgemeinen schwieriger und feiner als die anderen drei Betrachtungen. Zum Beispiel sind das Bewusstsein mit Sinnesbegehren und das Sinnesbegehren selbst nicht einfach zu trennen. Normalerweise startet ein Anfänger nicht mit dieser Betrachtung oder macht sie ausschließlich. Nur wenn er gut versiert in der Betrachtung der anderen drei Pfeilern der Achtsamkeit ist, kann er feinere geistige Objekte und Zustände des Bewusstseins bemerken. gemäß dem Kommentar passt diese Betrachtung gut zu intellektuellen Menschen.

Grundlagen

Man beobachtet die sechs Sinnesgrundlagen (Sehen, Hören, Riechen etc.) und ihre Objekte (Sehobjekt, Hörobjekt, etc.). Man beobachtet, wie sie entstehen und vergehen und die Bedingungen, die zu ihrem Entstehen und Vergehen führen.

Wenn wir „Sehen, Sehen“ notieren, benutzen wir das Wort „Sehen“ nur als Etikett um uns bei der Beobachtung des Prozesses behilflich zu sein. Was wir jedoch tatsächlich sehen, ist die Farbe (des Sehobjektes). Die Ge-stalt, Form und auch alle weiteren Ideen, die folgen, sind eigentlich Kon-zepte, die der Geist entwickelt. Durch das bloße Notieren „Sehen, Sehen“ verwischen die mit dem Objekt verbundenen Formen und Ideen und wir beobachten nur eine Wechselwirkung von Farben und Helligkeit. Durch diesen Vorgang können wir uns auch des Sehbewusstseins bewusst werden, welches nur ein Bewusstsein ist, das Farben sieht, kein Lebewesen oder Selbst.

Dasselbe kann vom Hören eines Geräusches, Riechen eines Geruches, Schmecken von Essen, Berühren von Tastobjekten, Wissen und das Ge-wusste gesagt werden.

Warum notieren wir normalerweise „Hören, Hören“ anstatt „Geräusch, Geräusch?“ Das wird gemacht, weil ein Geräusch gewöhnlich periodisch und unterteilt ist und es deshalb schwierig ist ihm zu folgen. Der Versuch es zu „fangen“ führt nur zur Verwirrung und das hilft uns nicht zur Entwick-lung von tiefer Konzentration. Durch Notieren von „Hören, Hören“, das heißt, durch reines bewusstes Hören (des Geräusches) am Ohr selbst statt „außerhalb“, neigen wir dazu den Geist nach innen zu wenden und ihn damit beherrschter zu machen. Aber in einigen Fällen können wir auch „Geräusch, Geräusch“ notieren. Zum Beispiel, wenn das Geräusch laut, andauernd und unvermeidbar ist. In solchen Fällen haben wir kaum eine Wahl außer das Geräusch zu notieren und seine Veränderlichkeit zu be-obachten.

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Beim Notieren der Sinnesgrundlagen und ihrer Objekte, muss man bloße Aufmerksamkeit bewahren und sich vor auftauchenden Konzepten hüten. Dies wird klar betont im Rat von Buddha an Bahiya: „So Bahiya solltest du dich üben: Beim Sehen darfst du nur das Gesehene sehen. Beim Hören nur das Gehörte. Beim Spüren (bei Geruch, Berührung, Geschmack) nur das Gespürte. Beim Denken nur das Gedachte.“

Achtsamkeit dieser internen und externen Grundlagen reißt unsere An-sicht von einem Selbst auseinander. Wir erkennen, dass es kein Lebewesen, kein Selbst oder jemanden gibt, der dahinter steht. Es sind nur Prozesse. Diese detaillierte Betrachtung ist besonders für die Einsichtsentwicklungs-praxis von anattā (Nicht-Selbst) im Alltag relevant.

Normalerweise steigen Befleckungen und Fesseln durch die Sinnestore auf. Das passiert oft im Alltag, wenn es uns an Achtsamkeit, die „Sehen, Hören“ und alles Weitere notiert, mangelt. Deshalb haben wir auch die Be-fleckungen, die abhängig von den Sinnestoren entstehen, zu notieren.

Daseinsgruppen

Es gibt fünf Daseinsgruppen:

1. Rūpa khanda (Materie) – bezieht sich auf bedingte nicht bewusste Erscheinungen wie z. B das Härte-Element.

2. Vedanā khanda (Gefühle) – wie angenehme, leidhafte und neutrale

Gefühle oder Empfindungen. 3. Sañña khanda (Wahrnehmungen) – es ermöglicht das Wiedererken-

nen und das Registrieren von Sinneseindrücken. Es beinhaltet das Gedächtnis.

4. Sankhāra khanda (geistige Formationen oder Willensaktivitäten) –

schließt verschiedene geistige Zustände und das Denken ein. 5. Viññana khanda (Bewusstsein) – Wissen oder Bewusstsein Nur wenn die Teile richtig verbunden sind, Wird von einem Wagen gesprochen, So auch wenn die Daseinsgruppen (khandas) da sind, Spricht man konventionell von einem Lebewesen. BUDDHA

Diese fünf Daseinsgruppen bestehen aus den Gruppen der Vergangen-

heit, der Gegenwart und Zukunft, den Internen, Externen, Groben, Feinen, Höheren, Niedrigeren, Näheren oder Weiteren. Wenn ein „Mensch“ oder ein „Ich“ in der Betrachtung der Daseinsgruppen gesehen wird, wird es nur als existierendes Lebewesen im konventionellem Sinne gesehen. Wenn die

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Wahnvorstellung der Ansichten aufgegeben wird, werden die Befleckungen zusammen mit der Leidensmasse eliminiert werden.

Die Betrachtung der sieben Erleuchtungsfaktoren

Diese sieben Faktoren, Achtsamkeit, (durchdringende) Wahrheits-ergründung, Energie, Freude, Gestilltheit, Konzentration und Gleichmut sind heilsame geistige Zustände, die zum nibbāna führen. Diese erscheinen erst klar, wenn man das vierte Einsichtswissen erreicht hat. Es sind keine Objekte für den Anfänger. Wenn diese Faktoren am Anfang entwickelt werden, könnten wir an ihnen anhaften wegen ihrer friedvollen und in-spirierenden Effekte. Achtsamkeit über ihre An- oder Abwesenheit wird uns deshalb vor solchen Anhaftungen bewahren. Sie können unsere Praxis nicht nur verzögern, sondern auch zerstören. Freude, Gestilltheit, Konzen-tration und Gleichmut zum Beispiel, können uns sorglos und nachlässig mit unserer SatipaSShāna-Praxis werden lassen. Unachtsamkeit beispielsweise, wenn der Weisheitsfaktor auftaucht, kann bei uns Stolz verursachen.

Die Achtsamkeit auf diese Faktoren kann auch die Fähigkeiten aus-balancieren. Insbesondere gilt das für die Fähigkeiten Energie und Konzen-tration. In den Sutten wird erzählt, dass bei Trägheit es angesagt ist, Energie, Freude und Wahrheitsergründung zu entwickeln. Wenn wir jedoch aufgeregt sind, sollten wir Ruhe, Konzentration und Gleichmut entwickeln. Achtsamkeit wird hingegen immer benötigt. Achtsam auf diese Faktoren zu sein, wie sie entstehen und vergehen, ist die Praxis der Einsichtsentwick-lung selbst. Mit kontinuierlicher Praxis können die Erleuchtungsfaktoren sich vollständig entwickeln und uns befähigen Einsicht zu erlangen.

Wahrheiten (sacca)

Dies bezieht sich auf die „vier edlen Wahrheiten“. Dem Leiden, seiner Ursache, seines Aufhörens und des Weges, der zum Aufhören des Leidens führt. Leiden ist das, was wir verstehen müssen (also seine Natur). Die Ursache (das Begehren) ist das, was wir aufgeben müssen und das Auf-hören des Leidens muss durch Entwicklung des Pfades realisiert werden.

„Leiden“ ist eine Übersetzung des Pali-Begriffes dukkha. Einige bevor-zugen es, dukkha mit Nicht-Zufrieden-Stellen-Können oder mit Unvoll-kommenheit zu übersetzen. Gemäß dem anattālakkhana sutta, wonach das, was unbeständig ist, leidbehaftet ist und das, was leidbehaftet ist, nicht ein Selbst sein kann, ist man, wenn man achtsam auf die Unbeständigkeit ist, gleichzeitig achtsam auf das Leiden. So, und was ist nun dieses Leiden? Geist und Materie sind es, die alle körperlichen und geistigen Erschei-nungen außer dem nibbāna beinhalten, die unbeständig folglich also Leiden sind. Wir sollten deswegen alle körperlichen und geistigen Vorgänge in ihrem Entstehen und Vergehen notieren.

Wenn Begehren oder Befleckungen entstehen, welche die Ursache des Leidens sind, sollten wir sie achtsam notieren. Wenn wir das tun, werden wir sehen, wie sie verschwinden. Da wir so die drei Daseinsmerkmale der Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit und des Nicht-Selbst erkennen, entwickeln wir auch die Faktoren des edlen achtfachen Pfades, bis wir selbst das voll-kommene Erlöschen des Leidens erfahren.

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Diese edlen Pfadfaktoren sind: 1. Rechte Ansicht Das Verstehen des Ursprungs und der Auflösung der Erscheinungen während des Notierens 2. Rechte Gedanken Das Richten des Geistes auf das Vipassanā-Objekt 3. Rechte Sprache Abstehen von falscher Rede (während der Praxis) 4. Rechte Tat Abstehen von falschen Taten (während der Praxis) 5. Rechter Lebenserwerb Abstehen von falschem Lebenserwerb (während der Praxis) 6. Rechte Anstrengung Die aufgebotene Anstrengung beim Notieren 7. Rechte Achtsamkeit Die Achtsamkeit während des Notierens 8. Rechte Konzentration Die gehütete Konzentration während des Notierens

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4. Achtsamkeit auf den Körper

(kāyanupassanā) Während der Sitzmeditation achten wir auf das „Heben“ und „Senken“

der Bauchdecke. Anfängern fällt es oft sehr schwer ihren Geist auf das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke zu fixieren, weil sie es nicht ge-wohnt sind. Es könnte euch deshalb helfen, wenn ihr eure Hände auf die Bauchdecke legt und fühlt, wie sie auf und ab geht oder sich hebt und sich senkt. Je geringer eure die Hemmungen sind, desto besser könnt ihr den Bewegungen folgen.

Erwartet nicht, dass das „Heben“ und „Senken“ immer konstant ist. Es ist nicht so leicht dieses Objekt zu beobachten. Häufig ist es sogar schwer zu fassen. Es kommt und es geht. Manchmal ist es schnell, manchmal lang-sam. Manchmal ist es da und manchmal nicht.

Euer Ziel ist nicht das „Heben“ und „Senken“ zu kontrollieren. Euer Ziel ist es die Erscheinungen zu beobachten und ihnen zu folgen. Das „Heben“ und „Senken“ ist das Windelement, vayo dhātu. Hier ist vayo dhātu das dominante der vier Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Wind). Es hat die Eigenschaft der Spannung, Vibration und der Bewegung.

Das Wahrnehmen der Realität

Die Hauptsache ist Achtsamkeit um die entstehenden Erscheinungen wahrzunehmen. Es mag euch helfen, wenn ihr zum Beispiel eure Hände sehr fest zusammendrückt um dort etwas Spannung zu produzieren. Wenn ihr die Idee einer Hand beiseite legt, bemerkt ihr die Spannung. Dann lockert den Griff und fühlt wie die Empfindung der Entspannung ist.

Nun legt bitte das Konzept oder die Idee einer Hand beiseite und bewegt eure Hand schnell hoch und runter. Dann achtet nur auf die Empfindung der Bewegung. Das ist das Windelement – das Element der Bewegung. Es hat keine Farbe, keine Form. Es ist nur eine Empfindung. Das sollte man sich vollkommen klar machen.

In den folgenden Erscheinungen werden die anderen Elemente offenbar. Die Erfahrung von Hitze oder Kälte ist das Feuerelement. Oft spürt ihr auch Weichheit oder Härte. Das ist das Erdelement und sie alle sind verbunden mit Hilfe von Kohäsion. Das ist das Wasserelement.

Wenn ihr die Elemente wahrnehmen könnt, werden sie als Nächstes in ihrem Entstehen und Vergehen - vom Anfang des Entstehens, bis es aufhört - beobachtet. Ihr erkennt, dass die Elemente nur Prozesse sind. Sie fließen und eure Achtsamkeit sollte mit ihnen fließen. Je achtsamer ihr seid, desto mehr seid ihr euch der Prozesshaftigkeit bewusst.

Sie erscheinen, wie wir sagen, von Moment zu Moment. Doch das wird nicht sofort erfahren. Am Anfang nehmen wir die Konzepte der Formen wahr. Das ist so, weil unser Geist gewohnt ist an Konzepten festzuhalten. Mit anderen Worten, wir sind einfach sehr an die Körperform, Bauchform, wer wir sind, was wir sind etc., gewöhnt.

Um mittels der Achtsamkeit die Realität wahrzunehmen, müsst ihr alle Konzepte beiseite legen, inklusive der Idee des „mir“ oder „mein“, des

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Körpers, der Körperform etc. Folgt nur dem Fluss der Prozesse, der Empfindungen. Das ist im Wesentlichen die Vipassanā-Praxis. Den Geist zu trainieren, bis ihr das richtig könnt.

Am Anfang fühlen wir noch die Körperform, so wie auch die Gestalt des „Hebens“ und „Senkens“. Das kann man nicht vermeiden, da die Ge-dankenprozesse sie noch erzeugen. Doch wenn ihr erst fähig seid daraus das Wesen der Bewegung herauszufiltern, dann taucht ihr tiefer in die Bewusst-heit der Realitäten oder der natürlichen Phänomene und der drei Daseins-merkmale.

Während des Gehens und eurer anderen Aktivitäten im Alltag wird das-selbe mit all den anderen Objekten gemacht. Eine weitere Sache, die man nicht vergessen darf, ist, dass das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke nicht immer wahrnehmbar ist. Die Elemente sind allerdings immer da. Sie entstehen und vergehen von Moment zu Moment.

Das Anwenden von Sitzen und Berühren

Wenn ihr die Gefühle in der Bauchdecke beobachtet und sie gut spürbar sind, könnt ihr die Empfindungen dort gut wahrnehmen. Manchmal jedoch werden sie sehr subtil und können von euch nicht mehr beobachtet werden. Um aber die Kontinuität der Achtsamkeit zu erhalten, müsst ihr stattdessen dann „Sitzen“ und „Berühren“ beobachten. „Sitzen“ und „Berühren“ wird oft nicht ausreichend erklärt. Deshalb möchte ich ein wenig mehr darüber sprechen.

Im Allgemeinen, wenn wir „Sitzen“ und „Berühren“ sagen, bezieht es sich auf eine Reihe von Körper- und Geistprozessen, die die Sitzposition aufrechterhalten. Meiner Ansicht nach gehört das „Sitzen“ mehr zu den inneren Kräften, also zu den Muskeln und Knochen. Das „Berühren“ gehört mehr zur Oberfläche des Körpers.

Als Anfänger könnt ihr das natürlich nicht sofort sehen. Ihr beobachtet zuerst das, was euch am Offensichtlichsten ist. Haltet es einfach, beobachtet nur jeweils ein „Sitzen“ und ein „Berühren“. So seid ihr euch der ganzen Art und Weise des Sitzens bewusst. Das am leichtesten Erkennbare beim „Sitzen“ ist die Starrheit um das Rückgrat und die Taille. Und beim „Be-rühren“ ist es der Kontakt mit dem Hintern am Kissen.

Nochmals, die Idee ist nicht nur „Sitzen“ und „Berühren“ zu notieren, sondern die Empfindungen betreffend „Sitzen“ und „Berühren“ regelmäßig zu fühlen, also nicht zu langsam oder zu schnell, sobald das „Heben“ und „Senken“ für eine längere Zeit aufhört. Wenn es kein „Heben“ und „Senken“ mehr gibt, solltet ihr die Berührungspunkte erhöhen. „Berühren“ an den Beinen, den Händen und so weiter in systematischer Reihenfolge. So kommt das „Heben“ und „Senken“ gewöhnlich zurück.

Das Wichtigste ist aber die Kontinuität der Bewusstheit und die Obser-vation. Das „Sitzen“ und „Berühren“ ist zwar selbst eine Meditation, jedoch hat sie gewisse Nachteile. Sie tendiert dazu, dass man zerstreuter und diffu-ser ist und die Konzentration sich deshalb langsamer entwickelt. Aber sie hat auch einen Vorteil, und zwar ist sie konstanter und stabiler wahrnehm-

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bar. Deshalb dient sie als gutes Back-Up-System zum „Heben“ und „Senken“.

Wenn eure Konzentration schließlich gut aufgebaut ist, werdet ihr nur das „Sitzen“ und „Berühren“ beobachten. Das heißt, ihr beobachtet nichts weiter als die vier Elemente, wie sie entstehen und vergehen. Wenn ihr das richtig könnt, werdet ihr keine Probleme mehr haben ein Objekt richtig zu betrachten.

Gehmeditation

Lasst uns jetzt über Gehmeditation sprechen. Es wurde schon ausrei-chend über schnelle und moderate Gehmeditation, um die Achtsamkeit auf die Schritte zu entwickeln, gesprochen.

Hier werden wir jetzt die „langsame“ Gehmeditation auf einem tieferen Level untersuchen. Ich habe schon angemerkt, dass Gehmeditation sehr oft nicht allzu ernst genommen wird. Yogis halten Gehmeditation für eine vor-bereitende Praxis oder Aufbaupraxis für die Sitzmeditation. Das ist aber nicht der Fall. Man sollte auf beides, die Geh- und die Sitzmeditations-technik, den gleichen Wert legen.

In den Schriften gibt es Geschichten, die erzählen, wie Mönche während der reinen Gehmeditation erleuchtet wurden. Deshalb müssen wir genug Anstrengung für unsere Gehmeditation aufbringen, damit sie uns zu einem Stadium tiefer Konzentration führt. Dies ist gewöhnlich nicht so leicht zu erreichen.

Wie macht man nun langsame Gehmeditation? Es gibt ein paar einfache Regeln, mit denen man anfängt. Zuerst sollte der Körper entspannt sein. Auf keinen Fall gespannt. Wenn ihr verspannt seid, könnt ihr nicht richtig achtsam sein und deshalb nicht richtig all den Objekten folgen. Zweitens, um achtsam und langsam zu gehen, sollte euer Gang stabil sein. Wenn ihr wankt, könnt ihr euch nicht richtig konzentrieren, da euer Geist nicht in Ruhe ist. Deshalb hilft es, wenn ihr flache und kurze Schritte macht. Wenn die Schritte kurz und flach sind, braucht ihr keine Angst haben hinzufallen.

Drittens, der Geist sollte zwar sehr entspannt sein, aber noch in einem konzentrierten Zustand. Um dies zu realisieren, muss man lernen, wie man Konzentration aufbaut. Bewegt dazu den Geist in einem Tempo, dem ihr problemlos folgen könnt. Das heißt, geht so langsam wie möglich, damit tiefe Konzentration entstehen kann, aber nicht zu langsam, sodass ihr immer mehr Bewegungsempfindungen spüren könnt. Das Schritttempo muss schnell genug sein um die Empfindungen fühlen zu können.

Stellt also sicher, dass die Empfindung da ist. Nicht so, als wenn ihr nur denkt sie wäre da: „sie mag da sein, aber ich bin nicht sicher. Jetzt ist sie da, jetzt ist sie nicht da“. Wenn ihr euch der Empfindung nicht sicher seid, werden die Kontinuität des Objektes und der Fluss unterbrochen. So baut sich die Konzentration nicht auf. Aber wenn ihr das Objekt fassen könnt und es weiter verfolgt, dann fließt die Achtsamkeit mit dem Objekt und den Empfindungen und ihr sperrt den Geist auf dieser Stufe der Konzentration ein.

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Wenn ihr dieses Stadium erreicht habt, scheint es, als würden die Füße von selbst gehen und ihr könnt selbst dann, wenn ihr es wollt, nicht schnel-ler gehen. Jetzt gibt es keine Probleme mehr den Fußschritten zu folgen. Die Anstrengung kann nun langsam mehr und mehr dazu verwandt werden den Empfindungsstrom aufzunehmen.

Jede Konzentrationsstufe kann immer nur ein ihr entsprechendes Maß an Empfindungen aufnehmen. Deshalb solltet ihr bei verbesserter Konzen-tration langsamer aber trotzdem gleichmäßig weitergehen. Entspannt euch jetzt noch mehr und seid friedvoller, damit euer Geist empfindlich genug ist den feineren Empfindungsfluss aufzunehmen.

Wenn ihr diese Konzentration halten könnt, ist Gehmeditation kein Problem mehr für euch. Ihr seid nun in samādhi. Es ist sehr friedvoll und ruhig und die Zeit scheint vorbeizufliegen. Wenn ihr nun mit der Geh-meditation fertig seid, könnt ihr mit der Sitzmeditation fortfahren und auch damit, eure Bewusstheit zu halten. Normalerweise dauern die Sitz- und Gehmeditationen ungefähr jeweils eine Stunde, immer abwechselnd. Bei fortgeschrittenen Studenten habe ich festgestellt, dass es besser ist die Geh- und Sitzmeditationsperioden zu verlängern.

Vorausgesetzt ist, dass sie fähig sind Konzentration zu erlangen und dass der Körper gesund und stark genug ist. Wenn ein Yogi diese Konzen-tration verlängern kann, dann werden die fünf Fähigkeiten sehr stark ent-wickelt und im Moment des Niedersetzens folgen und sinken diese Fähig-keiten in die neuen Objekte beim Sitzen.

Die Ernsthaftigkeit der Gehmeditation und anderer alltäglicher Aktivi-täten

Die Wichtigste ist, dass man die Gehmeditation ernst nimmt. Wenn ihr die Gehmeditation richtig ernsthaft betreibt, könnt ihr leicht in samādhi oder Konzentration hineingelangen und das in jeder eurer Geh- und Sitz-meditationssitzung. Dasselbe gilt für alle anderen Aktivitäten.

Als ich in Burma war, überlistete ich mich selbst und zwar dadurch, dass ich mich bei den Sayadaws darüber beschwert habe, dass die Leute im Kloster so schnell essen. Es waren so viele Mönche dort und wir, die Jüngs-ten und am kleinsten Gebauten, waren am Ende der Schlange. Als wir die Essenshalle betraten, verließen die älteren Mönche sie schon wieder.

Auf Grund meiner Beschwerde wurde mir ein spezieller Tisch gegeben, der von allen anderen eingesehen werden konnte. Ich hatte keine Wahl außer sehr achtsam zu essen. Aber es war eine gute Lektion. Normalerweise fühlte ich mich nach einer Mahlzeit sehr schläfrig und träge und wollte schlafen. Weil ich aber beim Essen wirklich achtsam war, war die Sitz-meditation nach dem Essen die Beste. Obwohl sich der Magen gefüllt an-fühlte, beobachtete ich dies und es wurde ein sehr gutes Meditationsobjekt. Ich fühlte mich überhaupt nicht schläfrig.

Wenn ihr in jeder Geh- und Sitzmeditation achtsam seid, ist es für euch möglich samādhi oder gute Konzentration zu erreichen. So kommt ihr mit der Kontinuität der Achtsamkeit und der Praxis voran.

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5. Achtsamkeit auf die Gefühle

(vedananupassanā)

Unangenehme Gefühle

Ein für Anfänger sehr nützliches Objekt ist der Schmerz. Das, wovon wir die ganze Zeit zuvor gesprochen haben, fällt unter kāyanupassanā satipa))hāna oder die Achtsamkeit, die sich auf den Körper oder die Körperaktivitäten und Prozesse bezieht. Also: „Heben, Senken“ und „Sitzen, Berühren“ und „Gehen, Essen“ und so weiter. All dies fällt wie gesagt unter kāya und kāya fällt unter rūpa, was wiederum unter die mate-riellen Qualitäten fällt. Diese enden schließlich hauptsächlich in den vier Elementen (Erde, Feuer, Wasser und Wind) und ihr werdet herausfinden, dass es größtenteils das Windelement ist, das dominiert. Es ist das Element der Bewegung, Spannung, Vibration und so weiter.

Wenn ihr diese Charakteristik herausschälen und sie als Prozess be-obachten könnt, seid ihr achtsam genug die drei Daseinsmerkmale zu er-fassen. Das Merkmal der Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit und des Nicht-Selbst. Die klare Erfahrung dieser Merkmale und ihr Verstehen ist Einsicht.

Schmerzhaftes Gefühl ist etwas, was wir nicht vermeiden können. Es ist eines der Dinge, die durch unseren Körper entstehen. Besser als Schmerzen zu vermeiden versuchen, wie wir es normalerweise tun, können wir sie während der Meditation benutzen um unsere Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht zu entwickeln.

Bei der reinen Einsichtsmeditation ist Schmerz ein häufiger Begleiter. Das kommt daher, weil ihr sehr achtsam auf die Körperprozesse seid. Wenn er auftaucht, müsst ihr ihn sofort achtsam notieren.

Was heißt das eigentlich, achtsam notieren? Der Hauptfaktor für den Geist ist sich daran zu erinnern, friedvoll zu sein und in einem ungestörten Zustand zu verbleiben. Normalerweise werden wir verspannt oder sind ängstlich, wenn Schmerz auftaucht. Wir möchten ihn vermeiden und davor fliehen. Jedoch anstatt zu fliehen, solltet ihr den Schmerz willkommen heißen wie einen Freund oder einen harten Lehrer. Er ist ein guter Lehrer voller Mitgefühl, aber ein harter Lehrer.

Da viele Menschen einen harten Lehrer brauchen, solltet ihr auf jedes Wort hören, wenn sich der Lehrer Schmerz niedersetzt und euch eine für euch gute Lektion oder Predigt gibt. Euer Geist sollte dabei weich und empfänglich sein.

Wenn er kommt, seid friedvoll und entspannt wie Baumwolle, die alles absorbiert, aber selbst ungestört verbleibt. Bei geringeren oder kleineren Schmerzen ist es einfach, aber wenn der Schmerz intensiver wird, dann festigt die Achtsamkeit. Jetzt wird ein fester, aber friedvoller und ungestör-ter Geisteszustand benötigt.

Es wird manchmal dazu kommen, dass der Geist sich aufregt und das ist gewöhnlich mit Böswilligkeit oder Ärger verbunden. Nun solltet ihr „Ärger, Ärger, Ungeduld, Ungeduld“ notieren. Nehmt einen tiefen Atemzug, ver-

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sucht zu entspannen, stabilisiert die Achtsamkeit und beobachtet dann weiter. Wie man lernt unangenehme Gefühle achtsam zu betrachten

Wenn ihr fähig seid, den Schmerz achtsam zu beobachten, heißt das nicht nur, dass ihr den Geist auf den Schmerz richten sollt. Wenn ihr den Geist nur auf den Schmerz richtet, ist es ein reines Konzentrieren auf den Schmerz und der Schmerz wird überbewertet und verstärkt. Ihr werdet dann einen kleinen Schmerz für einen großen halten, einen großen Schmerz für einen riesigen. Wenn eure Achtsamkeit nicht stark genug ist, werdet ihr aufgeben.

Der Trick besteht darin, den Geist nicht auf den Schmerz gerichtet zu halten, sondern ihn zu beobachten. Beobachtung beginnt mit dem Identi-fizieren der verschiedenen Arten des Schmerzes, der präsent ist – bitterer Schmerz, heißer Schmerz etc. Seht selbst, wie viele Schmerztypen ihr durch Beobachten unterscheiden könnt. Wie können wir sie beschreiben?

Wenn ihr die verschiedenen Schmerzarten klar erkennen könnt, werdet ihr auch in der Lage sein zu sehen, wie sie entstehen und vergehen. Ihr werdet bemerken, wie sie sich von einem Ort zum anderen zu bewegen scheinen und so weiter. Wenn ihr anfangt, die Veränderung wahrzunehmen, spürt ihr es anfänglich wahrscheinlich als eine Art Pochen. Danach werdet ihr in der Lage sein, die Veränderungen immer klarer zu sehen. Dasselbe Prinzip den Schmerz zu beobachten, wird während einer Krankheit ange-wandt. Wenn ihr während einer Krankheit gezwungen seid den Schmerz zu beobachten, konzentriert ihr euch nicht auf ihn, weil er dann schmerzhafter wird. Die Idee ist, die Veränderung zwischen den schmerzhaften Ge-fühlen zu beobachten.

Normalerweise nehmen die Leute den Schmerz nicht so gern als Haupt-objekt, da er sehr stressig sein kann. Nichtsdestotrotz, wenn ihr vipassanā übt, müsst ihr ihm schließlich gegenübertreten. Ihr müsst ihn - solange ihr achtsam seid -beobachten. Wenn der Punkt kommt, wo ihr wirklich nicht mehr achtsam sein könnt, oder wenn ihr nur so dasitzt, euch auf die Zunge beißt und nur daran denkt „wann hört das endlich auf?“, dann ist keinerlei Achtsamkeit mehr da. Nun ist es sinnlos geworden und Zeit die Haltung zu ändern. Entweder durch Strecken der Beine um sie dann in eine neue Posi-tion legen oder um zum Gehen aufzustehen.

Es gibt natürlich einige Phasen, durch die ihr durchgehen müsst, bevor ihr das macht. Zuerst beobachtet den Schmerz direkt. Wenn ihr das nicht mehr könnt, beobachtet ihn indirekt und wenn ihr das auch nicht mehr könnt, ignoriert den Schmerz und beobachtet irgendetwas anderes. Nur wenn ihr all das oben Gesagte nicht mehr tun könnt, solltet ihr euch be-wegen und die Haltung ändern.

Die Hauptsache ist nicht, dazusitzen und sich zu wünschen, dass der Schmerz weggeht, sondern zu sitzen und Achtsamkeit dem Schmerz gegen-über zu entwickeln. So entwickelt ihr gleichzeitig auch Konzentration und Einsicht.

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Wichtige Punkte bei der Schmerzbeobachtung

Zuerst stellt sicher, dass ihr achtsam seid. Zweitens seid vom Körper wie abgelöst. Meist ist der Schmerz tatsächlich nicht so schlimm. Es ist die Furcht vor Verletzungen oder dem Tod, die uns davon abhalten den Schmerz zu beobachten.

In den meisten Fällen wird der Schmerz nicht so stark, als dass er euch tatsächlich schaden könnte. Das Problem ist mehr die Angst davor. Die An-leitung sagt nicht, dass ihr zehn Stunden lang sitzen sollt. Die Anweisung lautet eine Stunde zu sitzen. Gewöhnlich, wenn ihr für eine Stunde sitzt, wird nichts mit eurem Körper oder euren Beinen schief gehen.

Es gibt auch verschiedene Arten, den Schmerz zu beobachten. Die be-vorzugte Art ist die Einspitzigkeit, das heißt, ihr bestimmt den schmerzhaf-testen Teil und schießt eure Achtsamkeit darauf ein. Dies wird das direkte Zusammentreffen genannt. Achtsamkeit ist wie das Messer eines Chi-rurgen, das hineingeht und beobachtet. Gewöhnlich wird der Schmerz, wenn euer Geist einspitzig und richtig darauf fokussiert ist, sehr stark. Normalerweise kann man so ein gewisses Maß an Veränderung erkennen, und wenn ihr es lang genug auszuhalten vermögt, verschwindet der Schmerz.

Wenn das nicht klappt, kann man unter Umständen eine „breite“ Sicht anwenden. Das macht ihr z. B., wenn euer ganzes Bein schmerzt. Kein ein-zelnes Teil des Beines scheint schmerzvoller als die anderen. Die ganze Situation scheint so zu sein: „Hier Schmerz, dort auch Schmerz, überall nur Schmerzen.“ Nun müsst ihr eure Achtsamkeit so weit ausbreiten, dass sie euer ganzes Bein bedeckt. Sonst bleibt, wenn ihr nur einen Teil beobachtet, ein anderer Teil eures Körpers voller Schmerz. Wenn ihr nun diesen be-obachtet, ist wieder ein anderer voller Schmerz. Der Geist kann dann weg-rennen wollen und abgelenkt werden.

Wenn der Schmerz allerdings durch eine physische Ursache entstanden ist, wenn ihr also krank seid, ist die Art der Schmerzen meist ausdauernder und hartnäckiger. Sie gehen nicht weg, da die Schmerzen nicht der Medita-tion entsprungen sind, oder durch eine Körperhaltung verursacht wurden. Es ist etwas physisch nicht in Ordnung mit dem Körper. In solch einem Fall, ist es ratsam, dass man dem Schmerz am Anfang nicht so viel Auf-merksamkeit widmet. Da er nicht weggeht, kann er durch die Aufmerksam-keit sonst sehr stressig werden.

Dann rate ich dazu ihn zu ignorieren. Baut lieber die Achtsamkeit und Konzentration auf leichtere Objekte wie „Heben“ und „Senken“ auf. Wenn ihr euren Geist gut auf das „Heben“ und „Senken“ lenken könnt, seid ihr in der Lage den Schmerz zu ignorieren. So werdet ihr ihn überhaupt nicht mehr spüren.

Wenn eure Achtsamkeit und Konzentration entwickelt ist, könnt ihr Einsicht bekommen und die drei Daseinsmerkmale des Schmerzes erfahren. Wenn ihr dieses erhaltene Wissen auf eine Krankheit anwendet, seid ihr fähig mit ihr umzugehen und vielleicht könnt ihr sie so auch überwinden oder heilen.

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Deshalb hat die Meditation auf die schmerzhaften Gefühle tatsächlich viele Vorteile. Erstens werden wir fähig dem Schmerz in einer friedvolleren und würdevolleren Art und Weise zu begegnen, falls wir sowieso nicht davon wegkommen können. Wenn wir zum Beispiel eine ernste Krankheit bekommen, können wir trotzdem einen friedvollen und glücklichen Geist behalten, was auch immer als Nächstes passiert.

Zweitens ist Schmerz ein sehr kräftiges Objekt. Es ist einzigartig für vipassanā. Es kann Vipassanā-Konzentration, sofern ihr es ertragen könnt, sehr schnell hervorbringen. Das Problem ist, dass es sehr tyrannisch ist und eine Menge Kraft kostet. Wenn ihr es jedoch aushalten könnt, erhaltet ihr Vipassanā-Konzentration sehr schnell. Wenn ihr es als Vipassanā-Objekt nehmen könnt, dann könnt ihr leichter Einsichtswissen erreichen und ihr bewegt euch näher an euer geliebtes Ziel nibbāna heran.

Angenehme und neutrale Gefühle

Natürlich begegnen uns nicht nur schmerzhafte Gefühle. Wir haben auch angenehme oder schöne Gefühle. Schöne körperliche Gefühle be-deuten physische Gemütlichkeit. Dies ist für den Anfänger meist nicht so offensichtlich, es sei denn beim Schlafengehen. Wenn ihr euch hinlegt, fühlt ihr euch sehr angenehm und deshalb schlaft ihr dann auch sehr schnell ein. Mit Recht solltet ihr auch bis zum Einschlafen achtsam weiternotieren.

Was ist wichtig, wenn angenehme Gefühle im Geist entstehen? An-genehme Gefühle erscheinen, wenn sich die Konzentration aufbaut und Freude entsteht. Wenn Freude und ein friedvoller Bewusstseinszustand ent-steht und ihr euch glücklich fühlt, dann müsst ihr das achtsam notieren. Ihr müsst eure Energie und Wachheit aufbauen, sonst schlaft ihr ein oder haftet an den angenehmen Gefühlen an. In diesem Fall gibt es keinen Fortschritt. Schlimmer noch, ihr könntet falsche Konzentration bekommen und Halluzinationen, da Verlangen eingesetzt hat.

Deshalb müsst ihr es notieren. Stellt sicher, dass ihr sehr kraftvoll notiert, wenn glückliche Gefühle entstehen. Wenn ihr glückliche Gefühle - so wie sie entstehen und vergehen - sehr achtsam notieren könnt, dann könnt ihr damit fortfahren und erhaltet so das Wissen der drei Daseins-merkmale. Vipassanā-Einsicht oder Wissen bezieht sich hier auf das Ent-stehen und Vergehen der angenehmen Gefühle.

Wenn ihr aber die angenehmen Gefühle notiert und keine Veränderung sehen könnt, bleibt es nur angenehm, friedvoll und nichts weiter. Jetzt ist es doch besser sich nicht in diesem geistigen Zustand aufzuhalten, unwichtig wie angenehm er ist. Es ist „gefährlich“. Die Achtsamkeit könnte wegrut-schen und ihr könntet in einer Art falscher Konzentration enden. Deshalb holt den Geist besser aus den angenehmen Gefühlen heraus und lasst ihn stattdessen das „Heben“ und „Senken“, das „Sitzen“ und „Berühren“ oder den Schmerz beobachten.

In fortgeschritteneren Meditationsstufen seid ihr später nicht nur in der Lage angenehme Gefühle zu notieren, sondern auch neutrale Gefühle. Ihr werdet sehen, dass die neutralen Gefühle die subtilsten aller Gefühle sind. Es ist der Gleichmut, der von den neutralen Gefühlen hervorgebracht wir

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und der den Geist richtig friedvoll und konzentriert macht. Es ist wie ein stiller Zustand eines Sees, sehr ruhig und sehr klar. Es gibt keine Wellen. Der Moment der Entstehung von Wellen bedeutet, dass jetzt andere Gefühle mehr hervorstechen.

Meditation auf die Gefühle wird vedananupassanā genannt. Es ist der zweite Pfeiler der Achtsamkeit. Wenn ihr achtsam auf die Gefühle sein könnt, werdet ihr ein Meister der Gefühle. Ihr könnt davon für jeden edlen Zweck Gebrauch machen. Dies sind die zwei grundlegenden Objekte. Die Achtsamkeit auf den Körper und die Gefühle. Ihr werdet merken, dass diese Achtsamkeit in beiden Fällen den Geist letztendlich zu einem natürlichen Geist- oder Körperprozess führt. Im Falle von körperlichen Aktivitäten ist es der Körperprozess. Im Falle der Gefühle ist es der Geistprozess. Wenn ihr die geistigen oder körperlichen Prozesse sorgfältig beobachtet, dann be-obachtet ihr eine Folge von Erscheinungen. Auf diese Weise betrachtet, seht ihr in das Merkmal der Unbeständigkeit. Wenn das Merkmal der Un-beständigkeit klar wird, wird auch das Merkmal des Leidens klar. Wenn diese beiden Merkmale klar werden, wird das Merkmal des Nicht-Selbst klar. So könnt ihr mit eurer Meditation fortfahren und sie verbessern um Einsichtswissen zu bekommen.

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6. Achtsamkeit auf das Bewusstsein & auf die Geistobjekte (cittanupassanā & dhammanupassanā)

Der dritte Pfeiler der Achtsamkeit ist Achtsamkeit auf das Bewusstsein oder den Geist. Wir werden hier nicht zwischen dem, was wir Geist nennen und den geistigen Zuständen unterscheiden.

Es gibt einen vierten Pfeiler der Achtsamkeit und zwar Achtsamkeit auf die dhamma, was meist mit Geistobjekten übersetzt wird. Dieser vierte Pfeiler der Achtsamkeit ist allgemeiner und hat zwei Interpretationen. Eine Interpretation ist, dass dhamma hier gewisse Aspekte der Lehre bedeutet, durch die mittels Kontemplation Einsicht, das heißt vipassanā entsteht. Die andere Bedeutung ist, wie schon oben genannt, Geistobjekte. Man kann es auch als Erscheinung interpretieren, da alle Erscheinungen Objekte des Geistes sein können. Das Feld der Geistobjekte ist sehr weit. Es erstreckt sich jenseits der anderen drei Arten von Objekten. Als Anfänger werden wir nicht so viel mit ihnen zu tun haben. Wir werden hauptsächlich den Geist selbst behandeln. Eingeschlossen sind geistige Zustände, die oft auch unter dhamma oder Geistobjekte klassifiziert werden.

Was meinen wir, wenn wir „Geist“ (citta) sagen? Citta wird oft als Bewusstsein übersetzt. Dasjenige, was weiß oder das um ein Objekt weiß, sich des Objektes bewusst ist. Wenn ihr etwas wisst, sagt ihr normaler-weise, „wir wissen“. Hier ist nicht das „wir wissen“ gemeint. Es ist das Bewusstsein, der Geist, der weiß. Bewusstsein ist so definiert, dass es die Eigenart des Wissens besitzt. Wenn wir hier „Geist“ sagen ist es gleich-bedeutend mit Bewusstsein.

Am Anfang unserer Praxis sind wir uns der geistigen Zustände noch nicht so bewusst. Wir sind mehr damit beschäftigt den Geist auf das „Heben“ und „Senken“, und das „Sitzen“ und „Berühren“ etc. zu halten. Durch diese Praxis jedoch wird uns der Geist sehr bewusst. Und zwar des-halb, weil wir versuchen ihn zu kontrollieren. Vorher waren wir gewohnt, ihn gewähren zu lassen. Wir wussten eventuell vom Vorhandensein eines Geistes, aber wir schauten nicht richtig darauf. Jetzt versuchen wir den Geist zu kontrollieren. Wir müssen uns deshalb mit ihm beschäftigen.

Die Hemmungen

Die erste Stufe des Trainings von cittanupassanā satipa))hāna ist Acht-samkeit auf die geistigen Hemmungen, wie z. B. Müdigkeit und Nervosität. Cittanupassanā, Achtsamkeit auf das Bewusstsein heißt, dass wir achtsam das Bewusstsein oder den geistigen Zustand betrachten müssen. Das Bewusstsein selbst ist das klar und achtsam zu betrachtende Objekt. Wir müssen nicht nur achtsam wissen, dass es anwesend ist, sondern in der Lage sein es nahe zu beobachten. So als wenn wir ein Gesicht von Nahem be-obachten um es gut beschreiben zu können. Das heißt, wenn ihr auf euer Bewusstsein schaut und etwas wie Mattigkeit, Müdigkeit oder Unruhe er-kennt, müsst ihr fähig sein es klar in euren eigenen Worten zu beschreiben.

Klarer für den Anfänger sind die gröberen Erscheinungen wie bei-spielsweise Zorn oder Hass. Zorn ist in der Tat die gröbste Art der Befle-

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ckung. Wenn ihr ärgerlich seid, wie ist dann euer geistiger Zustand, wie ist euer Bewusstsein? Wenn ihr versucht achtsam in den Geist zu schauen, wenn er ärgerlich ist, merkt ihr, dass der Geist in einem sehr verwirrten Zu-stand ist. Er brennt. Der abhidhamma beschreibt diesen Zustand als gewalt-tätig und zerstörerisch. Er ist wie ein Wirbelwind oder eine Explosion. Er ist sehr grausam und schädigenwollend. All dies sind Möglichkeiten, den Zorn und das zornige Bewusstsein zu beschreiben.

Wenn ihr z. B. meditiert und jemand Krach macht, könntet ihr dadurch gestört werden und aus der Konzentration kommen, auch Ärger könnte ent-stehen. Wenn Ärger entsteht, dann sagt nicht nur „Ärger, Ärger..“, sondern beobachtet den gestörten und aufgewühlten Zustand des Geistes, den wütenden Zustand des Geistes. Wenn ihr ihn beobachtet, werdet ihr fest-stellen, wie schrecklich er ist.

Manchmal ist die unheilsame Wurzel des Begehrens problematischer. Wenn Begehren entsteht, müssen wir es auch notieren und den Zustand des Bewusstseins beobachten. Wenn ihr z. B. sehr gutes Essen esst und denkt „Oh, das ist so lecker“, bemerkt ihr, dass da Freude ist. Was jetzt geschieht ist, dass die Freude alles maskiert und versteckt. Das Begehren des Essens ist das eine, die Freude darüber das andere. Es sind zwei verschiedene Dinge. Eines ist das Bewusstsein der Freude und das andere ist der Geist, der mit dem Begehren entsteht. Wenn Menschen essen, bringt ihnen der Geschmack normalerweise Freude. Sie sind so bezaubert von der Freude, dass sie den tatsächlichen Zustand des Geistes nicht sehen können. Wenn ihr in das Bewusstsein eines solchen Geistes richtig hineinschauen könntet, wäre dort außerdem Begehren und ihr würdet merken, dass dieser Geist letztendlich doch nicht so wundervoll ist.

Ein gutes Bild des Begehrens kann man sich bei einem Drogensüchtigen oder Nikotinabhängigen machen, wenn seine Droge nicht erhältlich ist. Wenn ihr euch diesen geistigen Zustand richtig anseht, könnt ihr erfassen, wie schrecklich er ist. Wenn bei euch Begehren entsteht, schaut auf die Natur des Begehrens. Es ist ein Zustand des Wollens, Haftens etc. Solches Begehren und solch ein Ärger entstehe sehr oft. Erst, wenn ihr es jederzeit einfangen und austreiben könnt, wird es euch nicht mehr stören.

Mattigkeit und Müdigkeit ist am Anfang ein wenig schwerer zu er-kennen, da es feiner ist. Eine interessante Meinung im abhidhamma ist, das einer dieser beiden Faktoren als Schwerfälligkeit des Bewusstseins (citta) und der andere als Schwerfälligkeit der Bewusstseinsbegleitfaktoren oder geistigen Zustände (cetasika) interpretiert wird. Beide kommen in einem Bewusstseinsmoment zusammen vor.

Was ist nun der Unterschied? Wenn man sagt, dass das Bewusstsein schwerfällig ist, bedeutet das, dass das Wissen oder Erkennen selbst ver-schwommen ist. Es ist eine Hemmung beim Erkennen. So als ob sich das Bewusstsein vom Objekt zurückzieht. Es ist wie am frühen Morgen, wenn ihr noch sehr schläfrig seid und versucht das „Heben“ und „Senken“ zu be-obachten, aber ihr nichts erkennen könnt. Es ist nur verschwommen und neblig. Egal wie stark ihr es versucht, es macht keinen Unterschied. Zum Schluss bricht Dunkelheit herein und ihr schlaft ein. Im Falle der

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Bewusstseinsbegleitfaktoren ist das Notieren selbst schwierig. Die Bewusstseinsbegleitfaktoren bedeuten Aktivität und die Aktivität ist ver-langsamt, schwerfällig, steif und hart. Wenn ihr mit dieser Hemmung notiert, ist das Notieren sehr langsam und schwierig, bis ihr schließlich den Geist und die mentalen Zustände oder Bewusstseinsbegleitfaktoren als dunkle Wolken, die zusammenbrechen, seht.

In der tatsächlichen Praxis unterscheiden wir natürlich nicht intellektuell zwischen Geist und geistigen Zuständen. Wenn wir müde sind, notieren wir „Müde, Müde...“ Manchmal beobachtet ihr das Bewusstsein und manchmal beobachtet ihr den geistigen Zustand. Wichtig ist, dass ihr eine klare Wahr-nehmung der entstehenden Hemmungen und Befleckungen habt. Wenn ihr das habt, könnt ihr sie auch austreiben. Wenn die leichteste Form von Mattigkeit auftaucht, könnt ihr sie abfangen. Wenn die leichteste Form von Begehren entsteht, könnt ihr sie abfangen. Das Gleiche gilt auch für Zorn.

Dies ist etwas, was gelernt werden muss, es ist nicht etwas, was ihr von selbst verstehen könnt. Es ist etwas, was ihr durch Erfahrung verstehen lernt. Und ihr lernt es am schnellsten, wenn ihr dazu fähig seid, einen klaren, ruhigen und neutralen Zustand der Bewusstheit aufrechterhalten zu können und diesen mit einem Zustand, der mit Befleckungen verbunden ist, vergleicht.

Was ist der Unterschied zwischen einem klaren und einem unklaren Geist?

Wenn ihr achtsam seid, ist der Geist sehr ruhig, friedvoll und klar. Er ist sehr stabil und bewusst, und wenn ein Moment einer kleinen Störung kommt, wisst ihr es. Wie ist nun der Geist, wenn er verwirrt ist? Möglicherweise zittert er. Gewiss ist er nicht länger ruhig und stabil. Wenn Ärger entsteht fängt der Geist an, gewalttätig zu werden. Wenn Mattigkeit und Müdigkeit entstehen, wird der Geist dunkel, verschwommen und schwer. Wenn Begehren entsteht, erkennt ihr eine Form der Anhaftung, die nach irgendetwas bettelt. Wenn der Geist einfach nur trübe ist, kann es pure Unwissenheit oder Wahn sein.

Wenn ihr anfangt das Beobachten des Geistes zu trainieren, werdet ihr

lernen in den Geist hineinzuschauen. Es ist eine andere Welt. Ihr könnt es „Geistschaft“ statt Landschaft nennen. Es gibt tiefe Täler und hohe Berge. Es gibt dunkle Wolken und klare Himmel. In der Meditation müsst ihr immer tiefer in diese Zustände hineingehen, sie gut kennen und familiär mit ihnen werden. Anfangs kommen solche Zustände wie Mattigkeit und Müdigkeit oft vor.

Die Sinne

Ein anderer wichtiger Aspekt des Bewusstseins, mit dem der Anfänger zu tun hat, sind die sechs Sinne, das heißt Sehen, Hören, Riechen, Schme-cken, Berühren und Wissen. Wenn Menschen sehen, sagen sie gewöhnlich, „Ich sehe“, aber hier, gemäß des dhamma, seid nicht ihr es, die seht - die Person selbst ist nur ein Konzept - sondern es ist das Sehbewusstsein, eine gewisse Bewusstseinsart, das sieht. Es ist das Wissen, das über ein Seh-

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objekt erfahren wird, also Farbe und Helligkeit. Das Gleiche gilt für das Hören. Das Hörbewusstsein weiß um das Geräusch. Das Geruchsbewusst-sein weiß um den Geruch. Das Schmeckbewusstsein weiß um den Ge-schmack und das Geistbewusstsein weiß um die Geistobjekte.

Manchmal gibt es Momente, wo wir „Sehen“, „Hören“, „Riechen“, „Tasten“ oder „Berühren“ notieren müssen. Bei der Gehmeditation z. B. ist es ein wichtiger Aspekt, das „Sehen“ zu notieren. Wenn ihr das „Sehen“ nicht notiert, fängt gewöhnlich das Denken über das Gesehene an, und wenn ihr über das Gesehene nachdenkt, seid ihr nicht länger beim Medita-tionsobjekt. Wenn ihr nicht achtsam seid, können so die Befleckungen Gier und Ärger entstehen. Diese Kunst muss erlernt werden. Sie wird das „Zügeln der Sinnestore“ genannt. Ihr verhindert so das Aufsteigen der Be-fleckungen. Denn wenn ihr „Sehen“ nicht notiert, fangt ihr an darüber nachzudenken. Auf einer späteren Stufe notieren wir nur den Prozess. Es gibt nur den Sehprozess des Sehens, welcher das Sehobjekt bemerkt. Dies kann aber nur passieren, wenn ihr nicht an der Idee hängt, dass „Ich“ gerade sehe. Es wird für euch einfacher verständlich, wenn ihr die natürlichen Er-scheinungen so sehen könnt, wie sie wirklich sind (wir werden das später noch ausführlich besprechen).

Das Gleiche gilt für das Hören. Gespräche oder Geräusche könnten euch stören. Dann notiert „Hören, Hören... Hören“, damit ihr nicht über das Ge-räusch nachdenkt.

Von den fünf Sinnen spielen Sehen und Hören die Hauptrolle. Riechen spielt eine untergeordnete Rolle und das Schmecken nur, wenn wir essen. Die Berührung ist natürlich auch oft unser Meditationsobjekt. Das Sehen spielt eine sehr große Rolle während der Gehmeditation und wenn ihr es sofort richtig notiert, kann sehr viel Denken und Unruhe gar nicht erst ent-stehen. In höheren Stufen kann man tatsächlich durch bloßes Notieren der sechs Sinne Einsicht gewinnen.

Die Bedeutung des Notierens der Absicht.

Der dritte Faktor, den ihr bei der Achtsamkeit auf die geistigen Zustände nicht auslassen dürft, ist die Absicht. Vor jeder Handlung entsteht immer eine Absicht. Nach einiger Zeit des Sitzens zum Beispiel, möchtet ihr auf-stehen und gehen. Der Geist hat die Absicht zu gehen. Er erzählt euch „Steht auf und geht! Ihr habt lang genug gesessen.“ Nach dem Gehen wisst ihr, dass es Zeit ist zu sitzen, deshalb sagt der Geist „Geht und setzt euch hin“. Wegen des Dranges, eurer Absicht zu sitzen, lasst ihr euch in die Sitz-position nieder. Das Gleiche gilt für alle andere Handlungen: die Absicht zu essen, zu trinken, zu antworten, zur Toilette zu gehen, die Absicht zu schla-fen, zu sprechen etc. Zuerst entsteht die Absicht. Darauf folgt die Handlung.

Tag für Tag entstehen viele solcher Absichten und werden nicht be-merkt. Wenn ihr all die entstehenden Absichten achtsam notieren könnt, werdet ihr auch auf die folgenden Handlungen achtsam sein. Wir beginnen, indem wir die Hauptabsichten notieren, die mit den vier Körperhaltungen verbunden sind: Gehen, Aufstehen, Sitzen und Hinlegen. Sie erscheinen gewöhnlich zwischen jeder dieser vier Hauptkörperhaltungen. Wenn ihr sie

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notieren könnt, dann könnt ihr eure Praxis ausweiten, indem ihr die den anderen Körperhaltungen - wie Beugen, Strecken, den Kopf drehen -vorausgehenden Absichten notiert.

Eine Möglichkeit ist zum Beispiel, folgenden Entschluss zu fassen: „Ich will nicht eher aufstehen, bis ich in der Lage bin die Absicht aufzustehen zu beobachten“ oder „Ich werde nicht sitzen solange ich nicht in der Lage bin, die Absicht zu sitzen zu beobachten“. Wenn ihr das einhaltet, wird die Ab-sicht so stark werden, dass ihr sie auch beobachten könnt. Sie kommt dann eher wie ein starker Drang, ein starker Wunsch oder ein starkes Begehren daher. Ein gutes Beispiel ist, wenn ihr Schmerzen beim Sitzen empfindet und ihr euch eigentlich bewegen wollt, ihr euch aber dagegen entscheidet. Dann erzählt euch der Geist: „Bewegt euch, bewegt euch, bewegt euch! Wozu ist weiteres Sitzen nötig? Wer glaubst du eigentlich, wer du bist? Versuchst du den Helden zu spielen? Du kannst achtsamer sein, wenn du die Haltung änderst.“ Dann sagt zu euch: „Ah! Das ist die Bewegungs-absicht, die Absicht aufzustehen.“ Schaut sie euch gut an. Dann, wenn not-wendig, bewegt euch. Genauso ist es mit der Absicht zu schlafen, wenn ihr am Morgen aufwacht und nur im Bett bleiben wollt.

Wenn ihr einmal angefangen habt die Absichten zu fassen, werdet ihr herausbekommen, dass der Geist tatsächlich ein Eigenleben führt. Ihr denkt ihr kontrolliert den Geist, aber der Geist kontrolliert euch mehr, als das ihr ihn kontrolliert. Wenn eine Person nicht achtsam ist, handelt sie größten-teils impulsiv, unbedacht und triebhaft. Sie ist sich ihrer Handlungen nicht bewusst. So entstehen auch Dinge wie Sucht.

Vor einiger Zeit erzählte mir ein Raucher, dass - obwohl er versucht hat mit dem Rauchen aufzuhören - der Drang zurückkam. Er sagte: „Ich weiß nicht, wie die Zigarette in meine Hand kam.“ Die Zigarette redete seinem Kopf zu und sagte: „Komm, lass uns eine rauchen!“ und er wusste nicht, dass sich seine Hände bewegten. Das kommt daher, dass großes Begehren im Geist entsteht, wenn es unbemerkt, das heißt unnotiert, bleibt.

Deshalb ist die Anweisung in einem Retreat gewöhnlich, dass ihr in eurer Körperhaltung verharren und euch nicht bewegen sollt, nicht einmal einen Muskel. Einige sagen sogar, dass ihr nicht einmal die Augen bewegen dürft. Wir bewegen uns oft, weil wir nicht achtsam, sondern aufgeregt und zerstreut sind. Wenn ihr euch bewegen wollt und müsst, dann notiert zuerst die Absicht. Zum Beispiel juckt es euch an der Nase. Zuerst notiert es mit „Jucken, Jucken, Jucken...“, aber wenn es zu stark wird und ihr ihm nicht standhalten könnt und ihr euch wirklich kratzen wollt, dann notiert die Ab-sicht zu kratzen. Notiert die Absicht eure Hand zu bewegen und dann be-wegt langsam eure Hand. Notiert sorgfältig das Kratzen mit „Kratzen, Kratzen, Kratzen...“ und dann setzt eure Hand mit kontinuierlichem Notie-ren langsam wieder ab. Dann wisst ihr, dass ihr eine alberne Sache gemacht habt und diese Vergegenwärtigung ist ein anderes Gefühl, das das Jucken ersetzt.

Die Absicht ist sehr wichtig um die Kontinuität der Achtsamkeit auf-rechtzuerhalten. Wenn ihr euch der Absichten nicht bewusst seid, dann seid ihr euch normalerweise vieler eurer Handlungen nicht bewusst. Die Absicht

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ist die Verbindung zwischen den Handlungen. Obwohl ihr am Anfang nicht jede Absicht notieren sollt.

Zwei Arten von Absicht

Die eine ist stärker und aktiver, die andere ist mehr ein Impuls. Fangt an, indem ihr die starken und aktiven Hauptabsichten beobachtet. Wenn ihr diese Hauptabsichten beobachten könnt, ist nicht nur die Kontinuität der Achtsamkeit da, sondern auch zwei andere Dinge und zwar ein klares Ver-ständnis des Zwecks der Absicht und ihre Angemessenheit. Nehmen wir noch mal das Beispiel, wenn wir gerade gehen und ihr die Absicht zu sitzen bemerkt. Warum wollt ihr sitzen? Ist es angemessen für euch zu sitzen? Die Antworten darauf beschreiben den Grund und die Natur der Absicht, sie kommen mit der Absicht daher. Möglicherweise seid ihr zulange gegangen und ihr seid müde, oder ihr seid nur faul und euch ist nicht nach Gehen. Ihr bemerkt eine Absicht zu sitzen, deshalb fragt euch, „Warum möchte ich mich setzen?“ und die Antwort kommt „Weil ich mich zu faul zum Gehen fühle. Ich habe nichts vom Gehen. Es ist reine Zeitverschwendung.“ Das ist kein angemessener Zweck, da die Absicht durch Faulheit verursacht wurde. Jede Absicht kommt mit ihrem Zweck und mit ihrer Angemessenheit daher.

Ein anderer wichtiger Punkt betreffend Notieren der Absichten ist, dass dies hilft die Empfindung eines Egos auszurotten und auch dazu verhilft die bedingte Natur und das Nicht-Selbst zu erkennen.

Normalerweise tendieren Leute, die den dhamma nicht kennen, dazu, ein sehr starkes Ego, ein Selbst, ein „Ich“, „mir“ oder „mein“ zu haben. All ihr Denken umkreist es. Im dhamma ist es anders. Realität und „rechte An-sicht“ ersetzen das Ego. Wenn man fähig ist die Absichten zu bemerken, versteht man, dass es nicht „Ich“ ist, der zu sitzen oder zu gehen beabsich-tigt. Das Sitzen entsteht, weil es die Absicht ist, die sitzen möchte. Warum entsteht diese Absicht? Dies liegt an anderen Bedingungen. Warum steht ihr z. B. auf? Weil der Schmerz zu stark geworden ist! Warum ist der Schmerz so stark? Weil ihr sehr alt seid, oder weil ihr steife Knochen habt! Und außerdem mangelt es euch an Achtsamkeit, ihr könnt es nicht mehr aus-halten und deshalb ist es weise für euch aufzustehen und für vielleicht eine Stunde zu gehen. So seht ihr all die Bedingungen, die anwesend sind und wenn ihr diese Bedingungen klar seht, erkennt ihr, dass da keine Person ist. Da ist nur die Absicht, die von einer Handlung gefolgt wird und so wird die Wahrnehmung des Nicht-Selbst erhöht.

Die Reise in die Achtsamkeit

So, jetzt haben wir drei grundlegende Objektarten. Achtsamkeit auf das Bewusstsein bezüglich der Hemmungen, Achtsamkeit auf das Bewusstsein bezüglich der Sinne und Achtsamkeit auf das Bewusstsein bezüglich der Absichten. Die zuvor besprochene Achtsamkeit bezüglich der Gefühle und Achtsamkeit bezüglich der körperlichen Aktivitäten sind Basisobjekte für den Anfänger um die Kontinuität der Achtsamkeit zu erhalten.

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Wenn man mehrere Tage sitzt, ist man in der Lage die Kontinuität der Achtsamkeit aufrechtzuerhalten. Es sei denn, es ist einem nicht bewusst, dass man die Objekte, wenn sie entstehen, notieren muss, dass man auch nicht weiß, wie man sie notiert und was diese Objekte wirklich sind. Dann kann die Kontinuität der Achtsamkeit natürlich nicht entstehen.

Unsere Praxis ist, wie auf Reisen gehen. Manchmal reisen wir entlang der Hauptstraße, wenn es keine Hauptstraße gibt, benutzen wir eine Neben-straße. Wenn die Hauptstraße wieder auftaucht, gehen wir auf sie zurück. Manchmal, wenn wir auf der Hauptstraße reisen, ist dort alles überflutet, alle Nebenstraßen und auch die Hauptstraße sind überflutet, deshalb reisen wir jetzt auf dem Fluss. Dann kommt eine Stromschnelle, deshalb nehmen wir nun das Flugzeug oder einen Helikopter.

Warum müssen wir das machen? Weil die Zeit kurz ist, die Nacht hereinbricht und sich Gefahren nähern. Das Achtsamkeitstraining ist in etwa wie diese Reise. Wir treffen mit verschiedenen Objekten zusammen. Die Objekte sind unser Pfad, unsere Straße. Je weiter wir gehen, desto fort-geschrittener oder näher sind wir dem sicheren Hafen des Glücks. Das Hauptobjekt ist das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke. Es ist fest wie die Hauptstraße, fester als die anderen Achtsamkeitspfeiler der Gefühle und des Geistes. Es ist das Hauptobjekt, das unsere Konzentration und Acht-samkeit mit Hilfe des „Hebens“ und „Senkens“ ausbildet. Dann gibt es andere Nebenobjekte wie „Sitzen“ und „Berühren“. Sie sind wie die Neben-straßen.

Wenn ihr kein „Heben“ und „Senken“ mehr spürt, egal wie stark ihr es versucht, dann beobachtet das „Sitzen“ und „Berühren“. Manchmal wird Schmerz oder Freude überwältigend und die Körperobjekte treten zurück. Dann müsst ihr sorgfältig diese Gefühle notieren. Das ist wie das Über-queren eines Flusses. Gefühle sind wie Wasser, tief und turbulent. Zu anderen Zeiten, wenn ihr die Gefühle nicht beobachten könnt oder der Schmerz zu stark ist, dann müsst ihr den Geist beobachten. Wieder zu anderen Zeiten sind auch die Gefühle und Körperobjekte undeutlich. Auch dann habt ihr den Geist zu beobachten. Wenn ihr den Geist beobachtet, ist es wie in der Luft zu fliegen.

Nicht-Selbst und die Unstetigkeit des Bewusstseins

Der Körper scheint fester oder stetiger als das Bewusstsein zu sein. Aber der Schlüssel zum Verständnis des Körpers ist, ihn zu durchdringen und hinter die scheinbare Festigkeit zu gelangen. Der Körper ist in Wirklichkeit mehr wie feiner Sand. Wenn ihr nicht richtig auf ihn schaut, erscheint er euch wie ein fester Felsen, aber wenn ihr ihn genau beobachtet, seht ihr, dass er aus vielen kleinen Sandkörnern gemacht ist. Dann, wenn ihr exakt auf die feinen Sandpartikel schaut, bemerkt ihr, dass sie nicht gleichblei-bend sind, sondern sich ständig verändern. Wenn ihr die scheinbare Festig-keit des Körpers und der Form beiseite legt und ihn nur noch als bloße Er-fahrung wahrnehmt und empfindet, seid ihr dabei die Konzepte der Form etc. zu überschreiten und zu durchschauen. Ihr könnt dann die drei Da-

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seinsmerkmale der Unbeständigkeit, des Leidens und des Nicht-Selbst er-kennen.

Bei den angenehmen Gefühlen jedoch ist das Hauptproblem die An-haftung. Wenn ihr diese Anhaftung überwinden könnt, seid ihr auch hier fähig, die Gefühle als unbeständig, leidbehaftet und als Nicht-Selbst zu durchschauen.

Beim Bewusstsein existiert eine Idee der Kontinuität des Geistes und seiner geistigen Zustände, die Idee, dass da ein Selbst ist, eine immerwäh-rende Seele, ein immerwährendes „Ich.“ Das liegt daran, weil wir die Un-stetigkeit und Unbeständigkeit nicht sehen können. Die Leute können z. B. den Unterschied zwischen dem „Sehen“ und dem „Hören“ nicht erkennen. Sie denken, dass der Geist, der sieht, und der Geist, der hört, derselbe ist. Durch die Meditation werdet ihr aber immer bewusster die Natur des „Sehens“ und des „Hörens“ wahrnehmen. „Sehen“ ist eine bestimmte Art von Phänomen, eine Art des Wissens, und so ist es auch mit „Hören“. Es gibt verschiedene Bewusstseinsarten, also Arten des Wissens oder des Er-kennens. Wichtiger ist aber die Fähigkeit die Unstetigkeit des Bewusstseins zu erkennen. Am Anfang seid ihr aber nicht dazu in der Lage. Alles, was ihr erkennen könnt, ist die Unstetigkeit der geistigen Zustände. Zum Beispiel wissen wir, dass das Notieren kommt und geht. Wir wissen, dass Achtsam-keit kommt und geht und wir wissen, dass Denken kommt und geht. Aber wir können trotzdem noch die Vorstellung haben, dass, obwohl die geis-tigen Zustände kommen und gehen, der Geist immer noch da ist und der-selbe ist. Wenn ihr kontinuierlich beim Notieren bleibt und sehr bewusst der Unstetigkeit und Veränderung der geistigen Zustände seid, indem ihr „Hören“, „Riechen“, „Berühren“, „Schmecken“ oder „Sehen“ notiert, dann seid ihr in der Lage die Unbeständigkeit des Bewusstseins selbst zu er-kennen.

Ein gutes Beispiel dazu ist, wenn Ihr gerade dabei seid die Hemmungen Mattigkeit und Müdigkeit zu notieren, also „Müde..., Müde..., Müde.“ Euer Geist ist sehr schwer und umnebelt. Wenn ihr aber mit Geduld und Energie durchhaltet, könnt ihr zu einem Punkt kommen, wo die Schläfrigkeit ver-schwindet und alles sich klärt, so als würden dunkle Wolken verschwinden. Dann ist da eine komplett neue Art von Geist. Umgangssprachlich sagt man dann „Ich bin eine vollkommen andere Person geworden“. Wenn ihr die Veränderung des Bewusstseins bemerkt, ist es auch so.

Nehmt ein anderes Beispiel. Ihr seid auf jemanden sehr ärgerlich und wütend. Er hat etwas Schreckliches getan, er hat euch belogen und be-trogen. Ihr seid sehr traurig. Dann entdeckt ihr, dass er unschuldig ist. Ihr habt alles nur falsch aufgefasst. Er hat euch gar nicht betrogen. Dann seid ihr plötzlich nicht mehr böse mit ihm. Was ist mit dem Zorn passiert? Er ist weggegangen. Ist das nicht seltsam? Es sind nur zwei verschiedene „Geister“ oder Bewusstseinsarten und geistige Zustände. Dies ist natürlich nur ein Beispiel, aber in der Meditation wird es euch sehr klar werden. Wenn die Klarheit fortschreitet, könnt ihr nicht nur die Unterschiede zwi-schen den Befleckungen und dem reinen Geist sehen, sondern auch den Unterschied zwischen dem einen reinen Geist und dem danach erschei-

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nenden anderen reinen Geist. Auch die Achtsamkeit selbst verändert sich von Moment zu Moment. Es ist, als ob jeden Moment, jeden Sekunden-bruchteil ein anderer Geist zusammen mit einem anderen Bewusstsein ent-steht. Das Bewusstsein gehört mehr zum wissenden Geist. Die geistigen Zustände sind wie der notierende Geist. Der wissende Geist, das Bewusst-sein ist gewöhnlich im Hintergrund. Es ist zwar schwieriger dort die Ver-änderung wahrzunehmen, aber wenn ihr sie notieren könnt, dann ist eure Wahrnehmung der Unbeständigkeit verbessert und das Haften am Selbst, das mit diesem Geist und dem Bewusstsein verbunden ist, wird langsam aufgegeben. Wenn das nicht passiert, kann keine tiefere Einsicht entstehen. Viel an tiefer Einsicht wird, wegen latentem Hängen am Selbst und am „Ich“, verhindert. Auch unter vielen Buddhisten gibt es ein Haften an der Idee, dass es hinter dem Geist irgendwo etwas Beständiges gibt.

Wenn sich die Konzentration in der Meditation entwickelt, schlüpft der Geist oft in sehr ruhige Zustände. Manchmal wird er von Frieden und Freude überwältigt. Manchmal befindet er sich tatsächlich in einer Ver-tiefung. Es gibt sehr friedvolle Zustände mitunter auch glückselige. Wenn solche Zustände auftauchen sollten und ihr sie notiert, solltet ihr schnell notieren „Ah, friedvoll..., friedvoll“. Im Falle tiefer Konzentration könnte es euch vorkommen, als wenn ihr in einen leeren, weißen Zustand geratet, dort gibt es nichts und wenn ihr wieder herauskommt, denkt ihr „Ah! Was für ein wunderbarer friedvoller Zustand!“ Einige glauben auch, dass dies nibbāna wäre. Wenn ihr nicht achtsam seid, werdet ihr daran hängen und dann entsteht Verlangen. Was auch immer für ein feiner Bewusstseins-zustand entsteht, ihr müsst ihn notieren so wie er entsteht und vergeht.

Diese Art von feinem Bewusstsein ist sehr raffiniert und verzwickt. Es ist sehr tief. Es ist auch dasselbe besondere Bewusstsein mit dem ihr später das Verstehen der Natur der Realität und dem Pfad zum Frieden erreichen könnt.

Die Priorität der Achtsamkeit

Wenn jemand auf einer tieferen Stufe Meditation praktiziert, wird er immer mehr geistige Bereiche betreten und familiärer mit ihnen werden.

Wenn ein Anfänger auf diese Bereiche stößt, können einige für ihn ganz schrecklich und andere wiederum ganz attraktiv sein. Viele Leute fragen mich, „Mache ich es richtig? Erfahre ich, was ich erfahren sollte?“ Ich erzähle ihnen dann, dass es nicht wichtig ist, was sie sehen. Vielmehr ist es viel wichtiger, ob sie achtsam sind oder nicht. Wenn ihr achtsam seid, könnt ihr nichts falsch machen. Wenn ihr achtsam seid und ihr dabei bleibt diese Zustände zu notieren, wie sie erscheinen, werden die Dinge für euch klarer werden. Wenn Leute z. B. in den Zustand gehen, wo es nichts gibt, notiert „nichts hier“. Geht wieder hinein und seid achtsam und es wird eine Zeit kommen, in der ihr diesen Zustand gut kennt. Ihr seid dann sehr oft darin. Es ist eine Art sehr feiner Zustand von Bewusstheit. Auch hier gibt es ein Objekt. Ihr müsst dann sehr achtsam auf diese Dinge sein. Wenn ihr sie dann notiert, hat sich eure Achtsamkeit verbessert und ihr habt weitere Fortschritte gemacht.

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Wenn man fähig ist all diese verschiedenen Zustände des Geistes, des Bewusstseins und der Gefühle zu betrachten, dann ist man fähig die Konti-nuität der Achtsamkeit zu halten. Wenn jemand die Kontinuität der Acht-samkeit halten kann, wird die Konzentration sehr stark. Der Geist wird be-arbeitbarer, flexibler und folgsam. Wegen seiner Konzentration ist er nun sehr kraftvoll. Auf dieser Stufe ist der Geist fähig in die Konzentration hineinzusinken und für eine lange Zeit lang die Natur der Körper- und Geistprozesse, wie sie wirklich sind, tief zu beobachten.

Wichtig zu wissen ist, dass, wenn Einsichten entstehen, sie sehr klar und scharf auftauchen. Es gibt keinen Zweifel darüber. Jede Stufe der Einsicht muss zuerst klar sein, da die späteren Einsichten auf den vorherigen basie-ren. Das erste Einsichtswissen ist. die Einsicht in die Unterscheidung von Körper und Geist. Man sieht klar die Natur des Geistes und des Körpers gemäß ihren Eigenschaften. Da ist kein Lebewesen, keine Seele. Es ist leer an einem Selbst. Es sind bloße Phänomene, Erfahrungen und Geschehnisse. Dies muss sehr klar erkannt werden, sodass es auf alle Objekte, die einem begegnen, angewandt werden kann. Nur wenn das so ist, ist die Bedingtheit zwischen einer Erscheinung und der anderen sehr klar. Nur wenn das sehr klar ist, kann später das Hängen an einem Selbst aufgegeben werden.

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7. Die fünf Hemmungen Der erste oder die ersten beiden Tage eines Retreats sind mehr eine Zeit

des Frühjahrsputzes. All der akkumulierte Stress und die akkumulierte Müdigkeit kommen hoch. So wie auch gewohnheitsmäßige Tendenzen und Gedanken. Wenn die Teilnehmenden vorher noch nie auf einem Retreat gewesen waren und wenig darüber wissen, was Meditation ist, werden sie dadurch oft entmutigt. Es ist in der Tat eine sehr harte Zeit.

In dem Moment, wo sie sich hinsetzen, wird ihr Geist außer Kontrolle geraten oder er wird, wenn sie versuchen achtsam oder konzentriert zu sein, einfach nur leer. Dies zeigt nur unseren schlechten Geisteszustand und das Ausmaß unseres benötigten Trainings um ihn kontrollieren zu können.

Dies liegt an der Kraft der Befleckungen, der Kraft der unheilsamen Geisteszustände und am Mangel an reinen, heilsamen Geisteszuständen. Diese Befleckungen müssen kraftvoll sein, da sie sonst nicht in der Lage wären uns im samsara, dem Zyklus von Geburt und Tod, seit undenklichen Zeiten festzuhalten.

Deshalb sollte ihre Kraft niemals unterschätzt werden! Im Sinne ihrer allgemeinen Kategorisierung nennen wir sie die drei üblen Wurzeln, Gier, Hass und Verblendung. Wenn es jedoch zur Meditationspraxis kommt, nennen wir sie die fünf Hemmungen:

1. Sinnesbegehren 2. Übelwollen 3. Mattigkeit und Müdigkeit 4. Unruhe und Sorgen 5. Skeptischer Zweifel Sie arbeiten auf verschiedenen Wegen, um den Fortschritt der rechten

Konzentration und die Stärke des reinen Geistes zu behindern oder zu stören. Kurzgefasst:

• Sinnesbegehren ist gieriges Genießenwollen der fünf Sinne, • Übelwollen ist Zorn oder Hass, • -Mattigkeit und Müdigkeit ist Faulheit, Trägheit, Zähigkeit des

Geistes, • Unruhe und Sorgen ist das Unruhigsein und die inbegriffene Ver-

wirrung des Geistes, • Skeptischer Zweifel sind die Zweifel, die die Meditationspraxis und

das dreifache Kleinod betreffen. Um die Dinge zu vereinfachen, können die Hemmungen unter zwei

Hauptkategorien zusammengefasst werden: „Mattigkeit und Müdigkeit“ und „Unruhe und Sorgen“.

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In den ersten paar Tagen fühlen die Meditierenden, die zu einem Retreat gekommen sind, dass diese Hemmungen sehr mächtig sind. Wir werden sie jetzt etwas ausführlicher besprechen, damit ihr den Umgang mit ihnen lernt.

Mattigkeit und Müdigkeit

„Mattigkeit und Müdigkeit“ ist die weniger gefährliche Hemmung, da sie euch nur zum Einschlafen bringt. Wenn ihr schlaft, ist es nicht allzu schlecht. Es ist nur eine Zeitverschwendung, wogegen der ruhelose Zustand des Denkens aktiv ist. Wenn er sich aufbaut, könntet ihr verrückt werden. Der Geist kann an der übertriebenen negativen Energie zerbrechen.

Trotzdem habt ihr euch von beiden freizumachen, wenn ihr mit dem Meditieren anfangt. Solange die Hemmungen noch anwesend sind, wird die Achtsamkeit nicht in der Lage sein richtig zu arbeiten. Das Bild wird so nicht klar. Man muss die Hemmungen vollkommen loswerden, bevor das ganze Bild klar wird und die Einsicht fortschreiten kann.

Wie geht man nun mit Mattigkeit und Müdigkeit um? Lasst uns ein paar Möglichkeiten ansehen. In den ersten ein oder zwei Tagen ist Mattigkeit und Müdigkeit gewöhnlich ein schwer zu behebender geistiger Zustand. Oft könnt ihr nichts dagegen unternehmen, sondern müsst das durchsitzen und durch den Sturm reiten. Es ist sehr schwer. Im Moment des Sitzens ist euer Geist leer. Wenn ihr es eilig hattet oder eine Menge Arbeit hattet und ihr sehr müde seid oder eine lange Reise hattet, kann es wirklich sehr hart sein.

Es ist jedoch kein dauerhaftes Merkmal. Wenn ihr lang genug sitzt und lang genug probiert, geht es gewöhnlich vorbei. Wenn es zu schlimm wird und wenn ihr nicht mehr sitzen könnt, steht auf und geht. Nach ein paar Tagen wird es weniger und die Mattigkeits- und Müdigkeitsattacken sind dann eher von einer leichten Art. Sie sind einfacher zu bewältigen. Sie er-scheinen nun wie das „Heben, Senken, Heben, Senken...“ am frühen Morgen, es ist klar und friedvoll. Aber irgendwie am Rande wurde langsam alles leer. Warum? Weil Mattigkeit und Müdigkeit sich ohne euer Wissen eingeschlichen haben. Ihr sagt: „Ich war sehr achtsam, aber plötzlich ging die Achtsamkeit weg.“ Dies ist die leichtere Art der Mattigkeit und Müdig-keit und sie kann schnell daherkommen und euch plötzlich attackieren.

Deshalb müsst ihr eure Energie wachrufen, wenn euer Geist sehr fried-voll ist. Wenn sich euer Geist ein wenig langsam, neblig und verschwom-men anfühlt, dann ist es Zeit die Energie aufzuwecken. Der Faktor, der Mattigkeit und Müdigkeit entgegenwirkt, ist Energie oder Anstrengung. Die Frage ist nicht, ob wir Energie haben oder nicht. Geistige Energie ist immer da.

Hier ein Beispiel. Wenn ihr verschlafen habt und ihr deshalb zu spät zur Arbeit kommen würdet, es aber noch nicht wisst, dann wollt ihr noch nicht aufstehen. Jedoch in dem Moment, wo ihr realisiert, dass ihr zu spät zur Arbeit kommt oder zu spät zu euren Prüfungen kommt, seid ihr plötzlich in fünf Minuten fertig zum Losgehen.

Woher ist diese Energie gekommen? Die Energie ist immer da. Deshalb ist es eine Frage des Wachrufens und eine Sache der Willenskraft, die Energie zu erwecken. Das ist es, was wir lernen müssen. Uns mit der rich-

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tigen Willenskraft zu verbinden, dass wir die Energie, wann immer wir wollen, wachrütteln können. Natürlich gibt es auch andere Wege dies zu tun. Energie geht einher mit dem, was wir Gedankenfassen, vitakka, nennen, dass heißt in diesem Falle gesteigertes Notieren.

Deshalb, wenn ihr das „Heben“ und „Senken“ nicht finden könnt, weil ihr so schläfrig seid, ist es ratsamer die Methode des „Sitzens“ und „Be-rührens“ zu benutzen. Natürlich sind die Objekte wegen der Schläfrigkeit nicht so klar. Deshalb haltet ihr euch an einer größeren Masse fest. Der ganzen Körpermasse als „Sitzen“ und den Kontaktpunkten als „Berühren“. So fahrt ihr im normalen Tempo mit dem Notieren fort „Sitzen, Berühren, Sitzen, Berühren, Sitzen, Berühren...“.

als „Sitzen, Berühren, Berühren, Berühren...“. Beispiele für die Berüh-rungspunkte sind die Kontaktpunkte am Hintern, den Armen und den Beinen. Ihr könnt diese Punkte auch in einem Rhythmus oder einer be-stimmten Anordnung durchgehen. Bei sehr starker Mattigkeit und Müdig-keit wird es allerdings nur helfen, wenn ihr sehr, sehr ausdauernd seid. Dazu braucht es Willenskraft und Zeit. Starke matte Müdigkeit geht nicht in nur fünf oder zehn Minuten weg. Der Durchbruch kann zwanzig oder drei-ßig Minuten benötigen. Aber, wenn ihr erst einmal durchgebrochen seid, wird der Geist gewöhnlich äusserst klar.

Falls das nicht klappen sollte, praktiziert ihr natürlich Gehmeditation. Während der Gehmeditation seid ihr normalerweise, wenn ihr etwas schnel-ler geht, nicht schläfrig. Wenn ihr allerdings sehr langsam geht, kann es sein, dass ihr sehr feine Objekte nicht erwischen könnt. Dann nimmt die Müdigkeit zu. Deshalb sollte man größere Schritte machen und ein wenig schneller und in einer freizügigeren Art und Weise gehen. Denn wenn ihr verspannt seid, kann euch die Steifheit des Geistes träge machen. So ist es besser freier zu gehen, weder zu langsam noch zu schnell und etwas größere Schritte zu machen. Später, wenn der Geist die Objekte wieder erwischt, kann er erneut aktiviert werden. Wenn er aktiviert ist, verschwindet die Schläfrigkeit und die Energie kommt hervor.

Natürlich ist dies eine leichte Methode. Letztendlich, liegt aber alles an der eigenen Willenskraft und normalerweise geht nach drei oder vier Tagen die Mattigkeit und Müdigkeit weg. Selten bleibt sie für eine Woche. Wenn ihr eifrig seid, verschwindet sie gewöhnlich nach ein paar Tagen.

Unruhe und Sorgen

Die andere Hemmung, die uns beschäftigt, ist Unruhe und Sorgen. Damit sie aufhört sollten wir „Denken, Denken“ mit Achtsamkeit notieren. Aber oft, wenn wir „Denken, Denken“ notieren, geht diese Hemmung nicht weg. Das liegt daran, dass wir nur „Denken, Denken“ sagen, aber nicht achtsam dabei sind. Denn wenn ihr achtsam beim Notieren wärt, würdet ihr nicht denken. Seid klar und achtsam, dann geht das Denken weg.

Manchmal kommt das Denken, obwohl es durch das Notieren wegging, zurück. Es geht wieder weg und es kommt wieder. Warum geht es weg um dann wieder zu kommen? Ein möglicher Grund ist, dass - obwohl das Denken weggeht - noch ein gewisser Grad an Befleckung da ist. Wenn ihr

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beispielsweise zum „Heben“ und „Senken“ zurückkehrt, seid ihr noch nicht achtsam genug, wenn noch ein klein wenig Begehren, Ärger oder Wahn existiert. In solchen Fällen, wenn dann das Denken sehr hartnäckig ist und ständig zurückkommt, solltet ihr seine Wurzel (Gier, Hass oder Verblen-dung) notieren.

So bekommt ihr auch heraus, was euch Probleme bereitet. Das problematische Objekt kann entweder allgemein oder spezifisch sein. Allgemein bedeutet, dass es nichts Besonderes ist, über das ihr nachdenkt und es kann irgendetwas sein. Spezifisch bedeutet, dass ein echtes, ein zu beruhigendes Problem euren Geist stört.

Wenn ihr erst mal die Ursache gefunden habt, ist es einfacher das Problem zu lösen. Ist es nur ein Zustand von Gier oder Zorn, dann notiert ihr es als Gier, Zorn, Wahn etc. Ein spezifischeres Ziel zu notieren ist aber normalerweise effektiver als ein allgemeines.

Dies alles fällt unter cittanupassanā, das Achtsamkeit auf das Bewusst-sein bedeutet. Wir werden es später noch weiter behandeln. Cittanupassanā beschäftigt sich damit, die geistigen Zustände wie Gier, Hass, Wahn, Faul-heit etc. mit klarer Bewusstheit zu erfassen. Wenn sie klar erfasst werden, verschwinden sie normalerweise.

Vorbereitende, die Konzentration fördernde Meditationen

Wenn die Befleckungen sehr hartnäckig sind, solltet ihr sie sehr ernst nehmen und auch anders angehen. Damit solche Probleme nicht übermäßig anwachsen können, wird empfohlen, dass am Anfang der Sitzmeditation eine oder mehrere der vorbereitenden Konzentrationsmeditationen gemacht werden.

Die vier vorbereitenden Konzentrationsmeditationen sind:

Erstens buddhanusati, das heißt, sich die Vorteile der Tugenden des Buddhas wachzurufen. Das hilft Furcht und skeptischen Zweifel zu ver-treiben und schafft Vertrauen. Zweitens Liebende-Güte-Meditation. Dies hilft Ärger und Übelwollen zu überwinden und eine friedvolle harmonische Atmosphäre zu etablie-ren. Drittens die Meditation über die Unschönheit des Körpers, die für all diejenigen ist, die starke lustvolle Tendenzen oder Wünsche haben. Viertens die Meditation über den Tod um Sorge, Faulheit und Un-bekümmertheit zu überwinden. In diese Kategorie könnten Dinge wie Meditation über kamma, der Verlust von Angehörigen, Traurigkeit usw. hineingehören Obwohl empfohlen wird diese vorbereitenden Meditationen nur in den

ersten fünf oder zehn Minuten der Sitzmeditation zu machen, darf man ihre

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Kraft nicht unterschätzen. Richtig durchgeführt halten sie den Geist still und all das Denken, die Ruhelosigkeit und die Hemmungen verschwinden.

Unruhe ist ein Problem in der Anfangsphase, also in den ersten ein oder zwei Tagen des Retreats oder im ersten Retreat. Wenn man nicht damit um-zugehen weiß, scheint es schlimmer als es ist. Unruhe ist kein großes Problem.

Jedoch werden wir immer, solange wir noch keine arahants sind, diesen fünf Hemmungen gegenübertreten müssen. Wenn sie entstehen, ist das für uns eine Gelegenheit mit ihnen umgehen zu lernen. Wenn ihr Anfänger seid und ihr am Ende des Retreats noch nicht gelernt habt mit ihnen umzugehen, werdet ihr weiterhin damit zu tun haben. Das zu lernen dauert. Erst in dem Moment, wenn ihr in der Lage seid alle Hemmungen und Befleckungen zu beseitigen, könnt ihr den reinen Zustand des Geistes erfahren.

Wenn z. B. Schläfrigkeit in eurem Geist anwesend ist, ihr daraufhin „schläfrig, schläfrig, schläfrig“ notiert und die Schläfrigkeit nicht ganz weggeht, sind all diese Tendenzen noch da. Ihr habt noch keine Zugangs-konzentration erreicht und deshalb schleppt es sich dahin und die Ten-denzen kommen zurück. Es ist wie ein Himmel mit Sonne, der noch eine dünne Lage an Wolken hat und ihr deshalb nicht den blauen Himmel sehen könnt. Nur wenn ihr die Hemmung komplett durch Notieren abgeschaltet habt und dadurch die ganze Schläfrigkeit weg ist, werdet ihr erfahren, was ein „blauer Himmel“ ist. Dann kommt die Sonne durch, scheint mit großer Klarheit und ihr könnt alles um euch herum sehen.

Die fünf Hemmungen sind Mattigkeit und Müdigkeit, Unruhe und Sorgen, das Denken, skeptischer Zweifel und so weiter. Sie zu notieren ist, wie den Geist von Abfall zu reinigen.

Wenn ihr den Boden fegt, schmeißt ihr zuerst den groben Abfall weg, es ist aber noch kleinerer Schmutz vorhanden. Eure Arbeit ist noch nicht fertig. Und wenn ihr auch die kleineren Partikel beseitigt habt, sind da immer noch Staubpartikel. Auch danach gibt es noch feinere Staubpartikel. Deshalb muss die Anstrengung so lange aufrecht erhalten bleiben, bis all die Hemmungen und Befleckungen vollständig beseitigt sind.

Nur dann wird die Achtsamkeit klar, hell und leuchtend. Man muss fest entschlossen sein die Hemmungen zu überwinden. Dies ist die oberste Pflicht eines Yogi, wenn er Achtsamkeitsmeditation praktiziert. Wenn er das verwirklicht hat, werden die Objekte klarer und der Geist rein.

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8. Die Priorität der Objekte

Systematisches Notieren & wahllose Bewusstheit

Frage: Was für Objekte beobachten wir? Antwort: Wir beobachten die Objekte, die für uns einfach zu beobachten sind, sodass die Achtsamkeit ihre wahre Natur erkennen kann. In der Mahasi-Tradition lernt man das Beobachten des „Hebens“ und

„Senkens“ der Bauchdecke. Wenn man es achtsam verfolgt, beobachtet man tatsächlich nicht nur das Element der Bewegung, sondern auch viele andere damit verbundene bedingte Phänomene. Dieses Objekt ist zum An-fang gut:

• Da „Heben“ und „Senken“ zu den materiellen Phänomenen gehört.

Sie sind grob und deshalb leicht zu beobachten. Geistige Phänomene sind feiner und schwerer zu fassen.

• Es ist nicht schmerzhaft. Deshalb kann man es länger ohne Stress

oder Müdigkeit notieren.

• Es bewegt und verändert sich. Dadurch ist es nicht so monoton wie ein statisches Objekt. Mehr noch, es zeigt klar den Faktor des Wech-sels.

Wenn man sich beim Beobachten dieses Objekts etwas bemüht, ge-wöhnt man sich schnell daran. Es ist dann dominant und dient als Primär-objekt. Man benutzt es als Basis um Achtsamkeit und Konzentration zu entwickeln.

Aber die Natur hat ihren eigenen Weg. Sie zeigt Unregelmäßigkeiten und Inkonsistenzen auf. Deshalb ist das Objekt manchmal abwesend oder verschwommen. In diesen Momenten sind andere Objekte vorherrschend (z. B. Geräusche, Schmerz) und so sind diese achtsam zu notieren. Ein anderer wichtiger Grund, weswegen ein anderes Objekt notiert werden muss, ist, wenn eine Befleckung da ist (das heißt, eine Anhaftung, Müdig-keit, Ärger, Unruhe etc.). Es ist wichtig, dass sie behandelt und entfernt wird. Diese Objekte, die gewöhnlich keine lange Zeit zum Notieren be-nötigen (anders als die Primärobjekte), werden Sekundärobjekte genannt. Wenn die Sekundärobjekte lange Notierungszeiträume einnehmen, werden sie als Primärobjekte betrachtet um Achtsamkeit und Konzentration aufzu-bauen.

Wenn z. B. das „Heben“ und „Senken“ abwesend ist, kann man das „Sitzen“ und „Berühren“ als Primärobjekt nehmen. Wenn später Schmerz

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vorherrschend wird und nicht weggeht, dann nimmt der Schmerz die zen-trale Position der Meditationsobjekte ein. Bei der Gehmeditation ist der Gehprozess das Primärobjekt (1°). „Sehen“ ist hier dann das wichtige Sekundärobjekt (2°). (°) bedeutet Grad, also Objekt ersten und zweiten Grades.

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Das Diagramm zeigt das systematische Ändern der primären und sekun-dären Objekte. So wird während einer Sitzmeditation notiert:

1. Das Objekt mit der höchsten Priorität ist das vorherrschende Objekt, das für eine lange Zeit achtsam beobachtet werden kann. 2. Das vorherrschende Objekt wird von einem folgenden ersetzt, wenn dieses ein Objekt ist, dessen Beobachtung notwendig ist und das man los-werden muss. Das heißt eine Hemmung oder eine Befleckung. 3. Das vorherrschende Objekt wird von dem folgenden Objekt ersetzt, wenn es ein sehr dominantes Objekt ist, beispielsweise Schmerz 4. Bei der Wahl zwischen mehr als einem Sekundärobjekt, die von gleicher Stärke sind, gibt man internen Objekten wie „Sitzen/Berühren“ den Vorzug vor den äußeren Objekten z. B. Geräuschen, weil diese nicht förderlich für die Konzentration sind. 5. Wenn die Achtsamkeit kontinuierlich wird, wird der Geist flexibel und deshalb kann man nun ein Objekt zur Beobachtung auswählen, dass die Einsicht besser aufbauen kann als andere. Man nimmt also eines, das die drei Daseinsmerkmale der Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit und des Nicht-Selbst besser herausstellen kann.

Unbeständigkeit: Ein sich veränderndes Objekt wird einem sich nicht verändernden vorgezogen. Leidhaftigkeit: Ein schmerzhaftes Objekt wird einem glücklichen Objekt vorgezogen, da letzteres stark zum Anhaften ermutigt.

Nicht-Selbst: Ein Objekt, das außerhalb persönlicher Kontrolle ist und damit das Nicht-Selbst herausstellt, wird einem anderen vorgezogen.

Obiges wird so lange ausgeführt, wie es geht. Ausnahmen sind zum Bei-spiel:

• Die Veränderung ist so unregelmäßig und schnell, dass man nervös und konfus wird.

• Schmerz oder Leidhaftigkeit werden so stark und schwächend, dass

Ärger entsteht. • Es passieren Dinge in einer sehr unkontrollierbaren Art und selt-

samen Weise, sodass man erschrickt oder sich fürchtet.

6. Wenn sich die Achtsamkeit und Konzentration entwickelt, werden feine geistige Phänomene klarer und auch feine Aspekte der groben materiellen

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Objekte werden beobachtet. Jetzt werden auch geistige Objekte häufiger beobachtet. Hierbei wird die Anstrengung hauptsächlich genutzt um die erhaltene Acht-samkeit zu bewahren oder ihre Kontinuität sicherzustellen. Der Geist wird in Ruhe gelassen um seine Objekte zu wählen, da man keine Zeit hat darüber nachzudenken. Mit zunehmender Praxis geht die Achtsamkeit wie von selbst weiter. Das ist der Moment, wo das Benennen verworfen wird. Diese Art der ungerichteten Achtsamkeit wird „Wahllose Achtsamkeit“ genannt. Sie ist oft sehr stabil, aber entsteht nur nach viel Training.

Der Anfänger muss den systematischen Weg des Notierens benutzen (Nr. 1.-5.), um die notwendige Achtsamkeit und Konzentration aufzubauen.

Wahllose Achtsamkeit kann jedoch auch zu Zeiten benutzt werden, wenn der Geist überaktiv oder ruhelos ist. Das heißt bei Menschen, die eine Menge herumrennen und tagsüber sehr angespannt sind. Wenn man sehr kraftvoll versucht den Geist auf sein Objekt zu richten, endet es oft darin, dass es noch schlechter geht. In solchen Fällen sollte man achtsam auf alles sein, was einem vor dem geistigen Auge erscheint. Wenn Achtsamkeit und Ruhe einsetzen, kann man wieder zum systematischen Notieren übergehen und den Geist direkt zum Objekt bringen.

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Die vier Grundlagen der Achtsamkeit

In der Lehrrede über die vier Pfeiler der Achtsamkeit findet man in vier Kategorien eingeteilte Vipassanā-Objekte:

1. Der Körper als Grundlage der Achtsamkeit – Materielle Phänomene

(rūpa) 2. Die Gefühle als Grundlage der Achtsamkeit – Gefühle (vedanā) 3. Geist als Grundlage der Achtsamkeit – Bewusstsein (citta) 4. Dhamma als Grundlage der Achtsamkeit – Geistige Zustände

(sankhāra, cetasika) Im Allgemeinen sind 2. – 4. feinere Objekte für Fortgeschrittene und

deshalb wird der Meditierende gewöhnlich eher dazu tendieren mehr von der ersten Grundlage zu erfassen. Später mehr von der zweiten, dann von der dritten und zum Schluss von der vierten, je nachdem wie man Fort-schritte macht.

Aber innerhalb jeder Grundlage kann auch ein großes Ausmaß an Phänomenen gefunden werden.

Gefühle z. B. reichen von extremen Schmerzen zu sehr subtilen neu-tralen, dem Anfänger nicht zugänglichen Gefühlen. Bewusstsein reicht vom zornigen Bewusstsein bis zu weitreichenden Stadien von Vertiefungen.

Es gibt Meditierende, die mehr Objekte einer anderen Grundlage wählen als andere, weil diese mehr zu ihrem Temperament passen. Der Kommentar rät, auch sie entsprechend ihrer Angemessenheit zu verwenden.

Viele haben durch Erfahrung herausgefunden, dass es sehr wichtig ist, einen festen Halt in der oft betonten Körper-Grundlage der Achtsamkeit zu bekommen bevor man mit den anderen Grundlagen weitermacht, obwohl es natürlich interessant ist, auch diese zu untersuchen. Das ist so, weil die Körper-Grundlage eine leichte Basis bildet um Achtsamkeit zu erhalten. Das gilt speziell für sehr schwierige Umstände in tieferen Stadien der inten-siven Praxis. Ohne diesen festen Halt kann es passieren, dass man nicht mehr weiß, was am Besten zu tun ist.

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9. Die fünf geistigen Kontrollfähigkeiten Die Fertigkeit die Kontrollfähigkeiten zu balancieren, ist sehr wichtig in

der Vipassanā-Meditation. Das gilt besonders, wenn man an einem langen Retreat teilnimmt. Wenn der Geist kraftvoller wird, arbeiten die Fähigkeiten besser. Es ist, wie wenn ein Auto mehr PS hat und mit größerer Geschwin-digkeit laufen kann. Ihr müsst das Auto nun besser kontrollieren, da ihr sonst aus der Kurve fliegen könntet.

Die fünf geistigen Kontrollfähigkeiten

Zuerst lasst uns auf die Definition schauen. Wenn wir „Kontrollfähig-keiten“ sagen, beziehen wir uns auf die folgenden:

1. Glaube oder Vertrauen 2. Energie 3. Achtsamkeit 4. Konzentration 5. Wissen „Kontrollfähigkeiten“ bedeutet, dass sie Kontrolle über den Geist oder

die mentalen Kräfte ausüben. Wie in dem Gleichnis mit dem Auto, gibt es verschiedene Kontrollmöglichkeiten für verschiedene Zwecke. Das Steuer kontrolliert die Richtung, das Gaspedal die Geschwindigkeit etc.

Die Hauptkontrollfähigkeit von diesen fünf ist Achtsamkeit. Um euch eine Vorstellung zu geben, wie die Kontrollfähigkeiten arbeiten, werde ich euch dazu etwas erzählen. Wenn ihr zu meditieren anfangt, müsst ihr zuerst Vertrauen oder Glauben in die Praxis haben. Wenn ihr kein Vertrauen in die Praxis habt, würdet ihr sowieso nicht anfangen. Glaube beruht einmal auf der Reinheit des Geistes und des Weiteren auf den Vorteilen durch das Praktizieren. Wenn ihr genug Vertrauen habt, macht ihr Fortschritte. An-strengung, die während der Praxis gemacht wird, kann als Energiekontroll-fähigkeit betrachtet werden. Durch sie, wenn ihr ausreichend praktiziert, entsteht Achtsamkeit. Wenn Achtsamkeit entsteht, wird sie kontinuierlich und konzentriert. Wenn Konzentration auftritt, nennen wir es konzentrierte Bewusstheit auf das Objekt, also das, was wir Konzentrationsfähigkeit nennen. Wenn die konzentrierte Achtsamkeit sich auf die Realität konzen-triert, das heißt auf das reale Objekt, und wenn dies erfahren wird, ist es wie ein starkes Licht, dass sich auf das Objekt fokussiert. Dadurch könnt ihr erkennen, was es wirklich ist. Das genau ist die Wissensfähigkeit.

Mit dem Erreichen von Verstehen und Einsicht entsteht mehr Vertrauen und deshalb können wir mehr Energie in die Praxis legen. Mit mehr Energie entsteht mehr Achtsamkeit und mit mehr Achtsamkeit wird das Objekt mit mehr Konzentration fokussiert und so fort, bis ihr mehr Einsicht bekommt. Es ist wie ein sich drehendes Rad, das die Geschwindigkeit erhöht.

Am Anfang ist es eine Sache von Vertrauen und Energie. Es geht nicht so sehr um das Balancieren, sondern mehr um das Wachrufen. Nach einer Menge Praxis wird die Balance zwischen Energie und Konzentration mehr

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ein Thema der Meditation. Wenn wir vom „Balancieren der Fähigkeiten“ sprechen, meinen wir gewöhnlich die Balance zwischen Vertrauen und Wissen und die Balance zwischen Konzentration und Energie. Die Balance zwischen Vertrauen und Einsicht (Wissen) entsteht häufiger am Anfang. Da tatsächliche Einsicht noch nicht entstanden ist, ist sie mehr auf einer Basis-stufe oder einem oberflächlichen Level. Das Wissen ist mehr theoretisch und weltlicher Natur. Auch das Vertrauen kommt nicht durch echtes er-fahrenes Wissen, sondern es kommt nur durch Überlegen oder Hingabe.

In den buddhistischen Ländern entsteht das Vertrauen durch kulturelle und elterliche Einflüsse. Angehörige dieser Länder könnten den Mönchen mit blindem Vertrauen folgen. Das kann gefährlich sein und ist nicht rat-sam. Die vermittelten Methoden sind nicht alle korrekt und es gibt eine Tendenz zur Leichtgläubigkeit. Deshalb sollte man sich darin üben, vor jeder Handlung mehr zu überlegen.

Im Falle grundsätzlichen Vertrauensmangels, wie bei eher intellek-tuelleren Menschen anzutreffen ist außerhalb der buddhistischen Länder, kann leicht Zweifelsucht (skeptischer Zweifel) durch fehlendes Vertrauen entstehen.

Eine Menge der spirituellen Dinge kann nicht durch Denken erfasst werden. Man muss mit einer Methode lang genug experimentieren um sie selber zu erfahren. Wenn die Methode für euch gut ist, dann macht ihr Fort-schritte. Wenn jemand nur denkt und nach 100%iger Sicherheit und Garan-tie sucht, wird derjenige sich niemals richtig hinsetzen um ernsthaft zu praktizieren und so wird er auch keine Resultate erzielen.

Konzentration und Energie

Wenn jemand mit der Praxis beginnt, werden die Kontrollfähigkeiten stärker. Die Hauptaufgabe für diejenigen, die an einem Retreat teilnehmen, ist dann das Balancieren von Konzentration und Energie.

Was meinen wir mit „Balance“? Wenn wir sagen, dass der Geist „aus-balanciert“ ist, bedeutet das, dass der Geist so achtsam wie möglich ist. Also das optimale Arbeiten und Funktionieren der Achtsamkeit.

Wenn der Geist nicht gut ausbalanciert ist, ist eine der Fähigkeiten im Überschuss, während es an einer anderen mangelt. Dies beschreibt die Fähigkeiten in Begriffen von Anteilen. Wenn man sagt, die Konzentrations-fähigkeit sei im Überschuss, heißt das gleichzeitig, dass die Energiefähig-keit zu schwach ist und umgekehrt.

In der tatsächlichen Erfahrung ist es jedoch nicht so sehr eine Sache der Berechnung. Es ist mehr ein Erfahren eines gewissen Zustandes des Bewusstseins.

Lasst mich euch eine bessere Vorstellung davon geben. Wenn wir von der Energiekontrollfähigkeit reden, beziehen wir uns auf den aktiven Aspekt der Achtsamkeit. Energie ist der aktive Teil wogegen Konzentration die Stille und der ruhige Faktor der Achtsamkeit ist. Wenn sich der Geist von jemandem im optimalen Zustand der Achtsamkeit befindet, bedeutet das, dass man dem Meditationsobjekt wie „Heben“ und „Senken“ leicht zu

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folgen vermag. Zur gleichen Zeit ist der Geist aktiv genug um auch tatsäch-lich zu bemerken, was passiert.

Wenn jedoch die Energie im Überschuss ist und es an Konzentration mangelt, kann der Geist zu aktiv werden. Es ist so, als wenn ihr sehr auf-geregt seid und versucht dem „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke zu folgen. Ihr könnt ihm aber nicht gut folgen, da der Geist die Tendenz hat darüber hinwegzuspringen. Er hat eine Tendenz zum Denken und Wandern. Er klebt nicht am Objekt, da es an Konzentration mangelt.

Wenn jedoch die Konzentration der Faktor ist, der im Überschuss ist, dann hält man sich mit einem Objekt lange auf. Der Geist ist sehr ruhig und still, aber ihr könnt nicht viele Dinge erkennen. Er hält sich darin auf und beobachtet nicht aktiv die folgenden Dinge um ihn herum. Zuletzt wird er sehr ruhig, dann wird der Geist leer und ihr schlaft ein. Weder exzessive Energie noch exzessive Konzentration wird empfohlen. Wenn eine dieser beiden im Überschuss ist, ist der Geist nicht stabil.

Wenn der Prozess weitergeht, dann endet die überschüssige Konzen-tration meist in Mattigkeit und Müdigkeit, während überschüssige Energie in Unruhe endet. Es wäre ratsam, ihr würdet es sofort bemerken, wenn die Achtsamkeit nicht so gut arbeitet, damit ihr Fortschritte beim Balancieren erzielen könnt.

Am Anfang eines Retreats ist das Balancieren nicht so wichtig, da es nicht so viel Konzentration und überhaupt kein Wissen gibt. Da ist nur Energie. Für euch ist es am Wichtigsten, Fortschritte mit eurer Achtsamkeit zu machen. Anstrengung ist ein Sichantreiben, das versucht sehr hart acht-sam zu sein. Die Frage ist jedoch, wie stark ihr euch antreibt.

Wie viel Anstrengung?

Es ist eine Sache der Kontrolle der Energiemenge. Wenn ihr euch zu sehr antreibt und die Fährte der Achtsamkeit verliert, könntet ihr zu ver-spannt werden. Wohingegen, wenn ihr nicht genug Anstrengungen macht, ihr matt und müde werden könntet. Deshalb muss es einen Punkt geben, hart genug zu üben, sodass ihr einen optimalen Zustand der Achtsamkeit erreicht. Dies muss durch Erfahrung erlernt werden. Einige Leute strengen sich sehr stark an und werden verspannt und matt. Andere hingegen sind faul und erwarten, dass alles von allein geschieht. Dann gibt es natürlich keinen Fortschritt.

Wenn man der korrekten Praxismethode folgt und sich lange genug an-strengt, werden die geistigen Kontrollfähigkeiten (die geistigen Kräfte) schließlich stark. Konzentration wird entstehen und das bedeutet, Balan-cieren der Kontrollfähigkeiten kann notwendig werden. Mit anderen Worten, der Geist wird kraftvoller, die Konzentration und die anderen geis-tigen Fähigkeiten werden kräftiger.

Was passiert dann? Eine Menge an Dingen kann passieren. Wenn die Energie zu stark ist

und eure geistigen Kräfte ebenfalls, ist die geistige Energie voll aufgeladen. Ohne Achtsamkeit wird sie unbalanciert und ihr könnt nicht mehr einschla-fen. Euer Geist ist sehr leuchtend. Ihr könnt dem Objekt vom „Heben“ und

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„Senken“ zwar folgen, aber ihr könnt nicht hineinsinken. Das passiert bei-spielsweise, wenn man Schmerz beobachtet. Wenn man ihn für lange Zeit beobachtet, wird der Geist sehr aufgeladen und energetisch, weil ihr eine Menge Energie braucht um dem Schmerz gegenüberzutreten. Nach der Schmerzperiode kann der Körper sehr erschöpft sein, aber der Geist leuch-tet stark. Es gibt keine Spur von Mattigkeit und Müdigkeit.

Wenn ihr jedoch versucht zum „Heben“ und „Senken“ zurückzukehren, könnt ihr ihm zwar folgen, aber nicht einsinken. Der Geist schwimmt an der Oberfläche. Er will nicht hineingehen und ist sehr leuchtkräftig. Mehr noch, wenn ihr versucht schlafen zu gehen, könnt ihr es nicht, ihr dreht euch nur hin und her.

Exzessive Konzentration tritt eher bei Leuten auf, die zuvor Samatha-Meditation geübt haben oder bei denen, die während ihrer Meditationen dazu tendieren, die Konzentration überzubetonen. Dabei passiert es, dass der Geist wiederholt in sehr stille und ruhige Zustände hineingeht! An diesem Punkt kann es zu einem gewissen Grad zum Sichgehenlassen kommen. Man bleibt nur da. Ihr könnt lange Zeit sitzen, aber der Geist durchdringt nicht. Er ist nicht fähig all den Einzelheiten der geistigen und körperlichen Prozesse zu folgen. Es gibt überhaupt keine Schmerzen. Manchmal entstehen auch Bilder und bleiben einige Zeit. Dies ist ein Zu-stand der Stagnation. Deshalb muss man den Geist balancieren, wenn das passiert.

Das Balancieren ist nicht so einfach, wie es scheint. Meistens dauert es seine Zeit bevor der Geist balanciert ist, weil auf dieser Stufe des geistigen Bewusstseins der Konzentration, der Geist mehr unter dem Einfluss einer Art Schwungkraft steht. Die vielen Tage der Meditation bauen Schwung-kraft auf, bis diese auf eine bestimmte Weise fließt. Im selben Moment, wenn das passiert, werdet ihr nicht in der Lage sein die gesamte Kraft, die hier arbeitet, zu kontrollieren. Deshalb werdet ihr etwas Zeit für die Neu-ausrichtung oder die Balance brauchen.

Wie balanciert ihr die fünf Kontrollfähigkeiten?

1. Das Verwenden der richtigen Art von Achtsamkeit

Es gibt zwei Wege die Fähigkeiten zu balancieren. Einer ist die Fähig-keiten zu erhöhen und der andere sie zu vermindern. Der sicherere Weg sie zu vermindern ist, sich zu beruhigen, es langsamer werden zu lassen, da ihr nicht wisst in welche Richtung es geht. Zuerst müsst ihr feststellen, welche Fähigkeit zu stark und welche zu schwach ist. Ohne Erfahrung ist das nicht leicht. Ihr wisst nur, dass euer Geist irgendwo stecken geblieben ist und zu kräftig wird. Wenn dies passiert und ihr nicht sicher seid, beruhigt euch nur, beruhigt die Fähigkeiten, dreht die Schalter herunter. Wenn ihr natürlich erkennen könnt, was es ist, erhöht ihr diejenige Fähigkeit an der es mangelt. Und wenn ihr sie erhöht, werden sich die Fähigkeiten weiter aufbauen.

Lasst uns einige Methoden der Balancierung der Fähigkeiten bespre-chen. Zuerst gibt es die Art der Achtsamkeit, die ihr anwenden müsst und wie ihr sie anwenden müsst. Die erste Art ist die Energieerhöhung.

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Energieerhöhung beinhaltet eine energischere Form des Notierens. Macht euren Geist klar, wachsam und notiert aktiv. Wenn ihr euch z. B. etwas schläfrig fühlt, dann fehlt es an Energie und ihr müsst die Energie erhöhen. Ihr könntet „schläfrig, schläfrig, schläfrig“ sagen. Aber vielleicht geht die Schläfrigkeit so nicht weg, weil ihr langsam „schl-l-ä-f-rig, schl-l-ä-f-rig“ sagt. Ihr müsst es sehr schnell hintereinander sagen. Es ist ähnlich, wie mit einem Maschinengewehr zu schießen.

Ein anderes Beispiel betrifft die Entstehung von Schmerz. Wenn Schmerz entsteht, braucht ihr eine Menge an Energie. Ohne Energie könnt ihr ihm nicht gegenübertreten. Deshalb macht ihr was? Ihr sagt „Schmer-zen, Schmerzen, Schmerzen“ aber manchmal funktioniert es nicht. Ihr müsst es sehr schnell sagen, wie ein Maschinengewehr. Dann baut sich aktive Energie auf, die Achtsamkeit ist ausbalanciert und ihr könnt weiter-machen.

Die zweite Art betrifft die Konzentrationserhöhung. Wenn die Energie zu groß ist, müsst ihr auf der anderen Seite natürlich

mehr auf die Konzentrationsfähigkeit gehen. In solchen Fällen benutzt ihr nicht ein so starkes, kräftiges Notieren, ihr notiert zart und sanft. Wenn euer Geist z. B. überaktiv ist, habt ihr eine Menge Energie, aber ihr könnt nicht hineinsinken. Da ist eine Art Aufregung im Geist. Wenn ihr „Heben“ und „Senken“ sagt, ist es als würde euer Geist auf der Oberfläche schwimmen. Deshalb ist das, was ihr in diesem Falle tun solltet, euch nicht zu stark an-zustrengen. Beruhigt euch einfach, lasst alles passieren und beobachtet sanft „Heben“ und „Senken“. Ihr solltet nicht daran denken die Konzentration zu erhöhen oder Resultate erwarten.

Leute, die sehr zielorientiert sind, tendieren dazu, sich selbst zu stark anzutreiben. Sie benutzen zu viel Energie. Sie sollten sich einfach nur zu-rücklehnen, sich entspannen und sehen was passiert. Wenn da nichts ist, dann könnt ihr zu euch selbst sagen, dass zumindest etwas Ruhe und Frieden im Geist ist. Deshalb sitzt ihr einfach und entspannt euch. Wenn ihr findet, dass es gut funktioniert, dann folgt ihr dem nur und wenn alles an-genehm, friedvoll und schön ist und ihr keinerlei Erwartungen mehr habt, dann sinkt der Geist hinein und folgt dem Objekt.

Ein nicht zu vergessender Punkt ist, dass da ein Moment kommen wird, wo ihr nur die Stufe derjenigen Balance, die ihr erreicht habt, halten müsst. Solltet ihr beispielsweise eine Menge an Mattigkeit und Müdigkeit haben, treibt eure Energie an um Fortschritte zu erzielen. Aber ihr braucht das An-treiben nicht zu halten. Ihr treibt euch nur solange an, bis ihr im optimalen Zustand gefestigt seid. Wenn ihr euch zu sehr antreibt, dann geht ihr wieder „über Bord“ und es wird zu energetisch.

Genauso ist es, wenn ihr feststellt, dass ihr zu viel Energie habt, ihr be-ruhigt euch bis zu dem Punkt, wo ihr euch auf dem Objekt niederlassen könnt. Einmal ausbalanciert, haltet diese Stufe. Versucht nicht noch mehr zu entspannen, sonst könntet ihr einschlafen.

Deshalb ist es nicht nur allein eine Sache des Ausruhens oder der Energieerhöhung. Man muss wissen, wie viel erhöht werden muss und wie

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viel entspannt werden muss. Es kommt ein Punkt, wo ihr euch auf dieser Stufe festigt und ihr müsst diese Stufe mit Gleichmut erhalten.

2. Gerichtete Achtsamkeit und Wahllose Achtsamkeit

Es gibt noch eine andere Möglichkeit zum Balancieren der Fähigkeiten. Es existieren zwei Arten von Achtsamkeit. Eines ist die „Gerichtete Acht-samkeit“ und das andere ist die „Wahllose Achtsamkeit“. Gerichtete Acht-samkeit ist, wenn wir ein Objekt erwarten, uns ihm zuwenden, es erwischen und es aktiv notieren. Das ist am Anfang unserer Praxis notwendig, wo die Konzentrations- und Achtsamkeitsfähigkeit noch schwach ist. Wenn ihr sie auf ein Objekt heftet, bildet sie sich schneller aus.

Wenn ihr sitzt, müsst ihr dem „Heben“ und „Senken“ achtsam folgen. Wenn kein „Heben“ und „Senken“ da ist, müsst ihr euch dazu antreiben, die „Sitzen-“ und „Berühren-“ Empfindung zu beobachten. Das wird „Gerichtete Bewusstheit, Gerichtete Achtsamkeit“ genannt.

Die andere Art ist Wahllose Achtsamkeit. Das heißt, dass ihr nicht irgendein besonderes Objekt zum Beobachten auswählt. Ihr sitzt nur still da, bleibt ruhig und beobachtet, was auch immer erscheint und wieder ver-geht. Diese Methode arbeitet für diejenigen gut, die dazu tendieren sich zu stark anzutreiben und versuchen in kurzer Zeit Resultate zu bekommen. Dann wird der Geist zu stark besitzergreifend. Wenn dies passiert, sagt zu eurem Geist, dass er alles loslassen soll, da, wenn zu viel Energie da ist, er zu angestrengt ist und dann Anhaften entwickelt. Was ihr tun solltet ist, ein-fach entspannen und euch um nichts sorgen. Kümmert euch dann auch nicht darum, ob ihr eure Achtsamkeit verliert, da ihr wirklich die Energie ent-spannen müsst. Wenn ihr das tut, wird die Achtsamkeit sich wieder an-siedeln, aber es braucht seine Zeit.

Der Grund warum der Aufbau der Achtsamkeit wieder einige Zeit braucht, könnte z. B. die Furcht sein, dass ihr bei Wahlloser Achtsamkeit keine Fortschritte machen werdet und so Zeit verloren geht. Deshalb hängt ihr am Notieren, hängt an den antreibenden Versuchen die Achtsamkeit aufrechtzuerhalten und folglich wird Verspannung erzielt. Aber wenn ihr einfach loslasst, euch nicht sorgt und einfach entspannt, etwas später nach-schaut und euch versichert, dass da noch Achtsamkeit und Bewusstheit ist, obwohl ihr sie habt gehen lassen, wird die Achtsamkeit sich wieder leicht und ruhig niederlassen. Nach einiger Zeit öffnet sich der Geist wieder mehr und entspannt sich. Wenn sich die Achtsamkeit niedergelassen und stabili-siert hat, könnt ihr sie erneut antreiben und die Verspannungen werden nicht auftreten. Das wird „Wahllose Achtsamkeit“ genannt.

Diese Art der Wahllosen Achtsamkeit erscheint häufiger in der fort-geschrittenen Praxis. Denn wenn die Praxis fortschreitet, werden die Meditationsobjekte bisweilen zufällig. Das „Heben“ und „Senken“ wird sehr fein und wenn ihr versucht es zu beobachten, entstehen viele andere Objekte wie Gefühle, Schmerzen, Empfindungen und es ist sehr schwierig ein spezifisches Objekt auszumachen. Auch kann es sein, dass viele Objekte sehr schnell entstehen und vergehen und ihr keines davon aus-

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drücklich besonders beobachten könnt. Ihr versucht es, aber euer Notieren ist zu langsam.

Deshalb erhaltet ihr nur eine einspitzige Bewusstheit auf alles, was auch immer kommt und geht. Gewöhnlicherweise ist es auf dieser Stufe nur reine Bewusstheit des Bewusstseins. Wenn ihr das aufrechterhalten könnt, wird die Achtsamkeit sehr stabil. Dies ist eine andere Form der Wahllosen Acht-samkeit. Bei der Wahllosen Achtsamkeit baut sich die Konzentration nicht so schnell auf, aber sie ist stabiler.

3. Andere Formen des Balancierens

Auch andere Möglichkeiten die Fähigkeiten zu balancieren kann man benutzen. Eine ist die Benutzung von Körperhaltungen. Gewisse Körperhal-tungen sind mit bestimmten Objekten und Fähigkeiten verknüpft. Geh-meditation z. B. ist verbunden mit dem Energieaufbau, da man beim Gehen aktiv ist. Außerdem muss der Geist sehr aktiv sein um den Schritten zu folgen. Deshalb ist es einfacher während der Gehmeditation Mattigkeit und Müdigkeit zu überwinden.

Sitzmeditation auf der anderen Seite verursacht eher Konzentration, da der gesamte Körper still ist und das „Heben“ und „Senken“ ein natürlicher Prozess ist. Wir müssen das Atmen nicht so beabsichtigen, wie wir das Gehen beabsichtigen müssen. Daher ist es einfacher den Geist ruhig zu halten und nur das „Heben“ und „Senken“ zu beobachten. Dadurch ist es durch Aufteilen der Geh- und Sitzmeditationsperioden möglich die Fähig-keiten zu balancieren. Deshalb wird häufig empfohlen, dass man die gleiche Menge Gehen und Sitzen sollte. Wenn ihr zu lange sitzt, besteht die Tendenz, nur die Konzentration zu erhöhen. Wenn ihr zu viel geht, gibt es auf der anderen Seite eine Tendenz, die Energiefähigkeit auf einen exzessi-ven Punkt zu erhöhen.

Es ist deshalb wichtiger, das geistige Verhältnis im Kopf zu haben, an-statt der tatsächlichen Zeitspanne. Wenn ihr sagt, dass ihr eure Energie-fähigkeit erhöhen wollt und deshalb über eine Stunde oder möglicherweise zwei Stunden geht, erhöht sich die Energie, aber es belastet den Körper. Ihr werdet sehr müde. Die Hauptsache sind hier aber wirklich die Fähigkeiten des Geistes selbst. Man muss die Fähigkeiten nicht durch Körperhaltungen verändern.

Wie ich schon sagte, kann auch Gerichtete Achtsamkeit die Energie-fähigkeit erhöhen. Deshalb ist die Änderung der Körperhaltung oder der Meditationseinteilung eine gröbere Art dies zu tun.

Auch gewisse andere Objekte können mehr Energie oder Konzentration produzieren. Lasst uns z. B. das „Heben“ und „Senken“ mit dem „Sitzen“ und „Berühren“ vergleichen. Zwischen diesen beiden tendiert das „Sitzen“ und „Berühren“ dazu, mehr Energie als Konzentration wachzurufen. Das ist so, weil „Sitzen“ und „Berühren“ keine Bewegungsaktivitäten sind. Deshalb müsst ihr Energie freimachen und den Geist antreiben im „Sitzen“ und „Berühren“ und zwar, indem ihr über Beobachtung der Kontaktpunkte durch die entsprechenden Empfindungen geht

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Im Gegensatz dazu tendiert das „Heben“ und „Senken“ dazu eine Schwungkraft und einen Fluss aufzubauen, sodass nach einer Weile der Geist sich auch in dieser Schwungkraft und dem Fluss befindet. Außerdem braucht ihr nicht soviel Anstrengung um diesen Objekten zu folgen. Deshalb ist es angemessen, wenn ihr sehr schläfrig seid, dass „Sitzen“ und „Berühren“ mit vielen Berührungspunkten zu machen, damit mehr Energie als Konzentration aufsteigt. Das ist auch der Grund, warum wir das „Heben“ und „Senken“ als Hauptmeditationsobjekt benutzen. Es ist güns-tiger um Konzentration wachzurufen als das „Sitzen“ und „Berühren“. Mit dem „Sitzen“ und „Berühren“ tendieren wir dazu, eine Menge an anderen Empfindungen zu bekommen und deshalb ist es eher diskursiv. Wenn wir jedoch dem „Heben“ und „Senken“ folgen, ist es wie einen sich bewegen-den Punkt zu verfolgen. Wenn ihr euch klar genug auf den bewegenden Punkt konzentrieren könnt, baut sich die Konzentration auf.

Auf der anderen Seite ruft Schmerz mehr Energie wach. Wenn ihr aber in der Lage seid, ihn mit reinem Bewusstsein zu beobachten, tendiert dies eher dazu Konzentration wachzurufen, da reines Bewusstsein sich von allen anderen Sinnesobjekten zurückzieht und nur in den Geist hineingeht.

Wenn es einem nicht gelingt, dass Vipassanā-Objekt zu benutzen um die Fähigkeiten zu balancieren, dann können andere Maßnahmen ergriffen werden, z. B. die Samatha-Methoden. Wenn ihr beispielsweise in Mattig-keit und Müdigkeit versunken seid, könnt ihr die Wahrnehmung von Licht und Rezitationen benutzen um den Geist zu motivieren. Es gibt auch andere Formen der Samatha-Methoden wie die kasinas, Visualisierungen oder auch der Atem. Diese Methoden führen eher dazu den Geist zu beruhigen.

Das Balancieren der Fähigkeiten ist dynamisch

Das Balancieren der Fähigkeiten ist nicht statisch. In Wirklichkeit ist es sehr dynamisch. Es ist so, als wenn wir auf einem Fahrrad bergauf fahren. Ihr müsst balancieren und ihr müsst euch anstrengen. Ihr müsst euch am Fahrrad festhalten, damit ihr nicht herunterfallt. Diese Prinzipien ver-wenden wir, wenn wir die Fähigkeiten während der Meditation balancieren.

Warum? Weil die Fähigkeiten entsprechend erhöht werden müssen, wenn wir Fortschritte machen. Fortschritt in der Meditation ist tatsäch-lich eine Erhöhung von allen fünf geistigen Kontrollfähigkeiten. Je weiter ihr in der Meditation fortschreitet, desto mehr müsst ihr euch deshalb anstrengen. Je höher ihr geht, desto mehr Anstrengung müsst ihr also wach-rufen. Es ist allerdings nicht so schlimm wie man denkt, da zu dieser Zeit auch schon ein beträchtlicher Grad an Achtsamkeit vorhanden ist. Außerdem kann die Energie ganz von allein entstehen. Trotzdem müsst ihr die Energiefähigkeit mit eurem Meditationsfortschritt erhöhen, da die ver-schiedenen auftauchenden Meditationsobjekte feiner und schwieriger zu notieren sein werden. Sie können auch unangenehmer sein, da sie eventuell mehr Schmerz oder Leid verursachen.

Deshalb müsst ihr die Energiefähigkeit erhöhen, da ihr sonst nicht fähig werdet mit diesen feinen Objekten umzugehen. Manchmal können sie so fein und angenehm sein, dass es sehr leicht ist, an ihnen anzuhaften.

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Deshalb müsst ihr eine Menge Energie anwenden um ihnen gegenüberzu-treten. Das macht ihr bis zu dem Punkt, wo die Energie so stark ist, dass ihr euch über alle Objekte und Gedanken hinwegsetzen könnt. Wenn jedoch nur die Energiefähigkeit oder der aktive Aspekt der geistigen Kräfte allein erhöht wird und nicht genug Konzentration da ist um sie still zu halten, wird der Geist stark unbalanciert, zu aktiv und zu hoch aufgeladen. Deshalb müsst ihr auch die Konzentrationsfähigkeit Hand in Hand erhöhen. Der Geist muss noch ruhiger und stiller in den fortgeschrittenen Stufen der Praxis sein. Das genau ist es, was „Fortschritt des Vipassanā-Bewusstseins“ genannt wird.

Wenn wir Fortschritte in der Meditation machen

Vipassanā-Bewusstsein sieht die Dinge so wie sie sind, ist in der Lage sie zu akzeptieren und an ihnen nicht anzuhaften. Es bedeutet auch fähig zu sein, die Dinge zu sehen, sie zu verstehen, unsere Anhaftung zu ihnen zu transzendieren und deshalb über sie hinauszugehen. Wenn wir Fortschritte in der Meditation machen, werden die Objekte immer feiner und auch immer tiefer. Deshalb müsst ihr in der Lage sein, sie zu halten und zu notie-ren. Wenn der Geist in diesem Moment nicht anwesend ist, werdet ihr nicht die Einsicht erzielen können um letztendliche Befreiung zu erreichen.

Wenn wir jedoch in der Lage sind das zu tun, bekommt der Geist eine gewisse Schwungkraft. Wir können ihn dann immer weiter zu dem Punkt, wo der Geist sehr ruhig und gleichmütig ist, führen. Zu dieser Zeit ist er fähig alle Objekte ohne irgendwelche Probleme zu notieren und zu sehen, wie sie entstehen und vergehen. Der Geist wird sehr gleichmütig, mit tiefer Konzentration und tiefem Verstehen der Natur der Unbeständigkeit etc. Wenn wir irgendeine Vorstellung davon haben, was Vipassanā-Meditation ist, dann ist es dies.

Im Stadium des Vipassanā-Bewusstseins sind die fünf geistigen Kon-trollfähigkeiten in einer balancierten Art hoch entwickelt.. Wenn das ein-tritt, ist die Energiefähigkeit so groß, dass ihr problemlos stundenlang sitzen könnt. Die Energie- und Achtsamkeitsfähigkeit ist voll entwickelt. Der Geist ist in der Lage alles haarscharf im Detail zu beobachten. Die an-wesende Konzentration hält die Achtsamkeit in einem hochentwickelten Stadium. Zur gleichen Zeit erlaubt die Konzentration dem Geist, tief in das Meditationsobjekt über längere Zeit einzutauchen. Es ist, als wenn die Be-obachtung wie von selbst immer weiter und immer tiefer geht, bis sie den Punkt erreicht, wo sie alle körperlichen und geistigen Prozesse durch-dringen kann um Realisierung zu finden.

Manchmal jedoch - bevor das passiert - geht der Geist „über Bord“, das heißt, er hat entweder zu viel Energie oder zu viel Konzentration. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Ursachen und es passiert auch aus dem Grunde, weil die Achtsamkeit noch nicht stark und stabil genug ist. In solchen Fällen haben wir eine angemessene Handlung anzuwenden, die die Fähigkeiten korrekt ausbalanciert.

Dieser Vortrag wird euch ein wenig Einblick in das Balancieren der Fähigkeiten gegeben haben. Balancieren der Fähigkeiten kann als

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cittanupassanā gesehen werden oder als Achtsamkeit auf das Bewusstsein. Bei cittanupassanā müsst ihr fähig sein, all die subtilen Stadien des Bewusstseins - wie sie kommen und gehen - zu erkennen.

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10. Das Balancieren der fünf Kontrollfähigkeiten

Das Balancieren von Energie und Konzentration

Lasst uns zuerst einen Blick auf das Balancieren der Fähigkeit der Energie (V) (viriya) und der Konzentration (E) (ekaggata) werfen.

Die unterschiedlichen Stärken der Faktoren V/E, lassen gewisse Arten von Bewusstsein entstehen. Wenn sie gut balanciert sind (+V+E) oder (-V-E) ist der Geist stabil und dies führt normalerweise zur Entstehung von Achtsamkeit. Wenn sie unbalanciert sind, tendiert der Geist zu einem Faktor und führt so zur Unruhe (+V-E) oder Müdigkeit (-V+E).

Diese Balance-Beziehung darf nicht mit anderen mentalen Faktoren, die auch zur selben Zeit anwesend sind, durcheinander gebracht werden. In einem nicht Meditierenden, der einen klaren Geisteszustand hat, sind V/E auch gut balanciert. Das bedeutet aber nicht, dass Achtsamkeit vorhanden ist. Deshalb ist es notwendig eine neue Variable (S) (sati) einzuführen. (S) repräsentiert die Ab- oder Anwesenheit von Achtsamkeit und damit, ob das Bewusstsein heilsam oder unheilsam ist. Die außerdem noch genannte Variable (C) (chanda) repräsentiert die mentale Kraft (oder den „Drive“), die sich mit kontinuierlicher und intensiver geistiger Übung erhöht. Ich würde diese Kraft als „chanda“ oder „Wunsch zu tun“ oder wie es in einem Abhidhamma-Buch heißt, als „Das Phänomen (dhamma), welches das Objekt wünscht“, bezeichnen.

Hier werde ich die Stärke dieser Kraft so kennzeichnen:

C1 = wenig Wunschkraft C2 = stärkere Wunschkraft C3 = sehr starke Wunschkraft

Das vitale Spiel dieser vier Variablen (C/S/V/E) kann am besten in der folgenden Tabelle zusammen mit den Beschreibungen der verschiedenen korrespondierenden Bewusstseinsarten zusammengefasst werden:

C1 Stufe (Anwesenheit von wenig Wunschkraft)

Am Anfang der Meditation, wenn praktisch noch keine Schwungkraft da ist. Das tritt in den ersten paar Tagen eines Retreats auf.

a) (-S) (sati) Ohne Achtsamkeit (Der Geist ist unheilsam)

-V-E Balancierter Zustand von schwacher Energie und schwacher Konzen-tration

Dies repräsentiert einen schwachen Bewusstseinszustand, der hauptsächlich durch Langeweile und Stumpfsinn repräsentiert wird.

+V-E Energie ist größer als Konzentration

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Der Geist ist nicht ruhig und wandert zu vielen irrelevanten Gegen-ständen.

-V+E Die Energie ist geringer als die Konzentration

Dies repräsentiert einen schläfrigen, träumenden oder lethargischen Geist. Tritt häufig bei Meditation am Morgen auf. +V+E Balancierter Zustand von starker Energie und starker Konzentration

Man ist angespannt und gestört.

b) (+S) (sati) Mit Achtsamkeit (Der Geist ist heilsam)

-V-E Balancierter Zustand von schwacher Energie und schwacher Konzen-tration

Leichte Achtsamkeit. Aber da die Fähigkeiten nicht stark sind, ist auch die Achtsamkeit nicht stark. Solch ein balanciertes Stadium ist das eines gewöhnlichen Mannes, der sich gerade von einem Schock erholt. Sein Geist ist im klaren Zustand.

+V-E Energie ist größer als Konzentration

Die Achtsamkeit ist nicht in der Lage lange auf einem Objekt zu ver-weilen. Sie tendiert dazu viele Objekte, die noch nicht dran sind, zu notie-ren. -V+E Die Energie ist geringer als die Konzentration

Der Geist beruhigt sich durch die Meditation, obwohl er noch leicht ge-stört werden kann. Das Objekt wird nicht gut erkannt, da die durch Energie erzeugte Wachsamkeit fehlt. +V+E Balancierter Zustand von starker Energie und starker Konzentration

Die Achtsamkeit wird besser und die Konzentration vertieft sich. Die Achtsamkeit ist mehr oder weniger kontinuierlich.

C2 Stufe (Anwesenheit von starker Wunschkraft)

Nach der ersten Woche fängt die Schwungkraft an zu arbeiten. Der Geist wird kraftvoll. Das kann gut oder schlecht sein! Mit der richtigen Methode sollte es allerdings gut sein.

a) (-S) (sati) Ohne Achtsamkeit (Der Geist ist unheilsam)

-V-E Balancierter Zustand von schwacher Energie und schwacher Konzen-tration.

Wie in Stufe C1 (+V+E-S)

+V-E Energie ist größer als Konzentration Der Geist wird extrem unruhig, rennt über alles hinweg und ihr könnt

ihn nicht stoppen. Wie jemand, der über Probleme nachdenkt, sie aber nicht lösen kann. Verspannung baut sich auf.

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-V+E Die Energie ist geringer als die Konzentration Der Geist wird sehr steif und schwer. Die Objekte werden gewöhnlich

vergrößert und zu stark wahrgenommen. Nimittas oder visuelle geistige Objekte gibt es reichlich und sie verweilen lange. Schwere breitet sich im Kopf aus.

+V+E Balancierter Zustand von starker Energie und starker Konzentration

Der Geist ist hysterisch. Er möchte heulen oder ist deprimiert. Das kann stundenlang anhalten (ein gefährliches Stadium).

b) (+S) (sati) Mit Achtsamkeit (Der Geist ist heilsam)

-V-E Balancierter Zustand von schwacher Energie und schwacher Konzen-tration

Wie in Stufe C1 (+V+E+S)

+V-E Energie ist größer als Konzentration Der Geist ist sehr hell und wachsam, aber er kann keine tiefe Konzen-

tration erzeugen. Er schwebt über den Objekten oder beschäftigt sich mit äußeren Objekten. Dies tritt oft nach einer sehr gründlichen Gehmeditation auf, wenn der Geist nach einer Zeit von aktivem Notieren aufgeladen ist.

-V+E Die Energie ist geringer als die Konzentration

Die Konzentration vertieft sich. Etwas Achtsamkeit ist noch anwesend. Deshalb baut sich keine Spannung auf, obwohl Schwere anwesend sein kann. Vielleicht hört man keine Geräusche mehr und „erwacht“ später sehr erfrischt. Aber man kann nichts im Detail oder scharf notieren.

+V+E Balancierter Zustand von starker Energie und starker Konzentration

Die Achtsamkeit ist scharf und die Konzentration tief. Gute Meditation ist unterwegs. Man ist in der Lage, die geistigen und körperlichen Prozesse - so wie sie sind - mit ihren allgemeinen und spezifischen Merkmalen zu beobachten.

C3 Stufe (Anwesenheit von sehr starker Wunschkraft)

Nach einigen Wochen (oder länger) der intensiven Praxis könnt ihr hoffen, dass euer Geist mit voller Kraft läuft. Wie weit ihr gekommen seid, hängt von der Kraft (C) eures Fahrzeugs (des Geistes) ab.

a) (-S) (sati) Ohne Achtsamkeit (Der Geist ist unheilsam)

-V-E Balancierter Zustand von schwacher Energie und schwacher Konzen-tration

Wie in Stufe C2 (+V+E-S)

+V-E Energie ist größer als Konzentration Der Geist ist vollkommen verwirrt und außer Kontrolle.

-V+E Die Energie ist geringer als die Konzentration

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Ein besitzergreifender zwanghafter Geist zu einem Thema. Er ist abge-sperrt vollkommen zurückgezogen. Der Geist kann halluzinieren.

+V+E Balancierter Zustand von starker Energie und starker Konzentration

Der Geist eines Verrückten. Wütend wie ein Berserker.

b) (+S) (sati) Mit Achtsamkeit (Der Geist ist heilsam)

-V-E Balancierter Zustand von schwacher Energie und schwacher Konzen-tration

Wie in Stufe C2 (+V+E+S)

+V-E Energie ist größer als Konzentration Der Geist ist sehr wachsam und hell. Er kann nicht schlafen. Die

Meditation wird durch die Nacht aufrechterhalten, aber die Konzentration hält nicht an.

-V+E Die Energie ist geringer als die Konzentration

Die Konzentration ist sehr tief und verweilt sehr lang in glückseligen Vertiefungen, aber die Achtsamkeit und Einsicht entwickelt sich nicht schnell oder klar.

+V+E Balancierter Zustand von starker Energie und starker Konzentration

Der Geist ist wie der eines Heiligen. Unerschütterlich durch weltliche Bedingungen, da man die wahre Natur der Welt versteht und so nicht daran anhaftet.

Aus dem obigen ist zweifelsfrei ersichtlich, dass die Anwesenheit von Achtsamkeit (+S) bei intensiver Meditation sehr wichtig ist. Dieser eine Faktor hält den Geist davon ab, in falscher Konzentration (E) verloren zu gehen. Es ist eine gute Sache immer etwas Achtsamkeit zu haben, auch wenn jemand reine Ruhemeditation übt. Dieser Faktor wird oft übersehen.

Wenn die Achtsamkeit (+S) anwesend ist, dann ist man zumindest un-gefährdet. Wenn man sich der Achtsamkeit nicht sicher ist, dann sollte man sich darüber versichern oder aufhören.

Der nächste Schritt ist die Energie- (V) und Konzentrationsfähigkeit (E) zu balancieren. Dies kann entweder durch Erhöhen eines Faktors oder durch Erniedrigung des anderen getan werden. Am Anfang der Meditation ist es angemessener die schwache Fähigkeit zu erhöhen (+). Es kann nicht zu viel falsch gemacht werden, wenn die Wunschkraft (C) noch schwach ist.

Zum Beispiel im Falle von C1 (-V+E) + (+V) = C1 (+V+E)

Wenn die Fähigkeiten in einem mehr entwickelten Zustand sind, könnte

man die stärkere Fähigkeit auch schwächen (-), um eine sicherere Entwick-lung zu gewährleisten. Speziell wenn ungenügend Aufmerksamkeit oder Zeit verfügbar ist oder wenn es an Praxis mangelt.

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Zum Beispiel im Falle von C2 (-V+E) + (-E) = C2 (-V-E)

Wenn jemand jedoch große Aufmerksamkeit hat und großes Können aufweist, dann kann man die mangelnde Fähigkeit erhöhen. Dies verspricht einen schnelleren Fortschritt.

Zum Beispiel im Falle von C1 (-V+E) + (+V) = C1 (+V+E) Zum Beispiel im Falle von C2 (-V+E) + (+V) = C2 (+V+E) Zum Beispiel im Falle von C1 (+V-E) + (+E) = C1 (+V+E) Zum Beispiel im Falle von C2 (+V-E) + (+E) = C2 (+V+E) Ein weiterer wichtiger Punkt ist, nicht nur die Faktoren einfach zu er-

höhen oder zu erniedrigen. Es geht darum, um wie viel wir sie erhöhen oder erniedrigen. Die korrekte Umsetzung wächst natürlich mit unserer Er-fahrung. Das generelle zur Beurteilung herangezogene Kriterium ist die Stabilität der Achtsamkeit und dann die Tiefe der Konzentration. Das heißt, mit Erhöhung der Achtsamkeit, verstärken sich Energie und Konzentration Hand in Hand.

Das Balancieren von Glaube und Weisheit

Anders als die Balance von Energie und Konzentration, die oft wie zwei Waagschalen funktionieren, beziehen sich die Fähigkeiten Vertrauen und Weisheit auf den Anfang und das Ende der Praxis.

Denn die Weisheit von der wir sprechen, entsteht durch Meditation (bhāvanā maya pañña) und solch eine Weisheit hat man nicht am Anfang, sondern sie wird mit der Praxis entwickelt. Deshalb hat am Anfang jede hier angewandte Art von Balance mit Wissen zu tun, das durch Denken (cinta maya pañña) entsteht. Dieses Wissen wird nicht noch nicht im Moment des Beobachtens oder des Notierens erzeugt. Eine Balance von Glauben und Wissen auf diesen niedrigeren Stufen ist notwendig um eine stabile Basis für die Praxis zu bekommen. Sonst entsteht leicht skeptischer Zweifel (wegen des verwirrten und spekulativen Denkens) oder über-mäßiges Vertrauen, das zur Leichtgläubigkeit in eine falsche Praxis führen kann. Beides lähmt den Fortschritt. Solch eine Balance wird durch korrekte Interviews mit einem guten Lehrer, der Inspiration und Einfühlungsver-mögen besitzt, herbeigeführt. So ein Lehrer hilft euch, wenn euer Vertrauen auf einem niedrigen Niveau ist und ihr zusätzliche Informationen benötigt, oder wenn es an Weisheit oder Wissen mangelt. In der tatsächlichen Praxis ist es deshalb angemessener zu fragen:

Welche Rolle spielt Glaube oder Vertrauen beim Aufbau der Fähig-keiten, die zur Befreiung führen? Glaube oder Vertrauen ist wie ein Starter oder eine Zündkerze. Es ist der

Beginn des spirituellen Lebens. In Buddhismus ist Glaube der Glaube an die drei Kleinodien (buddha, dhamma, sangha).

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Durch diesen Glauben führen wir verdienstliche Taten (dāna, sīla, bhāvanā) aus, die uns glücklich machen. Es ist wie ein Schlüssel zu einer Schatztruhe. Deshalb wird gesagt: „Glaube ist der größte Reichtum“.

Aber wenn uns unser Glaube nur soweit führt, dass wir Nächstenliebe haben und die 5 Gebote befolgen, kann es uns nur das Glück der Menschen und den sinnlichen Himmel offerieren. Wenn er uns dazu führt reine Ruhemeditation zu praktizieren, die zu den weltlichen Vertiefungen (lokiya jhāna) führt, dann wird er uns zum Glück der Brahmas geleiten. All diese Zustände sind aber unbeständig. Das ist natürlich besser als in den Höllen zu leiden. Es wäre aber noch besser, wenn uns unser Glaube aus dem Zyklus des Geborenwerdens und Sterbens (samsara) herausführen würde und wir komplett frei vom Leiden wären und ewigen Frieden – nibbāna – hätten. Als solches muss er uns nicht nur zur Vipassanā-Praxis führen, sondern auch dazu, dass wir die Praxis erfolgreich beenden. Das ist wie das Überqueren des Ozeans und deshalb wurde gesagt, dass man durch den Glauben in der Lage sei den Ozean zu überqueren.

Deshalb muss die Fähigkeit Glauben nicht nur die Energie zum Prakti-zieren erzeugen, sondern man muss genug Vertrauen haben um lang genug zu praktizieren und auch, um all die anderen Fähigkeiten wie die der Acht-samkeit, Konzentration und Weisheit zu erzeugen.

All diejenigen, die denken, „wir haben einfach nicht genug Zeit zum Praktizieren“, haben nicht genug Vertrauen. Wenn Vertrauen da wäre, würde man sich die Zeit dazu nehmen.

Wenn die Leute sagen, heutzutage könne man den heiligen Pfad nicht mehr erreichen, nehmen sie sich nicht nur selbst die Chance, sondern ver-unsichern auch die leidenden Mitgefährten. Sie haben überhaupt kein Ver-trauen.

Wenn man etwas Lohnenswertes erreichen möchte, sollte man positiver denken. Natürlich muss man auch realistisch sein. Deshalb wird blinder Glaube im Buddhismus nicht befürwortet. Wir brauchen Theorie (ausge-wähltes Lesematerial), gut ausgewählte Lehrer und gesunden Menschenver-stand. Mit der Zeit wird Erfahrung erlangt und mit dieser Erfahrung steigt das Vertrauen und das Wissen.

Wie schon oben erwähnt, wird Wissen, dass durch Nachdenken entsteht als irregeleitet oder spekulativ (das ist die falsche Art von Wissen) be-schrieben. Es ist eine Tatsache, dass unser aus Beobachtung und Notieren erhaltenes Wissen in dem Masse anwächst, je näher wir unserem Ziel kommen. Dieses Wissen weist uns den Weg. Es zeigt uns unsere Fehler und wie wir sie vermeiden, auch unsere guten Fähigkeiten, und wie wir sie ver-bessern. Letztendlich führt dieses Wissen dazu, dass wir die Wahrheit er-fahren.

Weisheit oder Wissen ist deshalb das Mittel, das zum Ende führt, ist aber nicht das Ende selbst! Dies gilt auch für das Wissen, das aus der Kulti-vierung des Geistes entstanden ist und über das oft als Einsicht oder Ein-sichtswissen gesprochen wird. Deshalb ist es ein Fehler an irgendeiner dieser Einsichten anzuhaften.

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Alle Fähigkeiten werden durch Wissen wie mit Zement gestärkt. Wissen hält alles in der erforderlichen Form zusammen, weil es alle Dinge in ihrer wahren Bedeutung erhellt. Deshalb gibt es niemals ein Überschuss dieser Art des Wissens. Es mangelt zu oft daran (ausgenommen in den Voll-kommenen).

Andere Wege die Fähigkeiten der Energie und Konzentration zu balancieren

1. Die Art der angewandten Achtsamkeit

Zusammen mit dem mit Achtsamkeit verbundenen Bewusstsein (citta), entstehen auch andere geistige Faktoren (cetasika). Diejenigen, die uns hier interessieren, sind keine anderen als Energie (viriya) und Einspitzigkeit oder Konzentration (ekagatta), die mit den beiden zu balancierenden Fähigkeiten korrespondieren. Sobald wir präziser wissen, was für eine Achtsamkeit benötigt wird, können wir sie entsprechend hervorbringen.

• Wenn wir müde oder lethargisch sind, brauchen wir mehr die

energetische Form der Achtsamkeit. Sie sprudelt leicht heraus, wenn man voller Eifer ist. Man muss sich klar machen, dass mentale Energie nicht mit physischer Energie verwechselt wird. Wenn wir die mentale Energie aufbauen, ist das besser mit einem entspannten Körper als mit einem Körper voller Spannungen. So werdet ihr die Wachsamkeit kennen lernen, die jederzeit bereit zum Reagieren ist. Sie ist der aktive Aspekt der Achtsamkeit.

• Wenn jedoch die Energie exzessiv ist und sich zur Unruhe neigt,

dann bringt eher eine entspanntere und leichtere Form der Achtsam-keit Balance hervor. Man sollte sein Herz in friedvolle Ruhe bringen, im Geiste dabei den Segen der Loslösung haben. Es ist der stille, friedvolle und einspitzige Aspekt der Achtsamkeit.

2. Die Art der arbeitenden Achtsamkeit

• Systematische oder Gerichtete Achtsamkeit heißt Kultivierung der Achtsamkeit, indem man nach einem bestimmten System die Acht-samkeit auf die Objekte richtet. Etwas Ähnliches haben wir schon früher bezüglich der Priorität der Objekte besprochen. Zuerst notiert der Meditierende z. B. das Basisobjekt, dann die dominanten Sekun-därobjekte etc.

• Wahllose Achtsamkeit ist Achtsamkeit auf alle Objekte, die ent-

stehen und die ins geistige Auge eindringen. Es wird keine Anstren-gung für die Auswahl der Objekte unternommen.

Gewöhnlich beginnt man mit Gerichteter Achtsamkeit, da das energeti-

scher ist und zu einem schnelleren Aufbau der Achtsamkeit führt. In Bezug

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auf die vier rechten Anstrengungen korrespondiert es mit dem Überwinden der üblen geistigen Zustände und dem Hervorbringen von reinen geistigen Zuständen, die noch nicht entstanden sind.

Deshalb wird die Gerichtete Achtsamkeit dann benutzt, wenn die Fähig-keiten schwach sind, wenn Stärke benötigt wird um die Befleckungen zu überwinden oder um Fortschritte zu neuen Einsichten zu machen.

Ungerichtete Achtsamkeit oder wahllose Achtsamkeit wird häufiger an-gewandt, wenn die Achtsamkeit mehr oder weniger kontinuierlich ist. Das heißt, wenn die feineren Objekte genauso wie die gröberen notiert werden können. Außerdem gibt es auch eine Menge Objekte, für die ihr keinen Namen habt. Durch wahllose Achtsamkeit wird die Achtsamkeit sehr stabil. Bezüglich der vier rechten Anstrengungen korrespondiert das damit, die üblen Zustände zu vermeiden und die reinen Zustände zu erhalten. Da das Aufbringen des Geistes auf das Objekt bei dieser Art reduziert ist, neigt auch der Energiefaktor zur Reduktion. Mit wahlloser Achtsamkeit kann auch, aber nur wenn die Achtsamkeit kontinuierlich geworden ist, Konzen-tration aufgebaut werden. Daher kann, sobald der Geist unruhig ist, die wahllose Achtsamkeit den Geist beruhigen und entspannen.

3. Trial-and-Error-Methode

(Die Methode des Ausprobierens um dann aus seinen Fehlern zu lernen) In der Praxis ist es nicht immer so leicht auszumachen, warum die

Fähigkeiten nicht in Balance sind. Deshalb können wir in solchen Situa-tionen die Trial-and-Error-Methode anwenden.

Wenn der Meditierende z. B. auf einen „stecken gebliebenen Geist“ trifft, das ist ein Geist, der behindert und unfähig ist irgendetwas zu notie-ren, kann er diese Vorgehensweise gebrauchen. Die Ursache kann exzessive Konzentration oder Energie sein oder auch das Zweifeln, was es nun eigent-lich genau sei.

Der Meditierende balanciert nun anfangs den Geist zur Energieerhöhung so, indem er viele Berührungspunkte notiert. Wenn das nicht funktioniert, entspannt er sich, lehnt sich zurück und übt wahllose Achtsamkeit und auch wenn erst einmal nichts passiert, verbleibt er einfach so.

Wenn das wieder nicht funktioniert, ergreift der Meditierende noch einmal die Maßnahme der Energieerhöhung, also die Technik des erhöhten Berührungspunktenotierens. Früher oder später wird eine der beiden Methoden funktionieren.

Manchmal strengen wir uns zu sehr an und wir enden dann in einem Problem oder haben einen „stecken gebliebenen Geist“ oder wir entspannen uns zu stark und enden mit einer anderen Art von Problem. Durch viel Praxis können wir solche Exzesse und Mängel reduzieren und den Geist zu einem Punkt der exakten Balance läutern. Dieser balancierte Zustand der Achtsamkeit vertieft sich mit der Erhöhung der Fähigkeiten von Energie und Konzentration in gleicher Stärke. So entwickeln sich immer tiefere Stufen der Achtsamkeit. Das bedeutet, wir werden immer entspannter und ruhiger und auch die Wachheit erhöht sich.

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Wenn man dies kann, das heißt, kontinuierliches Erhöhen in einer balancierten Art über längere Zeit, wird der Meditationsfortschritt sehr weit gehen.

Ein steckengebliebener Geist ist ein Geist, der gelangweilt und müde ist, zu viel Energie oder harte Konzentration hat.

4. Das Wählen der angemessenen Körperhaltung oder angemessener Objekte, die die Fähigkeiten entweder erwecken oder reduzieren

a) Die Körperhaltungen sind physischer Natur, aber sie können das Balan-cieren der Fähigkeiten beeinflussen. Und zwar durch:

i Ausüben physischer Anstrengungen, die den Geist beeinflussen ii Die Art der anwesenden Objekte.

Obwohl physische und mentale Anstrengung unterschiedlich sind, be-

einflusst die erstere die letztere in einem gewissen Masse. Im Allgemeinen verstehen wir, dass, wenn wir mit physischen Aktivitäten beschäftigt sind, auch der Geist zu einem gewissen Grade aktiviert wird.

Wir können das in eine Tabelle mit der physischen Anstrengung, die mit beteiligten geistigen Anstrengungen korrespondiert, ungefähr so eintragen wie folgt:

+++V Stehen (eine große Menge Energie) ++V Gehen (eine gute Portion Energie) +V Sitzen (wenig Energie) OV Liegen (keine physische Anstrengung) Aus diesem Grunde kann Gehen helfen, wenn wir lethargisch oder müde

sind. Und wenn wir unruhig, verspannt oder verstört sind, kann Sitzen oder Liegen helfen. Die letzte Haltung der vier (das Liegen) wird normalerweise nicht empfohlen, weil man zu leicht einschläft, obwohl man das durchaus machen kann, wenn man krank ist oder zu schlafen beabsichtigt.

Das gewöhnliche Verfahren ist allerdings die gleiche Zeit zu sitzen wie zu gehen (z. B. je eine Stunde). Zu viel zu sitzen oder zu gehen (das heißt mehr als eine Stunde) wird nicht befürwortet. Das gilt besonders für An-fänger, weil sie oft nicht in der Lage sind danach die Achtsamkeit aufrecht zu erhalten. Es muss jedoch klar sein, dass das Balancieren der Fähigkeiten mental ist und nicht physisch und deshalb, falls man auch nach einer Stunde gut in der Achtsamkeit und Konzentration fortschreiten kann, gibt es in dem Fall keinen Grund, warum man die Körperhaltung wechseln sollte.

b) Die die Körperhaltungen betreffenden Objekte können auch das Balan-cieren der Fähigkeiten beeinflussen.

i „Sitzen“ und „Berühren“ Während „Berühren“ zu den physischen Empfindungen am Kontakt-punkt gehört, gehört „Sitzen“ zu den physischen Empfindungen, die

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nicht Kontaktpunkte sind. Das „Sitzen“ besteht aus vielen physischen Kräften wie ziehen, spannen, verzerren etc., welche die sitzende Haltung bewahren. Diese Kräfte beinhalten hauptsächlich das Windelement. Daneben kann auch Hitze, Härte etc. gefühlt werden. Wie lange man sich mit jeder Notierung (S oder B) aufhält, variiert mit den Bedingungen. Wenn man müde ist und die Objekte unklar erschei-nen, dann sollte man sich nicht so lange (ca. 5 Sek. an jedem Punkt) mit ihnen aufhalten, aber wenn man nicht schläfrig ist, kann man länger be-obachten (z. B. 50 Sek. 100 Sek. oder länger), um die unterschiedlichen Empfindungen wahrzunehmen. Wenn jemand sehr hartnäckig konti-nuierlich S,S,S... B, B, B... notiert, wird eine Menge Energie wach und in vielen Fällen kann die Schläfrigkeit überwunden werden. Dann kann man mehr Empfindungen erkennen. Solche wie S1, S2, S3, S4... etc oder B1, B2, B3 etc. (siehe Diagramm). Eine andere Möglichkeit ist, nur die unterschiedlichen Berührungs-punkte zu beobachten B1, B2, B3... etc. und zwar energetischer, wenn man schläfrig ist oder die Objekte unklar sind. Wenn die Achtsamkeit der Erwartung entspricht, kann man einen ausgewählten Punkt länger beobachten (das heißt 100 Sek. oder länger). Dies kann für Anfänger, die noch nicht richtig verstehen, was mit den „Sitzen“ - Empfindungen gemeint ist, nützlich sein. Wenn sich die Konzentration aufgebaut hat, wird man sich all der Empfindungen im Körper bewusst, und wenn es gut passt, kehrt man dann zur wahllosen Achtsamkeit zurück. Im Allgemeinen weckt das „Sitzen“ und „Berühren“ die Energiefähig-keit, weil eine Menge Anstrengung benötigt wird die Achtsamkeit zu halten oder sie auf die betreffenden Empfindungspunkte zu lenken. ii „Heben“ und „Senken“ „Heben“ und „Senken“ bezieht sich auf die Ein- und Auswärtsbewe-gung der Bauchregion beim Atmen. Wenn wir den sehr unregelmäßigen Bewegungen folgen, tendieren wir dazu den Rest um uns herum zu ver-gessen. Dadurch wird das Objekt immer feiner. Als solches verursacht es eher Konzentration als „Sitzen“ und „Berühren“, das eher mit Schmerz assoziiert wird. Hinsichtlich der Fähigkeit den Geist schnell zu beruhigen ist das "Heben" und "Senken" jedoch, wegen seiner Unregelmäßigkeit und Grobheit, weniger gut geeignet als die Beobachtung des Atems an den Berührungspunkten der Nasenspitze. Aus demselben Grund ist es aber auch leichter das „Heben“ und „Senken“ als Vipassanā-Objekt im Sinne der Einsichtsmeditation zu sehen.

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iii Schmerzhafte Gefühle Dieses Objekt weckt wegen seiner scharfen und starken Natur eine Menge an Energie, wenn kein Zorn vorhanden ist! Dazu müssen wir den Geist auf den Schmerz mit starker und fester Achtsamkeit gerichtet halten. iv Angenehme Gefühle „Glück“, baut leicht Konzentration auf. Deshalb müssen wir sehr acht-sam sein oder wir fallen in den Schlaf. v Geräusche/Hören Geräusche werden normalerweise nicht als primäres Vipassanā-Objekt benutzt, da sie dazu tendieren den Geist zu zerstreuen. Sie sind außer-halb und fremd. Deshalb führen sie definitiv nicht zur Konzentration. Geräusche helfen auch nicht die gewünschte rechte Anstrengung zu stimulieren. Sie können jedoch bei der Wachheit auf den gegenwärtigen Moment helfen, wenn alle anderen Objekte unklar sind. vi Gehen Gehmeditation tendiert dazu, wegen der aktiven Natur dieses Prozesses, eine Menge Energie und Achtsamkeit zu erwecken. Man muss viele Bewegungen und Absichten notieren. Aus diesem Grund ist es auch oft nicht leicht tiefe Konzentration zu bekommen. Deshalb muss man lernen dabei sehr entspannt zu sein vii Sehen/Licht Wie die Geräusche muss auch das Sehen aufgegeben werden, wenn die Konzentration tiefer wird. In der Gehmeditation sind die Augen ge-wöhnlich offen und das Sehen ist unvermeidlich. Das kann Anfänger sehr stören und deshalb müssen sie regelmäßig das Zügeln des Auges üben und „Sehen, Sehen“ notieren. Jedoch wegen seiner hellen und sich ausdehnenden Natur, kann es einen gewissen Grad an Energie wach-rufen und Mattigkeit vertreiben. Es gibt eine andere Art von Licht, die mit dem geistigen Auge beim Sitzen mit geschlossenen Augen gesehen wird. Diese werden als geis-tige Bilder klassifiziert. Beim vipassanā, werden sie notiert und ver-schwinden deshalb. In der Samatha-Meditation, werden sie benutzt, um Konzentration zu erzeugen. Jetzt verstehen wir, dass, wenn wir ein Objekt wählen können, wir auch

eines wählen können um die Fähigkeiten zu balancieren. Es ist z. B. bei Müdigkeit besser, den Schmerz und „Sitzen“ sowie „Berühren“ zu beobachten als „Heben“ und „Senken.

Wir können auch das Umgekehrte anwenden, damit wir die entspre-chenden Fähigkeiten erhöhen oder erniedrigen, falls irgendein von uns aus-gewähltes Objekte nicht erscheint um so die Fähigkeiten zu balancieren. Schmerz erhöht sehr leicht die Energie, deshalb wird hier ausbalanciert

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durch entspannteres Notieren. Andererseits ist bei einem angenehmen Ge-fühl mehr Wachheit und energischeres Notieren erforderlich.

Ein anderer Punkt ist das Temperament des Individuums. Der mehr energetische Typ braucht Ruhe, während der mehr träge Typ Energie braucht.

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11. Schärfen der geistigen Kontrollfähigkeiten

Neun Wege zur Schärfung der Fähigkeiten

Damit wir uns ein besseres Bild vom Schärfen der Fähigkeiten machen können, ist es nützlich sich die neun Wege, wie sie in der visuddhi magga erwähnt werden, anzusehen.

Man kann diese neun Möglichkeiten wie folgt zusammenfassen: Jemand voller Vertrauen, der die angemessenen äußeren Bedingungen und internen Faktoren erwägt und sich trotz aller Schmerzen, Krankheit und Entmutigung (das kann einem auf dem Weg begegnen) fortlaufend und ernsthaft bemüht, bis er sein Ziel erreicht hat.

Die neun Wege im Einzelnen:

1. Man erinnert sich, dass man die Unbeständigkeit der Gestaltungen erkennen möchte.

Wenn man an einem gefährlichen Ort ist, wäre es äusserst hilfreich, wenn man eine gute Karte zur Hand hätte um den richtigen Weg zu finden. Diese korrekte theoretische Basis ist wichtig wegen ihrer Fähigkeit Ver-trauen zu erwecken. Außerdem ist sie ein Führer um Fallstricke zu ver-meiden und um in der Entwicklung fortzuschreiten. Man muss alle falschen Ansichten ablegen, bevor man in der Lage ist, dass, was richtig ist, zu er-kennen. Man sollte jedoch auch das Philosophieren und Denken beiseite legen, sonst kann man nicht direkt erfahren, keine direkte Erfahrung machen.

Dieses anfängliche Akzeptieren der Wahrheit der drei allgemeinen Da-seinsmerkmale ist der erste Faktor, der einen in die richtige Richtung der Einsichtsentwicklung bringt.

2. Man strengt sich sorgfältig an

Sich ernst und sorgfältig anstrengen ist ähnlich der grundlegenden Eigenschaft der Achtsamkeit. Mit dem richtigen Verständnis für die Be-deutung einer gründlichen Praxis wird uns diese richtige Einstellung ge-geben.

Der einzige Weg, der einen aus all dem Leiden herausbringt, eine Praxis, die Frieden, Sicherheit und ein Ziel bringt, sollte als der wichtigste Teil im Leben angesehen werden. Trotzdem sind viele nicht in der Lage sich viel Zeit für ihre Praxis zu nehmen, da sie anderen Verpflichtungen nachgehen.

Deshalb, was auch immer uns für kostbare Momente zur Verfügung stehen um uns in dieser edlen Praxis weiterzubringen, lasst es uns damit sehr ernst sein. Nur wenn es eine solche Ernsthaftigkeit gibt, wird kein Teil des Prozesses unnotiert bleiben. Dies ist eine essenzielle Bedingung für das Entstehen von exaktem und tiefem Verständnis.

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3. Man strengt sich kontinuierlich an

Während sorgfältiges und ernsthaftes Bemühen eine gute Qualität für jeden Moment des Notierens verspricht, ist auch Kontinuität vonnöten. Um fähig zu kontinuierlichem Bemühen zu sein, braucht man Willenskraft, Ge-duld, Geschick, Vielseitigkeit und Flexibilität der Achtsamkeit.

Kontinuität erlaubt das stetige Erhöhen der Achtsamkeit und die so er-zeugte Schwungkraft ist erheblich. Deshalb können die meisten Leute nur in intensiven Meditations-Retreats (von mind. einer Woche) innerhalb kurzer Zeit markanteren und sichtbareren Fortschritt erfahren.

4. Erinnerung an den Weg, wie man Konzentration erreicht hat

Wir können nicht erwarten, dass wir alles von unserem Lehrer lernen. Eine Menge hängt von uns selber und unserem gesunden Menschenverstand ab.

Die Entstehung von Konzentration ist z. B. sehr individuell. Sie hängt vom Temperament und der Eigentümlichkeit des Einzelnen ab. Wenn Konzentration entsteht, ist es günstig, dass wir uns später an den Weg ihrer Erzeugung erinnern können. Das Gleiche gilt auch für Einsichtserfah-rungen.

Beim Erinnern der Prozesse ist es, wie als wenn sich jemand an Grenz-steine erinnert, nachdem er seine Reise beendet hat. So wird er das nächste Mal sicherer, schneller und leichter reisen. Das stattet euch mit einem Protokoll aus, das sowohl euren Lehrer während der Interviews dabei unter-stützt euch zu helfen, als es auch für eure eigene spätere Einschätzung hilf-reich ist.

5. Das Erwägen der sieben Angemessenheiten

Die äußere Umgebung kann den Geist von Anfängern stark beein-flussen. Eine richtige Wahl äußerer Bedingungen kann deshalb bessere Resultate hervorbringen. Die sieben Angemessenheiten sind kurzgefasst diese:

i. Angemessenes Essen

Eine ausgewogene, der Gesundheit des Individuums angemessene Diät wäre die vernünftige Wahl. Wir müssen die Nahrung aber auch vom Stand-punkt der Befleckungen aus betrachten. Das bedeutet Essen zu sich zu nehmen, das keine Anhaftung erweckt. Außerdem gibt es noch die ethi-schen Überlegungen. Achtsamkeit während des Essens und andere Betrach-tungen nach dem Essen werden uns dabei helfen.

Eine übliche Betrachtung vor dem Essen ist, die Mahlzeit nur als Er-nährung für den Körper zu sehen um ihn zu erhalten und um bei der An-strengung zu helfen. So besinnt man sich, dass man nicht isst um sich zu berauschen, zur Verschönerung, zum Spaß oder zum Dickwerden.

ii. Angemessene Behausung

Einige Erfordernisse für eine Behausung wurden in den nikayas er-wähnt.

• nicht zu weit und auch nicht zu nah am Dorf.

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• leicht zugänglich. • nicht zu bevölkert am Tag, ruhig und still bei Nacht. • Verfügbarkeit der vier Bedarfsgegenstände und Sicherheit vor

Krankheit und Ungeziefer sowie anderen feindlichen Kreaturen. • Die Anwesenheit eines guten Freundes (z. B. Lehrers)

Die visuddhi magga beschreibt noch achtzehn andere Arten der unan-

gemessenen Behausung unter der Überschrift Hindernisse. Sie sagt noch zusätzlich, dass die Angemessenheit auch vom Temperament des Meditie-renden abhängt.

In Kürze sind die 18 Arten von unangemessenen Klöstern folgende Orte:

• die zu laut sind, • wo es zu viel Arbeit gibt und Leute anwesend sind. • wo die vier Bedarfsgegenstände schwierig zu bekommen sind, • die gefährlich sind, • wo es keinen Lehrer gibt.

Einige angemessene Behausungen werden hier erwähnt:

• Waldbehausung • Behausung am Fuße eines Baumes • Behausung auf einem offenen Feld • Behausung in einem leeren Haus

Bezüglich der Temperamente:

• Dem lustvollen Temperament wird ein hässliches und unangenehmes Quartier empfohlen

• Dem hassvollen Temperament ein sauberes, reines und angenehmes Quartier

• Dem verblendeten Temperament wird ein Quartier, das eine Aus-sicht hat angeraten.

• Dem spekulativen Temperament wird eine geschlossene oder abge-schirmte Behausung empfohlen.

• Dem vertrauenden Temperament wird ein Quartier wie das des Hass-vollen empfohlen.

• Während es für das intelligente Temperament keine unangemessene Behausung gibt.

iii. Angemessenes Klima

Ohne Zweifel ist es das Beste, wenn es nicht zu heiß oder zu kalt ist. In den Tropen bevorzugen die meisten eine kühle Umgebung für ihren

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Komfort und können so bessere Konzentration erlangen Das ist verständ-lich. Hitze kann sehr ermüden. Oft gibt es Leute, die Klimaanlagen be-nutzen. Ihr Gebrauch ist umstritten, da es auch eine Entschuldigung für Schwäche sein kann. Wir sollten nicht vergessen, dass der Bodhisatta die vollkommene Erleuchtung am Höhepunkt der heißen Jahreszeit erhielt. Es ist unter Meditierenden bekannt, dass die Hitze nicht so stört wie man meinen möchte. Außerdem gibt es ja noch die Regenzeit.

iv. Angemessene Körperhaltung

Gewöhnlich wechselt man zwischen gehender und sitzender Haltung. Das hilft die geistigen Fähigkeiten zu balancieren und gesund zu bleiben. Die visuddhi magga sagt, dass einige Körperhaltungen wegen der verschie-denen Temperamente angemessener sind als andere:

• Dem lustvollen Temperament - Gehen und Stehen • Dem hassvollen Temperament - Sitzen und Liegen • Dem verblendeten Temperament - Gehen • Dem spekulativen Temperament -wie dem lustvollen Temperament • Dem vertrauenden Temperament - wie dem verblendeten Tempera-

ment • Dem intelligente Temperament – beliebig

v. Angemessene Personen – als Lehrer oder Begleiter beim Bestreben

Das sind Leute, die in der Praxis erfahren sind, ausgestattet mit weitem und tiefen Wissen sowie voller Mitgefühl. Sie vermitteln anderen den edlen Weg mit Takt und reifen Gedanken. Sie können die Schwachen, Depres-siven und Faulen inspirieren und sind gute Beispiele für willige Lernende.

Die visuddhi magga nennt die guten Qualitäten eines guten spirituellen Freundes:

• verehrt und geliebt • spricht und hört zu (d. h. ein guter Zuhörer und Ratgeber) • was diese Person äußert, ist profund • sie eilt nicht ohne Grund Weiterhin ist es ratsam einen edlen arahant zu finden und wenn das

nicht möglich ist, jemanden mit weniger Erreichtem. Wenn auch das schei-tert, jemanden mit den jhānas (Vertiefungen) und wenn auch das nicht ge-lingt, jemand Versiertes mit den Texten.

vi. Angemessene Gespräche

Gewöhnlich ist während einer intensiven Meditationszeit nur lohnendes Gespräch über die Praxis erlaubt. Das kann noch weiter beschränkt werden auf Gespräche, die strikt nur die Meditation betreffen. Die weniger loh-nenden, ganz zu schweigen die weltlichen Gespräche, außer den absolut notwendigen, werden unterbrochen.

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Im Alltag sollte man so oft wie möglich die nicht lohnenden Gespräche vermeiden. Bis zu einem gewissen Grad ist es allerdings unvermeidbar, wenn ihr euren Lebensunterhalt verdient. Aber insgesamt bedeutet es, dass wir unser Bestes zu geben haben, nicht die vierte Verhaltensregel des Lügens und anderer Formen der unheilsamen Äußerungen zu überschreiten.

vii. Angemessener Aufenthalt

Dies bezieht sich auf Plätze, wo Mönche auf Almosengang gehen können. Für Hausleute bedeutet es den Arbeitsplatz. Es ist wichtig, eine Arbeitsmöglichkeit zu finden, die wenig Befleckungen hervorbringt.

6. Kultivierung der sieben Faktoren der Erleuchtung

Diese sieben Faktoren der Erleuchtung sind geistige Bedingungen, die zusammenkommen im Moment der Erleuchtung. Sie werden separat be-handelt, sodass wir sie mehr im Detail studieren können und sie entspre-chend den Umständen anwenden. Wir werden sie hier erwähnen, wie sie im SatipaSShāna-Kommentar besprochen wurden.

i. Der Erleuchtungsfaktor Achtsamkeit (sati sambojjhanga)

Dies ist die rechte Achtsamkeit des edlen achtfachen Pfades, d. h. der vier Pfeiler der Achtsamkeit. Es ist auch die Achtsamkeit, welche die Dinge, so wie sie wirklich sind, in der Einsichtsmeditation sieht. Da er überhaupt der wichtigste Faktor ist, wundert man sich ein wenig darüber, warum er jetzt erst erwähnt wird.

Die vier Bedingungen, die zum Entstehen dieses Faktors führen, sind:

• Sich mit der Praxis der Achtsamkeit mit klarem Verständnis, wie im

SatipaSShāna-Sutta aufgezeigt wurde, beschäftigen • Personen mit verwirrtem (unachtsamen) Geist vermeiden • Sich mit Personen zusammentun, die ständig achtsam sind • Neigung (des Geistes, durch Verstehen und Willenskraft) zur

Entwicklung des Erleuchtungsfaktors Achtsamkeit.

ii. Erleuchtungsfaktor Wahrheitsergründung

(dhamma vicaya sambojjhanga)

Dies ist der durchdringende Aspekt der Weisheit, der versucht die Natur der Phänomene zu verstehen.

Die Bedingungen für sein Entstehen sind:

• Untersuchen der Daseinsgruppen etc. • Reinigung der körperlichen Basis (d. h. Sauberkeit) • Balancieren der fünf geistigen Fähigkeiten (der Einsicht) • Vermeiden von Ignoranten • Sich mit den Weisen zusammentun

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• Betrachtung der tiefen Unterschiede der wahrgenommenen Prozesse bis aufs Äußerste (Geist und Materie)

• Neigung zur Entwicklung dieses Faktors

iii. Erleuchtungsfaktor Energie (viriya sambojjanga)

Dies ist die rechte Anstrengung des edlen achtfachen Pfades. Es ist auch die sich bemühende Energie, die bei der Einsichtsmeditation benutzt wird.

Die elf Bedingungen, die zu seinem Entstehen führen, sind:

1) Betrachtung des Schreckens der höllischen Welten (oder der Wiedergeburt)

2) Betrachtung der Vorteile durch die Energie 3) Betrachtung, dass der von den Erleuchteten beschrittene Pfad nicht

für die Faulen ist. 4) Das Respektieren von Almosen (und der anderen Requisiten) 5) Betrachtung, dass das große Erbe (der sieben Schätze) nicht für die

Trägen ist. 6) Betrachtung der Größe des Meisters (ist man ein würdiger

Schüler?) 7) Betrachtung über die Größe der Abstammung (des Buddha und man

selbst) 8) Betrachtung über die Größe der Nachfolger im heiligen Leben

(z. B. Sariputta und Mogallana) 9) Vermeiden von faulen Leuten 10) Sich verbinden mit fleißigen Leuten 11) Neigung zur Entwicklung dieses Faktors

iv. Erleuchtungsfaktor Freude (pīti sambojjhanga)

Dies ist Freude, die während der Einsichtsmeditation auftritt. Sie ist nah verwandt mit Glauben und dient dazu Energie für die Praxis wachzurufen. Während seine Verbindung als Vertiefungsfaktor (jhāna) die Entwicklung von Konzentration ermutigt.

Der Faktor kann wachgerufen werden durch:

• Betrachtung der Qualitäten eines Buddha • Betrachtung der Qualitäten des dhamma • Betrachtung der Qualitäten der sangha • Betrachtung der guten Moral von jemandem • Betrachtung der Großzügigkeit von jemandem • Betrachtung der himmlischen Wesen (der guten Qualitäten) • Betrachtung des Friedens des nibbāna • Vermeiden von groben Leuten (frei von Glauben) • Sich mit feinen Leuten zusammentun (angefüllt mit Glauben)

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• Betrachtung von Lehrreden, die Vertrauen erzeugen • Neigung zur Entwicklung dieses Faktors

v. Erleuchtungsfaktor Ruhe (passadhi sambojjhanga)

Dies bezieht sich auf Ruhe und einen friedvollen Geist und den zuge-hörigen mentalen Faktoren.

Sieben Dinge führen zu seiner Erweckung:

1. Benutzen von angemessenem Essen 2. Vorteilhaftes Wetter 3. Eine angemessene Körperhaltung 4. Reflektieren über kamma und seine Resultate 5. Unruhige Leute vermeiden 6. Sich mit ruhigen Leuten zusammentun 7. Neigung zur Entwicklung dieses Faktors

vi. Erleuchtungsfaktor Konzentration (samādhi sambojjhanga)

Konzentration ist die Gewinn bringende Einigung des Geistes mit dem Objekt. Es heißt, dass in diesem Fall die Einsichtsmeditation die drei Da-seinsmerkmale herausstellt, mittels momentaner Konzentration (auf welt-lichen Stufen) und ihrer Objekte.

Die elf Bedingungen, die zum Entstehen von Konzentration führen sind:

1. Reinigung der körperlichen Basis (d. h. Sauberkeit) 2. Balancierung der fünf geistigen Fähigkeiten (der Einsicht) 3. Geschick bei der Aufnahme des Meditationsobjektes (Zeichen) 4. Den Geist bei Laschheit anspornen zu können 5. Zügeln des Geistes bei überschüssiger Energie 6. Erfreuen des Geistes bei Unzufriedenheit 7. Betrachten des Geistes ohne Störung 8. Vermeiden von unkonzentrierten Menschen 9. Sich zusammentun mit konzentrierten Menschen 10. Betrachtung der Vorteile der Vertiefung und der Befreiung 11. Neigung zur Entwicklung dieses Faktors

vii. Erleuchtungsfaktor Gleichmut (upekkhā sambojjhanga)

Gleichmut ist hier der ausbalancierte Zustand des Geistes, der durch viel Achtsamkeit auf die Dinge, wie sie wirklich sind, entsteht.

Die Bedingungen zu seinem Entstehen sind:

• Losgelöste Haltung zu Lebewesen • Losgelöste Haltung zu Dingen

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• Vermeiden von egoistischen Menschen • Sich zusammentun mit losgelösten Menschen • Neigung zur Entwicklung dieses Faktors

7. Sich nicht über den Körper und die Gesundheit während der Meditation sorgen

Wenn sich die Meditierenden einer langen intensiven Praxis unter-ziehen, ist es nur wahrscheinlich, dass sie eines Tages eine Krankheit be-fällt. Zu oft benutzen wir das als Entschuldigung um mit dem Meditieren aufzuhören. Wenn wir verstehen, dass Krankheit und Tod unvermeidlich sind, dann gibt es keinen Grund zu stoppen. Wir sollten bis zu unserem letzten Atemzug praktizieren. Es gab viele, die den Schmerz beobachteten und beim Tod die erhabene Verwirklichung erreichten. Es gibt auch immer wieder solche, die von ihrer Krankheit genesen.

Natürlich bedeutet das nicht, dass wir keine medizinische Hilfe brau-chen. Es bedeutet nur, dass wir nicht mit der Praxis aufhören sollten.

8. Das Überwinden des Schmerzes mit Hilfe von Energie

Schmerz und Krankheit kommen gewöhnlich zusammen. Die Ursache ist aber eine andere als das lange Sitzen in einer Körperhaltung. Erhöhte Konzentration kann auch einen leichten Schmerz groß erscheinen lassen. Auch Hunger wird als Form von Krankheit betrachtet. Wir können diesen körperlichen Schmerzen nicht vollständig entkommen und deshalb müssen wir ihnen früher oder später gegenübertreten. Um sie achtsam zu beobach-ten, brauchen wir eine Menge Energie. Wenn unser Geist stark genug ist, können wir den Schmerz überwinden.

9. Nicht auf halbem Wege vor dem Ziel aufhören

Das letzte Ziel ist die komplette Ausrodung der Befleckungen, die Arahantschaft. So lang wir sie nicht erreicht haben, kann Leiden noch schrecklich tyrannisch sein.

Die Erreichung dieses Zieles wird wahrscheinlich für die meisten eine ganze Weile dauern. Nimmt man die Haltung „nicht auf halbem Wege stoppen“ ein, erlaubt dies dem Meditierenden sich so lange zu bemühen, wie er es aushalten kann.

Andere Möglichkeiten die Fähigkeiten zu schärfen oder zur Reife zu bringen

i. Eine größere Anzahl an Objekten haben

Jedes Objekt bringt seine Eigenheiten mit sich. Ein bestimmtes Objekt kann für gewisse Temperamente passender sein und man wird durch sie auch in anderen Techniken und anderen Aspekten des Geistes trainiert. Wenn wir immer am selben Objekt kleben, wird unsere Übung reduziert und unflexibel. Wir werden niemals wissen, ob ein anderes Objekt güns-tiger ist. Deshalb ist es gut, wenn wir zuerst eine starke Basis entwickeln (z. B. in der Achtsamkeit auf den Körper) und dann mehr und für längere

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Zeitperioden andere Objekte betrachten (z. B. Gefühle, Geist und geistige Zustände). Das ermöglicht uns unabhängig vom Objekt tiefere Praxisstufen zu erreichen. Diese Erhöhung der Flexibilität hat eine günstige Wirkung auf die Einsichtsreifung.

ii. Samatha-Meditation

Obwohl sich reine Ruhemeditation von Einsichtsmeditation unterschei-det, kann sie definitiv von Hilfe sein. Jemand der starke Konzentration (samatha) hat, kann schon längere Zeit sitzen und tiefe Konzentrations-stufen erlauben das Entstehen von Einsicht. Obwohl Einsicht auch mit reinem Einsichtsvehikel möglich ist, ist sie mit starker Konzentration ein-facher zu erlangen. Außerdem haben die verschiedenen Objekttypen in der Samatha-Meditation ihre eigenen speziellen Effekte auf die Leute. Beispielsweise sind einige Objekte besonders dafür geeignet gewisse Be-fleckungen zu behandeln. Jemand, der oft sehr wütend ist, wird es einfacher haben, wenn er vorher Liebende-Güte-Meditation gemacht hat. Die Lie-bende-Güte-Meditation kann auch den eigenen moralischen Zustand stärken, wenn er schwach ist.

Ein anderes Beispiel ist, dass jemand mit wenig Glauben - nach der Be-trachtung der drei Kleinodien - mehr Vertrauen und Begeisterung hat.

Ein anderer zu beachtender Punkt ist, dass die meisten der buddhis-tischen Samatha-Meditationen sich mit der Einsichtsmeditation schnell ver-binden lassen. Das Samatha-Objekt kann schnell zum Vipassanā-Objekt umgeschaltet werden. Dazu ist nur ein Umschalten der Aufmerksamkeit notwendig.

Ein Beispiel ist das Wind-Kasina (ein kasina ist eine reine äußere Vor-richtung, um die Konzentration des Geistes bis zur vierten Vertiefung zu produzieren und zu entwickeln). Das erste geistige Objekt (uggaha nimitta), das Wind-Kasina, ist für einen Anfänger kaum vom Windelement der Ein-sichtsmeditation zu unterscheiden.

Ein anderes Beispiel. Ein klarer Geist, der durch Meditation auf das Licht-Kasina entwickelt wurde, kann bei den Beobachtungen der Ein-sichtsmeditation helfen.

Außerdem können einige Meditationsobjekte gewisse geistige Zustände produzieren, die das Entstehen von Einsicht katalysieren. Es ist aus den Texten bekannt, dass nach der Begegnung mit gewissen Objekten, die rein konzeptueller Natur sind, Einsicht aufsteigen kann. Zum Beispiel kann das Betrachten einer Leiche Ablösung, die genauso stark wie das Wissen der Ablösung ist, hervorrufen.

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Die Fragen bezüglich der Samatha-Meditation sind hier:

• die notwendige Zeit um eine befriedigende Stufe der Konzentration zu erreichen und ob man in der Lage ist sie zu erhalten.

• Das Geschick beim Umschalten auf Einsichtsmeditation

Der Zeitfaktor ist allerdings ein Problem. Da alles unsicher ist und die Zeit zu schnell verrinnt, müssen wir uns beeilen. Ein anderes Problem ist die mangelnde Verfügbarkeit von erfahrenen und qualifizierten Lehrern.

iii. Durch Entschlüsse und Ambitionen

Die Kraft durch Vorsätze und Entschlüsse ist nicht unbekannt. Durch Fassen von Vorsätzen wird der Geist und werden die geistigen Gestal-tungen und Energien dazu angespornt dieses Ziel zu erreichen.

Es ist eine Äußerung des Willens, der wichtigste geistige Faktor. Es ist wie das Füttern eines Computerprogramms, um in eine gewisse Richtung zu gehen.

Das Fassen von Vorsätzen erlaubt uns Kontrolle über Dinge auszuüben, die wir ohne sie nicht kontrollieren könnten. Der Geist ist sehr mächtig und kann Wunder bewirken. Konzentration ist die Quelle der Kraft und der Vorsatz ist die Kraftleitung.

Viele kommerzielle Methoden - um weltliche Ziele zu erreichen -benutzen Vorsätze wie positives Denken zum Beispiel. Auch die übernatür-lichen Kräfte werden ähnlich erzeugt. Hier sollten wir uns aber mit dem reinen Ziel der Einsichtsmeditation beschäftigen.

Wenn man weit entfernte Vorsätze fasst, muss man Folgendes bedenken:

• Die Reinheit des Motivs. Es darf nicht durch Gier, Hass oder Ver-

blendung in irgendeiner Weise beeinflusst sein. Sonst könnten unan-genehme Resultate entstehen.

• Präzise und klare Worte. Ohne sie werden die Resultate unklar oder

auch anders als man wollte. Es ist wie das Füttern eines Computers mit einer undeutlichen Anfrage. Mir ist ein unglückseliges Beispiel begegnet, wo ein Meditierender für eine ganze Weile aus diesem Grund die Kontrolle über seinen Geist verloren hat.

Einmal fragte ich meinen Lehrer, was der beste Vorsatz für einen Meditierenden ist. Die Antwort war, dass Meditation Läuterung des Geistes ist und es gut wäre Vorsätze zu machen, die dies im Hinterkopf behalten.

Man kann z. B. nach verdienstvollen Taten wie Almosengeben sich Vorsätzen bedienen.

Durch dieses Almosengeben - möge ich das Gift zerstören.

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Durch das Beachten dieser moralischen Vorschriften - möge das nibbāna realisiert werden. Durch diese Meditation - möge Pfad und Fruchtwissen hervorgerufen werden. Diese Vorsätze reflektieren den Willen, alle unsere verdienstvollen

Taten so zu kanalisieren, dass daraus Befreiung von allen Leiden resultiert. Manchmal habe ich beobachtet, dass Meditierende mit noch unsicherem

Ziel durch Fassen solcher Vorsätze eine klarere und bessere Meditations-praxis haben.

Möge ich eifrig in der Praxis der Einsichtsmeditation sein. Durch meinen Eifer in der Praxis möge die Einsicht, die zum kompletten Auf-hören des Leidens führt, schnell und klar entstehen.

Dann gibt es auch noch die Praxis, in der man den Vorsatz fasst jedes

Einsichtswissen klar zu entwickeln: Möge das Wissen des Entstehens und Vergehens aufkommen. Dies kann man natürlich nur machen, wenn man tatsächlich durch die

vorherigen Stufen gegangen ist. Wenn man diese Weisheit schon erreicht hat, hilft es einem darin zu reifen und sie zu etablieren.

Die Lehrrede Meghiya

In der Meghiya-Lehrrede nennt der Buddha dem Meghiya Vorausset-zungen, die zur Reifung eines Geistes führen. Zuerst nennt der Buddha fünf Voraussetzungen:

1. Ein Mönch hat einen guten Freund, einen guten Begleiter und Kame-raden.

2. Ein Mönch ist tugendhaft und hält sich an die Gebote. 3. Er führt Gespräche, die ernst sind und das Herz öffnen: Gespräche

über Bescheidenheit, Zufriedenheit, Abgeschiedenheit, Einsamkeit, Energieeinsatz, Tugend, Konzentration, Wissen, Befreiung, Wissen und Einsicht der Befreiung. Solche Gespräche erlangt ein Mönch leicht und ohne Schwierigkeiten.

4. Ein Mönch strengt sich an heillose Eigenschaften abzulegen, Rechtschaffenheit anzunehmen, beharrend und mit großer Energie. Er drückt sich nicht vor der Bürde der Rechtschaffenheit.

5. Ein Mönch besitzt Wissen und ist mit ihm ausgestattet. Er versteht das Entstehen und Vergehen. Edel durchschaut er den Weg, der zur Zerstörung des Leidens führt. Wenn diese fünf Voraussetzungen er-füllt sind, müssen weitere vier Dinge entwickelt werden:

i. Betrachtung über die Unschönheit um die Begierde abzulegen. ii. Betrachtung über die liebende Güte um Übelwollen abzulegen.

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iii. Achtsamkeit auf die Ein- und Ausatmung um Ablenkung zu be-enden. iv. Wahrnehmung der Vergänglichkeit entfalten um den „Ich-bin-Dünkel“ auszulöschen.

Die Sieben Punkte

In der obengenannten Lehrrede sagte der Buddha, dass ein Mönch, der in „Sieben Punkten“ geschickt ist und auf drei Arten untersucht, ein Ver-wirklichter genannt wird. „Diese Sieben Punkte“ sind das vollständige Verstehen von:

1. Der Natur der fünf Daseinsgruppen (Körperlichkeit, Gefühle, Wahr-nehmung, Gestaltungen und Bewusstsein)

2. Ihr Entstehen (auf Grund welcher Bedingungen) 3. Ihr Aufhören (auf Grund welcher Bedingungen) 4. Der Weg zu ihrem Aufhören (der edle achtfache Pfad) 5. Die Zufriedenheit (das daraus abgeleitete Glück) 6. Das Elend (das davon abgeleitete Leiden) 7. Das Entkommen (das ist das Fortlegen der Begierde nach dem

Leiden)

Das „Untersuchen auf drei Arten“ bezieht sich auf die Untersuchung der Natur der:

1. Elemente (dhātu) 2. Grundlagen (āyatana) 3. Bedingten Entstehung (pa)iccasamuppāda)

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12. Arten der Konzentration Wenn ihr genug Erfahrung in grundlegenden Meditationsübungen habt

und gelernt habt, wie ihr die fünf geistigen Fähigkeiten ausbalancieren könnt, dann werdet ihr langsam anfangen tiefe Konzentration zu ent-wickeln.

“Konzentration“ beinhaltet tatsächlich eine ganze Reihe von Erfah-rungen. Im Pali wird Konzentration manchmal als ekkaggata (Einspitzig-keit), als samādhi (Konzentration) und als jhāna (Vertiefung) bezeichnet.

Damit wir Konzentration entwickeln können, müssen wir wissen, worüber wir sprechen. Wir fangen an, indem wir uns zunächst näher mit der Achtsamkeit beschäftigen.

Am Anfang eines Retreats müssen wir verstehen lernen, was Achtsam-keit und was Nicht-Achtsamkeit bedeutet. Nicht-Achtsamkeit bedeutet die Abwesenheit klarer Bewusstheit. Achtsamkeit bedeutet die Anwesenheit von klarer Bewusstheit. Achtsamkeit heißt nicht einfach “wissen“, sondern es bedeutet etwas mit klarem Geist zu wissen.

Nach einigen Praxistagen werdet ihr in der Lage sein den Unterschied zwischen beiden zu erkennen. Wenn euer Geist nicht achtsam ist, dann wandert er herum, grübelt und befindet sich in einem schrecklichen Zu-stand. Wenn euer Geist achtsam ist, ist er klar und ihr seid in der Lage den Objekten zu folgen.

Als Nächstes ist da die Frage, wie sehr achtsam ihr seid. Es ist nicht schwierig zwischen starker Achtsamkeit und Nicht-Achtsamkeit zu unter-scheiden. Man muss jedoch zwischen subtiler Achtsamkeit und Nicht-Achtsamkeit unterscheiden können. Die Situation, in der diese Frage aktuell wird, tritt in feineren und tieferen Stadien der Konzentration auf.

Wenn man einmal gelernt hat, zwischen dem Vorhandensein und der Abwesenheit von Achtsamkeit zu unterscheiden, dann besteht der nächste Schritt darin Konzentration und Achtsamkeit auseinander zu halten. Konzentration meint lediglich, dass man auf einen Punkt ausgerichtet ist. In einem allgemeineren Sinne spricht man auch davon, den Geist auf ein Objekt gerichtet zu halten. Obwohl es so ist, dass Konzentration und Acht-samkeit gemeinsam erscheinen können, muss es jedoch nicht so sein.

Sich zu konzentrieren bedeutet also, den Geist auf ein Objekt zu richten. Wenn euer Geist beispielsweise bemüht ist, dem „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke zu folgen, dann ist dies Konzentration, bzw. Gerichtet-Sein auf einen Punkt. Oder wenn ihr versucht die Schmerzen zu beobachten und darauf gerichtet bleibt, dann ist dies Konzentration auf den Schmerz. Acht-samkeit ist jedoch, wie ihr dies tut.

Richtige und falsche Konzentration

Ihr könnt euren Geist auf ein Objekt in ruhiger und stabiler Art gerichtet halten oder an ihm in besessener Art und Weise haften. Wenn ihr es auf die besessene Weise tut, also an dem Objekt sehr festhaltet und nicht gewillt seid es gehen zu lassen, ist dies die falsche Art der Konzentration oder falsche Konzentration. Diese Konzentration kommt mit der Anhaftungs-

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befleckung daher. Aber wenn ihr euren Geist richtig auf das Objekt richtet, also mit einem klaren und friedvollen Geist, mit einer Haltung, die auch sehr fest sein kann, dann ist es „Rechte Konzentration“, Konzentration, die von Achtsamkeit begleitet wird. Dies ist der wichtige Unterschied. Ihr müsst sicher sein richtige und nicht falsche Konzentration zu üben.

Es ist außerordentlich wichtig, dass wir am Anfang, wenn wir Konzen-tration entwickeln, gleich „Rechte Konzentration“ entwickeln, Konzen-tration mit klarer Bewusstheit oder reinem Geist. Wenn ein reiner Geist konzentriert ist, wird er stark und stabil und machtvoll. Genauso ist es, wenn reines Licht auf einen Punkt konzentriert wird, so wird es kraftvoll und stark und ermöglicht uns eine Menge an Dingen zu sehen.

Wichtige Aspekte der Konzentration

1. Ruhe

Ein besseres Wort, das man für Ruhe benutzen kann, ist Friedlichkeit. Der Geist ist friedvoll und ruhig, weil er sehr klar und frei von Befleckun-gen ist.

Wir müssen besonders darauf achten, dass wir während unserer Be-mühung uns zu konzentrieren immer zuerst achtsam sein müssen. An erster Stelle steht die klare Bewusstheit. Sorgt euch nicht so sehr darum, ob ihr euch zu wenig konzentriert. Interessiert euch eher dafür kontinuierliche Achtsamkeit aufzubauen. Kontinuierliche Achtsamkeit bringt den Geist in einen noch heilsameren und reineren Zustand. Er wird dann geschmeidig, biegsam und fügsam. Danach könnt ihr versuchen ihn weiter zu tieferer Konzentration zu bewegen.

2. Das Wegfallen der gröberen mentalen Faktoren

Dies betrifft diejenigen, die fortgeschrittene Formen der Konzentration praktizieren (jhāna). Im Prozess sich entwickelnder Konzentration ist es so, dass die gröberen Formen der Aktivität wie das Aufgreifen von Gedanken (vitakka) oder das Verweilen bei den Gedanken (vicāra) wegfallen. Wenn dies geschieht, wird der Geist sehr fein und friedvoll.

3. Einspitzigkeit

Nachdem man Abstand von den Befleckungen erlangt hat, entsteht Ein-spitzigkeit des Geistes. Dies bedeutet, dass der Geist an ein einziges Objekt geheftet wird, ohne dass man es ihm erlaubt hin- und herzuwandern. Geht man auf diese Weise vor, wird der Geist noch feiner und friedvoller. Seid ihr in der Lage dies zu tun, wird der Geist ausgeglichen und ruhig.

Zwei verschiedene Wege

Welchen Weg ihr einschlagen werdet, hängt davon ab, ob ihr eher die Betonung auf Konzentration oder auf Achtsamkeit legt. Konzentration heißt den Geist auf das Objekt gerichtet zu halten. Achtsamkeit heißt sorgfältig die Natur des Objektes zu beobachten. Hierin liegt der Unterschied.

Stellt euch zum Beispiel vor, dass ihr euch einen Spiegel vor das Ge-sicht haltet und in den Spiegel schaut. Wenn ihr das lange tut, dann bedeutet

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dies, dass ihr euch konzentriert. Haltet ihr eure Praxis mehr auf die Konzen-tration ausgerichtet, dann wird eure Meditation sich mehr in Richtung Ruhe entwickeln, was euch in tiefe Stadien der Konzentration führen wird.

Ist es jedoch so, dass ihr euch eher darauf verlegt die Charakteristika des Spiegelbildes zu studieren, dann praktiziert ihr Achtsamkeit. Ihr seht viel-leicht eine lange Nase, einen Schnurrbart, Zähne eines Bockes, eine Glatze usw., dann realisiert ihr, dass dies das Gesicht eines Dämonen ist. Ihr fragt euch vielleicht, was das sei. Das Gesicht eines Menschen? Dies bedeutet, dass ihr gründlich eine geistige Notiz von all diesen Eigenheiten gemacht habt, die ihr im Spiegel gesehen habt. Das ist Achtsamkeit.

Habt ihr all diese Details in euch aufgenommen und verstanden, was sie im Wesentlichen bedeuten, dann wird aus Achtsamkeit Weisheit. Wenn ihr die Betonung auf Achtsamkeit legt und deshalb sorgfältig mit Achtsamkeit die Natur der Objekte beobachtet, also all die verschiedenen erscheinenden Prozesse, dann wird der Geist Fortschritte auf dem Weg der Einsicht (vipassanā) erlangen.

Die zwei verschiedenen Pfade, die ihr nutzen könnt werden klar, wenn ich euch etwas über ānapānasati erzähle. Einige Leute machen ānapānasati, indem sie die Ein- und Ausatmungsempfindung an der Nasen-spitze zählen, während sie sich auf sie gleichzeitig konzentrieren. Dabei wird der Geist sehr friedvoll. Wenn sich die Konzentration im weiteren Verlauf vertieft, dann mag sich diese Empfindung wie Baumwolle an-fühlen. Ihr beobachtet dann die Empfindung mit etwas Achtsamkeit, jedoch liegt die Betonung mehr auf Konzentration. Ihr verweilt dann dort für längere Zeit, weil der Geist so friedliebend und ruhig ist. Wenn sich der Geist im weiteren Verlauf immer mehr in das Objekt vertieft, wird er selbst und das Objekt immer feiner und ruhiger.

Wenn jemand jedoch von diesem Punkt an vipassanā praktizieren möchte, dann muss man nicht nur den Geist ruhig halten, sondern man muss auch den Geist dazu bringen all die Empfindungen, die an der Nasen-spitze auftauchen klar zu registrieren. In diesem Fall wird man viele Pro-zesse und Veränderungen bemerken, insbesondere jene, die mit dem Hitze-Element zusammenhängen, welche entstehen und wieder vergehen.

Auf diese Weise werdet ihr zwar nicht in die reinen Ruhezustände der Vertiefungen gelangen, aber ihr werdet auf dem Einsichtspfad voranschrei-ten.

Selbst bei der Betrachtung des Hebens und Senkens der Bauchdecke tendieren einige Leute dazu Ruhemeditation zu machen. Dies liegt daran, dass sie nicht die achtsame Beobachtung betonen. Sie betonen vielmehr das Fixieren des Geistes und folgen dieser Fixierung beim Heben und Senken.

Gewöhnlich sind die Veränderungen, die bei der Betrachtung des Hebens und Senkens der Bauchdecke als Meditationsobjekt auftreten, klarer und gröber. Deshalb werden sie für angemessenere Objekte der Einsichts-entwicklung gehalten. Aber selbst dann passiert es manchmal, dass Meditie-rende die Veränderungen nicht notieren. Dies liegt daran, dass die Entwick-lung der Beobachtung außerordentlich schwierig ist und man viel Energie dafür braucht. Deshalb konzentrieren sie sich nur und fühlen sich friedvoll.

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Selbst wenn sie in der Lage sind ein paar Veränderungen wahrzu-nehmen, so ist dies allein nicht ausreichend. Wenn die Achtsamkeit nicht ausreicht und stattdessen Konzentration entwickelt und betont wird, er-reichen diese Meditierenden nur eine Form der Ruhemeditation.

Die charakteristische Natur der Konzentration bei der Samatha- und Vipassanā-Meditation

Sowohl Ruhe- als auch Einsichtsmeditation haben die Entwicklung von Konzentration als Ziel. Bei beiden geht es um die Entwicklung von Ein-spitzigkeit oder um Vertiefung in die Objekte, da bei beiden der Geist für lange Zeit an die ihn umgebenden Objekte geheftet wird um ihn stark werden zu lassen. Sie sind beide jedoch nicht dasselbe.

Sich in Konzentration zu üben ist, als wenn man versucht nicht von der Straße abzukommen. Wenn ihr auf der Straße bleibt und nach Norden fahrt, werdet ihr eine bestimmte Szene sehen. Wenn ihr nach Süden fahrt, seht ihr eine andere Szenerie. Ihr bleibt jedoch immer auf der Straße.

Verschiedene Vorhaben werden euch auch verschiedene Ziele erreichen lassen. Lasst uns kurz den Unterschied der beiden Meditationsarten zu-sammenfassen. Das Hauptziel der Samatha-Meditation ist es „Rechte Konzentration“ zu entwickeln, Konzentration mit einem reinen Geist. Als Ergebnis gelangen wir in tiefe Konzentrationsstadien oder Vertiefungen (jhānas).

Wenn diese weiter entwickelt werden, können übernatürliche Kräfte, wie Levitation, Gedankenlesen, Erinnerung an vergangene Leben, usw., entstehen. Auf der letzten Stufe werdet ihr als Wirkung in den Brahma-Bereichen wiedergeboren werden. Diese Sphären befinden sich oberhalb der sinnlichen Himmelsbereiche, sie sind sehr hohe und erhabene Formen der Existenz.

Bei der Einsichtsbetrachtung (vipassanā) wird Konzentration benutzt um Verstehen zu entwickeln. Ein Verstehen, das die wahre Natur der Welt erkennt: die Natur des Geist-Körper-Prozesses. Alles in der Welt besteht aus Geist-Körper-Prozessen. Wenn man ihre wahre Natur versteht, dann realisiert man, dass sie veränderlich, unzulänglich und ohne Selbst sind. Wenn man schließlich all dies überschreitet, wird man eins mit dem, was nicht zusammengesetzt ist, dem sich nicht verändernden, nicht bedingten oder wie wir auch sagen, dem ewigen Frieden. In diesem Fall überwinden wir alle Formen des Leidens für immer.

Erstens seht ihr, dass das Ziel verschieden ist. Zweitens ist auch das Objekt verschieden. Bei der Samatha-Betrachtung ist das Objekt ein Konzept, welches der Geist sich erdacht hat. Es ist nicht real, es ist etwas, das durch den Geist erfunden wurde.

Bei der Einsichts-Betrachtung jedoch ist das Objekt real, da es ein direkt erfahrbarer Geist-Körper-Prozess ist. Der Geist muss sich die „Wirklich-keit“ nicht erst ausdenken. Sie ist bereits gegeben.

Es gibt also zwei verschiedene Klassen von Objekten. Und wenn ihr euch konzentriert, dem Objekt folgt und darin verweilt, sind die benötigten Fähigkeiten unterschiedlich. In der Ruhemeditation z. B. ist die hauptsäch-

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lich benötigte geistige Kraft einspitzige Konzentration, die von Achtsamkeit unterstützt wird. Wohingegen bei der Einsichtsmeditation der am meisten benötigte Faktor die Achtsamkeit ist. Der Grad der Energie oder der An-strengung ist ähnlich der Ruhemeditation. Lasst uns auf einige Beispiele schauen um dies zu illustrieren.

Es gibt verschiedene objektspezifische Ruhemeditationsarten. Zum Bei-spiel die Betrachtung der „Liebenden Güte“. Wenn ihr diese praktiziert, denkt ihr an jemanden Bestimmten. Diese Person ist jedoch ein Konzept, lediglich ein Gedanke. Ihr richtet also Liebende Güte auf ein Konzept aus.

Ein anderes reines Objekt der Ruhemeditation ist die Visualisierung, wie sie etwa bei den Kasina-Übungen praktiziert wird. Kasinas sind visuali-sierte Kreise wie z. B. das Licht-Kasina, wenn ihr Kreise aus Licht visuali-siert. Ihr wisst sehr wohl, dass es der Geist war, der diese Kreise erschaffen hat und sie aufrechterhält. So ist dieser Kreis aus Licht lediglich ein geist-erzeugtes Objekt. Es ist, als wenn ihr ein Bild in eurem Geist erzeugt. Wenn man in der Lage, ist dieses Objekt im Geist zu erzeugen, es zu visualisieren und es achtsam dort zu behalten, dann besteht eine sehr ruhige und fried-volle Wahrnehmung, die aufrechterhalten wird. Haltet ihr diese Bild lange genug aufrecht, dann vergesst ihr alles um euch herum. Euer Geist wird dann sehr friedlich, ruhig und immer feiner.

Wenn eure Konzentration stärker wird und sich mehr und mehr vertieft, wird das Objekt sowohl heller als auch feiner. Es wird dann einen Zeitpunkt geben, wo der Geist und der Zirkel aus Licht eins sind. Der Moment, in dem man zwischen den beiden nicht mehr differenzieren kann, wird samādhi genannt. Dies ist eine Art der Vertiefung. Solange man noch bewusst weiß und unterscheiden kann, handelt es sich lediglich um Zu-gangskonzentration. Nur dann, wenn man den Eindruck hat in das Objekt einzutauchen, so als ob der Geist davon vollständig absorbiert werden würde, ist es mehr wie eine Vertiefung. Es handelt sich hierbei um einen sehr tiefen Zustand, in den man zu fallen scheint. Dieser Zustand ist sehr still und sehr ruhig, eine bestimmte Form des Bewusstseins.

Im Moment von samādhi gibt es keine Differenzierung von Subjekt und Objekt. Es kann als tiefer Schlaf, nein, tiefer als tiefer Schlaf beschrieben werden. Und wenn man dann daraus auftaucht, erinnert man sich an die Art dieses Zustandes, an den Zeitraum, an dem man scheinbar “unbewusst“ gewesen ist.

Vipassanā

Die Vipassanā-Objekte sind tatsächliche Realitäten wie “Heben“ und “Senken“, sie sind eine tatsächliche Empfindung wie z. B. Schmerz. Ihr müsst sie euch nicht extra ausdenken. Sie sind bereits da und ihr müsst nicht danach Ausschau halten. Und wenn ihr im weiteren Verlauf ihrer eigentlichen Natur mehr gewahr werdet, dann werdet ihr bemerken, dass sie nicht still sind, dass es sich nicht um statische Objekte handelt. Diese Objekte sind pulsierend, veränderlich, entstehen und vergehen.

Je mehr ihr euch dessen gewahr werdet, desto klarer wird die veränder-liche Natur der Objekte. Diese Objekte unterscheiden sich klar vom

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Samatha-Objekt bzw. dessen Visualisierung, durch die das Objekt ruhiger und statischer wird, je mehr man sich darin vertieft. Das Vipassanā-Objekt fluktuiert wegen seiner unbeständigen Natur. Wenn das Objekt sich ver-ändert, treten die Merkmale der Unzulänglichkeit (dukkha) und der Aspekt der Unpersönlichkeit (anattā) deutlich zu Tage. Ihr richtet dabei die Vipassanā-Konzentration auf die veränderlichen Objekte, bis die Einsicht aufsteigt. Diese Einsicht ist Verwirklichung in Hinblick auf die drei univer-sellen Daseinsmerkmale Unbeständigkeit, Unzulänglichkeit und Unpersön-lichkeit.

Wenn diese Vipassanā-Konzentration nicht auftritt, kann Einsicht nicht entstehen. Gewöhnlich ist der Ausgangspunkt die Wahrnehmung der Un-beständigkeit. Unbeständigkeit muss zuerst registriert werden, weil Un-zulänglichkeit (dukkha) nicht lediglich das ist, was wir gewöhnlich darunter verstehen, sondern weil Unzulänglichkeit Unbeständigkeit selbst ist. Das Nicht-Selbst ist Nicht-Selbst, weil es unbeständig und unzulänglich ist. Die Wahrnehmung der Unbeständigkeit ist, als wenn ihr die Natur eines sich ändernden oder bewegenden Objektes verstehen möchtet.

Was ist die Veränderung? Ihr müsst in der Lage sein, den Geist auf die Veränderungen zu richten. Die Veränderung ist nichts Statisches. Sie ist etwas, das ständig in Bewegung ist. Also muss der Geist der momentanen Veränderung genau folgen und in ihr ganz vertieft werden. Und weil die Achtsamkeit so klar und präzise ist, versteht sie die Natur des Veränder-lichen, weil sie eins damit geworden ist.

Wenn ihr der Veränderung nicht folgen könnt und nicht eins mit ihr seid, wie könnt ihr dann wissen, was sie ist? Wie könnt ihr sehen, was es mit ihr auf sich hat?

Die Erfahrung der verschiedenen Vipassanā-Stufen

Die Natur der Vipassanā-Konzentration in der Dhamma-Praxis ist ein-zigartig. Ein anderer Weg diese Konzentration zu beschreiben besteht darin, Begriffe der Erfahrung zu benutzen. Diese Art der speziellen Konzentration kann in drei Stufen aufgeteilt werden.

1. Bemühung

Bemühung in dem Sinne, dass ihr versucht Achtsamkeit aufzubauen um eine Stufe der Wahrnehmung zu erreichen, in der ihr dem Objekt folgen könnt.

Sagen wir einmal, ihr betrachtet das „Heben“ und „Senken“ eurer Bauchdecke. Ihr seid euch des „Hebens“ und „Senkens“ der Bauchdecke bewusst. Dann hört das „Heben“ und „Senken“ auf, ihr haltet auch an, dann macht ihr weiter und ihr haltet erneut an. Manchmal gibt es beim „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke keine Achtsamkeit, sondern nur Anspan-nung. Dann müsst ihr erst einmal entspannen und wieder anfangen. In diesem Sinne ist es Bemühung.

Das „Sich-Durchkämpfen“ ist die erste Etappe, ein schwieriger Schritt, weil die Konzentration nur schwach ist. Bemühung ist vorbereitende Praxis. Jede Konzentration, die dem „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke folgt,

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ist lediglich vorbereitende Konzentration. Wenn man dies genug übt, wird die nächste Stufe erreicht, bei der die Konzentration ausreichend Schwung hat um von alleine voranzuschreiten.

2. Die Stufe des Segelns

Die zweite Etappe, die Stufe des Segelns, ist einfacher, da es euch so vorkommt, als wärt ihr auf einem Boot, das mit dem Strom fließt. Die Konzentration ist auf dieser Stufe so entwickelt, dass sie ein Eigenleben zu haben scheint. Sie bewegt sich wie von allein. Das ist genauso, als wenn ihr Liebende Güte mit einem Objekt, auf das ihr eure Liebe verströmt, prakti-ziert. Die Liebende Güte fließt und fließt wie in Wellen.

Beim Beobachten der Bauchdeckenbewegung fließt die Achtsamkeit, nachdem sie sich zur kontinuierlichen Achtsamkeit entwickelt hat, mit dem „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke mit. Ist das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke lang, dann fließt eure Achtsamkeit in langen Wellen vom Anfang bis zum Ende.

Ist es kurz, fließt eure Achtsamkeit in kleinen Wellen vom Anfang bis zum Ende mit. Wenn das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke sich in springenden Bewegungen entwickelt, dann springt die Achtsamkeit mit. Ihr müsst keine spezielle Anstrengung machen, da der Geist auf der Welle mit-segelt.

3. Das Gefühl abzuheben

Die dritte Stufe ist das Gefühl einen Abflug zu machen, zu fliegen und zu verschwinden, bzw. wegzusinken und zu verschwinden. Gewöhnlich macht ihr zuerst die Erfahrung abzuheben und dann wegzusinken. Dies ist so, weil der Schwung so glatt geworden ist, so schnell, so leicht, sodass sehr viel Freude aufkommt. Sehr viel innerer Friede steigt auf. Alles ist sehr leicht geworden.

Als Ergebnis bewegt der Geist sich auf ein subtileres Objekt zu. Je sub-tiler das Objekt wird, in desto tiefere Stadien bewegt sich der Geist. Wenn ihr die Konzentration auf eine höhere Stufe verschiebt, ist es, als würde der Geist einen Flug machen. Der Geist kann dabei so fein werden, dass er manchmal so wirkt, als wäre er unbewusst. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Stadium der Konzentration mit einem sehr feinen und ent-wickeltem Objekt. Manchmal, insbesondere wenn das Objekt etwas gröber ist, fühlt sich die Vereinigung des Geistes mit dem Objekt wie ein Hinein-sinken an. Es ist so, als würdet ihr in einen tiefen Schlaf fallen.

In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass euer Bewusstsein und eure Kennt-nis vorhanden sind, nur mit dem Unterschied, dass sie anders gelagert sind – sie sind tiefer. Auf diese Art hat das “Segeln“, bzw. hat die fließende Phase viel Ähnlichkeit mit der Zugangskonzentration.

Das “Fliegen und Verschwinden“ oder “Einsinken und Verschwinden“ (Ich sage nicht, dass dies tatsächlich stattfindet) haben viel Ähnlichkeit mit dem, was wir Vertiefung nennen.

Solche Konzentration während der Meditation baut einen Schwung auf, die sich immer mehr zum Objekt hin bewegt. Wo ihr letztlich hinkommt, hängt von eurer Praxis ab. Wenn ihr z. B. Metta übt, ist es der Schwung der

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Liebenden Güte, die weiterfließt, bis sie sich zu feineren Stadien entwickelt und sich schließlich mit dem Objekt vereint.

Wenn ihr an verschiedene andere Dinge denkt oder verschiedene Stim-mungen habt, dann werden sich der Schwung und das Objekt nicht so charakteristisch entwickeln. Es ist schwierig, diesen Grad an Konzentration zu bekommen. Und wenn ihre in tiefere Stadien kommt, dann könnt ihr davon ausgehen, dass dies nur mit Achtsamkeit möglich ist.

Wenn ihr Liebende-Güte-Meditation übt, wird sie sich nicht in Einsicht verwandeln können, weil die gesamte Energie Metta-Energie ist und nicht Energie, die für die Einsicht in die Wirklichkeit notwendig ist. Die Metta-Energie bewegt sich ständig zu der Person, der ihr sie sendet. Ähnlich ist es mit Visualisationen. Die Energie bewegt sich kontinuierlich auf das visuali-sierte Objekt zu.

Das kontinuierliche Notieren um die Realität zu erfahren

Wenn ihr die Erfahrung der Realität mit ihren drei charakteristischen Eigenschaften (Unbeständigkeit, Unzulänglichkeit und Nicht-Selbst) und diejenige von nibbāna machen möchtet, dann müsst ihr von Anfang an das Notieren auf die Natur der Wirklichkeit richten. Die entsprechende Schwungkraft wird dann aufgebaut. Dies ist der Grund, warum ihr jeden Geist-Körper-Prozess beobachten müsst, vom Aufwachen an am Anfang des Tages bis zum Zeitpunkt, an dem ihr euch zum Schlafen legt und das nicht nur während der Geh- und Sitzmeditation, sondern bei jeder täglichen Aktivität wie beispielsweise Essen oder Trinken.

All dies sind Geist-Körper-Prozesse. Notiert sie, beobachtet und konzentriert euch so auf sie, dass ihr sie kontinuierlich beim Entstehen und Vergehen notieren könnt. Selbst beim Sitzen, auch wenn viele Objekte er-scheinen (all dies sind Geist-Körper-Prozesse), betrachtet ihr lediglich, wie sie entstehen und wieder vergehen.

Wenn ihr wiederholt durch Beobachtung den Prozess betrachtet, wird der Geist sich mehr und mehr auf die Natur der Veränderung konzentrieren. Letztendlich werdet ihr euren Geist auf den Wechsel des Entstehens und Vergehens von Körper und Geist (nāma rūpa) richten. Wenn ihr das nicht tut, wird der Geist nicht fließen und geeint sein können. Er wird sich nicht auf die Veränderlichkeit konzentrieren. Und wenn er sich nicht mehr auf die Veränderung konzentrieren kann, könnt ihr auch keine Verwirklichung hervorbringen.

Die Einzigartigkeit der Vipassanā-Konzentration

Die meisten Konzentrationsarten sind etwas mehr als nur Ruhe. Diese Zustände sind friedlich, sie sind kraftvoll. Sie sind sehr nützlich, führen aber nicht in die Verwirklichung, weil diese Form der Konzentration schlichtweg nicht dorthin führt. Vipassanā-Konzentration ist einzigartig. Man trifft sie selten an. Und es ist nicht leicht sie zu entwickeln, da sie die sich verändernden Objekte beobachtet. Es ist einfacher, sich auf stille statt auf wandelnde Objekte zu konzentrieren.

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Wenn ihr euch den Verlauf der Veränderungen des Geist-Körper-Prozesses anschaut, dann ist es nicht vermeidbar, dass ihr unbequemen und bedrückenden Dingen begegnet.

Veränderung assoziiert man normalerweise mit bedrückender Er-fahrung. Wenn etwas sehr ruhig und still ist, scheint es das Beste zu sein, wenn es auf diese Weise bestehen bleibt. So wird die Veränderung aller-dings nicht offenbar.

Aber wenn die Veränderung beginnt, zu offensichtlich zu werden, dann fängt sie an beunruhigend zu werden und ist daher auch ein Aspekt der Un-zulänglichkeit, des Leidens. Ein gutes Beispiel ist die Vibration. Wenn Vibration sehr intensiv ist, dann werdet ihr sie als störend empfinden. Falls Vibration sehr fein ist, scheint sie eher friedlich zu sein. Wenn ihr also an-fangt die Veränderung zu betrachten, so könnt ihr es nicht vermeiden Wahrnehmungen der Unzulänglichkeit und der Bedrückung wahrzu-nehmen. Daher ist es nicht besonders angenehm mit der Vipassanā-Konzentration anzufangen, da hier das Wesen der Veränderung deutlich zu Tage tritt.

Dessen ungeachtet sollte sie praktiziert werden. Sonst kann nibbāna nicht erfahren werden. Ihr müsst dies klar verstehen und dazu noch die ent-sprechende Ausdauer haben. Sonst werdet ihr schließlich wie die Leute enden, die sagen: “Oh, Ich mache gar keinen Fortschritt. Alles, was ich be-komme ist mehr und mehr Leid. Ich sollte lieber schlafen gehen.“

Diejenigen, die trotz dieser Empfindungen genug Ausdauer hatten, kennen die Bedeutung und den Zweck der Vipassanā-Meditation.

Jhāna-Stufen in der Samatha-Meditation

In der Samatha-Meditation werden in den unterschiedlichen jhānas (Vertiefungen) verschiedene Erfahrungen gemacht. Angefangen mit der Zugangskonzentration sind das erste, das zweite bis hin zum achten jhāna (Vertiefungen) eine Art eingefrorener Zustand des Geistes. Der Geist ist eingefroren und mit dem Objekt vereint.

Er geht dabei in immer tiefere Stadien. Normalerweise beschreiben es die Leute als ein Eintauchen in die Leere, da das Objekt so fein ist, dass es einem erscheint als wäre man in einem tiefen Schlaf.

Am Anfang werdet ihr den geistigen Zustand in den Vertiefungen nicht genau erkennen. Aber mit zunehmender Erfahrung werdet ihr, nachdem ihr daraus aufgetaucht seid, genau wissen, um was für einen Zustand es sich handelt. Ihr werdet dann auch die Natur des Objektes verstehen, in das der Geist vertieft ist. Dies ist etwas anderes als eine einfache Betrachtung. Hier erkennt man die Zustände, die Natur des Bewusstseins, die Geistesfaktoren und die beteiligten Faktoren der Konzentration, die als die fünf Jhāna-Faktoren bezeichnet werden.

Der erste Faktor ist Gedankenfassen (vitakka), die Kraft, die den Geist zum Objekt bringt. Der zweite Faktor ist beim Objekt verweilen (vicāra), eine Kraft, die die Aufmerksamkeit des Geistes auf dem Objekt verweilen lässt. Die Freude (pīti), die ihr durch das Objekt erhaltet, der tiefe Friede,

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das Glück (sukha) und die Konzentration (samadhi) des Geistes, die durch das Objekt entsteht.

Da sich dieses Buch eigentlich nicht mit Samatha-Meditation beschäf-tigt, werden wir diese Faktoren im Detail jetzt nicht weiter ausarbeiten.

Einsichtsstufen in der Vipassanā-Meditation

In der Vipassanā-Meditation ist die Konzentration mit verschiedenen Einsichtsstufen verbunden. Mehr Vipassanā-Konzentration wird mehr konzentrierte Bewusstheit der Wirklichkeit hervorbringen. Je konzentrierter die klare Bewusstheit ist, desto klarer wird das Verständnis der drei all-gemeinen Daseinsmerkmale. Und dadurch werden schließlich die verschie-denen fortschreitenden Stufen des Einsichtswissens erfahren. Letztendlich führt dies dann zur Erfahrung von nibbāna, dem Unbedingten.

Nun, da wir die Natur der Konzentration und die verschiedenen darin enthaltenen Konzentrationsarten erklärt haben, lasst uns auch die verschie-denen Arten der Meisterung der Vertiefungen (Jhāna-Konzentration) be-trachten.

Benötigte Fähigkeiten, um die Ruhemeditation (Samatha-Meditation) zu meistern

1. Eintritt in die Vertiefung

Die erste Fähigkeit wird als “Hinwenden” bezeichnet. Sie bringt den Geist in den Zustand der Konzentration, der dann in samādhi (jhāna) mündet. Das heißt, dass der Geist ganz und gar ins Objekt versunken ist und dort auch verbleibt.

Wir fangen damit an den Geist auf das Objekt zu richten und alles andere zu vergessen. Bleibt auf das Objekt gerichtet, indem ihr einfach euren Geist darauf gerichtet haltet. Es hört sich sehr leicht an, es könnte sich jedoch als schwierig erweisen, da der Geist der Menschen sehr kompli-ziert ist.

Es gibt einige Dinge, die uns dabei unterstützen. Das erste ist physische Bequemlichkeit. Wenn man sich körperlich gut fühlt, ist es einfacher sich zu konzentrieren. Ihr solltet es euch aber auch nicht zu bequem machen, also euch z. B. nicht aufs Bett legen. Es könnte sonst sein, dass ihr ein-schlaft, wo ihr doch eigentlich meditieren wolltet. Macht es euch bequem, aber bleibt wachsam.

Schmerz, Krankheit und viel Krach können euch ablenken und die Meditation schwierig machen. Wenn es draußen kalt ist, kann es schwer sein die Gehmeditation zu praktizieren. Stellt also sicher, dass ihr körper-liche Bequemlichkeit und einen ruhigen Platz habt.

Als zweites solltet ihr einen möglichst friedlichen Geist haben. Ihr solltet keine Sorgen haben. Sagt euch selbst, dass ihr die Dinge unvorein-genommen betrachten wollt und lasst sie los. Dies ist nicht zu schwierig. Denkt an all die Schwierigkeiten, die Menschen in Kriegsgebieten haben, von Leuten, die in Äthiopien und Somalia verhungern, bis sie sterben. Dann

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werdet ihr realisieren, dass ihr keine großen Probleme habt. Hört auf, euch über kleine, belanglose Dinge Sorgen zu machen. Schafft in euch eine Insel geistigen Friedens.

Solltet ihr von Wut oder Groll erfüllt sein, so werft diese weg, so wie ihr eine heiße Kartoffel wegwerfen würdet. Haltet nicht an dem Mist fest, der euch nur unglücklich machen kann.

Nachdem ihr inneren Frieden erlangt habt, geht gegen die unterschwel-ligen Strömungen, Tendenzen, Eigentümlichkeiten, etc. an, die ihr im Strom der Achtsamkeit erkennt. Stärkt eure kontinuierliche Achtsamkeit, indem ihr diese Dinge notiert.

Auf diese Weise macht der Geist es sich zur Gewohnheit die Dinge mit voller geistiger Klarheit zu betrachten und nicht oberflächlich über sie hinwegzugehen. Wenn der Geist regelmäßig geistig notiert und dabei mit Achtsamkeit vorgeht, dann sprechen wir davon, dass die geistige Praxis in Schwung gekommen ist. Wenn diese Schwungkraft der Achtsamkeit ent-wickelt und euer Geist friedfertig ist, dann kehrt auch in eurem Körper Frieden ein.

Alles, was ihr tun müsst, ist euren Geist auf das Objekt zu richten. Wenn ihr euch lange genug auf ein Objekt konzentrieren könnt, dann bleibt ein-fach dabei. Denkt weder an Vergangenheit noch an die Zukunft, hört ein-fach auf darüber nachzudenken, vergesst alles. Es ist wie als wenn ihr euch schlafen legt, nur mit dem Unterschied, dass ihr nicht schlaft. Ihr beobach-tet lediglich das Objekt von Moment zu Moment.

Ich versichere euch, dass ihr innerhalb einer Minute in den Zustand der Vertiefung kommen könnt. Manchmal ist es sogar weniger als eine Minute und ihr werdet in das Objekt versinken. Das ist es, was „den Geist auf das Objekt halten“ bedeutet. Wenn wir vom “Heben” und “Senken” sprechen, dann heißt das: Haltet eure Aufmerksamkeit lediglich dort auf den Unter-bauch gerichtet. Das “Heben” und “Senken” muss nicht extrem klar um-rissen sein. Es kann lediglich eine leichte Bewegung des Hebens und Senkens sein, da wir im Augenblick nicht über Einsicht sprechen. Wir reden nur über Konzentration.

Ihr könnt anstatt “Heben” und “Senken” auch die Worte “Steigen” und “Fallen” benutzen. Ihr müsst euch aber von allem frei machen können. Wenn ihr am Körper haftet, das Konzept eures Körpers aber transzendieren solltet, kann es sonst passieren, dass ihr glaubt verrückt zu werden. Dann könnt ihr natürlich nicht ganz und gar in diesem “Steigen” und “Fallen” aufgehen. Ihr werdet denken, dass ihr dabei seid einzuschlafen und ihr werdet nicht mehr das Steigen und Fallen (der Bauchdecke) bewusst wahr-nehmen.

Macht euch von allem frei, kümmert euch nicht um Raum und Zeit (also wo ihr jetzt im Moment seid). Macht euch auch keine Gedanken darüber wer ihr seid. Haltet einfach nur euren Geist auf das „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke gerichtet. Richtet euren Geist aus, wie das Licht einer ruhigen Kerze in einer windlosen Nacht. Bleibt einfach bei der Bewegung. Kümmert euch nicht darum, ob sie unterschwellig oder grob ist, seid euch einfach nur bewusst.

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Wenn ihr dies lange genug praktiziert, dann werdet ihr in die Vertiefung eintreten. Dies alles ist sehr einfach. Das Wichtigste daran ist, dass eine stabile kontinuierliche Konzentration aufgebaut wird und eine kontinuier-liche Schwungkraft achtsamen Notierens. Wenn ihr das erst einmal ge-schafft habt, könnt ihr euch das wieder ins Gedächtnis rufen. Dann könnt ihr diese Vertiefung - wann immer ihr wollt - erreichen.

Nachdem ihr es geschafft habt in die Vertiefung zu kommen, müsst ihr als Nächstes lernen darin zu bleiben.

2. In der Vertiefung verbleiben

Das Verbleiben in der Vertiefung erfordert Übung. Weiterhin erfordert es Vorbereitung gefolgt von richtiger Haltung.

Vorbereitung ist erforderlich um zu ermöglichen, dass die Konzentration eine gewisse Zeit lang aufrechterhalten werden kann. Für längere Perioden der Konzentration braucht ihr viel Energie. Das heißt, dass ihr die Schwungkraft sorgfältig aufbauen müsst, damit auch die dadurch akkumu-lierte Energie stark ist.

Wenn ihr es geschafft habt solche Konzentration aufzubauen, ist alles nur noch eine Frage der Haltung.

Haltung in diesem Zusammenhang meint Geduld, anhaltende Geduld. Es ist hier wie das Anhalten von Luft. In die Konzentration zu gehen ist, wie als wenn ihr einmal tief Luft holt und diese anhaltet. Seid ihr zu ange-strengt, dann kann die Konzentration nicht lange anhalten. Seid ihr dabei jedoch ruhig und entspannt, dann kann sie lange anhalten. Ihr müsst in euch die Haltung entwickeln, dass ihr euch keine Gedanken darüber macht wie lange ihr schon sitzt, dass ihr euch also keine Gedanken über Zeit macht.

Es ist wichtig sich vorzubereiten. Wenn ihr in eine lange, tiefe Konzen-tration eingehen wollt, sagen wir einmal für drei bis vier Stunden, dann solltet ihr einplanen dies nach dem Mittagessen zu tun, damit ihr euch über das Mittagessen keine Sorgen zu machen braucht. Andernfalls werdet ihr sagen: “Ich möchte mein Mittag nicht ausfallen lassen, ich werde jetzt nicht lange in der Vertiefung verbleiben.”

Ihr müsst alle Konzepte von Zeit loslassen, alle Dinge, die euch beunru-higen und tief in eurem Geist festsitzen, die müsst ihr loslassen. Und ihr müsst den klaren Wunsch haben in der Konzentration für lange Zeit zu bleiben.

Falls ihr ungeduldig seid und sagt: “Oh, wenn ich zu lange in der Ver-tiefung bleibe, dann werde ich keine Zeit für Einsichtsbetrachtung haben“, dann werdet ihr natürlich nicht lange in der Vertiefung bleiben. Das ist der Grund, warum der Geist mit der richtigen Einstellung herangehen muss.

Habt ihr einmal die Natur der Vertiefung und die richtige Geisteshaltung verstanden, sodass ihr darin lange Zeit verbleiben könnt, dann habt ihr die Fähigkeit des Verbleibens erlangt. Also, wie lange Zeit wir in Vertiefung verweilen können, welcher geistige Zustand dafür angemessen ist und in welchem geistigen Zustand man dies nicht tun kann etc.

Wenn ihr all die Bedingungen kennt, dann könnt ihr für längere Zeit in der Vertiefung bleiben.

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3. Die Fähigkeit des Herauskommens

Dann gibt es noch die Fähigkeit des Herauskommens aus der Vertiefung zur rechten Zeit. Dies ist nicht ein solch großes Problem wie die Aufrecht-erhaltung der Konzentration. Wenn man in der Lage ist die Vertiefung be-liebig lange aufrecht zu erhalten, dann sollte man auch in der Lage sein, das Daraus-wieder-Auftauchen zu steuern. Ihr könntet zu einer von euch be-stimmten Zeit daraus auftauchen. Wenn ihr beispielsweise in tiefe Konzen-tration gehen möchtet, dann sagt euch: “Ich möchte in vier Stunden aus der Vertiefung wieder auftauchen.” Sind eure Fähigkeiten entwickelt, dann werdet ihr exakt in der Sekunde aus der Vertiefung auftauchen zu der ihr es wünscht. Ihr könnt euch auch darauf trainieren, in Beziehung zu bestimm-ten Situationen aufzutauchen, etwa vor dem Mittagessen oder wenn jemand euch anruft. Es ist, als würde man den Geist darauf programmieren auf be-stimmte Bedingungen in bestimmter Weise zu reagieren. Diese Fähigkeit zu besitzen ist ein großer Vorteil.

Um Einsicht zu entwickeln muss man genug Zeit dafür haben. Es bedarf eines klaren Geistes und starker Konzentration dazu. Daher müsst ihr die Fähigkeit entwickeln, in die Vertiefung einzutreten und in diesem Zustand der Vertiefung zu verbleiben. Dies wird lange Zeit beanspruchen. Und ihr müsst häufig praktizieren.

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13. Die Unterschiede zwischen Ruhe- und Einsichtsmeditation Es ist wichtig, dass der Meditierende Ruhe- und Einsichtsmeditation

klar versteht. Im Dassuttara Sutta, der letzten Lehrrede in der längeren Sammlung, sagt Sariputta: „Es gibt zwei Zustände, die wahre dhammas sind, reale Phänomene, die entwickelt werden müssen.“ In Pali heißt das dve dhamma bhavetabba, das als die zwei zu entwickelnden dhammas übersetzt wird. Es sind samatho ca vipassanā ca (Ruhe und Einsicht). Die Entwicklung wird bhāvanā (Kultivierung) genannt. Wir übersetzen es oft mit Meditation.

Wenn wir versuchen Anfängern das Meditieren beizubringen, ist das erste, was sie verstehen müssen, die Achtsamkeit. Erst dann können wir damit fortfahren zwischen dem Ruhe- und Einsichtsaspekt der Praxis zu differenzieren.

Achtsamkeit, um zwischen richtiger und falscher Konzentration zu unterscheiden

Es gibt klare Gründe, warum Meditationslehrer die Meditierenden un-nachgiebig dazu anhalten vipassanā zu praktizieren. Ob ihr samatha (Ruhe) oder vipassanā (Einsicht) entwickelt, in jedem Fall braucht ihr eine sehr starke Achtsamkeitsbasis. Ohne diese kann man in falsche Konzentration versinken. Das passiert denjenigen, die reine Ruhemeditationsmethoden praktizieren häufiger, da dort der Faktor Achtsamkeit nicht so betont wird. Wenn sie z. B. versuchen das Objekt zu visualisieren, kann es sein, dass sie sich wie besessen versuchen auf das Objekt zu konzentrieren. Das Ergebnis ist oft, dass sie sehr starke migräneähnliche Kopfschmerzen bekommen. Kopfschmerzen können allerdings auch während der Vipassanā-Praxis auf-treten. Während längerer Retreats von einigen Wochen oder auch Monaten wird die entwickelte Konzentration sehr stark. Wenn diese nicht von Acht-samkeit begleitet ist, können migräneähnlichen Spannungen auftreten und sogar lange andauern. Dies ist in Wirklichkeit eine Form von Stress. Das kann fürchterlich werden. Deshalb müssen wir - bevor wir ernsthaft Ruhe- oder Einsichtsmeditation betreiben - eine klare Vorstellung davon haben, was Achtsamkeit ist. Nur so können wir wissen, ob unsere Praxis korrekt ausgeführt wird. Sonst entwickeln wir nur Konzentration und der Geist wird angespannter und immer gestresster. Halluzinationen können auftreten und wenn man das so weiter treibt, kann es schwierig sein dies zu korrigieren.

Achtsamkeit ist ein klarer Zustand der Bewusstheit ohne Verwirrung, in dem volle Kontrolle besteht. Deshalb ist der Geist, auch wenn Schmerzen entstehen, nicht gestört. Der Geist bleibt friedlich. Wenn ihr nach der Natur des beobachteten Objektes gefragt werdet, könnt ihr eure Beobachtungen anderen klar erzählen. Achtsamkeit ist deshalb wichtig um zwischen fal-scher und richtiger Konzentration zu unterscheiden.

Samatha und vipassanā

Da ihr jetzt versteht, dass richtige Konzentration Konzentration mit Achtsamkeit ist und falsche Konzentration Konzentration ohne Achtsam-

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keit, lasst uns den Unterschied zwischen samatha und vipassanā heraus-arbeiten.

Das Wort samatha selbst heißt Ruhe und vipassanā bedeutet Einsicht oder Wissen. Wenn wir uns bloß auf samatha oder vipassanā beziehen, meinen wir im Allgemeinen rechte Konzentration. Gemeint ist also, dass der Faktor Einspitzigkeit des Geistes mit Achtsamkeit entsteht. Nicht mit Besessenheit, nicht mit Zorn oder mit Gier, sondern mit klarer Bewusstheit: einspitziger, klarer Bewusstheit. Wenn in einem einzigen Moment diese einspitzige Bewusstheit vorherrscht, nennen wir das samatha (Ruhe). Bei der Einsicht ist die Bewusstheit schärfer und gründlicher, sodass die Reali-tät erfahren werden kann und man dadurch Verstehen erzielt. Ihr wisst klar, was ihr erfahrt. Ihr könnt, wenn ihr wollt, die Natur der Erfahrung erzählen.

Samatha bhāvanā und vipassanā bhāvanā

Die Ausdrücke samatha bhāvanā (Ruheentwicklung oder Ruhemedita-tion), oder vipassanā bhāvanā (Einsichtsentwicklung oder Einsichtsmedita-tion) beziehen sich nicht auf einen Zeitmoment. Sie beziehen sich auf eine Folge von Erfahrungen über eine Zeitperiode. Das heißt auch eine Folge von Ergebnissen. So entstehen hochentwickelte geistige Zustände. Wenn ihr samatha entwickelt, entstehen tiefe Zustände von Konzentration. Wir nennen sie Vertiefungen oder jhānas. Beim Entwickeln von vipassanā ent-stehen tiefe Zustände von Wissen oder Verstehen. Wir nennen diese Ein-sichtswissen oder ñaCas. Es gibt Ähnlichkeiten bei den Erfahrungen der Entwicklung von samatha und vipassanā. Trotz dieser in gewisser Weise ähnlichen Erfahrungen, ist die Beachtung der Art der Meditation, die ihr betreiben wollt, das Wichtige. Erst wenn eine der beiden Meditationsarten weiter entwickelt ist, treten die für diese Meditationsart typischen Erfah-rungen öfter deutlich auf.

Wenn wir besser über Samatha- und Vipassanā-Erfahrungen Bescheid wissen, können wir die Natur dieser beiden Meditationsarten verstehen und wir können auch sehen, wie weit wir bei beiden fortgeschritten sind. Das ist wichtig, da wir, wenn wir Einsicht oder Ruhe entwickeln, ein klares Bild davon haben sollten, wohin wir gehen. Sonst treten falsche Ansichten, Fehler oder unnötige Verzögerungen auf und verursachen eine Menge Leid. Es ist nicht so leicht zu erklären, auf welcher Spur ihr gerade voranschrei-tet, besonders wenn ihr Anfänger seid. Bei erfahrenen Meditierenden ist es leichter. Der Anfänger muss die grundlegenden Techniken verstehen. Nur wenn sie verstanden werden, dann werden auch die Prinzipien, die hinter der Praxis und den Anweisungen stehen, verstanden und man kann zuver-sichtlicher voranschreiten und tiefere Erfahrungen bekommen.

Das Fortschreiten bei samatha bhāvanā

Ich möchte hier eine detailliertere Unterscheidung zwischen samatha bhāvanā und vipassanā bhāvanā machen. Das Objekt der Samatha-Meditation ist ein Konzept, eine Idee. Und die dadurch entwickelte Konzentration ist entweder Zugangs- oder Vertiefungskonzentration. Es gibt Arten der Samatha-Meditation, wo die Objekte besonders klar sind,

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z. B. bei den Visualisierungstechniken und den Farb-Kasinas Hier stellt man sich u.a. Licht oder Farben vor. Manchmal gehen die Leute sogar so weit, dass sie sich Buddhas, bodhissattvas oder Götter etc. vorstellen. Das sind ebenfalls, da es sich um Konzepte handelt, sehr klare Samatha-Objekte.

Wenn ihr beispielsweise versucht, in eurem Geist mit geschlossenen Augen eine Lichtscheibe zu erzeugen, wird eure mentale Kreation tatsäch-lich mit geschlossenen Augen so sichtbar, als wenn sie aus echtem Licht bestände - sofern eure Konzentration stark genug ist. Auch wenn ihr die Augen öffnet und ihr euch das Licht vorstellt, könnt ihr es vor euch sehen. Ihr wisst vollkommen klar, dass es eine Kreation eures Geistes ist. Dies ist ein einfach erkennbares Beispiel eines Objektes, welchselbiges ein Konzept ist. Andere Konzentrationstechniken benutzen Worte wie Mantras oder Rezitationen. Diese werden Wortkonzepte genannt. Ihr könnt darüber nach-denken, was sie für euch bedeuten, was für eine Idee und nicht welche Er-fahrung sie für euch darstellen. Diese Objekte sind bloß kreiert, von euch ausgedacht. Manchmal wie eine bloße Phantasie.

Die Erzeugung dieser Samatha-Objekte beginnt mit der vorbereitenden Praxis. Nehmt z. B. das Licht-Kasina. Zuerst seht ihr mit euren Augen auf eine materielle Lichtscheibe, die ihr vor euch hingelegt habt. Dies wird das „vorbereitende Bild“ genannt. Dann schließt ihr die Augen und versucht das Licht zu visualisieren. Das ist das visualisierte Bild, das „aufgefasstes Bild“ genannt wird. Wenn man dies andauernd und mit Achtsamkeit tut, löst sich der Geist immer mehr von den anderen Objekten. Nach einiger Zeit könnt ihr nichts mehr hören. Später vergesst ihr die Form und Gestalt eures Körpers. Alles, was es gibt, ist die Lichtscheibe.

Wenn die Konzentration noch nicht so stark ist, kann die Lichtscheibe hin und her schwanken. Es können gewisse Bilder in ihr auftauchen. Das bedeutet, dass - obwohl ihr denkt, dass ihr nicht denkt - der Geist immer noch flackert und schwankt. Es gibt dann einen Punkt, wo die Lichtscheibe vollkommen rein und das Licht sehr hell ist. Alles andere ist vergessen, der Körper, die Geräusche, wo ihr seid und wer ihr seid. Ihr wisst nur, dass der Geist sich auf das Licht konzentriert, einspitzig und über nichts anderes nachdenkend. Es gibt unter Umständen eine Menge Freude, eine Menge an Licht aber sonst nichts. Diese Stufe wird upacāra samādhi (Zugangs-konzentration) genannt.

Diese Stufe ist sehr nahe der Vertiefung. Der Geist ist sehr klar und das Licht ist sehr hell und durchsichtig wie Glas. Als wenn der Geist Licht wäre und das Licht Geist. Das ist auch tatsächlich so, da das Licht eine Geistkreation ist. Dies wird das „Gegenbild“ patibhaga nimitta genannt. Es tritt ebenfalls auf, wenn Leute Götter oder Ähnliches visualisieren. Das Bild wird glasähnlich. Auch wenn sie Buddha visualisieren, wird dieser trans-parent. Wegen der starken Konzentration ist der Geist so, als wenn er „Buddha“ wäre und „Buddha“ ist so, als wäre er der Geist. Dies ist ein sehr reiner Geisteszustand. Das kann so weit gehen, dass ihr fühlt, dass euer Körper im Buddhabild ist. Dann vertieft sich der Geist darin, der Geist sinkt in das nimitta (Bild/Zeichen). Durch das Studium des abhidhamma könnt

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ihr verstehen, dass es sich dabei um vertiefte Konzentration, die appana samadhi genannt wird, handelt. Das bedeutet, dass der Geist mit dem Objekt vereinigt ist. In dieser Zeit treten keinerlei andere Geistprozesse auf. Das heißt, dass ihr zu dieser Zeit wie ganz eingeschlafen seid. Ihr sinkt in ein Stadium, in dem ihr nichts zur Kenntnis nehmt und wisst. Aber wenn ihr aus dieser Konzentration wieder auftaucht, wisst ihr, dass euer Geist während der Vertiefung sehr klar und die ganze Zeit vereint mit dem Objekt der Konzentration, der Lichtscheibe war.

In der Samatha-Meditation wird der Geist immer ruhiger, sorgloser und friedlicher und die Befleckungen entfernen sich immer mehr. Diese hoch-entwickelten Zustände beim samatha sind so etwas wie ein Halbschlaf und zugleich Zustände, die tiefer sind als der Schlaf, nämlich mit dem Unter-schied, dass ihr wisst, dass ihr nicht schlaft.

Nehmen wir mal an, euer Geist ist in einer Morgenmeditation sehr ruhig und friedvoll. Ihr könnt zwar dem „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke für ein oder zwei Stunden problemlos folgen, aber ihr könnt das „Heben“ und „Senken“ nicht klar von Moment zu Moment beschreiben. Alles, was ihr sagen könnt, ist: „Ich hatte eine sehr ruhige und friedvolle Meditation. Der Bauch ging nur auf und ab, sehr weich und sehr langsam. Es war eine wundervolle Sitzung.“ Dann kann es passieren, dass ihr daran anhaftet und dasselbe wieder erleben wollt. Wenn ihr nun keine gute Konzentration er-langt, beschwert ihr euch: „Die Meditation ist jetzt schwierig, schrecklich und ich habe viel Schmerzen.“ Meine Antwort dazu ist: „Da ist ja prima.“ Ihr fragt euch: „Warum sagt er denn das?“ Ich sage das um euch zu er-mutigen! Wenn jemand anfängt vipassanā zu üben und sich dabei ruhig und friedvoll fühlt, kann das ein schlechtes Zeichen sein, denn so entsteht even-tuell Anhaftung.

Einige glauben durch ihre friedvolle Erfahrung auch, dass sie das sankharupekkha ñāCa erreicht haben, die Erkenntnis des Gleichmutes hin-sichtlich der Gestaltungen, also das Wissen kurz vor magga-phala der Er-leuchtung. Aber sie können es nicht so gut wie ihre vorherigen Einsichts-wissen beschreiben. Das ist das Feststecken in der Konzentration. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein, wie wir mit unserer Praxis fortfahren.

Ānapānasati

Gewisse Objekte können für die Vipassanā- oder für die Samatha-Meditation benutzt werden. Eines davon ist das Ānapāna-Objekt. Das Be-obachten der Einatmung an der Nasenspitze. Oft fragt man mich, ob die Konzentration an der Nasenspitze (ānapāna) ein Samatha- oder ein Vipassanā-Objekt ist. Es kann beides sein, da die Art des Objektes von der Natur eurer Aufmerksamkeit abhängt. Am Anfang, wenn ihr das vorberei-tende Objekt/Bild benutzt, kann es Samatha- oder Vipassanā-Objekt sein. Es ist gemischt. Wenn ihr anfangt den Atem zu zählen, tendiert es eher in Richtung Samatha-Objekt. Aber dabei ist auch noch die gefühlte Empfin-dung des Atems.

Vipassanā-Objekte sind anders als Samatha-Objekte. Es sind Realitäten. Sie werden nicht durch den Geist erzeugt, das heißt, ihr versucht sie euch

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nicht vorzustellen. Sie geschehen als natürliche Vorgänge, als mentale und materielle Prozesse. Wenn ihr diese Prozesse immer klarer erfahrt, werden natürlich auch die drei Daseinsmerkmale (anicca, dukkha und anattā) klarer. Diese Merkmale sind tiefe Aspekte der mentalen und materiellen Prozesse.

Wenn ihr Konzentration auf den Atem an der Nasenspitze „ānapāna sati“ betreibt und diese mentalen und materiellen Prozesse nicht klar er-kennt, die häufig als Empfindungen erfahren werden, dann kann sich aus diesem Grunde auch das Vipassanā-Objekt nicht richtig entwickeln. Ich habe das bei einer großen Anzahl von Yogis bemerkt. Der Geist ist in Rich-tung samatha geneigt. Warum? Erstens, weil die meisten Menschen nicht verstehen, was vipassanā ist. Und zweitens, weil vipassanā schwieriger, schmerzhafter und unruhiger ist. Deshalb neigt sich der Geist ganz natürlich dahin, wo es ruhig und friedlich ist und auch dazu, was Leute normaler-weise unter Meditation verstehen, nämlich Konzentration. Sie glauben, wenn sie den Geist auf ein Objekt für lange Zeit konzentrieren können, dass sie gute Arbeit geleistet hätten. Wenn ihr so fortfahrt, ist das Atemobjekt sowohl weich als auch angenehm und deshalb neigt sich der Geist Richtung samatha.

Ich möchte damit nicht sagen, dass samatha schlecht ist. Samatha ist gut, wenn man es beherrscht. Es ist nur so, dass ihr fähig sein müsst, beides klar zu unterscheiden, wenn ihr Einsichtswissen bekommen wollt.

Der Fortschritt des Ānapāna-Objektes

Wenn die Meditation auf ānapāna fortschreitet, wird eine der beiden Praktiken klarer und vorherrschender. Manchmal treten abwechselnd beide Praktiken auf. Das hängt von den individuellen Tendenzen des Geistes ab. Aber wie schon gesagt wurde, hängen die Leute gewöhnlich an samatha.

Deswegen beschreiben wir hier die Ānapāna-Entwicklung als Samatha-Objekt. Man beginnt normalerweise, indem man die Ein- und Ausatmung als Eins-eins, zwei-zwei, drei-drei etc. oder auch in irgendeiner anderen Weise zählt. Wenn der Geist einspitzig wird, vergesst ihr die Form eures Körpers, vergesst wer ihr seid und nur die Empfindung, der Punkt des Atems wird klarer und klarer.

Der Geist entwickelt wegen der Neigung in Richtung Frieden und Ein-spitzigkeit das Samatha-Objekt, ein konzeptionalisiertes Objekt, das ein entwickeltes Geistobjekt, ein nimitta oder eine geistige Erfahrung ist. Einige erfahren es als Baumwolle, andere als sehr weiche Feder oder als Wind, der in diese oder jene Richtung bläst. Wieder andere erfahren es als ein sehr weiches, weißes und funkelndes Licht etc. Dies alles sind kon-zeptualisierte Bilder des Atems.

Am Anfang kann sich das Objekt noch bewegen oder pulsieren und das wird dann oft - da es sich bewegt - als Vipassanā-Objekt missgedeutet. Aber in diesem Fall ist es kein Vipassanā-Objekt. Auch das Samatha-Objekt bewegt und verändert sich in seinen anfänglichen Stadien. Aber nicht so wie ein Vipassanā-Objekt, das sich von Moment zu Moment ändert. Wenn man weiter in der Konzentration fortschreitet, wird das

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Objekt immer ruhiger und immer feiner, bis es sich nicht länger bewegt. An diesem Punkt ist das geistige Bild extrem rein und Vertiefung kann sich ereignen. Der Geist versinkt dann in dem Objekt und wird eins mit ihm.

Weil der Faktor Konzentration dominanter und hervorstechender ist, ist es für den Meditierenden bei seinen ersten Vertiefungen nicht so klar, was passiert ist. Dies gilt speziell für Leute, die schnellen Fortschritt machen. Aber sobald sie eine gewisse Meisterschaft über die Konzentration haben, wird der Fortschritt des Samatha-Objektes sehr klar. Jemand der die jhānas häufig übt, sollte die Entwicklung des Samatha-Objektes sehr klar be-schreiben können. Also wie der Atem das samatha nimitta, das Zeichen der Konzentration, formt und wie es bis kurz vor der Vertiefung immer feiner wird.

Aus solchen Beschreibungen kann man beurteilen, ob sich jemand in tiefer Konzentration befunden hat oder nicht. Wenn jemand das nicht klar beschreiben kann, könnte er einfach nur eine Art friedvollen Zustand er-fahren haben, eine Art friedvoller Konzentration oder auch Schlaf. Wenn jemand z. B. auf das Ein- und Ausatmen meditiert, ein...aus, ein...aus und plötzlich weiß er nicht mehr wo er war, dann aufwacht und denkt „Oh, wie war das wundervoll und friedlich.“ Aber es war wahrscheinlich nur tiefer Schlaf. Oder er hat vielleicht Freude entwickelt, die ihn überwältigte und verschluckte. In diesem Fall kann er das Objekt und den Fortschritt des Objektes nicht klar erkennen und beschreiben.

Man kann dies oft unter Vipassanā-Meditierenden beobachten, da sie manchmal Tendenzen zu jhāna, Konzentration haben. Es gab einen Fall, bei dem ein Yogi eine starke Lichterscheinung hatte, als er richtig und gut vipassanā praktizierte. Da er vipassanā praktizierte, ermutigten wir ihn nicht auf dem Licht zu verweilen, sondern er musste „Sehen, Sehen, Licht, Licht“ notieren und wenn es stärker würde, sollte er die Augen öffnen. Trotzdem entwickelte sich das Licht weiter zusammen mit dem Vipassanā-Objekt und ging nicht weg. Er beschrieb es einmal so: „Dieses Licht er-scheint und wird sehr fein wie ein rundes Netz, wie ein Spinnennetz, aber es ist ganz aus Licht und sehr klar. Danach scheint der Geist wie eine Fliege, die mit fantastischer Geschwindigkeit in das Zentrum dieses Lichtnetzes fliegt. Und wenn ich in diesem Netz bin, hüllt es sich vollkommen um meinen Geist und ich betrete dann einen völlig unbewussten Zustand.“ Wenn er dann herauskam, war er sehr friedvoll.

So eine Beschreibung ist ein klarer Fortschritt des Objektes durch die Entwicklung von Konzentration. Wenn ihr schlicht sagt, dass der Geist sehr ruhig und klar in tiefer Konzentration wird, dann ist das nur eine sehr all-gemeine Beschreibung von dem was passieren kann. Nur wenn ihr diesen Prozess selber erfahrt, könnt ihr genau die Art und Weise dieser Ruhe und Klarheit beschreiben. Und an solchen Beschreibungen können wir er-kennen, ob es tatsächlich tiefe Konzentration oder eben nur Einbildung ist. Ob das Samatha-Objekt Liebende Güte ist (Metta, eine der Praktiken der brahma viharas) oder ānapāna oder Visualisierung - für alle gibt es einen ähnlichen, allgemeinen Fortschritt, der einzigartig zu samatha bhāvanā ge-hört.

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Der Fortschritt des Vipassanā-Objektes Der Fortschritt des Vipassanā-Objektes ist völlig anders. Da es sich am

Anfang nicht schnell entwickelt, macht man zuerst Erfahrung mit Konzen-tration. Aus diesem Grunde sind die Erfahrungen in der anfänglichen Ent-wicklung ähnlich derer in der Samatha-Meditation. Die Yogis werden aber gerade deshalb besonders am Anfang darauf hingewiesen in Vipassanā-Art zu meditieren und sich nicht auf ein einziges Objekt, sondern besser auf den erfahrenen Prozess ohne visualisierte Form zu konzentrieren.

Aber auch dann kann es passieren, dass man anfängt zu visualisieren, wenn man z. B. „Sitzen-Berühren, Sitzen-Berühren“ notiert. Man fängt dann an den Körper zu visualisieren. Man kann sich dann selber sitzen sehen. Das hat nichts mit vipassanā zu tun, sondern ist ein Visualisierungs-prozess. Einige beobachten, wie ihr Bauch auf und ab geht und dann schließlich nimmt der Bauch Form an. Sie sehen z. B. eine lange Linie, die auf und nieder geht. Manchmal ist es auch wie ein runder Ball. Nach einer Weile bekommt der Ball sogar Farben. Hier kommt dann der Punkt, wo die Leute an den Konzepten anhaften können und damit enden in so etwas Ähnlichem wie Samatha-Meditation.

Auch bei der Gehmeditation legen die Leute oft so viel Aufmerksamkeit auf die Zehen, die Fersen, die Knie, dass sie dazu tendieren die Form ihrer Beine zu visualisieren. Das ist kein vipassanā. Vipassanā ist die reine Er-fahrung der Körper-Geist-Prozesse. Wenn ihr z. B. „Sitzen-Berühren“ notiert, dann stellt euch nicht die Form eures Körpers, eurer Hände, Beine oder eures Kopfes vor, sondern fühlt die Empfindungen, die diese Sitz-haltung ausmachen. Ihr sollt nur die reinen Empfindungen erfahren.

„Berühren“ beinhaltet die Empfindungen, die auf der Oberfläche des Körpers entstehen. Die am meisten hervorstechenden Empfindungen sind die des Hinterns oder auch die Punkte, wo die Beine den Boden berühren. „Sitzen“ beinhaltet mehr die inneren Spannungen, also die auffälligen Spannungen im Rückgrat, der Taille, den Schultern, die den Körper in der aufrechten Position halten. Es ist eine Art der Starrheit. Manche Leute emp-finden es so, als wenn eine Kraft vom Rücken her drückt.

Wenn man tiefer in das „Sitzen-Berühren“ hineingeht, kann man nicht länger zwischen der externen Oberfläche und den inneren Empfindungen oder Spannungen unterscheiden, da man nur noch Empfindungen fühlt und „innen“ und „außen“ reine Konzepte sind. Reine Empfindungen ohne Form bleiben zuletzt übrig.

Nun erfahren und verstehen wir das Objekt als reines paramatha dhamma, die letztendliche Realität. Diese Objekte entstehen von Moment zu Moment und unterscheiden sich vom Samatha-Objekt. Das heißt, dass der eine Moment so ist und sich im nächsten Moment alles geändert hat und der darauf folgende Moment ist wieder total anders. Mit anderen Worten ist es ein Prozess, ein Fluss, etwas, das erscheint und wieder verschwindet. Nun werden die drei Daseinsmerkmale offenbar und auch starker Schmerz kann entstehen. Deshalb entwickelt sich die Konzentration bei vipassanā bhāvanā, der Einsichtsmeditation, nicht so schnell. Das Objekt ändert sich ständig und man hat häufig Schmerzen. Aber es bleibt uns nichts übrig, wir

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müssen diese Konzentrationsart entwickeln, da sie einzigartig für die Ein-sichtsmeditation ist. Diese Art von Konzentration kann nicht durch Samatha-Meditation erreicht werden.

Ihr müsst verstehen, dass die später entstehenden Einsichtswissen Be-standteil dieser Bewusstseinsart mit seiner speziellen Konzentration sind. Darum wird einigen Leuten, die schon vorher Samatha-Meditation gemacht haben, von ihrem Meditationslehrer gesagt, dass sie die Samatha-Praxis für die Zeit des Retreats vollkommen beiseite legen sollen. Das ist kein Vor-urteil gegen samatha bhāvanā. Man sagt es, damit sie die einzigartige Vipassanā-Konzentration erlernen können.

Wenn jemand, der schon viel anapāna gemacht hat, gesagt bekommt, er solle das „Heben und Senken“ der Bauchdecke beobachten, dann mag er das normalerweise nicht. Das liegt daran, dass das „Heben und Senken“ relativ grob ist und man manchmal nur ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend beobachtet. Ab und zu sind nur Spannungen im Bauch und es gibt hier und dort ein paar Schmerzen. Und dann, da der Geist jetzt die Konzentration nicht mehr halten kann, fängt er an zu denken. Deshalb mögen diese Meditierenden das nicht. Sie sagen „Ich mache Rückschritte. Meine Meditation wird schlechter. Vipassanā ist nichts für mich.“ Schliesslich machen sie wieder Samatha-Meditation und sagen, dass es so schön und friedlich ist. Deshalb kann Einsicht bei ihnen weder entstehen noch fortschreiten.

Der Geist muss gezwungen werden in den Geist-Körper-Prozess hinein-zuschauen. Wenn Schmerz entsteht, müsst ihr den Schmerz beobachten. Es gibt kein vipassanā ohne Schmerz. Zu Buddhas Zeiten allerdings machten eine Menge von Leuten Samatha-Meditation und danach erreichten sie schnell magga phala. Dafür gibt es viele Beispiele in den Schriften. Das passiert gewiss nicht bei jedem so einfach. Normalerweise muss man zuerst diese einzigartige Vipassanā-Konzentration entwickeln. Darum müsst ihr den Schmerz, wenn er entsteht, beobachten. Nur so lernt ihr die Natur dieser Geist-Körper-Prozesse kennen.

Der Geist muss klar und offen sein ohne irgendwelche Konzepte. Der Geist muss so schnell und klar werden, dass er jedes Phänomen einfangen kann. Diese Fähigkeit entsteht nicht aus dem Nichts durch bloßes Wollen. Sie muss entwickelt werden. Das ist wie beim Squash spielen. Squash ist ein sehr schnelles Spiel. Ihr schlagt den Ball und bevor ihr es erahnt, kommt er zu euch zurück. Ihr könnt euch dabei sogar verletzen. Anfänger wissen nicht, wohin der Ball geht. Ihr müsst dazu die entsprechenden Fähigkeiten entwickeln.

Ähnlich ist es mit dem Vipassanā-Objekt. Es verändert sich sehr schnell. Die Achtsamkeit muss auf eine Stufe entwickelt werden, wo sie sehr schnell, flexibel und klar ist, bevor man mit all den erscheinenden und ver-schwindenden Objekten mithalten kann. Ihr müsst so viele verschiedene Objekte beobachten. Das „Heben und Senken“ der Bauchdecke, den Schmerz, dann Denken, dann dies, dann jenes etc. Manchmal gibt es eine Menge Leid. Einige bezeichnen vipassanā als „Leidensmeditation“ und finden es sehr schwer sie zu praktizieren.

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Aber wenn ihr durch all diese Erfahrungen hindurchgegangen seid, wird der Geist sehr ruhig und ist in der Lage den Objekten von Moment zu Moment zu folgen. Ihr erfahrt dann, wie der Geist in die Objekte hinein-geht, in das „Heben und Senken“, den Schmerz etc. und wie er all die ver-schiedenen Empfindungen beobachtet. Die Empfindungen können sehr klar und intensiv sein, aber der Geist bleibt ruhig. Wenn ihr immer so weiter beobachtet, werden auch die drei Daseinsmerkmale klarer. Die verschie-denen Stufen des Einsichtswissen sind nichts anderes als immer klarer wer-dende Erfahrung bezüglich der Natur der Realität, der Natur des Geist-Körper-Prozesses, der Natur von anicca, dukkha und anattā.

Wenn man im Einsichtswissen fortschreitet, schreitet auch die Vipassanā-Konzentration voran. Wenn erst einmal so ein Stadium erreicht ist, geht der Geist normalerweise nicht mehr so leicht zur Samatha-Meditation. Es sei denn man hat starke Tendenzen dazu. Aber auch dann, wenn z. B. Licht erscheint und ihr es notiert, geht es schnell wieder weg. Mit dem Erscheinen von sehr klarem Einsichtswissen, wisst ihr, dass der Geist sich hinsichtlich vipassanā entwickelt. Wenn keine klare Einsicht ent-steht, schreitet auch der Geist nicht mit vipassanā voran. Er lungert nur herum und geht hierhin und dorthin.

In dieser Welt findet ihr mehr Samatha-Praktiken und Erfahrungen. Vipassanā-Erfahrungen sind nicht so üblich. Ein Beispiel ist das erste Ein-sichtswissen, die Unterscheidung von Körper und Geist. Dieses Wissen kann sehr klar während der Gehmeditation entstehen, wo es meist offen-sichtlicher als in der Sitzmeditation ist. Beim ersten Einsichtswissen ist die Achtsamkeit von Anfängern noch nicht so scharf. Da Anfänger die Ruhe mögen, tendieren sie während des Sitzens eher zur Konzentration. Bei der Gehmeditation ist es ein klarer geistiger Moment-Zu-Moment-Prozess, der das Sehen und die erfahrenen Empfindungen während des Gehprozesses notiert. Wenn eine Absicht entsteht, wird auch sie notiert. Auf diese Weise wird der Geist- und Körperprozess klar mit scharfer Achtsamkeit unter-schieden und das entsprechende Einsichtswissen entsteht. Dann weiß man durch Erfahrung, dass es so ein Einsichtswissen, so eine Erfahrung gibt. Basierend auf diesem ersten Wissen entstehen all die anderen Einsichts-wissen.

Einige Meditierende behaupten „Oh wir sind sehr schnell durch alle Einsichtswissen gegangen und endeten mit den letzten paar.“ Ich sage „Ihr träumt!“ Wenn ich solche Bemerkungen höre, frage ich jene oft, was Acht-samkeit sei. Manchmal ist ihnen nicht einmal klar, was Achtsamkeit ist. Ihre Achtsamkeit und Konzentration ist unscharf. Auf welche Weise können sie dann so weit in vipassanā gekommen sein? Es ist so, als wenn jemand mit schlechter Grammatik behauptet ein Englisch-Professor zu sein. Er sollte nicht erwarten, dass ich das glaube. Die Achtsamkeit, die mit Ein-sichtswissen einhergeht, muss sehr scharf, sehr klar und sehr gründlich sein. Nur dann können wir sicher wissen, dass sich jemand zur Vipassanā-Richtung hin entwickelt.

Eines der wichtigsten Dinge, die man wissen muss ist:

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Seid nicht an ein oder zwei ungewöhnlichen Erfahrungen interessiert. Zuerst müsst ihr sowieso immer eine feste Basis der Achtsamkeit und Konzentration erreichen.

Zusammenfassung

Hier ist eine kurze Zusammenfassung dessen, was wir besprochen haben: Ob wir vipassanā um Einsicht zu erlangen oder samatha um Ruhe zu erlangen praktizieren: Wir müssen sicherstellen, dass wir es Schritt für Schritt richtig machen. Und dafür müssen wir gewöhnlich an intensiven Retreats teilnehmen.

Im Fall von samatha, erinnert euch, dass wir es stark genug entwickeln müssen, damit es als Grundlage für Einsicht dienen kann. Das bedeutet, dass die Konzentration stark und scharf und leicht erreichbar sein muss, bevor wir auf vipassanā umschalten können. Sonst kann sie nicht diesem Zweck dienen. Es dauert eine Zeit lang, bevor die Konzentration einen solchen Grad erreicht.

Schließlich müssen wir zu vipassanā, Einsichtsmeditation umschalten. Wenn wir das tun, müssen wir die Samatha-Praxis einige Zeit komplett ver-werfen um uns selbst voll der Vipassanā-Praxis zu widmen. Sonst geht der Geist automatisch zur Konzentrationsübung zurück. Während der Vipassanā-Konzentration müssen wir viel Schmerzen und Unbequemlich-keiten in Kauf nehmen und ihnen gegenübertreten.

Es gibt Personen mit gewissen starken geistigen Befleckungen, die zu-erst etwas Samatha-Meditation machen sollten, bevor vipassanā effektiv werden kann. Aus meiner Erfahrung gibt es aber nicht viele malaiische Yogis, die das benötigen.

Auch sollten wir die vorbereitenden Konzentrationsmeditationen, die vier Schutzmeditationen, nicht unterschätzen: Zwei Minuten Betrachtung der Vorzüge des Buddha, zwei Minuten Liebende-Güte, zwei Minuten Be-trachtung der Widerlichkeit des Körpers und zwei Minuten Betrachtung des Todes. Wenn wir diese Betrachtungen die ersten zehn oder 20 Minuten am Anfang der täglichen Praxis bedenken, gewöhnen wir uns daran und das kann unserer Praxis sehr helfen, vor allem im täglichen Leben.

Während Zeiten intensiver Praxis sind die vorbereitenden Konzen-trationsmeditationen nicht so relevant, da die erreichte Konzentration bei der reinen Einsichtspraxis während eines Retreats sowieso schon sehr stark ist. Wenn ihr euch diesen vorbereitenden Praktiken zuwendet, werdet ihr in diesem Fall eher eine schlechtere Konzentration haben. Aber im Alltag, wenn der Geist extrem unruhig ist, sind diese Schutzmeditationen in einem gewissen Maß wichtig zur Aufrechterhaltung der Praxis.

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14. Einsicht verstehen Da wir alle hier sind um Einsichtsmeditation zu praktizieren, wäre es für

uns angemessen, wenn wir richtig verstehen, was Einsicht ist. Damit diese Vorträge vollständig sind, werde ich auch gewisse Erfahrungsaspekte, für die viele von euch noch nicht reif sind, behandeln. Seht es als eine Art generelles Wissen. Das Behandeln dieser Aspekte ist ein etwas heikles Unterfangen, da es „sensible Gebiete“ behandelt. „Sensible Gebiete“ weil über Einsichtswissen wegen der Furcht, dass es missverstanden oder miss-interpretiert werden könnte, normalerweise nicht gesprochen wird. Trotzdem denke ich, dass man diese Dinge zumindest theoretisch gut genug verstehen muss, damit ihr wisst, was zu tun ist, wenn ihr weitermacht. Das gilt vor allem, wenn es keine erfahrenen Lehrer um euch herum gibt.

Einsicht und Verstehen

Zuerst werden wir über Einsicht oder Verstehen reden. Was meinen wir mit Weisheit oder Einsicht? Man kann Verstehen oder Weisheit als das, was Erkennen schafft oder das, was offenbart, definieren. Es ist wie das Einschalten eines Lichts. Wenn das Licht eingeschaltet ist, offenbart es, was um dich herum die Realität ist. Um den Punkt nochmals hervorzuheben, gibt der Kommentar der visuddhi magga (Der Weg zur Reinheit) drei Gleichnisse zu den drei Wissensarten. Die Wissensarten sind „Wahr-nehmung“, „Bewusstsein“ und „Verstehen.“ Wahrnehmung wird definiert als das Wissen, das etwas bemerkt oder (wieder-)erkennt. Es wird mit einem jungen Kind verglichen, das etwas weiß.

Die zweite Art des Wissens ist Bewusstsein. Bewusstsein erreicht aber nicht den Grad 35 des Wissens wie Verstehen. Die dritte Art des Wissens ist Weisheit, Verstehen, oder Erkennen. An diesem Punkt unterscheidet der dhamma zwei Arten von Verstehen. Weltliches Verstehen und spirituelle Weisheit (pañña). Der Unterschied liegt hier in der geistigen Kontrolle und den Befleckungen. Obwohl wir sehr gut mit weltlichem Wissen denken können, eine Menge an Antworten bekommen und viele Dinge tun können, erreichen wir nichts in Bezug auf die Kontrolle der Befleckungen. Deshalb gibt es eine Menge sehr cleverer Leute, die damit enden eine Menge schrecklicher Dinge zu tun wie z. B. Atombomben bauen. Dies entsteht durch weltliches Wissen, durch Denken. Aber trotzdem können die Haupt-quellen der Kraft hinter dem weltlichen Wissen, das den Gedankenprozess kontrolliert, die Befleckungen wie Gier, Hass oder Verblendung sein. Deshalb ist dieses Wissen gefährlich, wenn es missbraucht wird.

Spirituelles Wissen ist anders. Spirituelles Wissen betrifft die Reinheit des Geistes, das Überwinden von Gier, Hass und Verblendung und die Reduktion der Befleckungen. Diese Art des Wissens kann weiterhin in drei Dhamma-Klassen entsteht. Dies bezieht sich mehr auf theoretisches Wissen. Wenn ihr beispielsweise den dhamma lest, wisst ihr, was gutes und schlechtes kamma ist, was Gier ist, warum sie schlecht ist etc. All dies ist Theorie. Eine Klasse weiter ist das Verstehen, das durch Denken entsteht. Wenn man z. B. den abhidhamma studiert und weiß, wie viele mentale

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Faktoren es gibt, wie viele Arten von Bewusstsein, wenn ihr dies im Geiste bedenkt und analysiert, könnt ihr dadurch eine andere Art des Verstehens erlangen. Alternativ könnt ihr das Gelernte im täglichen Leben anwenden, darüber nachdenken und zu neuem Verstehen kommen. Dies ist die zweite Stufe, die ihr normalerweise aus Büchern erhaltet. Es ist Wissen durch Be-trachten und Denken. Die dritte Stufe braucht eine größere Betonung. Diese Stufe ist das Wissen, das durch Meditation entsteht, weil in der Meditation der Geist tiefere Stufen entwickeln kann als es normalerweise durch ge-wöhnliches Denken möglich ist.

Es gibt zwei Arten der Meditation. Ruhemeditation und Einsichts-meditation (Dies ist die Meditation über die wir hier schreiben). Während der Ruhemeditation, obwohl der Hauptfaktor hier Konzentration ist, brau-chen wir trotzdem Verstehen und Wissen, damit wir fähig sind tiefe Konzentration zu entwickeln. Wenn sich tiefe Konzentration entwickelt hat und der Geist dadurch sehr mächtig geworden ist, kann man Fähigkeiten wie Telepathie, Hellsehen und andere Dinge, die sonst nicht möglich sind, erlangen. Dies ist auch Wissen, das durch geistige Entwicklung entsteht. Dies ist dann Wissen durch Ruhemeditation.

Vipassanā-Meditation

Beim vipassanā handelt das entstehende Wissen von der wahren Natur der Welt. Das heißt von den Geist-Körper-Prozessen. Die ganze Welt - uns eingeschlossen - kann allgemein in zwei Arten von Dingen klassifiziert werden: Geistprozesse und materielle Prozesse. Wenn jemand tiefes Ver-stehen durch gründliche Beobachtung dieser Prozesse entwickelt, sieht der Geist sie als veränderlich, unbefriedigend und als Nicht-Selbst. Wenn der Geist dies öfter so betrachtet, gewinnt er immer tieferes Verständnis dieser Daseinsmerkmale. Diese Art des Verstehens der Einsicht in die Geist-Körper-Prozesse sowie in die drei allgemeinen Daseinsmerkmale, der Ver-änderlichkeit, der nicht befriedigenden Natur und des Nicht-Selbst, hilft uns, uns von der Gier abzulösen und nicht mehr an all den veränderlichen, unbefriedigenden und leeren Dingen zu haften. Deshalb gehen wir dann über das Weltliche hinaus und finden Frieden im Überweltlichen. Dies ist die einzigartige Natur der Einsichtsmeditation (vipassanā). Nur durch diese Art der Meditation ist es möglich, dass wir klar erkennen, wie man Wissen entwickelt und warum man der Welt entsagen muss um das Unbedingte (nibbāna) zu erfahren.

Die Entwicklung von Einsicht

Einsichtswissen ist kein Wissen, das durch Denken oder Bücherlesen entsteht. Es entsteht durch das Praktizieren. Es ist Wissen, das als empirisch oder experimentell betrachtet werden kann. Es entsteht durch einen geis-tigen Zustand, der klarer und tiefer konzentriert ist als sonst. Deshalb betonen wir von Anfang an Achtsamkeit und klare Bewusstheit, die ohne Denken entsteht, wenn wir Einsichtsmeditation betreiben. Sie betrifft weder die Vergangenheit noch die Zukunft, sondern die gegenwärtige Erfahrung. Wenn ihr in die Vergangenheit geht, tendiert ihr dazu über die Vergangen-

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heit nachzudenken. Wenn ihr in die Zukunft geht, ist es eine bloße Projek-tion eurer Gedanken. Einsichtsmeditation betrifft die Gegenwart. Also wenn ihr nicht denkt und so die tatsächliche Natur erfahrt; das heißt all das, was mit eurem Körper und Geist passiert.

Diese Art der Bewusstheit wird über einen bestimmen Zeitraum solange aufgebaut, bis sie kontinuierlich wird während wir Geh- oder Sitzmedita-tion betreiben oder uns mit alltäglichen Dingen beschäftigen. Von Moment zu Moment entwickeln wir diese klare Bewusstheit des gegenwärtigen Momentes. Wenn wir das machen, wird diese Art der Bewusstheit und des Notierens kraftvoller und konzentrierter. Schließlich wird sie ein starker Fluss, der sich aufbaut und erfährt, was gerade von Moment zu Moment los ist. Wenn es euch gut gelingt, kontinuierliche Achtsamkeit aufrechtzuerhal-ten, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr euch mehr auf das Objekt konzentrieren könnt. Was jedoch betont werden muss, ist die Natur des Vipassanā-Objektes. Es muss immer ein reales Objekt sein. Es darf kein Konzept sein. An diesem Punkt ist es nötig euch zu erklären, was ein Konzept überhaupt ist.

Was ist ein Konzept?

Wie ich schon sagte, ist ein Konzept etwas, was ausgedacht, eingebildet oder durch den Geist erzeugt ist. Ein sehr einfach zu verstehendes Beispiel ist, wenn wir denken und Dinge planen, die noch nicht passiert sind, oder wenn wir uns etwas vorstellen und Lüftschlösser bauen. All dies sind reine Konzepte, sie sind nicht real und sie sind geistgezeugt. Es gibt andere Konzeptarten, die feiner sind und wir müssen sie identifizieren lernen. Diese entstehen nicht aktiv sondern passiv. Sie entstehen durch die Geist-prozesse. Solcher Art ist z. B. das, was wir Geräuschkonzept nennen wie Worte oder Melodien. Sie sind nicht real. Sie sind geistgezeugt. Das Wort „selfish“(egoistisch) beispielsweise existiert nicht im letztendlichen Sinne wirklich. Es ist aus Konsonanten und Vokalen zusammengestellt, die pure Geräusche sind. Dieses Wort hat zwei Silben „sel“ und „fish.“ In einem Zeitmoment könnt ihr das Wort „selfish“ nicht hören. Was ihr hört sind ver-schiedenen Geräusche, die vergehen. Es ist nur die Geräuschsequenz, die dem Geist die Idee (das Konzept) gibt. Tatsächlich gibt es nur Geräusch-vibrationen, die einander folgen. Eine andere Art des Geräuschkonzeptes ist die Melodie, „do-re-mi...“. Zu keiner Zeit existiert die Melodie. Es sind nur Noten, die nacheinander erscheinen. Der Geist bekommt einen mentalen Eindruck und so entsteht die Melodie. Diese sind Geräuschkonzepte.

Eine andere Konzeptart beschreibt Formen. Form braucht Entfernung, Richtung und Größe. All dies ist letztendlich nicht real. Wenn ich z. B. sage „dies ist rechts“, ist es links aus eurer Perspektive. Was ist nun wirklich bei mir rechts oder links? Rechts und links sind Konzepte, die von der Be-ziehung zweier Objekte, wie ihr ihnen gegenübersteht etc., abhängen. Ähnliche Dinge sind Entfernung und Zeit. Auch die Idee einer Form ist ein Konzept. Wir scheinen ganze Dinge auf einmal zu sehen, aber in unseren Gedankenprozessen passiert das nicht so. Bilder auf einem Fernseher sind ein gutes Beispiel. Sie erscheinen schnell hintereinander, aber wir sehen die

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Bilder simultan erzeugt. Formen sind Konzepte. Im Falle von Formen er-fahren wir tatsächlich nur Farbe und Helligkeit, die entsteht und wieder ver-geht. Zeit ist auch ein Konzept, abhängig von der Aufgabe vieler Dinge, die kommen und gehen. Alles was es wirklich gibt, sind Dinge, die kommen und gehen. Sie entstehen und vergehen und sind sie schon in der Vergangenheit. Wenn sie noch nicht entstanden sind, dann sagen wir, das ist die Zukunft. Wenn es passiert sagen wir, das ist die Gegenwart. All dies sind Konzepte und in ihnen können wir nicht die Wahrheit und letztend-liche Wirklichkeit finden.

Es gibt ein anderes wichtiges Konzept, das ich behandeln muss. Es ist das Konzept der Person des „Ich“. Dies ist ein sehr zentrales Konzept. Solange der Geist an dem Konzept der Person festhält und durch Hängen an diesem Konzept verdunkelt ist, könnt ihr diese Stufe des logischen Denkens und Erfahrens nicht überschreiten. Wenn wir sagen eine Person, ich, du, Herr oder Frau Schmidt, wo ist dann diese Person? Versucht nach innen zu schauen. Was ist da, wenn ihr „Sitzen“ und „Berühren“ notiert? Findet ihr euch dann im Körper? Was ihr findet, wenn der Körper geht oder sitzt, sind die Bewegungen, die Spannungen, die Hitze etc. Das seid nicht ihr. Ihr könnt euch dort nicht finden. Auch wenn ihr die Gefühle beobachtet: die Gefühle kommen und gehen und sie sind auch nicht euer Ich. Schaut in euren Geist. Euer Geist hört nicht darauf, was ihr sagt. Wenn ihr nicht wollt, dass er denkt, denkt er und wenn ihr denken wollt, denkt er nicht. Wenn ihr nicht schlafen wollt, schläft er und wenn ihr schlafen wollt, schläft er nicht. Es ist als ob er ein Eigenleben hätte. Was wir gewöhnlich „Ich“ nennen, ist ein Resultat all dieser Prozesse, aber wenn ihr diese Person für absolut real haltet, könnt ihr diese Sicht nicht überschreiten. Wenn wir fragen, „Wer ist diese Person?“ und nach innen schauen, dann sind dort nur diese komplexen Geist- und Körperprozesse.

Es gibt auch noch andere Konzepte, die wir antreffen. Solche beispiels-weise, die durch Visualisierung entstehen. Sie tauchen eher durch Ruhe-meditation auf. Manchmal visualisieren die Leute viele Dinge. Sie stellen sich z. B. Götter und Buddhas vor. All dies ist geistgezeugt. Wenn ihr wisst, dass ihr sie kreiert habt, nehmt ihr sie normalerweise nicht so ernst. Es gibt jedoch Leute, die einen Buddha in ihrem Geist erzeugt haben und die denken, dass es der echte Buddha ist. Wenn ihr in der Lage seid, Visuali-sierungen als Konzepte zu erkennen und sie dann in eurer Meditation ent-stehen, konzentriert und fokussiert euch in dem Moment nicht auf sie. Ihr konzentriert euch nur auf Realitäten, auf Geist- Körperprozesse wie z. B die vier großen Elemente (Erde, Feuer, Wasser und Wind). Wenn ihr dann in eurer Sitzmeditation das „Heben“ und „Senken“ beobachtet, dann sorgt dafür, dass ihr bei den Realitäten bleibt anstatt euch die Form des Bauches, die ein Konzept ist, vorzustellen. Auch die Worte „Heben“ und „Senken“ sind Konzepte. Aber nichtsdestotrotz brauchen wir am Anfang einige Hilfs-mittel für unseren Geist. Diese dienen dazu unseren Geist auf die Realitäten zu konzentrieren. Auch wenn ihr geht, sagt ihr „links, rechts“ und auch diese Worte sind Konzepte. Auch wenn ihr das „Anheben“ und „Absetzen“ der Füße beobachtet und ihr irgendeine Idee einer Form oder eines Fußes

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eines Fußes dabei habt, dann sind dies Konzepte. Aber am Anfang kann man das nicht vermeiden. Nach einiger Übung, wenn ihr euch auf die Schritte konzentriert, denkt ihr nicht mehr an die Form des Fußes, die Posi-tion der Zehen und Fersen etc. Ihr seid euch nur der Bewegungen und Empfindungen, die den Gehprozess ausmachen, bewusst. Ähnlich ist es beim Beobachten des „Hebens“ und „Senkens“. Ihr denkt nicht an die Form des Bauches, sondern ihr erfahrt nur die Empfindungen der Vergrößerung, Erweiterung und des Zusammenziehens der Bewegung. Was wichtig ist, ist ein klares Gefühl der Wahrnehmung all dieser Dinge zu bekommen. So ent-steht Achtsamkeit.

Achtsamkeit

Achtsamkeit ist wie ein klares Licht, das scheint. Sie erkennt sehr gründlich all diese Empfindungen und Prozesse. Wenn ihr jemandem sagt, er solle seine Hand auf den Bauch legen und das „Heben“ und „Senken“ beobachten, dann weiß er, dass der Bauch sich hebt und senkt. Wenn ihr dieser Person jedoch sagt, sie soll die ganzen Bewegungsprozesse im Detail beschreiben, dann ist sie dazu nicht in der Lage. Sie sagt nur „gut, es ging auf und nieder“. Dies ist die oberflächliche Stufe der Achtsamkeit, nicht die gründliche durchdringende. Allenfalls ist es gewöhnliches Wissen mit ein bisschen Achtsamkeit. Diese Achtsamkeit reicht nicht aus um Einsicht zu bekommen. Wenn ihr dem Heben und Senken eine lange Zeit folgen könnt, wird es ein wenig klarer werden, weil ihr es besser beobachten könnt. Diese Achtsamkeit ist in dem Sinn ein wenig besser, da sie ausreicht Konzen-tration aufzubauen, aber sie ist nicht gründlich genug um Einsicht zu er-zeugen. Einsicht geht über die Konzentration hinaus. Damit Einsicht ent-steht, müsst ihr das „Heben“ und „Senken“ im Sinne der drei allgemeinen Daseinsmerkmale (Veränderlichkeit, Unzulänglichkeit und Nicht-Selbst) beobachten.

Stellt euch eine Person vor, die das „Heben“ und „Senken“ so beobach-tet, dass sie der Bewegung achtsam folgen kann. Wenn sie achtsamer wird, muss sie die verschiedenen Arten des „Hebens“ und „Senkens“, die manchmal lang, manchmal kurz, manchmal schnell und manchmal langsam sind, beobachten. Auf diese Weise kann sie klar die Sequenz der Ereignisse erkennen. Dies zeigt, dass der Weg klarer wird. Zuerst ist es hauptsächlich die Form. Der ganze Bauch erscheint und dehnt sich wie ein Ballon auf, dann zieht er sich wie ein Ballon zusammen. Dies sind Konzepte. Dann geht er schnell oder langsam diesen oder jenen Weg. Auch das sind noch Konzepte, aber der Aspekt der Bewegung, der Aspekt der Spannung, der Vibration etc. ist schon klarer. Wenn er sehr klar wird, gibt es nur noch Spannungen. Es gibt nicht mehr hierhin und dorthin. Es gibt nur noch den Moment des Erscheinens und Verschwindens der spezifischen Charakte-ristiken.

Nehmen wir noch einmal das Beispiel des „Hebens“ und „Senkens.“ Es hat einen Anfang, setzt sich langsam oder schnell fort, bis es zum Ende kommt und anhält. Wenn es sich langsam fortsetzt scheint das „Heben“ und „Senken“ lang zu sein. Wenn es sich schnell fortsetzt, scheint es kürzer. Es

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ist damit verbunden. Wenn wir in Ausdrücken von lang und kurz oder schnell und langsam reden, sind wir uns zwar der Bewegung bewusst, aber Konzepte sind auch beteiligt, da es kein Anfang, keine Mitte und kein Ende des „Hebens“ und „Senkens“ zur gleichen Zeit gibt. Wenn es am Ende ist, ist es nicht am Anfang und wenn es am Anfang ist, ist es nicht am Ende. Anfang und Ende sind zwei verschiedene Momente. In der Mitte gibt es jedoch viele Punkte viele Bewegungen. Wie könnt ihr also in einem Zeit-moment ein kurzes oder langes „Heben“ und „Senken“ erfahren? Wie ein schnelles oder langsames? Diese Begriffe lang, kurz, schnell, langsam etc. sind alle am Anfang nützlich, da man sonst überhaupt nichts erkennt, sich nicht konzentrieren kann und die Konzentration sich so nicht entwickelt.

Wenn ihr gelernt habt euch zu konzentrieren, wird euch geraten, die Bewegung (das heißt, die Natur, das Gefühl oder die Empfindung) von Moment zu Moment zu fühlen. Das ist die Fähigkeit, die Bewegung so zu beobachten wie sie ist. Also mehr ein Punkt als eine Länge. Wenn ihr das könnt, kommt ihr an den Punkt, wo nur noch reine Empfindungen entstehen und nichts sonst. Dann seid ihr dort angekommen, was wir paramattha dhamma, die letztendliche Wirklichkeit nennen. Damit ist das reine Element der Bewegung gemeint oder wie wir sagen, das reine Wind-element. Wenn ihr in der Lage seid dies sehr klar zu beobachten, dann könnt ihr auch die drei Daseinsmerkmale erkennen.

An diesem Punkt ist es wichtig zu betonen, dass die Fähigkeit zu be-obachten und die letztendlichen Realitäten zu erfahren nicht heißt, dass automatisch Einsicht entsteht. Eine andere letztendliche Realität, für die ihr relativ wenig Anstrengung braucht um sie zu finden, ist Schmerz. Schmerz ist ein Gefühl. Es ist nicht wichtig, wer den Schmerz hat. Es ist Schmerz. Er ist unpersönlich und weder Vergangenheit noch Zukunft. Und außerdem entsteht und vergeht auch er, wenn ihr ihn beobachtet,. Jedoch das Sehen des Schmerzes selbst bedeutet nicht, dass ihr Einsichtswissen habt. Stattdessen könntet ihr mürrisch oder ärgerlich sein. Nichtsdestotrotz könntet ihr, wenn ihr fähig seid den Geist ruhig und konzentriert auf den gegenwärtigen Moment, auf das gegenwärtige Ereignis zu halten und es dabei sehr klar zu beobachten, auch seine Natur verstehen.

Einsichtswissen

Das erste Einsichtswissen ist das Wissen von der Unterscheidung zwi-schen Körper und Geist. Es wird gesagt, dass ihr durch das Notieren des „Hebens“ und „Senkens“ in der Lage sein werdet, die Natur des Geistes, der die Dinge beobachtet, zu notieren. Der notierende Geist ist eine Sache, wohingegen die hebende Bewegung eine andere ist. Einsichtswissen ist die Fähigkeit die Phänomene gemäß ihrer natürlichen Erscheinung zu er-kennen. Wir sehen sie dann als reine letztendliche Realitäten, die in Pali paramatha dhamma genannt werden. Wenn euer wissender Geist frei von Konzepten ist, ist das natürliche Geschehen gegenwärtig. Auch wenn ihr frei von Denken und Konzepten seid, ist es immer vorhanden. Und außer-dem, wenn ihr die Natur dieses Ereignisses klar notiert, werdet ihr ebenso klar bemerken, dass es nicht „Ich“ ist. Der beobachtende Geist ist auch ein

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anderes natürliches Ereignis und das ist auch nicht „Ich“. Darin ist keine Person. Beide, der Beobachter und das Beobachtete sind natürliche Vor-kommnisse. Das ist eine sehr klare Erfahrung, die ihr, wenn ihr sie erst einmal gemacht habt, wieder hervorbringen und mit jedem Objekt erfahren könnt. Es ist der Geist, der reine letztendliche Realität als Objekt hat.

Wenn man Schmerz beobachtet, passiert es normalerweise, dass man denkt, „Mein Bein schmerzt!“ So entsteht das Konzept eines Beines auf zwei Arten „Mein“ und „Bein.“ Wenn wir die Idee des Beines beiseite legen, ist nur noch „Ich habe Schmerzen“ übrig. Wenn ihr den Gedanken „Ich“ auch noch beiseite legt, gibt es nur noch den Schmerz und den Geist. Aber wenn der Geist nicht achtsam ist, wird der Geist dadurch gestört und kann die Dinge nicht richtig erkennen. Wenn er jedoch achtsam ist, könnt ihr den Schmerz ertragen und erkennen, dass nur Schmerz anwesend ist. Wenn die Achtsamkeit sehr gründlich ist und ihr den Schmerz beobachtet, wird euch das sehr klar werden und der Schmerz wird in seiner ganzen Natur sichtbar, so klar, dass der Schmerz nichts mehr mit euch zu tun hat. Es ist einfach eine selbsttätige, natürliche Erscheinung. Beim wissenden Geist ist es genauso.

So entspricht euer Wissen mehr dem, von dem ich denke, was eine Ein-sichtsstufe ist. Dann wisst ihr es durch Erfahrung und nicht, weil ihr es in Büchern gelesen habt, weil es euch jemand gesagt hat oder weil ihr es euch ausgedacht habt, sondern weil ihr durch klare Achtsamkeit wisst, dass es keine Einbildung ist. Diese Bewusstheit ist sehr klar und scharf. Sie ist schärfer als gewöhnliche Arten der Bewusstheit.

Oft passiert es, nach der Erfahrung von geringeren Formen des Wissens, dass eine Konzeptionalisierung erfolgt. Speziell wenn die Einsicht sehr klar war, können dadurch Theorien entstehen, die die Angelegenheit verkompli-zieren. Die Erfahrung ist eine Sache, die folgenden Gedanken eine andere. Vielleicht fangt ihr an eine Theorie zu erzeugen darüber, wie all dies pas-siert und fangt an die Erfahrung zu vielen verschiedenen Dingen in Relation zu setzen. All das ist wahrscheinlich nicht besonders exakt. Es gibt also zwei Dinge. Eines ist die tatsächliche Erfahrung und das andere ist der Ein-druck der Gedankenprozesse im gewöhnlichen Leben. Der Eindruck der anfänglichen Einsichtserfahrung kann sehr scharf sein und einige Leute sind aber noch gar nicht so weit. In diesem Fall können viele ungünstige Ge-dankenprozesse folgen. So kann z. B. Furcht entstehen, wenn jemand im gewöhnlichen Leben viel Anhaftungen hat. Wenn es an diesem Punkt keine richtige Führung gibt oder keine unterstützende Gruppe existiert, können diese Personen verschreckt werden. Eure Einsicht mag stark sein, aber nicht stark genug um alle Befleckungen zu zerstören. Und wenn die verwandten Befleckungen sehr stark sind, können sie die Angelegenheit verkompli-zieren. Sie können einen dazu bringen die Dinge in einem so anderen Licht zu sehen, dass man ängstlich wird. Die ursprüngliche Erfahrung ist zwar eine echte Erfahrung, aber der Geist ist noch nicht so weit. So können die folgenden Gedankenprozesse einen negativen Einfluss ausüben. Natürlich variiert das bei verschiedenen Leuten. Einige nehmen Dinge leicht, die andere nicht leicht nehmen. Wenn es jemandem in einem Retreat passiert

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und dies ein langes Retreat ist, wird die tatsächliche Einsicht in die Natur von Körper und Geist - ohne Konzepte, ohne Denken - diesen Punkt ver-tiefen und eine sehr gute Grundlage bilden. Es kann sogar die Stufe von magga phala, die Stufe der Erleuchtung, der Verwirklichung erreicht werden.

Natürlich entsteht dieser Prozess nicht sofort oder in einer Sekunde. Normalerweise dauert es sehr lange. Der gesamte Prozess mit all seinen Stufen wird in den Kommentaren und im gewissen Grade in den Sutten als die sieben Stufen der Läuterung oder die 16 Einsichtswissen beschrieben.

Das erste Einsichtswissen behandelt die Läuterung der Ansicht, das ist das Aufgeben des Ich-Konzeptes. In einer der Sutten zeigt uns der Buddha, was weise Aufmerksamkeit, die auf normale entstehende Gedankenpro-zesse angewandt wird, ist. Normalerweise ist es so, dass, wenn jemand denkt, seine Gedanken um „Ich“ und „Mein“, also das Ego, kreisen. All das, was man tut, die ganze Welt dreht sich um einen selbst. Das beschreibt der Buddha als unweise Aufmerksamkeit, vor allem, wenn es ein Hängen am „Ich“ gibt. Dies ist eine falsche Ansicht, da durch solch eine Ansicht Anhaften, Ärger etc. entstehen. Aber beim dhamma ist es anders , wenn man sehen kann, dass dort tatsächlich gar kein „Ich“ ist, sondern nur Geist- und Körperprozesse, nur Phänomene. Die ganze Welt, die um einen herum zentriert erschien, wird nicht von der Person aus, sondern abhängig von reiner unvoreingenommener Achtsamkeit, reiner klarer Bewusstheit ge-sehen. Alles ist nicht „Ich“ nicht „Mein“. Es sind nur Erscheinungen, die durch ihre eigenen Bedingungen entstehen. Auf dieser Stufe entsteht die Läuterung der Ansicht von allen falschen Sichtweisen, falschen Meinungen, die auf dem Hängen am Selbst basieren, hängen an der Idee einer Person, des „Ich“ und „Mein.“

Die 62 falschen Ansichten, die im brahmajala sutta genannt werden, sind alle vom Hängen am Selbst abhängig. Wenn man in der Lage ist, die Phänomene gemäß ihrer Einzigartigkeit oder ihrer spezifischen Charakte-ristiken zu beobachten, wenn man sie klar sieht - eines nach dem anderen, die Beziehungen des abhängigen Entstehens der abhängigen Existenz - dann wird der bedingte Lebensaspekt sehr klar. Dieses abhängige Entstehen oder die Bedingtheit behandelt die zweite Läuterung oder das zweite Ein-sichtswissen. Dies passiert in Verbindung der Überwindung der tieflie-genden Konzepte von Zeit, Vergangenheit, Zukunft etc. Das Zeitkonzept bricht zusammen. Wenn das erst einmal klar wird, werden die drei Da-seinsmerkmale deutlich werden.

Alle 16 Einsichtswissen, manchmal wird auch von 18 Einsichtswissen gesprochen, können unter drei Kategorien klassifiziert werden. Diese sind die Einsichten, die die Veränderlichkeit betreffen, Einsichten, die das Leiden betreffen und Einsichten, die das Nicht-Selbst betreffen.

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15. Einsichtswissen in Kurzform Einsicht entsteht durch direkte Erfahrung der Realität. Realität wird er-

lebt, wenn wir alle Konzepte beiseite legen und den Geist nur auf das gegenwärtige Geschehen richten. Der Geist erforscht das, was tatsächlich passiert, das, was wir Geist- und Körperprozesse nennen.

Wenn ihr klar bewusst des gegenwärtigen Momentes seid, was erfahrt ihr dann? Wenn ihr die Sitzempfindung rund um den Hintern beobachtet, dann wisst ihr tatsächlich nichts vom Hintern, ihr erfahrt keine Form, ihr erfahrt nur den Druck und das ist das, was wir letztendliche Realität nennen. Letztendliche Realität ist das Geschehen, das im gegenwärtigen Moment ohne Denken oder Vorurteile erfahren werden kann. Dies sind die spezifischen Merkmale der Geist-Körper-Prozesse.

Nur wenn die tiefe klare Bewusstheit auf das Beobachten der Realität also auf die Geist-Körper-Phänomene platziert und fokussiert wird, können wir tiefe Erfahrung und tiefes Verstehen der Realität bekommen. Nur wenn die tiefe Bewusstheit durchdringend ist, haben wir die Erfahrung der Reali-tät. Ihr seht, dass all diese Erfahrungen nur natürliche Erscheinungen sind. Da ist keine Person anwesend, kein „Ich,“ kein „Euch“, sondern nur ein natürliches Phänomen. Wenn ihr diese Phänomene klar beobachten könnt, werdet ihr erkennen, dass sie nicht etwa absolute Entitäten selber sind, sondern abhängig mit all den anderen assoziierten Phänomenen. Wir sagen, dass wir uns der bedingten Natur bewusst sind und was uns klar wird, ist der Fluss. Der Geist und der Körper fließen, der Prozess fließt und abhängig von diesem Fluss ist das Ding, was Zeit genannt wird.

Wenn man weitermacht, wird man sehen, dass all die Dinge im Uni-versum letztendlich in dem enden, was wir als die drei allgemeinen Da-seinsmerkmale (Veränderlichkeit, Unzulänglichkeit und Nicht-Selbst) be-zeichnen. Wir sagen auch, dass die 16 Einsichtswissen in Einsichtsgruppen unter diesen drei allgemeinen Merkmalen klassifiziert werden können.

Einsicht in die drei allgemeinen Daseinsmerkmale

Jetzt ist es notwendig euch ein klareres Verständnis der Einsicht in diese drei Daseinsmerkmale zu geben.

Damit man besser verstehen kann, definiert der dhamma ein paar Be-griffe. Es sind anicca (Unbeständigkeit), aniccalakkhana (Das Merkmal der Unbeständigkeit), und aniccanupassana (Betrachtung der Unbeständigkeit). Der dhamma definiert, was mit Unbeständigkeit gemeint ist, und zwar Un-beständigkeit bezüglich der fünf Daseinsgruppen. Diese Geist-Körper-Prozesse sind Form, Empfindungen, mentale Gestaltungen und Bewusst-sein. All diese Daseinsgruppen sind unbeständig. Das bedeutet, dass die tatsächliche wahre Natur der fünf Daseinsgruppen, diese Geist-Körper-Prozesse als unbeständig zusammengefasst werden können.

Was ist diese Unbeständigkeit? Wir sprechen erst einmal von der Charakteristik der Unbeständigkeit. Charakteristik bedeutet Merkmal oder Zeichen, das selbst nicht Unbeständigkeit sondern nur Merkmal ist. So wie es ein Schild, dass nach Katoomba zeigt, gibt. Das Schild selbst ist nicht

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Katoomba. Katoomba ist der Ort, den ihr erreicht, wenn ihr dem Schild folgt. Ein anderes Beispiel ist ein Finger, der zum Mond zeigt. Dieser Finger ist nicht der Mond. Auf die gleiche Weise zeigt das Merkmal der Unbeständigkeit nur auf die Unbeständigkeit.

Was ist nun das Merkmal der Unbeständigkeit? Was wir normalerweise Veränderung nennen, ist das Merkmal der Unbeständigkeit. Wir erkennen einen Anfang und ein Ende.

Was ist dann die Unbeständigkeit selbst? Unbeständigkeit ist das, wenn der Moment entsteht und dabei schon vergeht. Ein Mönch definierte es so: wenn ihr das Entstehen wie das Vergehen in dem Maße erfahrt, dass es keinen Unterschied zwischen dem Entstehen und Vergehen mehr gibt, in diesem Moment erfahrt ihr Unbeständigkeit selbst. Das ist auch das, was wir die Veränderung im Moment nennen.

Wenn ihr z. B. das „Heben“ und „Senken“ beobachtet, sagt ihr zuerst „Heben, Senken, Heben, Senken.“ Wie ich schon vorher sagte, ist das Wort ein Konzept, aber es ist ein Konzept, dass euch zur Erfahrung der Be-wegung führt, zum Fluss der Empfindungen der Bauchdecke. Ihr könnt die Vorstellung eines runden Bauches, der sich wie ein großer Ballon aufbläst, bekommen. Die Vorstellung des Bauches ist ein Konzept und entsteht durch das Beobachten. Wenn ihr jedoch fortfahrt, ist das, was immer klarer wird, die Veränderung, die damit einhergeht. Manchmal ist die Bewegung schnell, manchmal langsam, manchmal geht es in diese Richtung, manch-mal in jene. Diese Methode, obwohl sie ein noch anwesendes Konzept dar-stellt, kann man nicht vermeiden. Was ihr tun müsst, ist den Geist weiter zur tatsächlichen Empfindung zu zerren. Wenn ihr dann diese Empfindung fühlen könnt, gibt es nur einen Empfindungspunkt. Es ist, als ob das „Heben“ aus einer Menge von Punkten besteht. Und all diese Punkte können nicht zur gleichen Zeit erscheinen, nur ein einziger Punkt kann zu einem Zeitpunkt entstehen und vergehen. Wenn ihr euch besser auf die pure Empfindung fixieren könnt, passiert es, dass ihr das „Heben“ als eine um-fassende Serie von Bewegungen und Empfindungen seht. Dies wird oft wie auf einer geraden Linie wahrgenommen, obwohl das nicht notwendiger-weise so sein muss, da eine gerade Linie auch ein Konzept ist. Bei eurem Beobachten, kommt ihr der Serie der Empfindungen immer näher und dann kommt ihr an einen Punkt, wo es nur noch ein Fluss ist.

Ein anderes Beispiel. Am Anfang kann man das „Heben“ oft in zwei Phasen, die in der Mitte kurz anzuhalten scheinen, beobachten. Wenn ihr weiter beobachtet, scheint es drei- oder viermal zu stoppen, als wenn das „Heben“ in drei oder vier Teile aufgeteilt ist. Bei noch näherer Beobach-tung ist es so, als wenn es in zehn Teile unterteilt ist, dann 100, obwohl ihr natürlich diese 100 Teile nicht mehr zählen könnt. Letztendlich gibt es in einem Zeitmoment nur ein Entstehen und das Entstehen ist auch gleich-zeitig das Vergehen. Wenn dies passiert, könnt ihr nicht mehr denken. Die Empfindung, die Spannung und die Bewegung selbst sind nicht länger klar. Was klar ist, ist die Veränderung im Moment, der Fluss. Es ist so, als wenn ihr eine Kinoleinwand beobachtet. Ein Bild des Filmes erscheint und geht dann, dann ein anderes und wieder ein anderes. Wenn dies immer schneller

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auftritt, was passiert dann? Das Bild erscheint (oder geht an und aus), und zwar bis es so schnell wird, dass ihr nicht mehr das individuelle Bild sehen könnt, ihr wisst nur noch, dass es sehr schnell an und aus geht. Es ist keine Zeit um das Bild zu sehen, da das Bild nur für einen kurzen Moment exis-tiert. In anderen Worten, der Geist konzentriert sich zuerst auf die Empfin-dung und wenn man sich der Natur dieser Empfindungen bewusst ist und zwar mit reiner Achtsamkeit und purer Aufmerksamkeit auf den gegen-wärtigen Moment, dann seht ihr nur noch den Fluss. Wenn ihr nur noch den Fluss seht, seht ihr die Unbeständigkeit. Deshalb, was auch immer es ist, ob es eine materielle Qualität der vier Elemente, das Gefühl, das Bewusstsein selbst ist oder ob es geistige Gestaltungen sind, in dem Moment wo alles zu diesem Fluss reduziert, gibt es keine eigentliche Unterscheidung mehr. Wenn ihr an diesem Fluss oder dieser Im-Moment-Veränderung ankommt, seht ihr die Unbeständigkeit. Nun könnt ihr erkennen, dass nicht nur die Materie unbeständig ist, sondern auch alle fünf Daseinsgruppen des Körper- und Geistprozesses.

Die wahre Natur der Realität

Diese Unbeständigkeit kann als die wahre Natur der Realität bezeichnet werden, die wahre Natur der Phänomene. Unbeständigkeit ist ein Wort die Realität zu bezeichnen, aber zuerst müssen wir in der Lage sein diese Phänomene zu beobachten. Ihr verbleibt nicht bei den Konzepten. Ihr durchdringt sie und geht zur tatsächlichen Realität. Ihr beobachtet die Im-Moment-Veränderung in Geist und Körper, die Vipassanā-Objekte, aber ihr hängt nicht an ihnen. Ihr lenkt den Geist um diese Dinge zu beobachten, aber ihr benötigt einen klaren unvoreingenommenen Geist. Dann werdet ihr keine Vorurteile haben, wenn ihr den Geist zerrt, ihn führt und in den Fluss, in den Prozess selbst sinkt. Ihr solltet keinerlei vorgefasste Meinungen haben. Es ist wie Blasen, die kommen und gehen. Ihr solltet euch nicht vor-stellen, wie es wäre oder sein sollte. Ihr solltet den Geist in einer Weise halten, der frei und angemessen zu seinem eigenen einzigartigen Bewusst-seinszustand ist, da Einsichtswissen in einer Art entsteht, die der Umgebung und dem Temperament des Individuums entspricht. Obwohl es ein herkömmliches Muster gibt, in dem Einsichtswissen erscheinen und sehr schnell wieder verschwinden, ist jede individuelle Erfahrung einzigartig. Wenn ihr eine vorgefasste Meinung habt, limitiert ihr die Freiheit mit der euer Geist Einsicht entwickeln kann. Einige Leute, die schon Erfahrungen gemacht haben, versuchen ihre vergangenen Erfahrungen wiederzubekom-men. Wir empfehlen dies nicht zu tun. Wenn ihr die richtige Methode habt und dieser entsprechend praktiziert, entstehen die Einsichtsstufen von selbst. Wenn ihr versucht mit einem bestimmten Weg übereinzustimmen, also wie die Erfahrung sein sollte, dann begrenzt oder zögert ihr euren eigenen Fortschritt hinaus. Lasst es in einer geringfügig anderen Art pas-sieren, sorgloser und schneller, ohne diese sich selbst aufgebürdeten Ein-schränkungen. Das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen, ihr führt den Geist durch Beobachten, wie er die Merkmale der Unbeständigkeit betrach-tet. Ihr habt keinerlei vorgefasste Meinung wie die Erfahrung oder Un-

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beständigkeit sein wird. Ihr müsst einen richtig klaren und offenen Geist dafür haben, was geschieht. Es ist wichtig keinerlei Erwartungen zu haben. Der Anblick der Unbeständigkeit selbst entsteht durch die konstante Be-obachtung der Merkmale der Unbeständigkeit.

Leiden

Im Pali ist das Wort für Leiden dukkha. Wenn wir Leiden sagen, bezieht es sich genauso auf die fünf Daseinsmerkmale, wie auch Unbeständigkeit sich auf die fünf Daseinsmerkmale der Körper- und Geistprozesse bezieht. Das Merkmal des Leidens bezieht sich auf Bedrücktheit. Die klarste Er-scheinung ist das, was wir dukkhadukkha, „Leiden-Leiden“ oder Schmerz des Leidens nennen. Dies bezieht sich auf den allen bekannten Schmerz körperlich oder geistig. Beispiele sind, wenn ihr euch traurig fühlt, Zahn-, Kopf-, Rückenschmerzen oder Schmerzen in den Beinen habt. All dies sind Merkmale des Leidens. Da ist klar erkennbare Bedrücktheit. Wenn wir jedoch über das Leiden der fünf Daseinsgruppen sprechen, bedeutet das, dass die fünf Gruppen, da sie unbeständig sind, selbst Leiden sind. Es setzt Unbeständigkeit mit Leiden gleich. So gibt es tatsächlich zwei Worte mit der gleichen Bedeutung, aber Leute, die das nicht selbst erfahren haben, sind nur in der Lage die Merkmale und noch nicht die Realität zu sehen. Wenn jemand die wahre Bedeutung durchdringen möchte, im Sinne der drei allgemeinen Daseinsmerkmale, dann muss man die Unbeständigkeit selbst sehen. Man muss die Merkmale der Veränderung immer wieder betrachten. Wenn man dann dazu in der Lage ist, kann man auch die Merkmale des Leidens klarer sehen. Schließlich, wenn ihr die Unbeständigkeit selbst klar sehen könnt, werdet ihr auch das Leiden dort erkennen. Mit anderen Worten gesagt, muss man schließlich den Geist dazu bringen die Im-Moment-Änderung, den tatsächlichen Fluss der Geist- und Körperprozesse, so klar wie möglich zu sehen. Dann werdet ihr verstehen, dass die Im-Moment-Änderung des Geistes selbst Leiden und die Erfahrung dessen wie inten-siver Schmerz ist. Diese Art von Schmerz ist ein mehr geistiger als körper-licher Schmerz. Dann versteht der Geist das, was in den Sutten gesagt wird, nämlich dass alles, was unbeständig ist, auch Leiden ist.

Es ist nicht so, dass ihr leidet, weil ihr an eurem Besitz oder Körper haftet oder dadurch, dass ihr euch verändert, weil ihr wachst, alt und krank werdet. Das ist mehr eine konventionelle Argumentation ein konventio-nelles Verstehen. Während der Praxis, da ihr die Im-Moment-Änderung sehr klar seht, die echte Unbeständigkeit, wird das Leiden offensichtlich. Dieses Leiden ist die Im-Moment-Änderung, die in der Form einer unstabi-len unruhigen Erfahrung daherkommt. Es ist eine echte Erfahrung, so etwa wie Schmerz oder mentale Qual. Es ist die fundamentale Basis, wo alles Leiden im Leben entsteht.

Das Ziel all dessen ist, vergesst das nicht, Loslösung. Loslösung von allem was unbeständig ist, Loslösung von allem was entsteht und vergeht. Wenn die Unbeständigkeit nicht erfahren wird, kann der Geist keine Los-lösung von der bedingten Natur, also allem was die Natur des Entstehens und Vergehens hat, entwickeln. Wenn ihr nicht die auf diese Weise er-

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haltene totale Loslösung erreicht, wird der Geist noch an etwas, dass be-dingt ist, etwas, dass mit Geburt und Tod verbunden ist, hängen. So sucht ihr vielleicht Zuflucht in etwas, dass sehr friedlich und fein ist. Wenn man jedoch erkennt, dass alles Bedingte unbefriedigend, leidvoll oder voller Schmerz ist, dann wendet sich der Geist davon ab. So löst er sich von den bedingt entstandenen Dingen. Wenn dies passiert, wendet sich der Geist tatsächlich dem Unbedingten zu, wendet sich dem zu, was wir nibbāna nennen, da das Unbedingte etwas ist, das sich nicht ändert. Im Vergleich zum Zustand des Leidens des Bedingten ist dies der ewige Frieden. Dann werdet ihr auch verstehen, warum wir sagen, dass Vipassanā-Meditation der einzige Weg zum Unbedingten ist.

Viele Leute scheinen es nicht zu mögen, dass vipassanā der einzige Weg ist. Wenn ihr jedoch diesen Punkt der unbeständigen und leidhaften Natur erwägt, kann nur die Einsichtsmeditation euren Geist dazu bringen, die Unbeständigkeit und die bedingte Natur des Leidens zu sehen. Nur wenn ihr dies selbst seht, werdet ihr euch von all diesen bedingten Dingen abwenden. Wenn der Geist nicht dieses wirklich starke und machtvolle Verstehen entwickelt, werden euch all die langen und tiefsitzenden An-haftungen an die Freuden der Welt und Existenz auch festhalten. Ihr könnt euch nicht befreien, da der Geist nicht frei sein will. Der Geist sieht es nicht ein, frei zu sein, da er das Leiden und die Intensität des in der bedingten Natur gegenwärtigen Leidens, gegenwärtig in allem Entstehenden und Ver-gehenden, nicht sieht.

Das bedeutet, dass unsere Entwicklung der Unbeständigkeits-Wahrnehmung sehr scharf werden muss. Es ist für uns leichter etwas zu erkennen, das materielle Eigenschaften hat; das heißt, Hitze, Vibration und Spannung, die von Moment zu Moment entsteht und vergeht. Es ist leicht schmerzhafte Gefühle entstehen und vergehen zu sehen. Aber es ist schwie-riger, Dinge wie das Bewusstsein, Dinge wie freudige und neutrale Gefühle, die gewöhnliche Personen überhaupt nicht klar erfahren, zu sehen. Nur wenn ihr auch diese als unbeständig sehen könnt, könnt ihr die wahre Be-deutung des Leidens hinter der Unbeständigkeit erkennen und das wird immer deutlicher, wenn sich eure Meditation und Konzentration vertieft. Die Gefühle werden subtiler. Die Objekte und geistigen Objekte werden feiner. Wenn ihr nicht in der Lage seid die Im-Moment-Veränderung in diesen zu beobachten, werdet ihr nicht das Leiden darin sehen können. Und weil ihr die Veränderung nicht sehen könnt, seht ihr sie als wesenhaft und wunderbar an. Deshalb, wenn ihr nicht die Im-Moment-Änderung, die Un-beständigkeit und das daraus resultierende Leiden sehen könnt, kann sich die Loslösung nicht ereignen.

Obwohl ihr am Anfang noch nicht die Im-Moment-Änderung sehen könnt, könnt ihr offensichtlichere Veränderungen wahrnehmen. Wenn ihr die Gegenwart der Veränderung dann klarer seht, hört das Anhaften lang-sam auf. Zuerst könnt ihr keine Wahrnehmung vom Nicht-Selbst haben, da der Geist noch an der Idee eines Ego, eines Selbst hängt. Wenn man die Veränderung im Geist und Körper sieht, geht das Hängen am Selbst lang-sam weg und das Wesenlose der natürlichen Erscheinungen der Geist-

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Körper-Prozesse wird klarer. Ihr erkennt immer mehr, dass ihr nicht die Körperempfindungen seid, dass der beobachtende Geist nur der beobach-tende Geist ist. Genauso wie die Gefühle und die ganze Menge an Schmerz nicht zu einem „Ich“ gehört. „Ich“ ist nicht der Schmerz. Und der Geist, der den Schmerz klar beobachtet, ist auch nicht „Ich.“ Es ist nur der beobach-tende Geist. Diese Art der Erfahrung entsteht nur, wenn ihr die Verände-rung und das Leiden, das durch diese Veränderung entsteht, erkennt. Dann werden die Merkmale der Unbeständigkeit klarer, die Merkmale des Nicht-Selbst offensichtlicher. Erst wenn das Merkmal des Nicht-Selbst offenbar wird, kann das Nicht-Selbst selbst offenbar werden. Dieses Nicht-Selbst entspricht den fünf Daseinsgruppen, einer Kategorisierung der Realität. Das Gleiche gilt für Unbeständigkeit und Leiden.

Um es kurz und einfach zu machen. Die Merkmale sind nur Hinweise in die Richtung, in die ihr euren Geist zum Beobachten hinwenden müsst ohne Erwartung dessen, wie es denn sein wird, wenn ihr tatsächlich den Fluss erfahrt. Die Tatsache der Unbeständigkeit, das Leiden und das Nicht-Selbst sind selbst Realitäten, aber die Merkmale sind diejenigen Dinge, die ihr zuerst erfahrt. Genau wie die Veränderung und die Bedrücktheit, die euch dann tatsächlich zur echten Erfahrung der Realität führt.

Die verschiedenen Stufen des Einsichtswissen

So kann all die Unbeständigkeit, all das Leiden und Nicht-Selbst, also die Realitäten oder bedingten Erscheinungen, auf verschiedenen Stufen ge-mäß der Kraft und Stärke der verschiedenen Kontrollfähigkeiten erfahren werden. Die fünf Kontrollfähigkeiten sind Vertrauen, Energie, Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht. Wenn Achtsamkeit, Konzentration und Ein-sicht stärker werden, werdet ihr die drei allgemeinen Daseinsmerkmale auf einer tieferen Stufe erfahren. Je tiefer diese Stufe ist, desto tiefer ist das Einsichtswissen.

Im Allgemeinen beginnt die Beobachtung mit den groben Verände-rungen und der Bedrücktheit. Dann, wenn die natürlichen Erscheinungen klar als Nicht-Selbst gesehen werden, wird die Unbeständigkeit stärker und so wird auch das Merkmal der Unbeständigkeit klarer. Die Merkmale des Leidens folgen und dann die Merkmale des Nicht-Selbst. Wenn all diese drei Merkmale klar geworden sind, wird die Erfahrung der Unbeständigkeit, des Leidens und des Nicht-Selbst klarer und nicht nur die Merkmale. Mit anderen Worten: die Erfahrung der Realität wird deutlicher.

Bitte bedenkt, wenn wir Erfahrung der Realität sagen, dass wir nur die Erfahrung meinen. Die Realität bleibt immer die Gleiche. Es ist die Er-fahrung, die klar oder nicht so klar ist. Deshalb können diese verschiedenen Stufen der Erfahrung der Realität als verschiedene Stufen des Einsichts-wissens betrachtet werden.

Nehmt z. B. die 16 Einsichtswissen. Das erste Einsichtswissen (Unter-scheidung von Geist und Körper) ist Einsichtswissen, das das Nicht-Selbst anbelangt. Das zweite Einsichtswissen (Wissen der Bedingtheit) und das dritte Einsichtswissen (Wissen des klaren Verstehens) können sich beide auf irgendeines der drei allgemeinen Daseinsmerkmale beziehen, da diese

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beiden alle drei Daseinsmerkmale abdecken. Hier wird irgendeines der drei Merkmale in eurer Erfahrung klarer. Wenn ihr zum vierten Einsichtswissen, dem Wissen vom Entstehen und Vergehen kommt, wird das Merkmal der Unbeständigkeit sehr deutlich. Wenn ihr dann zum Einsichtswissen des Schreckens, der Gefahr, der Abwendung und zum Erlösungswunsch kommt, wird bei diesen vier Einsichtswissen das Merkmal des Leidens immer deutlicher. Beim Einsichtswissen des Gleichmuts gegenüber den Gestaltungen wird der Aspekt des Nicht-Selbst klar. Ihr könnt sehen, dass - obwohl alle drei allgemeinen Daseinsmerkmale in allen Aspekten der Reali-tät immer vorhanden sind - zu gewissen Zeiten eine Charakteristik deut-licher hervortritt. Wenn ihr mehr Unbeständigkeit erfahrt, erfahrt ihr mehr Leiden. Wenn ihr mehr Leiden erfahrt, entsteht Ablösung und ihr erfahrt mehr Nicht-Selbst. So geht der Kreislauf weiter.

Das Hauptziel ist Läuterung

Wichtig ist, dass das Hauptziel all dieser Erfahrungen die Läuterung ist. Diese Läuterung entsteht dadurch, dass man in allen Dingen Nicht-Selbst sieht. Das bedeutet, dass ihr dem Hängen an all diesen Geist-Körper-Prozessen entsagt. Nicht nur das grobe Haften, sondern auch das sehr feine und tiefsitzende Haften. Wenn all diesem tiefsitzenden Hängen in uns ent-sagt wurde, dann ist das, was übrig bleibt, die Natur. Wenn man außerdem das Leiden in all diesen Dingen sieht, ist man vollkommen losgelöst von den unbeständigen Dingen. Dann kann der Geist sich selbst befreien und Zuflucht im nibbāna, dem unbedingten Zustand, finden. Dies ist eine kurze Zusammenfassung der Mechanismen der Einsichtsmeditation.

Dinge auf die man achten sollte

In diesem Prozess gibt es natürlich eine Menge zu beachtender Dinge. Die Meditationshandbücher warnen den Yogi immer vor den Fallstricken. Einige von ihnen werden als Trübungen der Einsicht (upakilesas) bezeich-net. Diese können sehr scharf und sehr klar entstehen, wenn man eine ge-wisse Stufe der Meditation erreicht hat. Diese Fallstricke treten häufig beim niederen udayabhaya ñāCa auf, den niederen Wissen vom Entstehen und Vergehen. Nicht, dass es nicht auch woanders entstehen könnte, aber es entsteht oft an diesem Punkt. Das Wichtige ist hier, alle Erfahrungen, die wir machen, lediglich zu notieren, egal wie angenehm, wundervoll oder tiefgreifend sie sind. Auch sie entstehen nur und vergehen wieder. Wenn ihr die Unbeständigkeit in den Dingen nicht sehen könnt, können sie zum Fall-strick werden. Sie können Verlangen erwecken, Überheblichkeit oder falsche Ansicht. Verlangen und Anhaftung entsteht, wenn ihr sie so wunderbar findet, dass ihr sie mehr und mehr behalten wollt. Eine andere Form der Anhaftung ist, wenn ihr z. B. fühlt, dass ihr etwas Wunderbares erfahren habt und euch deshalb wichtig fühlt und so stolz darauf seid. Auch so entstehen Befleckungen. Oder ihr denkt, ihr habt den höchsten Zustand gefunden, weil ihr große Ruhe und wunderschöne geistige Zustände erfahrt und ihr denkt, dass das nibbāna sei. Ihr hängt an der Ansicht, dass dies der höchste Zustand ist. Das ist falsche Ansicht. Wenn das passiert, hört ihr

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nicht nur mit dem Fortschreiten auf, sondern ihr könnt auch weitere Pro-bleme bekommen. In Extremfällen könnt ihr auch einen psychischen Schaden bekommen und ein bisschen psychotisch oder neurotisch werden. Deshalb solltet ihr davor auf der Hut sein, denn obwohl Leute davon hören, werden sie trotzdem davon überwältigt und gehen in diese Falle.

Die zehn Trübungen der Einsicht

Die zehn Trübungen der Einsicht oder zehn Befleckungen der Einsicht sind tatsächlich Resultate, die durch gute Erfahrungen auf Grund eines reinen Geistes entstehen. Ausgenommen die letzte Trübung. Sie ist eine echte Befleckung. Wegen solcher Anhaftung kann es zum Fall kommen. Deshalb merkt euch, dass das, was auch immer entsteht und als angenehm erfahren wird, achtsam notiert werden muss.

Die zehn Trübungen der Einsicht sind:

1. Obhasa Lichtglanz 2. ÑāCa Erkenntnis 3. Pīti Entzücken 4. Passaddhi Gestilltheit 5. Sukha Glückseligkeit 6. Adhimokkha Vertrauen 7. Paggaha Energie 8. Upatthana Starke Achtsamkeit 9. Upekkha Gleichmut 10. Nikanti Anhaften

Ihr könnt schwierige Situationen antreffen

Die andere Sache, die ihr bedenken solltet ist, dass ihr im Laufe eurer Praxis mit vielen schwierigen Situationen umgehen müsst. Das hat mit der Meditation und euren Befleckungen zu tun. Man sagt, dass bei Personen, deren Befleckungen stark sind, Fortschritte in der Meditation schwieriger erlangt werden, da Meditationsfortschritt Läuterung des Geistes heißt. Wenn es eine Menge an Unreinheiten gibt, ist es schwieriger sie zu ent-fernen. Ein anderes Problem besteht darin, wenn jemand große Schmerzen hat und gleichzeitig starke Tendenzen zum Ärger. Es ist dann schwieriger für ihn, während der Schmerzbeobachtung die Ruhe zu bewahren. Schmerzbeobachtung und Leiden ist unvermeidbar bei vipassanā. Wenn gewisse verschiedene Aspekte des Zornes stark vorhanden sind, kommen sie wiederholt hoch. Außerdem ist jeder Zorn auch mit Anhaften ver-bunden. Zorn entsteht dadurch, dass ihr nicht das bekommt, was ihr wollt. Und Anhaften ist auch mit Unwissenheit und Wahn verbunden. Ihr könnt die Natur der Unbeständigkeit nicht sehen oder akzeptieren. Deshalb seid ihr verblendet und deshalb haftet ihr an. Und wenn ihr anhaftet und die Dinge nicht so laufen wie ihr wollt, werdet ihr zornig. Ihr seht also, dass diese drei üblen Wurzeln miteinander verbunden sind. Wie bei einem unter-einander verbundenen Verbrechersyndikat. Deshalb können sich bestimmte

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Phasen der Meditation wegen der starken Befleckungen schwierig gestalten. Wenn ihr nicht in der Lage seid diese Phasen zu überwinden, könnt ihr hier stecken bleiben und wenn ihr nicht vorsichtig seid, kann der Geist anstatt gereinigt zu werden noch größere Befleckungen anhäufen. Zu solchen Zeiten ist es wichtig richtigen Rat zu suchen. Wenn der Geist unruhiger als sonst wird und keinerlei Achtsamkeit vorhanden ist, ist es besser zu den Grundlagen zurückzukehren und sich ein bisschen auszuruhen.

Ihr habt vielleicht gehört, dass es gewisse Einsichtswissen wie das Wissen der Furcht, des Schreckens oder des Ekels gibt. Einige Leute fürch-ten sich vielleicht vor diesem Moment. Es ist aber nicht wirklich erschre-ckend, es ist mehr wie das Sehen des Terrors in der Natur der Körper- und Geistprozesse. Es ist Einsicht. Wenn ihr etwas Schreckliches seht, heißt das nicht automatisch, dass ihr euch auch erschreckt. Ihr werdet erschreckt, wenn es sich nicht um ein Einsichtswissen handelt. Wenn euer Geist nicht stark genug ist die Achtsamkeit aufrechtzuerhalten, dann kann der sofort auf dem Einsichtswissen folgende Bewusstseinseindruck nicht so angenehm sein. Deshalb ist starke und stabile Achtsamkeit sehr wichtig. Durch starke Konzentration werden kleine Erfahrungen vergrößert. Wenn sie außer-ordentlich vergrößert werden und eure Achtsamkeit nicht stark genug ist sie zu akzeptieren und zu beobachten, entstehen statt der Erfahrung von Ein-sichtswissen Befleckungen. Deshalb ist starke Achtsamkeit so wichtig.

Drei Modelle, die den Meditationsfortschritt beschreiben

Ich möchte jetzt drei Modelle für den Fortschritt in der Einsichtsmedita-tion, also Fortschritt bei der Durchdringung der drei allgemeinen Daseins-merkmale, vorstellen.

Das erste Modell ist das eines Mikroskops. Der Einsichtsfortschritt scheint wie ein Mikroskop zu sein, das konsequent seine Vergrößerungs-fähigkeit steigert. Je größer die Vergrößerungsfähigkeit eines Mikroskops ist, desto mehr Details können auf dem Objektträger gesehen werden. Es ist dasselbe, als wenn ihr die drei allgemeinen Daseinsmerkmale betrachtet. Wenn das Einsichtswissen wächst, wird die Realität immer klarer. Natürlich passiert das nicht sofort, es steigert sich allmählich. Dieses Modell soll klarmachen, dass Einsichtswissen nicht durch Denken, sondern durch reine, klare und konzentrierte Bewusstheit entsteht. Es muss die Absicht zu sehen und tief zu erfahren vorhanden sein. Wenn man sich nur mit der Erfahrung dessen was vorhanden ist zufrieden gibt, kommt man wahrscheinlich nicht weiter. Man muss etwas drücken, etwas nachhelfen.

Das zweite Modell ist das eines wachsenden, kegelförmigen Baumes, also wie eine Zypresse oder Tanne. Der Baum muss, wenn er wachsen will, zuerst feste und starke Wurzeln entwickeln. Wenn das Wurzelgeflecht nicht stark ist, kann es das Wachstum eines großen Baumes nicht unter-stützen. Die Wurzeln repräsentieren hier das gesamte gute kamma, die Tugend etc. Wenn der Baum erst einmal wächst, macht er das bis zu einer gewissen Stufe. Die ersten Zweige wachsen, dann entstehen Zweige an den schon entstandenen Zweigen, die dabei, wie auch die Wurzeln, dicker werden müssen. Wenn die Zweige zweiten Grades sich etabliert haben,

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wachsen die dritten Grades. Und wenn diese wachsen müssen, auch die der unteren Grade weiter wachsen. Das bedeutet, dass eine richtige Grundlage der unteren Erfahrungen entwickelt werden muss, bevor die höheren Stufen wachsen können. Eure Konzentration z. B. muss andauernder und tiefer werden, bevor ihr in der Lage seid mehr Phänomene zu beobachten. Deshalb, wenn ihr gewisse neue Erfahrungen beobachtet, müsst ihr sie länger und klarer beobachten, bevor ihr tiefer gehen könnt. Um auf der dritten Stufe klarer zu sehen, müssen die ersten beiden Stufen auch klar sein. Vergesst nicht die unteren Stufen. Das heißt, dass es eine gewisse Zeit eine konstante Wiederholung der früheren Erfahrungen gibt, bevor neue Erfahrungen gemacht werden. Die Lektion, die ihr lernen müsst, ist Geduld zu üben.

Das dritte Modell ist das des Lebenselixiers, das Unsterblichkeit verleiht. Die Chinesen benutzen normalerweise Ginseng, das es vielleicht hier bei euch nicht gibt. Die Legende von Ginseng besagt, dass diese Wurzel, wenn sie zum Lebenselixier wird, in Form eines Menschen wächst. Dann wird sie ein Lebewesen und rennt weg. Man muss sie jetzt einfangen. Wenn ihr sie gefangen habt, wird sie wieder eine Ginseng-Wurzel und wenn ihr sie esst, wird sie ein Allheilmittel. Ihr legt die Wurzel ins Wasser und kocht sie um die Essenz zu extrahieren. Genauso müsst ihr, um Ein-sichtswissen zu bekommen, auf der Herdplatte sitzen. Das heißt ihr fangt an euch selbst zu „kochen“. Ihr beobachtet den Schmerz, ihr beobachtet das „Heben“ und „Senken,“ das „Sitzen“ und „Berühren,“ und das Denken immer wieder. Langsam entsteht Verstehen und dies bringt Loslösung von all dem was entsteht und vergeht hervor.

Einige Worte zu nibbāna

Zum Schluss möchte ich noch etwas mehr von theoretischer Seite zu nibbāna sagen. Wenn man tiefer geht und vollkommene Ablösung vom Geist und Körper findet, wird die Achtsamkeit und Einsicht reif. Wenn all die unterstützenden Bedingungen und paramis (zehn Vollkommenheiten) reif sind, dann wendet sich der Geist dem unbedingten, überweltlichen Zu-stand zu. Mit anderen Worten erreicht er ein Stadium, wo er von allen Geist- und Körperprozessen abgeschnitten ist und in einen Zustand geht, wo es keine Veränderung gibt. Wir nennen dies die absolute Wahrheit. Es gibt darüber jedoch eine Menge an Hörensagen und so können viele falsche Vorstellungen entstehen. Manchmal können sie wirklich schlimm sein. Es gab zum Beispiel einmal eine Frau, die irgendwo zum Meditieren hinging. Eines Tages befand sie sich auf dem Dach eines Gebäudes und schaute über einen Fluss. Sie sah, dass die Sonne schien, der Fluss floss und die Wolken hier und dorthin zogen. Als sie all dies sah, war sie so hingerissen, dass sie dachte, sie sei erleuchtet worden. Sie dachte, dass sie wirklich die Un-beständigkeit verstanden habe und betrachtete sich selbst als Stromeinge-tretene (sotapanna, die erste Stufe der Heiligkeit). Das ist sehr seltsam, wisst ihr, da die Natur des nibbāna nichts damit zu tun hat mit dem, was ihr durch irgendein Sinnestor seht oder hört. Wenn ihr das Mindeste an Theorie versteht, dann würdet ihr wissen, dass so eine Erfahrung nicht Erleuchtung

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sein kann. Es mag eine sehr inspirierende Erfahrung sein, aber es ist noch nicht die Erfahrung des Unbedingten.

Jemand anderes machte solange Gehmeditation, bis er anfing Blasen über seinen ganzen Körper verteilt zu sehen. Empfindungen entstanden und verschwanden im ganzen Körper. Jemand unterstützte ihn bei der Meinung, dass er jetzt ein Nichtwiederkehrer (anāgāmī, die dritte Stufe der Heilig-keit) sei. Es war nicht das Verlöschen von Befleckungen, sondern seine Er-fahrung der Empfindungen im Körper, die entstanden und verschwanden, die ihn zu dieser Schlussfolgerung brachten. Ein anderer Yogi fragte „Ist das so?“, da er es nicht glaubte. Er sagte „Ich erfahre das ja auch die ganze Zeit. Dann muss ich wohl auch ein anāgāmī sein.“ Der Erstere drehte sich herum und sagte, „Auf eine Art bist du es!“ Das soweit um zu zeigen, wie es ist, wenn man an einer Vorstellung hängt und sie nicht gehen lassen kann. Es ist eine Form der falschen Ansicht.

Erfahrungen können zu sehr feinen Zuständen werden. Ihr könnt durch hartes Meditieren sehr nah an einen Zustand kommen, wo der Geist quasi für eine kurze Zeit unbewusst ist. Dann kommt ihr daraus hervor und ihr denkt, es ist etwas Außergewöhnliches passiert. Manchmal könnt ihr dort lange Zeit verweilen und wenn ihr herauskommt, war dort nichts. Man denkt, dass das nibbāna sein müsste. Das ist ein weiterer Fallstrick. Man kann fragen, was denn der Unterschied zwischen diesem Zustand und tiefen Schlaf ist? Einige sagen es wäre unterschiedlich, aber auf welche Art ist es unterschiedlich? Leute können sehr an ihren Erfahrungen anhaften. Erinnert euch jedoch, dass die Erfahrung von nibbāna kein leerer Geist oder ein un-bewusster Zustand ist.

Wenn ihr den abhidhamma studiert, wird der Prozess klarer. Nach dem Pfad- und Fruchtwissen, welches das 14. und 15. Einsichtswissen ist, geht der Geist zum 16. Einsichtswissen, dem Wissen der Rückschau. Im abhidhamma, ist das Bewusstsein des Rückblickswissens ein heilsames mit Wissen verbundenes Bewusstsein. Mit anderen Worten ist es wie der meditierende Geist, der das „Heben“ und „Senken“ beobachtet, außer das es auf einer tieferen Konzentrationsstufe stattfindet. Aber man weiß, was in diesem Moment passiert. In diesem Geisteszustand ist das Objekt des Geistes nibbāna. Das bedeutet, dass all die Eigenschaften der absoluten Wahrheit in diesem Geisteszustand leuchtend klar werden. Ihr erfahrt die absolute Wahrheit während der Meditation und ihr wisst, was es ist. Das ist das, was die Abhidhamma-Analyse des Gedanken- und Bewusstseinspro-zesses sagt. Deshalb ist es eine sehr klare Erfahrung mit hundertprozentiger Sicherheit. Einer meiner Brüdermönche fragte einen alten Meditationslehrer in Burma danach und der sagte „Oh, du kannst es nicht verpassen. Es ist als wenn ein Blitz in deinen Kopf eingeschlagen hat!“ Deshalb kann es nicht etwas sein, wo man ins Leere geht und dann daraus wieder hervorkommt. Das Wichtige daran ist, dass es eine Erfahrung des überweltlichen, un-bedingten Zustandes ist, und dass die Person in der Lage ist, es mit eigenen Worten zu beschreiben. Der wichtigste Test ist der, was nachher ist, der übrig gebliebene Grad an Befleckungen.

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Das Wichtigste für uns ist nicht zu vergessen, dass wir weiterarbeiten. Leiden befindet sich in uns allen und wir müssen soviel Achtsamkeit wie möglich bekommen. Dann, wenn es unser kamma und unsere Zeit erlaubt, erreichen wir vielleicht das geliebte Ziel. Die Schriften und die Lehrer erzählen uns, dass es möglich ist. Es muss jedoch eine Menge an Anstren-gung geleistet werden.

Ein letztes Wort

Als letztes Wort habe ich einen Zen Koan für euch für den Fall, dass ihr denkt, ihr seid erleuchtet. Gewöhnlicherweise gebe ich diesen Zen Koan an Leute, die andeuten, sie wären erleuchtet. Ich frage sie, „Warum sind bei einem Erleuchteten all seine Befleckungen vollkommen ausgerottet und warum können sie bei ihm nie wieder erscheinen?“ Vor der Erleuchtung entsteht euer Zorn und Verlangen immer wieder, obwohl ihr sie beizeiten nicht habt. Warum ist es so, wenn jemand vollkommen erleuchtet wird , dass all das nie wieder entstehen kann? Warum?“ Ich frage, aber sie kratzen nur ihre Köpfe. Der Lehrer ist nicht dazu da euch zu bestätigen, sondern er hat dafür zu sorgen, dass ihr mit eurer Praxis bis zu dem Tag fortfahrt, an dem ihr sterbt.

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16. Die Wildnis des Geistes Sutten sind Lehrreden, die vom Buddha an verschiedene Leute mit ver-

schiedenem Hintergrund gegeben wurden. Sie wurden zuerst mündlich überliefert und später niedergeschrieben.

Es gibt viele dieser Sutten. Die eine, die wir hier behandeln wollen, steht in der „Mittleren Sammlung“. Es ist die cetokhila sutta. Ceto oder ceta oder auch manchmal citta bedeutet Geist. Khila bedeutet hart, starr oder ver-härtet. Diese Härte entspricht einem Boden, der eigentlich fruchtbar ist, aber schon lange eine sehr harte und trockene Kruste hat, die verhindert, dass dort etwas wächst.

Eine Übersetzung von cetokhila ist „Die Wildnis des Herzens“. Eine eher poetische Übersetzung. Denn normalerweise bedeutet es geistige Ver-härtung oder Härte. Sie drückt sich aus in Nicht-Akzeptieren, Hartnäckig-keit und so fort.

Als der Buddha diese Sutte darlegte, war sie an Mönche in einem Ort Namens Sāvatthī gerichtet. Er legte dar, warum jemand keinen Fortschritt in seiner Meditation verzeichnet und seine Ratschläge und Begründungen sind hier sehr deutlich aufgezeigt. Der Buddha sagte den Mönchen: „Mönche, das ein Mönch, der diese fünf Verhärtungen nicht überwunden hat (hier übersetzt als Wildnisse des Herzens) und diese fünf Fesseln des Herzens nicht gesprengt hat, in diesem dhamma und vinaya zu Wachstum, Anwachsen und Erfüllung gelangen sollte, das ist unmöglich.“

Der dhamma ist die Lehre, vinaya die Disziplin. Erfolg und Erfüllung in der Praxis zu finden, bedeutet Verwirklichung zu erreichen, das ist Läute-rung und Heiligkeit auf höchster Stufe. Wenn die fünf Verhärtungen und fünf Fesseln nicht überwunden werden, wird Anwachsen und Erfüllung definitiv nicht möglich sein.

Die fünf Verhärtungen

Die ersten vier handeln vom „Skeptischen Zweifel“ und die fünfte be-zieht sich auf Ärger. Die erste Wildnis des Herzens wie in der Sutte gesagt wird ist, wenn man zweifelt, unsicher, unentschlossen, nicht zuversichtlich gegenüber dem Lehrer (dem Buddha) ist. Dadurch ist der Geist nicht zur Hingabe, zur Ausdauer und zum Bemühen geneigt.

Die zweite Wildnis des Herzens betrifft den Zweifel gegenüber der Lehre (dhamma). Die dritte ist Zweifel gegenüber dem sangha. Die vierte ist Zweifel gegenüber der Übung.

Die ersten vier der Verhärtungen des Geistes werden durch einen Mangel an Vertrauen verursacht.

Wenn „Skeptischer Zweifel“ entsteht, gibt es kein Vertrauen und des-halb keinen Glauben. Ohne Glauben gibt es keine große Anstrengung und kein großes Bemühen. Das ist einsehbar, denn wenn ihr an dem, was ihr tut, kein Vertrauen, habt, macht ihr es nicht aus ganzem Herzen. Jemand, der in seinem Streben Fortschritte machen möchte, muss sich aber mit ganzem Herzen anstrengen.

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Ob eine Person am Anfang der Meditationspraxis Fortschritte macht oder nicht hängt davon ab, wie stark er oder sie sich bemüht. Wenn die Leute mich fragen: „Ehrwürdiger, warum mache ich keinen Fortschritt“, frage ich, „Wie lange und wie oft meditierst du?“ Die Antwort ist norma-lerweise, „Oh, eine Stunde pro Woche.“

Ich frage dann: „Wie lange dauert es um einen Kessel Wasser zu kochen?“ Die Antwort ist „Zwanzig Minuten.“ „Wie lange dauert es, bis das Wasser wieder abgekühlt ist“ frage ich. „In einem Tag“, kommt die Antwort. „ In wie vielen Stunden sind eure Befleckungen entstanden und was denkt ihr, wie lange es dauern wird sie abzuschneiden?“

Das ist nur ein Gleichnis. Diejenigen, die verstehen, werden wissen, dass ihr euch sehr anstrengen müsst, bevor ihr ein wenig Fortschritte macht. Wenn ihr jeden Tag einen kleinen Fortschritt erkennen könnt, solltet ihr zufrieden sein. Lasst uns nun die Faktoren einzeln nacheinander ansehen.

1. Zweifel, Unsicherheit und Mangel an Vertrauen zum Lehrer

Der Lehrer bezieht sich hier auf den Buddha, den vollkommenen Buddha, Gautama Buddha, der die höchste Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum in Buddhagaya erreicht hat. Natürlich wundert ihr euch, wie ihr denn wissen könnt, dass er die höchste Erleuchtung erreicht hat. Wir könnt ihr Vertrauen zum Buddha haben? Wir wissen es doch nicht, auch wenn er wirklich der Buddha ist. Auch zu Buddhas Zeiten gab es Leute, die ihn persönlich kannten und kein Vertrauen zu ihm hatten, bis er predigte und sie nach dem Zuhören verwirklicht wurden. Dann wuchs ihr Vertrauen und wurde stark. Nehmt z. B. seine ersten fünf Anhänger oder Asketen.

Als er ein Buddha wurde, ging er zum Hirsch Park um sie zu unter-richten. Zuerst waren sie nicht geneigt ihn als Lehrer zu akzeptieren, da sie glaubten, dass er die Askese verworfen hat und zum Genuss zurückgekehrt sei. Deshalb hatten sie kein Vertrauen zu ihm. Sie sagten, „Wenn du menschliches Leiden und Askese nicht aushalten kannst, wie kannst Du dann übermenschliche Zustände erreichen?“ So glaubten sie ihm nicht. Natürlich überzeugte er sie später. Und als sie ihm dann doch zuhörten und vollkommenes Vertrauen zu ihm hatten, erreichten sie Erleuchtung,.

Sogar solche Leute, die den Buddha persönlich trafen und zuhörten, fanden es nicht leicht überzeugt zu werden. Das ist so, weil es wirklich nicht einfach ist, sich eine Vorstellung der Natur des Geistes eines Buddha zu machen. Der Geist des Buddha ist etwas Besonderes. Er ist reine Weis-heit. Wir können aber eine flüchtige Idee davon bekommen, wenn wir klare und achtsame Bewusstheit üben und den dhamma studieren.

2. Zweifel, den dhamma oder die Lehre betreffend

Vertrauen oder Glauben in die Lehre - den dhamma - ist am Wich-tigsten. Die Lehre bezieht sich hier mehr auf den theoretischen Teil, das Wissen der Schriften, das durch Hören erhalten wird. Dhamma ist, weil es sehr tief geht, nicht etwas, was leicht verstanden werden kann. Um echtes Vertrauen zu bekommen, müssen wir wirklich ein in die Tiefe gehendes Studium des dhamma machen und es in die Praxis umsetzen. Wenn wir er-kennen, dass es wirklich funktioniert und wirklich gute Resultate bringt,

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dann wird das Vertrauen wachsen. Auf einer mehr allgemeinen und ober-flächlichen Stufe bedeutet Vertrauen, dass man Vertrauen in etwas hat, was gut und rein ist und den Glauben, dass es einen Pfad gibt, der dahin führt. Wenn wir den dhamma gelernt und gelesen haben, werden wir sehen, dass er mit solch einem Pfad übereinstimmt. Es ist unbedingt nötig, so ein anfängliches Vertrauen und so einen anfänglichen Glauben zu haben, damit wir zur Praxis angespornt werden. Dann werden wir wachsen.

3. Zweifel, die sangha betreffend

Die sangha bezieht sich auf die Gemeinschaft, noch spezieller ist hier die ariya sangha gemeint, welche die Gemeinschaft der Edlen ist. Es sind diejenigen, die die Lehren des Buddha praktiziert haben und Stufen der Er-leuchtung oder der Verwirklichung erreicht haben. Nur wenn sie solche Stufen erreicht haben, sind sie in der Lage andere zufriedenstellend und vertrauensvoll anzuleiten. Leider werden wir selbst aber wieder nicht wissen, wer wirklich erleuchtet ist. Das ist das Dilemma.

Aber bis zu einem gewissen Ausmaß oder Grade, können wir anhand des Verhaltens und an der Art, wie die Person spricht und lehrt beurteilen, ob sie im dhamma unterrichtet ist oder nicht. Ein allgemeineres Verständnis des Vertrauens in die sangha ist, dass Leute erleuchtet werden können, dass sie den Zustand der Unbedingtheit, das ewig währende Glück erreichen können. Habt dieses anfängliche Vertrauen, dann praktiziert und schafft Resultate und es wird wachsen.

4. Zweifel an der Praxis selbst

Wenn ihr noch nicht praktiziert, sondern nur darüber nachgedacht habt, dann gibt es natürlich eine endlose Zahl an Fragen. Vieles von dem was im dhamma gelehrt wird und viele der Erfahrungen werden nur verstanden, wenn man selber praktiziert. Nur wenn ihr experimentiert habt, es auspro-biert habt und durch die Führung eines Lehrers Erfahrungen und Fortschrit-te erzielt habt, werdet ihr Vertrauen in die Praxis und das Training be-kommen.

All diese Aktivitäten führen zu den Lehren selbst. Zuerst braucht ihr Selbstvertrauen. Ihr müsst auch Vertrauen in das, was gut und wahr ist haben. Ihr müsst in der Lage sein die Lehren aufzunehmen und lang genug zu praktizieren, bis ihr Resultate erlangt. Wenn erst einmal Resultate kommen, legt sich der „Skeptische Zweifel“ und ihr könnt euch aus ganzem Herzen bemühen und praktizieren.

Der „Skeptische Zweifel“ ist ein echter Stolperstein in Ländern, die weder kulturell noch historisch gesehen buddhistische Länder sind. In buddhistischen Ländern mag die Hingabe „blind“ sein, aber wenn die Methode korrekt ist und mit reinem Herzen akzeptiert wird, wird der Übende durch die Praxis Konzentration und Verstehen erhalten. Aber wie ich schon sagte, kann es gefährlich sein, wenn ihr bei einem falschen Lehrer landet. Dann könnt ihr lange stecken bleiben.

Es wird nicht von euch verlangt, dass ihr vollkommenes Vertrauen in den Buddha, den dhamma und die sangha habt. Es wird von euch nicht er-wartet, dass ihr alles glauben oder schlucken sollt, was damit zu tun hat. Ihr

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solltet lieber vorsichtig die Dinge akzeptieren. Probiert die Dinge vorsichtig aus. Hat jemand einen klaren und offenen Geist und wirklich das Herz Fort-schritte zu machen und die Spiritualität zu verbessern ohne irgendwelche vorgefassten Meinungen oder Vorurteile, dann ist es unmöglich - sofern jemand den echten dhamma ausprobiert - dass er keine Resultate sieht.

Wir müssen auch individuelle Temperamente in Betracht ziehen. Einige Leute sind mehr zum dhamma geneigt, während andere mehr zum Glauben neigen.

Aber der entscheidende Punkt ist, dass man genug Vertrauen und Glauben hat um soviel Anstrengung aufzubringen, bis man Resultate be-kommt. Nur wenn ihr euch wirklich bemüht und euer ganzes Herz und eure Seele in die Praxis hineinsteckt, kommen die korrekten Resultate.

5. Zorn

Das ist so, als ob ein bhikkhu zornig und verärgert mit seinen Gefährten im heiligen Leben ist. Er ist verletzend und verhärtet ihnen gegenüber und so ist sein Geist nicht zu anderen geneigt.

In den ersten vier Verhärtungen, in denen der Geist wie ein harter Felsen ist, der nichts aufnehmen kann, gibt es nicht genug Vertrauen und zu viel Skeptizismus. Was immer auch in den Geist kommt wird befragt: „Ist es auch wirklich so? Gibt es so was wie nibbāna? Warum muss ich den Schmerz so lange beobachten?“ Die Anleitungen sinken nicht in den Geist hinein, da man sie nicht akzeptieren will.

Die fünfte Verhärtung hat nichts zu tun damit, dass die Person kein Glauben im dhamma hat. Vielmehr kann sich der Geist nicht beruhigen, wenn Zorn anwesend ist. Wenn seine Mitgefährten im heiligen Leben, seine Mitübenden oder Yogis versuchen, dem Zornigen einen Rat zu geben, kann er ihn nicht akzeptieren.

Zorn ist natürlich auch sehr mit Stolz verbunden. Erstens kann man keinen Rat oder keine Hilfe akzeptieren, wenn man sehr zornig ist. Zwei-tens erzeugt der Ärger selbst eine Menge an unheilsamen kamma, das die Praxis blockieren kann. Ärger führt z. B. gewöhnlich zu einer Menge physi-scher Leiden wie Stress, Schmerz und Verspannung.

Eine außergewöhnliche Konsequenz ist zu beachten, wenn eine Person zornig auf seine Mityogis ist. Wenn der Mityogi ein sehr aufrichtiger und fleißiger Übender ist, wird das Übel im Geist der Person, das auf einen solchen Übenden gerichtet ist, Dinge erzeugen, die ihn blockieren, be-sonders, wenn es sich um ein erleuchtetes Individuum handelt. Gemäß den Kommentaren ist der Pfad in Gefahr, er ist blockiert. Und nur wenn man den Hass entfernt und um Vergebung bittet, wird der Pfad wieder klar sein. Das ist ein wichtiger nicht zu vergessener Punkt.

Wenn der Geist sehr ärgerlich ist, erzeugt er eine Menge Widerwille. Es gibt so eine Menge schlechter Effekte auf Grund dieses kamma und der Geist ist nicht fähig Ratschläge bezüglich des dhamma anzunehmen. Letzten Endes kann sich der Geist nicht beruhigen. So wird er ein sehr schwieriger Yogi, eine schwer umgängliche Person.

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Die fünf Fesseln

Auch nachdem wir genug Vertrauen und Glauben haben, den Lehrer akzeptieren und keinen Ärger in uns haben, gibt es weitere fünf Dinge, die den Fortschritt aufhalten. Dies sind die fünf Fesseln des Herzens. Die fünf Fesseln können als Faust, die das Herz fest umschlossen hält, beschrieben werden, sodass es nicht frei ist. Ihr habt Vertrauen, ihr sagt „ja“ und das ist gut, aber ihr könnt euch nicht bewegen. Ihr seid gefesselt. Ihr seid ange-kettet.

1. Sinnesfreuden

Wenn ihr an Sinnesfreuden anhaftet, ist es schwierig praktische Fort-schritte zu machen, weil ihr mit Sinnesfreuden oder körperlicher Behag-lichkeit weitermachen wollt.

Ich erinnere mich als ich das erste Mal zum Mahasi-Meditationszentrum ging, dass es dort viele Wanzen gab. Jeder fing Wanzen. Beim Meditieren juckte durch die Wanzenbisse der ganze Körper. Deshalb konzentrierten sich die Leute auf das Fangen von Wanzen statt aufs Meditieren.

Wenn ihr nicht vorsichtig seid, könntet ihr anfangen zu fühlen, dass euch etwas an Sinnesfreuden entgeht. Meistens ist es das Essen. Das Essen, das in kleinen Meditationszentren angeboten wird, ist oft nicht sehr gut. Es kann auch schrecklich sein. Wenn ihr solch Essen nicht gewohnt seid, fangt ihr an, an euer gutes Essen von zu Hause zu denken. Die meisten Westler vermissen ihr Essen. Sie vermissen ihren Käse, Eiskrem, Kuchen und all die anderen Milchprodukte. Eines Tages, es war gerade Weihnachten im Mahasi-Zentrum, vermissten die Westler ihr Weihnachtsfest und entschie-den sich eine Weihnachtsfeier im Mahasi-Zentrum zu machen. Sie sam-melten Geld und kauften viel Eiskrem und machten eine Party. Am nächs-ten Tag rief der Meditationslehrer nach ihnen und tadelte sie. Warum? Weil sie meditieren sollten, also Sitzen, Gehen, Sitzen, Gehen und dabei „Heben und Senken“ notieren sollen, anstatt zu feiern.

Sinnesfreuden halten euch vom Meditieren ab. Auch wenn ihr in der Lage seid in ein Meditationszentrum zu kommen und „Heben“ und „Senken,“ „Sitzen“ und „Berühren“ zu beobachten, werdet ihr in den meisten Fällen merken, dass Sinnesfreude das Haupthindernis ist.

Von den fünf Hemmungen Sinnesfreude, Übelwollen, Mattigkeit und Müdigkeit, Unruhe und Sorgen, skeptischer Zweifel, dominiert Mattigkeit und Müdigkeit in den ersten paar Tagen eurer Meditation. Dann hört sie auf und wird meist von Unruhe abgelöst.

Wenn ein Gedanke sehr stark ist, wurzelt er entweder im Zorn oder in Sinnesfreuden. Nicht viele Leute haben sehr starken Zorn in sich, zu-mindest nicht die Praktizierenden, die ich aus Malaysia kenne. Ihr Haupt-hindernis sind gewöhnlich die Sinnesfreuden. Am Morgen denken sie an Essen und vermissen ihren heißen Kaffee. Ihnen wird langweilig und sie denken über Videofilme und über allerlei Krimskrams nach. Dann wird der Geist noch gelangweilter und sie möchten interessantere Dinge machen. All dies läuft unter Sinnesfreuden. Wenn eine Person wirklich von den Sinnen losgelöst ist und sich nicht darüber sorgt was sie sieht, riecht, berührt,

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schmeckt oder hört und vorausgesetzt, dass da etwas Achtsamkeit ist, ist der Geist zu guter Konzentration fähig.

Denkt darüber nach. Warum denkt ihr so viel während eines Retreats? Worüber denkt ihr nach? Sehr oft, weil ihr euch langweilt. Der Geist mag sich nicht langweilen. Er mag interessante Dinge und so denkt er sich Sachen aus und erzählt Geschichten. All diese Aktivitäten sind normaler-weise auf Sinnesfreuden ausgerichtet. Deshalb solltet ihr gewisse Arten von Vorsorge treffen und vorbereitende Meditation, die den Geist beruhigt, aus-üben, dann werdet ihr nicht soviel denken.

2. Anhaften an den Körper

Wenn jemand am Körper anhaftet, kann er nicht erstens darüber hinaus-gehen und zweitens ist er nicht in der Lage viel Schmerz auszuhalten. Oft werdet ihr merken, dass ihr unfähig seid den Schmerz wegen der Anhaftung am Körper zu betrachten.

Nehmt z. B. die Schmerzempfindung im Bein. Sehr oft, wenn der Schmerz immer stärker wird, hört die Person auf den Schmerz zu notieren. Es ist nicht deshalb, weil der Schmerz so schmerzhaft ist, sondern weil die Person am Bein anhaftet. Oder sie denkt, dass sie das Bein ist und wenn sie noch länger sitzt, etwas mit dem Bein nicht in Ordnung sein wird und sie eventuell nie wieder gehen kann. Diese Furcht wurzelt in der Anhaftung am Körper. Wenn es das Bein von einer anderen Person ist, denkt ihr dann auch, dass es euch berührt? Zumindest sorgt ihr euch nicht so sehr.

Während eines bestimmten Zeitabschnittes meiner Meditation gab es einmal eine Menge Mücken. Wenn euch eine Mücke sticht, kommen eine Menge Vorstellungen in Gang. Ihr fangt an über das Jucken nachzudenken. Es ist nur ein kleines Jucken. Aber, wenn ihr starke Anhaftung an den Körper habt, scheint das Jucken sehr stark zu sein. Dann fangt ihr an zu denken, dass die Mücke vielleicht Malaria oder Dengue-Fieber hat, oder das es vielleicht besser ist die Mücke zu vertreiben, weil man sich dann besser konzentrieren kann. Eine Menge an Anhaftung entsteht und ihr könnt nicht mehr meditieren. Dann scheint es so, als könntet ihr euch wegen des Juckens nicht mehr konzentrieren. Anstatt das „Jucken, Jucken, Jucken“ zu notieren, notiert ihr „Hand, Hand, Hand“ oder „Bein, Bein, Bein“ oder „Nase, Nase, Nase.“

Wenn ihr das Jucken notiert, wird sich die Tendenz Richtung Ablösung neigen. Nur so schaut ihr sehr unpersönlich auf eure Hand oder euer Bein. Dann fühlt ihr euch, als ob eure Hand oder euer Bein sich außerhalb von euch befindet. Wenn ihr es so betrachtet, stört euch das Jucken auf der Hand nicht. Es kann jucken wie es will, aber es macht nichts, weil es nicht eure Hand ist. Aber in dem Moment, wo ihr denkt und an der Hand an-haftet, könnt ihr nicht mehr richtig meditieren. Ihr könnt die Hand nicht richtig beobachten. Dann solltet ihr denken, „Was ist da überhaupt Schlim-mes dran am Jucken?“ Ihr werdet deshalb nicht sterben. Es ist wie ein Kitzeln, wie wenn jemand eine Feder nimmt und euch kitzelt. Es ist nur ein Gefühl.

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Das Problem bei der Anhaftung am Körper ist, dass man nicht über den Körper hinausgehen kann. Das bedeutet, dass man am Konzept des Körpers gefesselt ist. In tiefen Formen der Meditation muss man alles über den Körper vergessen, die Hände, Beine und so weiter. Wenn man das kann, kann man direkt in das Geisttor gehen und nur am Geisttor ist die Konzen-tration sehr tief.

Wenn ihr z. B. „Heben“ und „Senken,“ „Sitzen“ und „Berühren“ etc. beobachtet, erfahrt ihr letztendlich das Windelement, die Eigenschaft der Bewegung. Nur wenn ihr euch auf die Bewegung konzentrieren könnt, könnt ihr die drei allgemeinen Daseinsmerkmale erfahren und Einsicht ent-wickeln. Aber solange ihr noch am Konzept des Körpers, der Hand, Beine etc. festhaltet, könnt ihr die Daseinsmerkmale nicht erfahren und Einsicht entwickeln, weil Realität nicht mit diesen Konzepten oder konzeptionellen Objekten zusammen existieren kann. Deshalb, wenn jemand stark am Körper anhaftet, wird er sich in dem Moment, wo er die Form des Körpers verliert, also das Körpergefühl, erschrecken und nicht darüber hinaus gehen können.

Anhaftung am Körper tritt öfter auf, wenn die Leute ihren physischen Körper als Realität ansehen und sich als den physischen Körper sehen.

3. Anhaftung an äußere Dinge

Die Kommentare definieren Anhaftung an äußere Dinge als Anhaftung an Eigentum und an Menschen. Wenn ihr an äußeren Dingen wie Eigentum oder Menschen anhaftet, ist die Anhaftung im Geist und ihr könnt sie nicht gehen lassen und richtig meditieren. Die Anhaftung hält euch davon ab mit ganzem Herzen alle bedingten Objekte beiseite zu legen, sodass der Geist frei sein kann das Unbedingte zu erfahren. Wenn wir z. B. sagen, dass wir jetzt momentan kein Zorn (oder irgendeine Anhaftung) auf irgend jemanden verspüren, mag das wahr sein. Aber sie ist da, tief festgesetzt in unserem Herzen und unserem Geist. Sie wird besonders stark und steht uns im Weg, wann immer wir in tiefe Konzentration kommen oder tiefes Verstehen er-reichen möchten.

Das erklärt, warum manchmal, wenn Leute meditieren, eine Menge tief-sitzender Neurosen auftauchen. Normalerweise bemerken sie sie nicht, aber während der Meditation machen sich die Neurosen oft bemerkbar und stören enorm.

Deshalb ist es besser, wenn man sich um Fortschritt im dhamma und vinaya bemüht, also ein Mönch zu sein. Mönche haben nichts, sie brauchen sich über nichts Sorgen zu machen. Sie meditieren nur und leben Tag für Tag. Ein Mönch zu werden bedeutet, dass ihr darauf vorbereitet seid bis zu eurem Lebensende zu meditieren. Ihr sorgt euch nicht um eure Vergangen-heit oder um eure Zukunft. Ihr notiert und notiert nur Moment für Moment. Das ist es, was Mönch-Sein tatsächlich ist. Ihr macht euch keine Sorgen um euer Eigentum oder andere Leute, nur über eure Praxis der Loslösung. Deshalb gibt es nichts, was euer Herz festbindet.

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4. Anhaften an Untätigkeit

Mit Bezug auf das cetokhila sutta in der Mittleren Sammlung, ist es wie ein Mann, der soviel isst, dass sein Bauch voll ist und er frönt den Freuden des Schlafens, Lümmelns und Dösens, sodass sein Geist nicht zur Anstren-gung geneigt ist. Er isst zu viel, dann legt er sich zum Ausruhen hin und schläft. Da gibt es keinerlei Energie.

Natürlich bedeutet das nicht, dass wir uns nicht ausruhen sollten. Wir dürfen. Aber Ausruhen, wie in den Sutten beschrieben, bedeutet vier Stunden pro Nacht. Außerhalb dieser Ruheperiode sollten wir uns jede Stunde des Tages bemühen. Natürlich macht ihr eine Pause um euch zu waschen. Es gibt Essenszeiten, wenn ihr Essen bekommt. Aber in der Mitte all eurer Aktivitäten müsst ihr Achtsamkeit praktizieren, Achtsamkeit auf euer Meditationsobjekt.

Die Anstrengung oder die benötigte Energie um den Geist zu ent-wickeln, ist sehr groß. In den Meditationszentren des Ostens könnt ihr sehen, wie die Leute sich wirklich anstrengen. Aber sogar dann ist es nur in den ansehnlichen Zentren unter der Leitung von erfahrenen Meistern. Dort sind die Leute wirklich sehr ernsthaft dabei. An diesen Orten lümmeln sich die Leute nach dem Essen nicht herum und ruhen sich aus. Sie haben nicht die kleinste Ausrede um sich auszuruhen.

An diesen Orten sind sie widerwillig am Schlafen. Sie sind ungeduldig wieder aufzustehen. Sie finden, dass Schlafen eine Zeitverschwendung ist. Zeit ist so wertvoll. Zeit ist so wunderbar. Man muss sie vollständig nutzen. Das sollte der Weg sein. Früher hatten die Leute mehr Energie als Konzen-tration in ihre Praxis gelegt. Ananada z. B. hat sich die ganze Nacht be-müht, bis er sich zum Ausruhen niederlegte, aber nicht um zu schlafen und so wurde er erleuchtet.

Und Sona zwang sich zu gehen. Er machte Gehmeditation, bis seine Füße sehr empfindlich wurden. Dennoch ging er, bis der ganze Weg voll mit seinem Blut war, als wenn jemand dort eine Kuh getötet hätte. Das war das Maß der Energie von den Leuten zu Buddhas Zeiten.

Eine andere Geschichte. Da gab es einen Mönch, der so lange Geh-meditation machte, bis er nicht mehr gehen konnte. So kroch er. Er machte Kriechmeditation. Und wie er so auch während der Nacht kriechend medi-tierte, kam ein Jäger, der dachte er wäre ein Hirsch und schoss auf den Mönch. Als auf den Mönch geschossen wurde, notierte er „Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.“ Diese Geschichte soll uns dazu dienen uns mehr anzustrengen.

5. Anhaftung an „Ehre“

Das ist, als wenn eine Person das heilige Leben führt um danach zu trachten, ein Gott zu werden. Durch seine Tugend, Sittlichkeit und sein Asketentum und durch das Führen eines heiligen Lebens bemüht er sich, ein großer Gott oder eine Göttin oder eine kleinere Gottheit zu werden. So ist sein Geist nicht zum Höchsten geneigt, das heißt zur Erleuchtung. In dieser fünften Fessel strengt sich der Geist wirklich an etwas Geringeres zu erreichen und bekommt ein Resultat knapp am nibbāna und den Pfad- und

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Fruchtmomenten, dem tatsächlichen Erleuchtungsbewusstsein, vorbei. Das heißt, dass man an irgend etwas anhaftet, dem Körper, den Gefühlen, der Tugend, der Konzentration, dem Einsichtswissen, aber nicht am höchsten Ziel der Erleuchtung.

Wenn der Geist an etwas Geringerem als dem höchsten Ziel anhaftet, also der tatsächlichen Nibbāna-Erfahrung, dann macht man keine Fort-schritte. Man stoppt hier. Anstatt sich zu befreien, haftet man an. Mit anderen Worten, jede Anhaftung kettet den Geist an und er wird gefesselt.

Die nächsten Schritte um im dhamma und vinaya Fortschritte zu er-zielen

Um Fortschritte im dhamma zu machen, müsst ihr euch bemühen euren Geist vollkommen von allen Anhaftungen frei zu machen. Wenn man sich so bemüht, existiert eine Rückkehr zum wirklichen Stand der Dinge zur wirklichen Situation. Wenn man zu dieser wirklichen Situation zurückge-kehrt ist, muss zumindest für einen kurzen Moment alles Anhaften abgelegt werden. Retreats helfen dabei. Sie sorgen dafür, dass man praktiziert.

Das cetokhila sutta sagt, dass, wenn die fünf Verhärtungen aufgegeben werden und die fünf Fesseln entfernt werden, es für jemanden möglich ist Realisierung zu erreichen. Im dhamma vinaya bedeutet „es ist möglich“ nicht, dass es passiert. Es heißt nur, dass die Dinge, die die Realisierung verhindern, abwesend sind.

Vier Grundlagen des Erfolgs für spirituelles Weiterkommen

Das Nächste, was der Übende tun muss, ist die iddhi-pāda zu ent-wickeln, die Grundlage des Erfolgs für das spirituelle Weiterkommen. Es gibt davon vier.

1. Konzentration auf Grund von Eifer und entschlossenem Streben

Lasst uns auf die erste Grundlage schauen. Sie ist das Erreichen eines Zieles oder der Wunsch etwas zu tun. Es ist mehr als Vertrauen. Es ist wie ein Stoß oder eine Absicht (chanda-samādhi). Diese Absicht sich spiri-tuelles Weiterkommen zu wünschen, ist sehr konzentriert. Dieser Glaube und diese Motivation löst Vipassanā-Konzentration aus oder konzentrierte Bewusstheit auf die Dinge, so wie sie sind.

2. Konzentration auf Grund von Energie und entschlossenem Streben

Die zweite Basis für Erfolg ist padhāna-sankhāra. Dadurch existiert eine Menge an geistiger Kraft und eine Menge an zielgerichteter Energie und Bestreben. „Sankhāra“ sind alle geistigen Gestaltungen, alle geistigen Aktivitäten oder mentalen Faktoren. „Padhāna“ ist Anstrengung, begleitet mit allen mentalen Bemühungen, Gestaltungen und Kräften, die am An-strengen beteiligt sind. Das ist praktisch gesehen das Ausbilden der Acht-samkeit um sie kontinuierlich zu machen und um einen starken Fluss der Achtsamkeit auszubilden, die jeden Moment unseres Geist-Körper-Prozesses notiert und die Realität sowie die drei Daseinsmerkmale versteht. Diese Art des geistigen Notierens ist sehr kraftvoll und einspitzig und führt in die Richtung der Verwirklichung.

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Starke Konzentration entsteht, weil wir Glauben, den Wunsch und die Absicht haben uns in diese Richtung zu stoßen und zu entwickeln. Ohne diese Absicht, die kein Verlangen, sondern ein Wunsch ist, könnte der Geist an einem anderen Punkt als Verwirklichung aufhören.

Manchmal kann die Entwicklung der Kräfte, bis wir diesen Punkt er-reicht haben, durch Energie hervorgebracht werden. Natürlich müsst ihr auch Glauben und Verstehen besitzen. Aber die vorherrschende Kraft, die euch zu diesem Ergebnis führt ist die, dass ihr sehr tatkräftig und energiege-laden seid. Die Hauptsache ist, dass ihr euch anstrengt und anstrengt und anstrengt.

3. Konzentration aufgrund geistiger Reinheit und entschlossenem Streben

Die dritte Grundlage um spirituelle Kraft dieser Stärke zu entwickeln, ist „Geist“. Geist deckt die gesamte mentale Beteiligung ab. Trotzdem hat es mehr mit starker Willenskraft oder Wille zu tun.

4. Konzentration auf Grund von Untersuchung und entschlossenem Streben oder Begeisterung

Die vierte Basis ist Einsicht. Spirituelle Kraft dieser Stärke kann sich bei Leuten, die starkes, gutes Verstehen und einen reifen Geist haben, ent-wickeln. So wird man jemand, der weiß und der fähig ist in die Dinge zu sehen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müsst ihr die Verhärtungen und Fesseln loswerden. Baut die vier Erfolgsgrundlagen auf. Durch die Macht der Praxis wird all die mentale Kraft hervorgebracht. Stoßt eure Einspitzigkeit immer wieder jeden Tag unbeugsam an.

Damit ihr versteht, wie sich jemand wirklich anstrengt um Verwirkli-chung zu erreichen, gibt die Sutte ein Gleichnis einer Henne, die ihre Eier ausbrütet. Nur wenn die Henne auf den Eiern sitzt und sie lang genug immer wieder wendet, können die Küken ausschlüpfen. Nur wenn die Henne ihre acht oder zwölf Eier sorgfältig beschützt und bebrütet, sind die Küken in der Lage die Schale zu knacken ohne dass sie sich Sorgen machen muss. So ist es auch mit einem bhikkhu, der über diese Faktoren inklusive Begeisterung und starke Energie herrscht. Er ist in der Lage auszubrechen, fähig zur Erleuchtung, fähig die höchste Sicherheit von der Fesselung zu erreichen.

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17. Wichtige Punkte für den Vipassanā-Fortschritt Hier beschreibe ich einige wichtige Faktoren, die helfen die Medita-

tionspraxis zu verbessern.

Tugend

Einer der wichtigsten Punkte für meinen Fortschritt war Tugend. Nicht, dass ich vorher untugendhaft war. Ich wurde nicht so sehr aus Glauben Mönch, sondern mehr aus Neugier. Als ich jedoch Mönch wurde, passierten eine Menge Dinge. Irgendwie wurde der Geist in dieser Art von Umgebung verändert. Die Tugend eines Mönchs ist zuerst nur eine Sache der Regel-befolgung und wenn wir den Tugendregeln folgen, vermeiden wir viele un-heilsamen Taten. Aber darüber hinaus heißt Tugend auch für einen Mönch, dass sein ganzer Lebensstil, seine ganze Zielsetzung verändert ist. Bevor ich Mönch wurde, studierte ich und war sehr zielorientiert. Ein Examen folgte dem anderen und es gab Zensuren über Zensuren. Wenn ihr erst mal aus diesem endlosem Konkurrenzkampf herauskommt und ein spirituelles Leben lebt, ist euer Ziel spirituelle Verwirklichung statt materieller Vor-teile. Der durch die Mönchsregeln implizierte Lebensweg verwirft alle anderen Dinge und der Geist hat einzig Gedanken der Reinigung und der Verwirklichung. Er sucht nun nur nach dem absoluten Frieden.

Bestimmte Dinge im Geist klangen ab und ich bekam eine Menge Er-fahrungen, die ich später als Vipasssanā-Erfahrungen wiedererkannte. Vorher praktizierte ich Zen, nicht das japanische Zen, sondern chinesisches Chan. Wenn ihr auf die Tugend eines Mönchs schaut, solltet ihr deshalb nicht meinen, dass sie sich auf einfaches Befolgen von Regeln beschränkt. Vielmehr ist es ein Lebensstil, der den Zielen, die in den gegebenen Regeln und Bedingungen enthalten sind, entgegenkommt. Ein gewöhnliches Bei-spiel ist dies: Wenn jemand zu einem Meditationszentrum kommt oder in einen Tempel, dort eine Zeit verbringt, soviel meditiert wie er oder sie kann und ein spirituelleres Leben lebt, dann beruhigt sich der Geist und wendet sich den spirituellen Zielen zu. Wenn allerdings die Tugend verfällt, wird es weniger Zurückhaltung geben und alles beginnt sich zu verschlechtern.

Buddhistische Metaphysik

Ein zweites wichtiges und hilfreiches Ereignis war, als ich begann abhidhamma zu studieren. Abhidhamma ist buddhistische Metaphysik. Es enthält das Studium der paramattha dhamma, der letztendlichen Wirklich-keiten, der verschiedenen Geist- und Körperprozesse und Charakteristika, der verschiedenen Bewusstseinsarten mit verschiedenen geistigen Zu-ständen (geistigen Faktoren).

Als ich das erste Mal nach Penang ging, war ich sehr am abhidhamma interessiert, da ich zuvor noch nichts darüber gehört hatte. Obwohl ich schon einige Abhidhamma-Bücher angesehen hatte, waren sie sehr tech-nisch, enthielten bombastische Worte, die für mich keinen Sinn ergaben. z. B. wurde darin cetasika als geistiger Begleitfaktor bezeichnet. „Was bitteschön ist ein geistiger Begleitfaktor?“ Es wurden Worte wie Wahr-

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nehmung benutzt und ich wunderte mich, was sie mit Wahrnehmung meinten. Das Lexikon sagt, „wahrnehmen“ ist Wahrnehmung. Was ist dann wahrnehmen? Wahrnehmen heißt wissen, aber was ist dann der Unterschied zwischen Bewusstsein und wissen? Das ist nicht sehr genau. Wenn man jedoch den Bogen heraus hat, versteht man, dass es nicht nur eine Sache des Lernens ist, sondern dass das Studium vielmehr Bezug zur eigenen Praxis haben muss. Glücklicherweise gab es zu der Zeit einen Lehrer, der abhidhamma lehrte und es zum täglichen Leben in Bezug setzte. Wenn man praktiziert, ist es hilfreich es auf die Praxis zu beziehen. Als ich eine Anzahl an Fragen hatte und gerade nicht intensiv meditierte, sagte er mir, dass ich sie zuerst analysieren und soviel wie möglich lesen sollte und erst dann ihm die Fragen stellen soll. Dies alles half mir später beim wachsamen Beobachten der verschiedenen Zustände und Bedingungen des Geistes. Es half mir auch, das Meditationsobjekt klarer abzugrenzen.

Wenn man z. B. über Begehren und Anhaften spricht und im abhidhamma nachschaut, gibt er klarere Definitionen, die man mit den ver-schieden arbeitenden Bewusstseinsarten in Beziehung setzen kann. Als ich dann hinausging und auf andere Mönche schaute, dachte ich: gut, hier ist Begierde, dieser hier hat Begierde. Ich beobachtete ihn, Essen auf diese Weise heißt also, er hat Begierde. Von da an begann ich den abhidhamma zu schätzen. Nicht viele Mönche studieren abhidhamma, deshalb war ich froh, dass ich in der Lage war die Dinge zu bemerken, die im Geist und Körper passieren. Das hilft enorm bei der Praxis. Das stoppt eine Menge Befleckungen und erhöht die Achtsamkeit. Natürlich betreffen viel Dinge innerhalb der Lehre die Praxis.

Wege um unsere Praxis zu verbessern

Der dritte wichtige und hilfreiche Punkt ist der gesunde Menschenver-stand und das Ziel unsere Praxis verstehen zu wollen. Dadurch können wir dann die verschiedenen Wege beurteilen und unsere Praxis verbessern.

Als ich abhidhamma studierte dachte ich jeweils, auf welche Weise wird dieses Kapitel mir bei meiner Praxis helfen? Ich würde mir dieses und jenes angucken und dann würde ich Wege und Möglichkeiten finden es anzu-wenden.

Wenn ihr auf den dhamma selbst schaut, dem tipitaka, die Sutten und nicht nur auf den abhidhamma, werdet ihr einen Reichtum an Weisheit und Wissen finden. Ich war oft überrascht, dass ich, obwohl ich eine bestimmte Lehrrede schon ein paar Mal gelesen hatte, mehrmals etwas Wichtiges übersehen hatte. Dann las ich sie noch einmal und bekam eine neue Er-kenntnis. Zuvor verstand ich sie nicht, erst beim zweiten Durchgehen konnte ich viele praxisrelevante Dinge sehen. Ich dachte meistens, dass es nur eine Wiederholung dessen sei, was in anderen Sutten schon gesagt wurde, aber plötzlich gab es irgendwie etwas Neues. Wenn ihr ernsthaft nachforscht und über die vielen Sutten nachdenkt, werdet ihr erkennen, dass es überall einen großen Reichtum an praxisbezogenem Wissen gibt.

Als Mönche rezitieren wir manchmal und entdecken dabei eine Lehr-rede, die uns sehr gefällt. Wir lernen sie dann auswendig. Der erste Schritt

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des Studiums und Trainings ist traditionellerweise das Erinnerungsver-mögen. Wenn das beim Rezitieren funktioniert, dann kommen Rezitation und Erinnerungsvermögen zusammen und nach einiger Zeit wird der Geist konzentriert. Wenn der Geist konzentriert ist, geht die Rezitation in den Geist hinein und bewegt sich dort. Wenn sie sich dort eine Zeit lang be-wegt, vertieft sie sich und wir werden erkennen, dass es viele Dinge in den Sutten gibt, die auf die Praxis angewandt werden können. Deshalb finde ich, dass die Sutten zwar äußerlich oberflächlich scheinen, aber wenn man tiefer in sie hineingeht, kommt ein großer Reichtum an Weisheit und Wissen zum Vorschein.

In den ersten paar Jahren, beschäftigte ich mich wiederholt mit dem tipitaka. Auch jetzt noch entdecke ich viel für die Praxis aus den Texten. Deshalb ist die Praxis wie Forschung. Nachdem ihr die vorbereitenden Be-reiche entdeckt habt, beschäftigt ihr euch mit den tieferen Aspekten. In jeder Sutte gibt es praktische Aspekte auf tieferer Ebene.

Konzentration

Der vierte am Fortschritt beteiligte wichtige Faktor ist Konzentration. Nur mit einem gewissen Grad an Konzentration wird tieferes Einsichts-wissen aufsteigen. Nur dann ist der Geist stark genug die Durchdringungs-arbeit zu leisten.

Mein erstes Meditations-Retreat war ein Dreimonats-Retreat im Penang Meditationszentrum. Ich hatte zuvor noch kein Vipassanā-Retreat gemacht. Ich ging einfach hinein und machte ein Dreimonats-Retreat. Auf diesem Retreat bemerkte ich, dass, wenn der Geist erst mal einen gewissen Grad an Konzentration erreicht hat, alles Mögliche passieren kann. Obwohl es Konzentration gab, waren die Erfahrungen im ersten Monat nicht so klar. Nach dem ersten Monat war all das Denken und die Unruhe vorbei und die Erfahrungen wurden sehr scharf. Ich bemerkte, dass ich unglaublich viel dachte. Da war so viel Denken. Ich wusste nicht, dass man soviel denken konnte! Wenn ihr anfangt zu meditieren und ihr wirklich totale Kontrolle über eure Unruhe habt, könnt ihr sehen, wie leicht der Geist einem ent-kommt.

Auf diesem Retreat war ich ab einem bestimmten Moment sehr damit beschäftigt herauszubekommen, warum Denken passiert. Ich bemerkte bei der Gehmeditation, z. B. zwischen dem Moment des Schrittanfangs und dem Absetzen des Fußes auf den Boden, dass der Geist wegglitt. Da es einen gewissen Grad an Achtsamkeit gab, der versuchte zurückzuverfolgen, was passiert war, konnte ich bemerken, dass ich im Moment des Wegglei-tens die Spur der Gedankenprozesse verfolgen konnte. Innerhalb dieser ein oder zwei Sekunden gab es mindestens zwanzig oder dreißig Gedanken, aber trotz der vielen Gedanken wusste ich auf Grund der Achtsamkeit, welcher Art diese Gedanken waren oder von zumindest einer Menge von ihnen. Einer kam nach dem anderen. „Das ist fantastisch!“ sagte ich, „Kein Wunder, dass der Geist sich nicht tiefer konzentrieren kann!“ Wenn die Gedanken schließlich für längere Zeit aufhören, entstehen all die klaren Erfahrungen eine nach der anderen. Die Lektion hier ist, dass man einen

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sehr starken Entschluss fassen sollte um wirklich kontinuierlich zu notieren und wenn der Geist abdriftet, klar zu benennen, wo er hingewandert ist. Bringt den Geist auf ein tieferes Niveau der Konzentration.

Später, beim Versuch weitere Fortschritte zu machen, kam ich zur Samatha-Meditation (Ruhemeditation). Dies geschah, als ich das zweite Mal nach Burma kam. Ich fand sie sehr nützlich, aber die Betonung liegt nicht auf der Samatha-Meditation. Als ich das erste Mal in Burma war, wollte ich sowohl samatha als auch vipassanā ausüben. Ich wollte soviel lernen, wie ich konnte. Jedoch war man nicht gewillt mich zu unterrichten. Sie sagten, „Jetzt ist vipassanā wichtig und erste Priorität.“ Deshalb musste ich vipassanā praktizieren, bis sie zufrieden waren. Ich kann das verstehen, weil die Menschen nur sehr wenig Zeit haben. Auch wenn ihr der Welt ent-sagt und Mönch werdet, wisst ihr in der Tat nicht, wie lang ihr Mönch bleiben werdet. Durch die unsichere Natur der Welt und ihrer Bedingungen, müsst ihr wählen und ich wählte vipassanā, Einsichtsmeditation weiterzu-machen. Obwohl einige Leute sagen, ihr braucht Samatha- (Ruhe-) Medita-tion, jhānas etc., bevor ihr gute Fortschritte in Vipassanā-Einsicht machen könnt, kann ich aus persönlicher Erfahrung nicht bestätigen, dass sie für anfängliche Einsichtsstufen notwendig ist. Es ist ausreichend nur vipassanā zu machen und so durch die Einsichtswissen zu gehen.

Wenn jemand samatha kann, ist das natürlich ein Vorteil. Das Problem ist die Zeit, die uns zur Verfügung steht. Um die grundlegende und not-wendige Stufe der Konzentration als starke Basis für vipassanā zu erlangen, brauchen wir viel Zeit. Aber wir haben nicht viel Zeit. Auch wenn ihr von samatha zu vipassanā wechselt, heißt das nicht, dass ihr dazu in der Lage seid. Ihr habt nur den Vorteil des ruhigeren Geistes.

Ich stimme darin überein, dass es gewisse Menschen gibt, die wirklich zuerst diese Art der Ruhemeditation brauchen, bevor sie vipassanā machen. Das gilt für Personen mit sehr starken Befleckungen, die sie vorher erst kontrollieren müssen. Für die meisten Menschen, denke ich, ist es aber nicht absolut notwendig.

Trotzdem ist samatha, wenn man weiter in der Praxis voranschreitet, sehr hilfreich. Zum Beispiel wenn man in der Lage ist das Aufbrechen des „Hebens“ und „Senkens“ zu beobachten. Wenn das „Heben“ und „Senken“ sich durch dieses Aufbrechen in sehr kleine Partikel auflöst, wovon jedes dieser sehr feinen Partikel schnell von Moment zu Moment entsteht und vergeht, dann, wenn man in tiefe Samatha-Konzentration geht, können diese kleinen Partikel zu großen Ballons expandiert werden und jeder dieser großen Ballons dient als Basis, darin noch feinere Partikel zu entdecken. Die Geschwindigkeit der Veränderung scheint stark vergrößert zu sein. Es ist unter anderem aus den Sutten bekannt, dass Menschen mit diesem Ein-sichtsvehikel zur Arahantschaft, der höchsten Erleuchtungsstufe gelangen können.

Andere wichtige Faktoren

Es gibt andere wichtige Faktoren die die Anwesenheit eines Lehrers er-fordern. Ein Faktor ist die Frage des Glaubens und des Vertrauens. Für den

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Anfänger ist das Vertrauen variabel und unstet. Es kommt und geht. Wenn die Dinge gut laufen, ist das Vertrauen hoch, aber wenn Schmerzen und Probleme auftauchen, dann sinkt das Vertrauen. Wenn die Dinge dann wieder gut laufen, steigt es und umgekehrt. Bei einem immer anwesenden Lehrer bleibt das Vertrauen und ihr könnt weitermachen.

Wichtig zu wissen ist, dass viele Dinge nur mündlich weitervermittelt werden. Es wurde zwar schon viel niedergeschrieben, aber viele Lehrer schreiben ihr Wissen nicht auf. Sie haben dazu nicht genug Zeit um all ihr Wissen aufzuzeichnen. Diejenigen, die es taten, schrieben es in Burmesisch auf, sodass ihr es nicht lesen könnt. Viele Dinge kann man außerdem nicht gut beschreiben. Ein weiteres Problem ist, dass Mönche in Roben nicht darauf hinweisen dürfen, dass sie eine Stufe der Heiligkeit erreicht haben und aus diesem Grunde gibt es sensible Themen, über die man nicht schrei-ben kann. Dies ist zum Schutz der Praktizierenden und auch der Lehrer selbst gedacht. Deshalb sind bis zu einem gewissen Grade Erfahrungen und Techniken in der oralen Tradition verblieben. Deshalb braucht ihr einen Lehrer. Oft lernen wir nicht nur von einem Lehrer. Auch andere helfen unsere Technik zu verbessern.

Der wichtigste Faktor ist die Praxis selbst. Normalerweise muss sich die Praxis über Jahre hinweg entwickeln und intensive Meditation ist ein Muss, wenn ihr beabsichtigt die höchsten Stufen der Erleuchtung zu realisieren. Deshalb sollten eure Retreats nicht soweit auseinander liegen. Im Alltag müsst ihr außerdem sehr vorsichtig sein, da dies die Zeit ist, in der ihr durch Stress bedingte Befleckungen akkumuliert.

Vor einem Retreat empfehle ich, zumindest eine Woche vorher regel-mäßig täglich zu meditieren. Sonst fängt man erst während des Retreats an eine Basis aufzubauen. Jemand, der so regelmäßig täglich eine Woche vor-her meditiert, braucht vielleicht zwei oder drei Tage um dahin zu kommen, wo er das letzte Retreat verlassen hat. Für jemanden, der nichts gemacht hat, dauert es vielleicht vier oder fünf Tage und wenn diese Person vorher sehr beschäftigt war und eine stressige Zeit hatte, dann kann es auch noch länger dauern. Wenn ihr jedoch in der Zeit zwischen den Retreats Traumas oder andere schlechte Erfahrungen gemacht habt, müsst ihr vielleicht das ganze Retreat damit verbringen diese Dinge zu klären. Trotzdem ist das besser als innerlich zu verrotten. Wenn ihr anfangt innerlich zu verrotten, fängt es an zu stinken und euer Geist wird verdorben.

Seid versichert, es ist klar erkennbar durch die vielen Yogis, die ich ge-sehen habe, dass, wenn ihr hartnäckig seid, auf regelmäßige Retreats geht und regelmäßig zu Hause über längere Zeit meditiert, ihr etwas erreicht, auch wenn es nicht die magga, phala, Erleuchtung oder die Realisierung des nibbāna ist. Zumindest werdet ihr in die Nähe davon kommen. Und das alleine ist schon sehr gut. Über die tatsächlichen Faktoren, die das Über-queren hervorbringen, wird selten gesprochen, deshalb hängt über diesen Faktoren ein großes Fragezeichen.

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Ich persönlich denke, dass es eine Menge mit vergangenen Verdiensten und karmischen Akkumulierungen zu tun hat. Wenn ihr geduldig seid, kommt nach einiger Zeit Fortschritt und ihr werdet definitiv irgendetwas bekommen und ihr werdet definitiv glücklicher sein. Tatsächlich werdet ihr unter den glücklichsten Menschen dieser Erde sein.

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18. Die Gratwanderung: Achtsamkeit im Alltag

Anpassung

Wenn ihr in den Alltag zurückkehrt, braucht der Geist einige Zeit um sich wieder auf die weltliche Situation einzustellen. Einige könnten dadurch bedingt wütend oder leicht reizbar werden. Das kommt durch die Frei-setzung von Wünschen und Tendenzen, die während des Retreats unter-drückt wurden. Es sollte uns aber keine Sorgen bereiten, da sie sich bald beruhigen werden.

Einige versuchen bis zur äußersten Grenze im Alltag das weiterzu-machen, was sie während des Retreats getan haben. Hier einige Komplika-tionen, die dabei entstehen können. Sie erscheinen mysteriös, entfernt oder stolz bei ihren Freunden und Verwandten. Sie sprechen nicht, machen keine Witze wie sonst. Sie gehen auch so langsam.

Es ist offensichtlich, dass es nicht praktikabel ist so langsam zu gehen, wenn man in der sich schnell bewegenden Außenwelt versucht achtsam zu sein. Das heißt allerdings nicht, dass wir uns in unsinnige Gespräche ver-wickeln sollen, wenn wir es nicht wollen. Wenn es eure Arbeit, die Effi-zienz, euer Studium oder euer Familienleben beeinträchtigt, dann müsst ihr die Praxis in gewissem Grade aussetzen. Ihr seid noch keine Nonnen oder Mönche. Ihr könnt zwar Achtsamkeit praktizieren, aber es wird in einer weniger intensiven Art und Weise sein. Das ist nicht etwas, dass ihr euch aussuchen könnt, sondern eure Situation ist so, dass ihr nur in der Art praktizieren könnt.

Fluten der Befleckungen

Wie macht man dann mit der Praxis weiter, wenn man zur Außenwelt zurückkehrt? Praxis im Alltag kann auf zwei Ebenen betrachtet werden. Die erste ist „an der Oberfläche bleiben“. Die zweite Ebene ist die Gratwande-rung. „An der Oberfläche bleiben“ bedeutet sich selbst davor zu bewahren zu ertrinken.

Im dhamma sprechen wir über Fluten, verschiedene Arten von Fluten. Dies sind die Fluten der Befleckungen. Die Außenwelt ist mit Befleckungen überflutet. In Pali ist Flut ogha. Es klingt wie „ogre.“ Es gibt kama ogha, bhava ogha, ditthi ogha und avijja ogha.

Kama ogha ist die Flut der Sinnesfreuden. Sie kommt eine nach der anderen und ihr ertrinkt vollkommen in ihnen. Deshalb müsst ihr an der Oberfläche bleiben. Bhava ogha ist die Flut des Werdens. Ihr wollt jemand sein. Ihr wollt existieren. Ihr wollt diverse Leute sein z. B. Helden aller Art oder sonst etwas. Ditthi ogha sind all die Meinungen und Ideen, die falsch sind. In avijja ogha, der Flut der Unwissenheit oder des Wahns, ertrinkt ihr in Illusionen. Mit anderen Worten, wenn ihr nicht achtsam seid und die Be-fleckungen stark sind, werdet ihr von ihnen gefangen genommen und er-trinkt in ihnen. Sie ziehen euch runter. Ihr könnt euch nicht mehr bewegen. Es gibt keine Freiheit.

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An der Oberfläche bleiben

Deshalb bedeutet der erste Teil „an der Oberfläche bleiben“ am Leben zu bleiben, das heißt achtsam zu sein. Wenn ihr es nur schafft achtsam zu bleiben, ist das schon sehr gut. Es ist nicht leicht die ganze Zeit achtsam zu sein. Normalerweise ist es wegen der Natur des Menschen schwierig acht-sam zu sein. Wenn ihr beispielsweise sehr krank seid und den ganzen Tag Schmerzen habt, wie achtsam könnt ihr da noch sein? Um uns zu helfen achtsam zu bleiben, müssen wir uns mit grundlegenden unterstützenden Bedingungen versehen. Zuerst die physische Umgebung, je ruhiger sie ist, desto einfacher ist es achtsam zu sein. Andere Dinge wie z. B. ein Tempel oder auch Bilder können dabei helfen. Ihr könnt euch dadurch Stück für Stück weiterentwickeln.

Die Wahl des Lebenserwerbs, was wir „Rechten Lebenserwerb“ nennen, ist wichtig. Wenn jemand mit falschem Lebenserwerb, also mit fragwür-diger Moral beschäftigt ist, wird es für ihn schwieriger einen klaren Geist oder ein reines Gewissen zu haben. Deshalb muss etwas getan werden. Entweder ändert ihr euren Beruf, oder macht etwas Ähnliches. Verweigert einfach Unheilsames zu tun. Ein anderer Aspekt, den ihr beachten solltet, ist der Zeitfaktor. Erlaubt es die Art eurer Arbeit, zu praktizieren? Einige Jobs sind „Rechter Lebenserwerb“ und enthalten kein Töten, Stehlen, Lügen, sexuelle Verfehlungen oder Drogen, aber sie benötigen eine Menge eurer Zeit. Ihr arbeitet von morgens bis abends und bekommt nur zwei Wochen Urlaub im Jahr. In solchen Fällen habt ihr keine Zeit zum Prakti-zieren und zu einer intensiveren Meditation zu kommen, wie auf einem Retreat. Ihr mögt einen Teil eurer Zeit zum Meditieren einteilen, aber wenn ihr nach Hause kommt, seid ihr so müde, dass ihr es nicht könnt. So eine Arbeit ist unpassend.

Hausleute müssen Geld verdienen und auch Zeit zum Praktizieren haben. Im Westen kann es noch schwieriger sein, da die Anwesenheit auf einem Retreat oft sehr teuer ist. Ihr müsst die Miete und die Nahrung zahlen und auch noch für den Lehrer etwas geben. Das ist in Asien einfacher, da Retreats gesponsert werden. Die Kosten für ein Ein- oder Zweiwochen-Retreat in Australien sind so hoch, dass man sich dafür ein Ticket nach Asien kaufen und dort für ein paar Monate bleiben kann. Manchmal bevor-zugen Yogis das. Sie können dann außerdem nach ihrer Praxis noch Sehenswürdigkeiten anschauen.

Beziehungen

Der dritte Faktor sind Beziehungen. Wenn mich junge Leute wegen Be-ziehungen fragen, rate ich ihnen, nicht zu heiraten. Heirat führt zu Pro-blemen. Es gibt ein altes Thai-Sprichwort, das besagt, „Wenn du dein Herz einem Mädchen schenkst, kannst du kein Mönch sein. Wenn du dein Herz einem Jungen schenkst, ist es sicher, dass du weinst.“ Aber wenn du es nicht ändern kannst, und das Schicksal hat eine starke Hand, dann müsst ihr sorgfältig wählen. Zumindest wählt einen Partner, der eure Praxis akzep-tiert. Ihr mögt euch dafür entscheiden keine Kinder zu bekommen. Aber wenn dann doch welche da sind, könnt ihr sie nicht einfach allein lassen, sie

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rausschmeißen. Auch wenn es keine problematischen Kinder sind, lebt ihr Jahre mit großer Verantwortung um sie richtig zu erziehen. Wenn ihr fest-stellt, dass der Partner nicht mehr zu euch passt, gibt es das Problem der Trennung oder Scheidung.

Am Besten ist es, ihr umgebt euch mit Leuten, die die Meditation akzep-tieren. Das muss nicht notwendigerweise nur ein Ehemann oder eine Ehe-frau sein. Das kann natürlich etwas schwierig sein, da nicht so viele medi-tieren. Deshalb müsst ihr sie entsprechend beeinflussen. Seid ein gutes Bei-spiel. Zeigt, dass ihr euch zum Besseren durch die Meditation verändert habt und es wird eventuell Wirkung zeigen.

Natürlich ist es besser eine Kerngruppe von Meditierenden aufzubauen. Leute, die schon vorher meditiert haben, sollten sich anstrengen und zu regelmäßigen Treffen zusammen kommen, um zu diskutieren und einmal die Woche gemeinsam zu praktizieren. Wenn ihr allerdings nur unsympa-thische Leute findet, müsst ihr Gleichmut und Einsamkeit praktizieren. Dann wird es eine einsame Reise. Aber es ist besser allein zu sein, als an einem verrückten Konkurrenzkampf teilzunehmen für den ihr später mit Leiden teuer bezahlen müsst.

Heilsame Aktivitäten

Die vierte Bedingung in unserem Alltag ist, wenn wir nicht gerade meditieren, eine Menge an heilsamen Dingen zu tun um gutes kamma zu entwickeln. Wenn ihr heilsam handelt, werden gutes kamma, reine Zu-stände des Geistes und andere Qualitäten kultiviert. Geduld, liebende Güte und Mitgefühl, Gleichmut, Ehrlichkeit sowie Wahrhaftigkeit - all diese Dinge werden durch heilsames Handeln gefördert. Den Armen zu helfen, der Umgebung zu helfen sind heilsame Aktivitäten. Aber passt auch auf, dass sie euch nicht zu sehr beschäftigen, sodass ihr nicht meditieren könnt oder euch nicht mehr nach Meditieren zumute ist. Sonst seid ihr am Endes des Tages fix und fertig und sitzt untätig und gelangweilt vor eurem Fern-seher, der euch nur unnötig mit Sinnesobjekten füttert.

Heilsame Aktivitäten spielen eine sehr große Rolle im Leben der Haus-leute. Einmal entwickeln diese Taten gewisse notwendige Fähigkeiten, be-setzen den Geist mit heilsamen Dingen und dienen tatsächlich als eine Art Freisetzung guter Emotionen. Musik kann auch gute Emotionen freisetzen. Macht Dinge, die extra Energie und Emotionen in guter Weise freisetzen, damit sich der Geist entwickelt. Letztendlich ist auch - um einen vernünf-tigen theoretischen Hintergrund zu bekommen - Lesen notwendig.

Wenn ihr eine solche Basis etabliert habt, solltet ihr versuchen in all euren täglichen Aktivitäten Achtsamkeit zu praktizieren. Es gibt gewisse Punkte, die ihr verstehen müsst. Eure Meditation im Alltag kann nicht so gut sein wie während eines Retreats. Nach eurem Retreat werdet ihr nicht 100% eurer Konzentration verlieren, wahrscheinlich aber 90%, 95% oder 99%.

Da euer Geist aber schon die Basismethode kennt, wird er darauf zu-rückkommen, wenn ihr frei seid oder die Bedingungen passend sind. Das ist genau wie bei einer Pflanze. Wenn ihr sie wässert, wächst sie schön und

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buschig. Wenn es kein Wasser gibt oder nur einige Tropfen, werden die Blätter abfallen, bis nur noch ein Blatt, die Wurzel und der Stängel übrig bleiben. Aber noch ist nicht alles verloren. Wenn ihr frei habt, wässert ihr sie wieder und ihr werdet drei oder vier Blätter erhalten. Das ist besser als nichts. Die Pflanze ist nicht gestorben. Wenn sie vollständig vergangen ist, wird euer Geist sich in einem schrecklichen Zustand befinden. Der Dämon hat euch vollständig übernommen. Deshalb müsst ihr die Achtsamkeit er-halten. Das Problem ist, dass die meisten Leute, bevor sie mit dem Medi-tieren anfangen, bevor sie auf Retreats anwesend sind, gar nicht wissen, was Achtsamkeit ist. Wenn ihr ein besseres Verständnis der Natur der Achtsamkeit habt, könnt ihr sie auch außerhalb der Retreats erhalten oder sie zumindest in einem gewissen Grade in eurem Alltag entwickeln.

Verlangsamung

Es gibt eine Menge an Dingen, die es vereinfachen die Achtsamkeit auf-recht zu erhalten. Das Wichtigste ist, dass ihr euch nicht beeilt. Eile scheint harmlos, aber tatsächlich ist sie es, wo die Achtsamkeit verloren geht. Ihr macht dies, dann das, beeilt euch und schon habt ihr eure Achtsamkeit ver-loren. Mit ihrem Verlust entstehen Zorn und Ungeduld mit all ihren Folgen. Wenn ihr euch nicht beeilt, habt ihr Zeit nachzudenken, zu erwägen und zu prüfen, zu beobachten und Ruhe zu bewahren. Wenn ihr hier und dorthin hastet, ist da nicht genug Konzentration. Achtsamkeit kann so nicht ent-stehen und Konzentration ist auch nicht vorhanden, deshalb könnt ihr nicht in die Tiefe gehen.

Wenn ihr schon vorher meditiert habt und euer Geist schon tief konzen-triert war, dann findet einen freien Zeitraum wie am Morgen oder am Abend, wo ihr alles beiseite legen könnt und macht eure Meditation. Wegen eurer früheren Erfahrung kann die Konzentration wieder zu einem gewissen Umfang zurückkehren. Aber ihr müsst den ganzen Tag aufpassen. Hetzt euch nicht ab und sagt keine Dinge ohne Achtsamkeit. Sonst werden all die Dinge, wenn ihr meditiert, zurückkommen um herumzunörgeln. Wenn ihr zu einem gewissen Grad Bewusstheit bewahrt, anstatt ruhelos zu werden, ist Achtsamkeit da. Wenn ihr das vergesst, dann kehrt in den gegenwärtigen Moment zurück. Entspannt euch, lasst es fließen, macht gar nichts. Seid nur achtsam. Kehrt immer wieder zum Zustand der Achtsamkeit zurück. Entspannt euch, lasst alles gehen und seid zehn oder zwanzig Minuten ruhig am Tag, oder auch nur für den Moment. Ihr werdet den Unterschied in eurem Leben bemerken.

Eine Minute pro Tag

Nicht viele Leute können tatsächlich jeden Tag meditieren. Dazu braucht es eine große Entschlusskraft. Wenn diese nicht ausreicht, was können wir dagegen machen? Folgt dieser einfachen Regel: Jeden Tag setzt ihr einen Punkt um für eine Minute zu meditieren. Wenn ihr „Heben“ und „Senken“ sechzig Mal beobachtet, ist es schon mehr als eine Minute. Wenn ihr eine Minute pro Tag meditieren könnt, als Erstes am Morgen und als Letztes am Abend bevor ihr schlafen geht, könnt ihr sicher auch etwas länger meditieren. Wenn ihr euch hinsetzt und „Heben“ und „Senken“

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sechzig Mal beobachtet, werdet ihr euch ruhig fühlen. Dann meditiert für zwei Minuten weiter. Wenn ihr zwei Minuten meditieren könnt, könnt ihr es auch für drei Minuten. Nach fünf Minuten mögt ihr genug haben, aber das macht schon tatsächlich einen Unterschied. Euer Tag beginnt glück-licher und achtsamer. Das Geheimnis besteht darin einfach anzufangen, die Maschine ins Rollen zu bringen. Wenn es kalt ist, mögt ihr vielleicht nicht meditieren. Aber bringt die Maschine einfach ins Rollen und es wird einige Zeit gehen. Tägliche Praxis beeinflusst euren Alltag positiv und die Medita-tionsfertigkeit wird in einem gewissen Masse aufrechterhalten. Auch wenn sie nicht so tief ist, erweitert sie zumindest eure Erfahrungen und bildet eine Basis, die, wenn die Bedingungen passender wie in einem Retreat sind, da-zu führt, dass ihr eure Meditation sehr schnell wieder aufnehmen könnt. Einige machen nur durch ihre tägliche Praxis Fortschritte. Diese Leute meditieren jeden Tag ohne Unterlass.

Etwas, was in dieser Einer-Stunde-Pro-Tag-Praxis helfen kann, ist Konzentration, die den Geist schnell ruhig stellen kann. Es ist nicht so schwer, von einem unruhigen Geist zu einem friedvollen Geist zu kommen. Macht Metta-Meditation (Liebende-Güte-Meditation) oder singt für zehn oder auch nur fünf Minuten um die Gedanken abzuhalten und der Geist wird in einen ruhigen für die Vipassanā-Meditation günstigen Zustand kommen, ohne viel Zeit zu verlieren. Diese Fähigkeit sollte geübt werden. Diejenigen, die nicht singen können, können auch Gesang auf einer Kas-sette mit Achtsamkeit folgen und so alle anderen Gedanken abschalten, sodass in dem Moment, wo sie sitzen, der Geist schon beruhigt ist und sie mit Achtsamkeit die Objekte beobachten können. Sonst können Gedanken und Zorn eindringen und die Stunde ist schon vorbei, obwohl ihr nur fünf Minuten das „Heben“ und „Senken“ beobachtet habt und todmüde seid.

Wenn ihr sehr beschäftigt seid und am Ende des Tages meditiert, dann braucht ihr nicht soviel Gehmeditation machen. Wenn ihr eine Menge physischer Energie während des Tages verbraucht habt, seid ihr vielleicht müde. Wenn ihr wirklich müde seid, schlaft ein wenig, bevor ihr meditiert. Die beste Zeit zum meditieren für beschäftigte Personen ist am Morgen. Ihr habt euch genug ausgeruht und euer Geist ist ausgeglichen. Ihr müsst es euch zur Gewohnheit machen morgens früh aufzuwachen und euch viel Zeit für die Meditation zu nehmen. Sonst, wenn ihr nur eine knappe halbe Stunde Zeit zum Meditieren habt, werdet ihr währenddessen daran denken, was ihr heute auf eurer Arbeit zu tun habt und schon ist die halbe Stunde um.

Eine andere Strategie um der täglichen Achtsamkeit zu helfen, ist richtig zu planen. Wenn ihr eure Arbeit gut organisiert, müsst ihr nicht soviel denken. Der Geist wird nicht so ruhelos. Organisiert zu sein, wird euch auch eine Menge an Zeit schenken um Heilsames zu tun.

Strebsamkeit

Mit Fleiß können Personen auch im Alltag Erfolg haben. Mit Strebsam-keit werdet ihr eurer spirituellen Praxis wirklich treu werden. Es ist kein Hobby, dass ihr nur tut, wenn euch danach ist. Es gibt Kontinuität.

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Andrerseits solltet ihr auch ein wenig vorsichtig sein, damit ihr euch nicht zu stark antreibt. Wenn ihr euch zu stark antreibt, ist es mehr wie eine Be-strafung oder Qual. Dann werdet ihr vielleicht das Anfangen fürchten und ihr meditiert nur, weil ihr müsst. Schließlich gebt ihr auf. Es gibt eine Kontinuität des Bestrebens. Versucht euer Bestes. Erwartet nicht zu viel von euch selbst. Es gibt Regeln und der Geist ist dazu konditioniert bei größeren Erfahrungen einen höheren Zustand anzunehmen. Nach einiger Zeit, wenn der Geist genug Schwungkraft auf Grund der Konditionierung hat, wird er durchbrechen, weil es tief im Geiste diesen Wunsch gibt, dieses „Programm“ es geschehen zu lassen. Ohne Ambitionen ist der Wunsch Fortschritte zu machen nicht da und der Geist akkumuliert nicht genug Be-dingungen (Energie). Ihr fühlt keinen Fortschritt und die Konzentration kommt nicht auf.

Die Gratwanderung (Living on the edge)

Es gibt eine tiefere Praxis, die mehr ist als nur der Versuch an der Ober-fläche zu bleiben. Das nennt man die Gratwanderung. Hier versucht ihr, an der Kante zwischen dieser und der anderen Welt zu leben. Zwischen Kon-vention und Realität. Zwischen Person und Nicht-Person. Zwischen der Stufe, die durch Hemmungen beeinflusst ist und der, die nicht durch Hem-mungen beeinflusst ist. Wie hier schon vorher erwähnt wurde, ist der Unter-schied zwischen dem Alltag und einem tatsächlichen Retreat der, dass ihr während eines Retreats viel Zeit habt tiefere Stadien der Konzentration zu bekommen. Wenn ihr geht, schaut ihr nicht rechts oder links, ihr schaut nur herunter. Wenn ihr „Heben“ und „Senken“ beobachtet, erzählt dir niemand: „Du hast einen Anruf“, und es kommt auch kein Kind und zieht an deinen Händen und Füßen. In einem Retreat habt ihr den Luxus eure ganze geistige Kraft in die Praxis zu legen. Deshalb verbessert sich die Konzentration sehr schnell. Im Alltag ist das nicht so leicht. Wenn ihr jedoch ernsthaft prakti-ziert, werdet ihr auch tiefe Stufen der Konzentration und eine Menge neuer Erfahrungen erreichen. Das bedeutet mit dieser Gratwanderung zu leben.

Die Schönheit von vipassanā liegt in der momentanen Konzentration. In der Samatha-Meditation ist das nicht so. Dort müsst ihr euch von allen welt-lichen Aktivitäten abschotten, um die Stufe der Vertiefung und Konzen-tration aufrecht zu erhalten. Wenn ihr einmal aus einer intensiven Samatha-Praxis herauskommt, wird der Geist sehr empfindlich. Er kann „verletzt“ werden. Wenn die Leute aus dem samādhi herauskommen, werden sie mit Sinnesobjekten bombardiert. Es ist möglich, dass sie dann schnell zu ihren Höhlen und Wäldern zurücklaufen. Während tiefen samādhis ist die Er-fahrung sehr friedvoll. Das ist viel besser als andere weltliche Beschäfti-gungen.

Wenn ihr Ruhe und Frieden wollt, müsst ihr ein einsiedlerischeres Leben leben. Ruhepraxis passt nicht in den Alltag, weil, wenn ihr in die täglichen Aktivitäten involviert werdet, ihr all eure Konzentration verliert. Es sei denn ihr lebt als Einsiedler, aber nicht notwendigerweise als Mönch.

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Klares Verständnis

Vipassanā-Konzentration kann im Alltag immer bis zu einem gewissen Grade erzielt werden. Hier ist der wichtige Teil der Praxis klares Verständ-nis. Klares Verständnis des Ziels, klares Verständnis der Angemessenheit. Das Ziel ist dass, was ihr tun möchtet. Eine Absicht entsteht und ihr notiert die Absicht. Ihr wisst, dass einige Absichten heilsam und andere unheilsam sind. Wenn sie unheilsam ist, dann lasst es. Wenn es heilsam ist, könnt ihr es tun. Nun kommen wir zum klaren Verständnis der Angemessenheit. Angemessen für die Praxis, angemessen um viele andere Dinge zu tun. Bei der Gratwanderung ist es angemessen, in tiefere Erfahrungsstufen zur anderen Welt hineinzugehen, nämlich zum Nicht-Selbst, zur Realität. Deshalb seid achtsam, wann immer ihr es wollt. Sobald es angemessen ist, schaltet ihr auf Achtsamkeit um. Ihr werdet dann nur den Geist-Körper-Prozess, so wie er ist, erfahren. Wenn ihr z. B. im Bus sitzt und nichts zu tun habt, könnt ihr achtsam sein auf „Heben“ „Senken“ „Hören“ Hören,“ ein Schmerz hier, ein Schmerz da... Aber ihr könnt natürlich nicht so tief gehen, weil ihr sonst eure Haltestelle verpasst.

Deshalb müsst ihr das Hinein- und Herausgehen kontrollieren lernen. Wenn ihr erst einmal diese Kunst gemeistert habt, fällt es euch leicht. Es ist ein schmaler Grat. Speziell, wenn ihr einen gewissen Grad an Achtsamkeit und Klarheit aufrechterhalten könnt, könnt ihr jederzeit „hineingehen“. Zum Beispiel während des Gehens. Natürlich nur, wenn es ein gerader Weg ist und es keine Autos gibt. Wenn ihr daran gewöhnt seid, geht ihr auf dem Weg, bemerkt nichts anderes und zur rechten Zeit kommt ihr heraus.

Die Frage der Angemessenheit wenden wir an, wenn wir fragen, ob es angemessen ist zu praktizieren. Es gibt eine Fähigkeit des Geistes Bedin-gungen herzustellen um für kurze Zeit in die Meditation einzutauchen und wieder aus ihr herauszukommen. Am Anfang gelingt dies meist nicht, da das Eintauchen Zeit kostet. Ihr müsst auch mit dem Denken kämpfen, dann auf das „Heben“ und „Senken“, also die Atmung achten, sie überhaupt finden etc. Aber wenn ihr erst einmal daran gewöhnt seid in die Konzen-tration hineinzugehen und das „Heben“ und „Senken“ zu beobachten, neigt ihr dazu euch von den anderen Dingen abzutrennen. Ihr werdet „Innen“ sein. Gehen ist diesbezüglich schwieriger, da ihr dabei normalerweise zum Herumschauen tendiert.

Wenn euer Geist wirklich in Konzentration gehen möchte und ihr die Objekte beobachten und alles andere vergessen könnt, könnt ihr diesen Augenblick kontrollieren. Ihr bleibt in dem Moment, wo es nicht passend ist, draußen und wenn der nächste Moment passend ist, geht ihr in die Konzentration hinein. Wenn ihr länger praktiziert und daran gewohnt seid, ist das durchaus erreichbar. Der Grat ist aber tatsächlich sehr schmal.

Erlebte Konzentration

Wenn ihr in Stadien tiefer Konzentration hineingehen könnt, wenn auch bloß für eine Sekunde und herauskommt, ist es gut genug. Diese eine Sekunde kann eine sehr tiefe Erfahrung sein. Deshalb übt, sodass ihr in an-gemessenen Momenten komplett für einen kurzen Moment in das Objekt

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vertieft seid und wieder herauskommt. Dies wird Gratwanderung genannt. Das ereignet sich öfter in Traditionen, die eine alltägliche Praxis der inten-siven formalen Meditation gegenüber bevorzugen. Die Leute in diesen Traditionen versuchen, den ganzen Tag über achtsam zu sein. Das machen sie in Sekundenbruchteilen, während sie mit ihrer Arbeit oder anderen Tätigkeiten beschäftigt sind. Da sie Achtsamkeit haben, können sie schnell in die Konzentration hineingehen und genauso schnell wieder heraus-kommen. Sie erfahren komplette Vertiefung im Moment. Viele Leute kommen zu Retreats und praktizieren auch hart, aber wenn sie wieder nach Hause kommen, ist alles wieder wie zuvor. Wenn ihr allerdings in einen Moment vertieft sein und wieder herauskommen könnt, dann habt ihr eine Menge Gelegenheiten die tieferen Aspekte der Meditation auch im Alltag zu entwickeln.

Hier noch ein paar Ratschläge. Wenn ihr erst einmal kontinuierliche Achtsamkeit erreicht, seht auf das Objekt und trennt das Ich-Konzept ab. Dieses Konzept ist es, dass Denken und Unruhe hervorbringt. Wenn ihr das Ich-Konzept abgetrennt habt, trennt das Raumkonzept ab. Danach trennt das Zeitkonzept ab. Nehmt zum Beispiel ein einfaches Objekt wie Gehen. Wenn ihr ständig im Sinn habt „Ich bin hier, dies ist der Körper“ und ähnli-che Gedanken, könnt ihr nicht tief in die Erfahrung hineingehen. Deshalb kümmert euch nicht um das „Ich“. Es ist der Geist, der es erfährt. Denkt nicht an Raum. Denkt nicht, dass ihr euch bewegt. Bewegung ist selbst das Objekt. Dann gibt es nur noch die Bewegung. Es ist, als wenn ihr selbst an einem sich nicht ändernden Punkt verbleibt. So wird Bewegung euer Objekt. Denkt nicht daran, was ihr gerade macht, z. B. ihr geht gerade für immer und ewig oder so etwas Ähnliches. Ihr habt alle Zeit der Welt zu gehen, denkt nicht darüber nach. Dann sinkt der Geist tiefer. Es ist nur eine Frage der Haltung. Wenn ihr das könnt, während ihr auf einen Bus wartet oder während ihr zufällig für fünf Minuten geht, kann der Geist in völlig tiefe Konzentration sinken. Auch wenn ihr dann geht, werdet ihr keine Ge-räusche hören und auch überhaupt nichts sehen. Es sind nur für ein oder zwei Sekunden der Geist und das Objekt da.

Wenn ihr natürlich Achtsamkeit im Alltag und intensive Retreats kombinieren könnt, ist das das Beste. Damit ihr besser während des Retreats meditieren könnt, bereitet euch bitte vor. Stellt sicher, dass ihr regelmäßig sitzt. „Startet die Maschine“ und versucht noch vor dem Retreat all eure Arbeiten zu beenden. Viele Leute, die zum Retreat kommen, aber viel Arbeit haben, hasten nach dem Meditieren nach Hause um ihre Arbeit zu beenden. Dann kommen sie wieder zum Retreat und sind so müde. Der ganze Stress braucht einige Zeit um überwunden zu werden. Aber wenn ihr schon vorbereitet seid bei eurer Ankunft, gibt es einen großen Unterschied. Anstatt dass ihr drei oder vier Tage braucht um wieder dort zu sein, wo ihr gewesen seid, braucht ihr nur noch ein oder zwei Tage und schon macht ihr Fortschritte.

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Zusammenfassung

Was ist Meditation? Meditation ist die auf einem systematischen Weg entwickelte Achtsamkeit. Achtsamkeit, die so stark entwickelt wird, bis sie kraftvoll und scharf genug ist um Einsicht zu erzielen. Diese Einsicht ist in der Lage all unsere Befleckungen zu beseitigen und uns von allen Leiden zu befreien.

Zuerst brauchen wir genug Achtsamkeit, um uns vor der Ausübung böser Taten durch das Körper- und Sprachtor zu schützen. Das wird Sitt-lichkeit genannt.

Später, wenn die Achtsamkeit kontinuierlich und kraftvoll geworden ist, kann der Geist rein und zeitweilig frei von Befleckungen gehalten werden. Das ist Konzentration.

Zum Schluss kann die Achtsamkeit so scharf werden, dass sie die wahre Natur der körperlichen und geistigen Prozesse durchdringt. Das ist Einsicht (Wissen/Weisheit).

Dieses dreifache Training der Sittlichkeit, Konzentration und Weisheit des achtfachen Pfades ist untereinander abhängig. Sittlichkeit ist die Basis um Konzentration zu entwickeln, während Konzentration die Basis dafür ist Einsicht zu entwickeln. Die Sittlichkeit wird aber auch stärker, wenn die Einsicht steigt.

All dies hört sich sehr einfach an, aber jeder, der schon praktiziert hat, weiß, dass dies einfacher gesagt als getan ist. Es braucht Zeit und Mühe und deshalb müssen Opfer gebracht werden. Es kann einem jedoch versichert werden, dass es jeder Mühe wert ist. Wir brauchen eine Menge an Vipassanā-Akkumulationen um uns aus dem samsara herauszubringen. Und wenn wir wissen, was der samsara und all das Leiden ist, werden wir fleißig praktizieren.

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Anhang

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A. Die fünf Hemmungen (nīvara�a) In den ersten paar Tagen eines intensiven Retreats oder der anfänglichen

Meditationsphase, werden die Anfänger die Hemmungen in ihrer vollen Stärke erleben.

Diese Hemmungen sind geistige Befleckungen. Sie werden in fünf Gruppen eingeteilt:

1. Kāmachanda – Sinnesbegehren 2. Vyāpāda – Übelwollen 3. Thīna-midha – Mattigkeit und Müdigkeit 4. Uddhacca kukkucca – Unruhe und Sorgen 5. Vicikicchā – skeptischer Zweifel Diese Hemmungen müssen eine Zeit lang überwunden werden, damit

die „Rechte Konzentration“ stark genug wird um als Einsichtsbasis zu fun-gieren. Diese anfänglich angetroffene Schwierigkeit ist normal, da man am Anfang noch nicht so viel Achtsamkeit hat. Man muss sich auch erst an die sehr harte Übung während des Retreats gewöhnen. Die anfängliche Phase ist eine kritische Periode, da den Hemmungen nicht erlaubt werden darf zu lange im Geist zu verbleiben, speziell zu Zeiten, wenn sich die Konzen-tration aufbaut. Wir müssen sehr vorsichtig sein keine falsche Konzen-tration zu bekommen. Es ist deshalb dringend notwendig, dass die Meditie-renden, die die Methode noch nicht richtig erfasst haben, geduldig sind und sich nicht antreiben. Dies wird ihnen helfen sich von den Hemmungen zu befreien. Der sicherste Weg ist, der Achtsamkeit zu erlauben sich mit einem Minimum an Stress zu entwickeln.

Wenn die Hemmungen auftauchen, gibt es zwei Methoden, die ein-gesetzt werden können um sie zu überwinden:

1. Vipassanā-Methoden

a) Die Achtsamkeit wird auf die betreffende Hemmung gerichtet b) Die Achtsamkeit wird auf andere Objekte als die Hemmung

gerichtet

2. Nicht-Vipassanā-Methoden a) Entwicklung des gegenteiligen heilsamen geistigen Zustandes b) Andere Methoden, z. B. Bedingungen erzeugen, die zu reinen

geistigen Zuständen führen.

Sinnesbegehren (kāmachanda)

Sinnesbegehren ist Verlangen hinsichtlich der Anhaftung am Vergnügen an den fünf Sinnesobjekten und den mit ihnen verbundenen Gedanken bezüglich ihrer Schönheit, Wonne etc.

Wir wurden in eine Welt geboren, die diese Sinne und Sinnesobjekte genießt und daran Vergnügen findet. Farbenfrohe Bilder, zauberhafte Musik, verführerische Parfüms, leckeres Essen, angenehm weiche Berüh-

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rungen und fantasievolle, sinnliche Gedanken. Es ist wahr, dass sie mit einem gewissen Grad an Vergnügen und Freude einhergehen. Aber sie sind sehr flüchtig und wir müssen teuer für sie bezahlen. Diese Hemmung wird mit einer Schuld verglichen. Da wir diese Sinnesobjekte wollen, müssen wir ihretwegen und dem kurzen Moment des Vergnügens viel vorher und nachher Leiden. Außerdem ist der kurze Moment des Vergnügens selbst nicht freudvoll. Aufregend vielleicht, aber nicht wirklich friedvoll.

Sinnesbegehren kann klar gesehen werden, wenn man es beim Erschei-nen notiert. Während eines Retreats beachtet man die Sittenregeln etc. Ge-wisse Attraktionen und Ablenkungen werden dadurch auf ein Minimum reduziert. Aber Sinnesbegehren kann noch für jemanden, der herum-schauen, hören und sprechen will, auftauchen. Wir müssen darauf wirklich sehr achtsam sein, indem wir „Begehren“ oder „Anhaften“ in dem Moment notieren, wenn es erscheint. Wenn wir dies tun, sollten wir uns sehr sicher sein, dass wir den mentalen Zustand achtsam notieren und nicht das begehrliche Objekt. Wir müssen unsere Achtsamkeit auch so stark und kontinuierlich wie möglich machen, da die Anwesenheit eines Sinnes-begehrens selbst anzeigt, dass der Geist schwach ist. Wir müssen auch sicherstellen, dass wir das Sinnesbegehren mit Loslösung notieren, da wir sonst ohne unser Wissen wieder in die Anhaftung hineingleiten. Wenn wir dies können, werden wir feststellen, das Anhaften oder Sinnesbegehren eine Sache und das angenehme, begleitende Gefühl eine andere Sache ist. Das angenehme Gefühl, das nur einen kurzen Moment andauert und dann ver-geht, erzeugt einen erhebenden Mantel der Begeisterung und legt ihn über den leidenden Zustand der Anhaftung, der diesen geistigen Zustand be-herrscht. Wenn ihr dieses Sinnesbegehren, dessen spezifische Eigenschaft Anhaften am Objekt ist, achtsam betrachten könnt, werdet ihr es nicht nur als unbefriedigend ansehen, sondern auch als tatsächliches Leiden. Es ist ein hungriger Zustand, es wird mit einem Hungergeist verglichen. Es ist ein brennender Zustand. „Es gibt kein so starkes Feuer wie Begierde“ sagt ein Sprichwort.

Wenn wir achtsam sind, wird das entstandene Sinnesbegehren bald auf-hören. Der Grund dafür ist, dass Sinnesbegehren und Achtsamkeit nicht zur gleichen Zeit existieren können. Ein anderer Grund ist, dass wir seine wahre Natur erkennen können. Das Problem ist, dass wir manchmal noch an sinn-lichen Vergnügen hängen. Aber wenn wir rechtes Verstehen haben und uns entschließen, die Leidenschaft zu überwinden und in ihr keine Sekunde länger zu schwelgen, können wir uns von ihr befreien. Die Methode, die geistigen Hemmungen direkt zu beobachten, dient deshalb zwei Zielen:

1. Den Geist von den Befleckungen zu läutern. 2. Die wahre Natur der Hemmungen bezüglich der drei universellen

Daseinsmerkmale (Unbeständigkeit, Unzulänglichkeit und Nicht-Selbst) zu verstehen.

Das direkte Beobachten des Sinnesbegehrens enthüllt auch andere Dinge, die wir dadurch überwinden können. Zum Beispiel können wir Be-

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dingungen sehen, die viele verschiedene Formen des Begehrens verursa-chen, Bedingungen, die sie erhalten und Bedingungen, die sie auflösen. Eine der Hauptbedingungen für ihr Entstehen ist die Anwesenheit eines attraktiven Objekts. So hilft Achtsamkeit auf die sechs Sinne sehr stark bei der Prävention und bei der Überwindung des Sinnesbegehrens. Nur wenn wir nicht achtsam auf die attraktiven Objekte an den Sinnestoren sind, ent-steht Anhaften. Deshalb hilft es sehr, falls Sinnesbegehren entsteht, dass wir „Sehen, Hören, Schmecken“ etc. notieren. Wir werden dann auch wissen, dass das, was Begehren oder Vergnügen repräsentiert, in Wirklichkeit un-beständig, unzulänglich und Nicht-Selbst ist.

Es gibt Momente, wo das attraktive Objekt dominiert. In solchen Momenten kann es besser sein, dass wir es willentlich ignorieren und unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Objekt, das kein Anhaften, sondern Achtsamkeit verursacht, lenken. Ein Beispiel dafür ist, wenn ein Meditie-render angenehme Zustände des Geistes erfährt. Indem er sie beobachtet, könnte er nach einiger Zeit an ihnen anhaften. Deshalb wird dem Meditie-renden geraten - falls es nicht weggeht oder sich beruhigt, sondern stärker als zuvor da bleibt - auf ein weniger attraktives Objekt, wie „Heben“ und „Senken“ der Bauchdecke oder auf die „Sitzen-“ und „Berühren-“ Empfin-dung zu wechseln.

Diese Methode des Ignorierens kann man auch im hier folgenden, ziem-lich humorvollen Rat vom Buddha an Ananda bezüglich des Verhaltens der Mönche gegenüber Frauen antreffen:

„Wie sollten wir uns gegenüber den Frauen benehmen?“ „Als würden wir sie nicht sehen, Ananda.“ „Aber wenn wir sie sehen sollten, was machen wir dann?“ „Nicht sprechen, Ananda.“ „Aber wenn sie zu uns sprechen, Herr, was machen wir dann?“ „Wachsam sein, Ananda.“ Mahaparinibbāna sutta Methoden um Sinnesbegehren zu überwinden, die keine Vipassanā-

Methoden sind, sind Meditationen mit Konzepten als Objekte. Zum Bei-spiel beim Entwickeln des entgegengesetzten geistigen Zustandes (zu Sinnesbegehren), kann man asubha bhāvanā machen. Das ist die Medita-tion über die Widerlichkeit des Körpers. Wenn es zu überwindende Lust auf den Körper ist, kann man die Betrachtung der 32 Teile des Körpers oder die Leichenbetrachtung etc. machen. Wenn es Gier nach Essen ist, gibt es die Entwicklung der Widerlichkeit der Nahrung. Genauso können wir auch die Widerlichkeit und Gefahr des Anhaftens an anderen Objekten betrachten. Wie man diese Betrachtungen ausführt, ist aber nicht weiter Inhalt dieses Buches.

Andere Nicht-Vipassanā-Wege, die mit dem Sinnesbegehren kämpfen, sind die 13 asketischen Übungen der Mönche. Zum Beispiel mag ein Mönch darunter diejenige auswählen, in der er nur drei Roben besitzt. Eine Praxis, die hinsichtlich der Kleidung zur Zufriedenheit führt. Hausleute

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können auch einen gewissen Grad an Askese praktizieren. Wir können uns auch mit Zufriedenheit verbinden und uns von der Gier abwenden.

Diese letztgenannten Methoden, die Konzentration auf ein konzep-tionelles Objekt beinhalten, werden unter Samatha-Meditationen klassi-fiziert. In welchem Masse wir uns mit ihnen auseinander setzen, hängt von unserem individuellen Temperament ab. Normalerweise ist es nicht not-wendig sehr lang in solchen Betrachtungen zu verweilen um die Hem-mungen zu überwinden und zur Vipassanā-Meditation zurückzukehren. Wenn wir jedoch mehr Zeit mit ihnen verbringen, wird sich die Konzen-tration erhöhen und dies benötigt weitere Fertigkeiten im Umgang mit dem Geist. Hier liegt auch die Grenze zwischen jemandem, der reine Vipassanā-Meditation praktiziert und jemandem, der Ruhe als Meditationsbasis ent-wickelt. Wenn jemand eine solche starke Ruhebasis entwickeln will, dann wird die ganze anfängliche Anstrengung auf die Ruhepraxis gerichtet. Aber für einen Hausmann, der nicht so viel Zeit übrig hat, ist es nicht schwer zu verstehen, warum er das reine vipassanā wählen muss.

Übelwollen (vyāpāda)

Die zweite Hemmung „Übelwollen“ gehört zu den zornigen Zuständen des Geistes. Es ist ein gewalttätiger Zustand, der das Gedeihen und das Glück von einem selbst und anderen zerstören will. Er erscheint in vielen Formen und ist wegen seiner groben Natur und wegen dem unangenehmen Gefühl, mit dem er daherkommt, leichter zu erkennen als Sinnesbegehren. Wie bei allen Befleckungen ist es leichter sie zu überwinden, wenn sie früh erkannt werden. Wir notieren achtsam „Zorn, Zorn“ oder „Angst“ „Eifer-sucht“, in welcher Form das Übelwollen auch erscheinen mag. Während des Notierens sollte man so ruhig wie möglich bleiben. Wenn man achtsam auf den Zorn ist, ist es wie das Fahren auf einer gewundenen schlechten Straße mit vielen Schlaglöchern und Steinen. Man muss sehr wachsam, vorsichtig und stabil sein. Es ist wie als wenn sich ein Meditierender in-mitten von gewalttätigen im Streit liegenden Gruppen befindet, um ihre Differenzen zu lösen. Man muss ruhig bleiben, aber nicht so lax, dass man von beiden Seiten gehauen wird.

Wenn wir achtsam auf die Eigenschaft des Zornes - das ist die Grau-samkeit oder das Verletztenwollen ihrer Objekte - sein können, werden wir sehen, dass es ein sehr unbefriedigender Zustand des Geistes ist. Dennoch halten die Leute, die Hass oder Reue erdulden, an diesen widrigen geistigen Zuständen fest, ohne gewillt zu sein sie gehen zu lassen. Zorn ist niemals gerecht. Das Erkennen seiner wahren Natur bringt einen dazu ihn wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen.

Man sollte den Zorn solange, bis er gänzlich verschwindet, auch losge-löst vom Ich-Konzept, dem „Mein“ etc. , beobachten. Wenn der Zorn immer noch da ist, muss man andere Maßnahmen oder Taktiken, wie den Geist auf ein anderes Objekt lenken, anwenden.

Eine der Hauptbedingungen für das Entstehen von Ärger ist das absto-ßende Objekt. Ein normales abstoßendes Objekt, auf das der Meditierende stößt, ist Schmerz. Physische schmerzhafte Empfindungen sind oft Objekte

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der Vipassanā-Meditation. Schließlich ist Schmerz oder dukkha eines der drei allgemeinen Daseinsmerkmale der Existenz, die verstanden werden müssen. Mein burmesischer Lehrer benutzte die Beobachtung des Schmer-zes um Meditierende zu heroischen Anstrengungen zu ermutigen. Ein anderer Lehrer nannte den Schmerz den guten Freund des Meditierenden. Nicht wichtig, wie wir ihn betrachten, wir müssen geduldig sein, wenn wir ihn beobachten. Die meisten der unangenehmen Objekte, die wir im Alltag antreffen, können leicht mit Achtsamkeit, indem wir uns anstrengen sie beim Entstehen zu notieren, behandelt werden. Jedoch gibt es auch andere Momente, in denen wir andere Methoden benutzen müssen, da unsere Achtsamkeit und Einsicht noch nicht reif genug ist. Abhängig von der Natur des Übelwollens, kann der gegenteilige geistige Zustand wachge-rüttelt werden. Zur Einfachheit können wir vyāpāda in drei Kategorien ein-teilen:

1. Übelwollen gegenüber Lebewesen 2. Traurigkeit, Kummer und Jammer 3. Angst

Übelwollen gegenüber Lebewesen

Es mag verschiedene Gründe geben, warum eine Person einer anderen übel will. Aber keiner von ihnen ist gerechtfertigt. Diese Emotionen des Übelwollens können so stark werden, dass man sogar überlegt seinen Feind zu töten. Die Entwicklung der Wohnstätten der Götter (brahmaviharas) können helfen das Übelwollen zu überwinden. Das ist in diesem Fall die Liebende-Güte-Meditation, die den Zorn und Hass gegenüber den Lebe-wesen überwindet. Es gibt auch die Entwicklung von Mitgefühl gegenüber den leidenden Lebewesen, die die Grausamkeit überwindet, die Meditation der Mitfreude gegenüber allen glücklichen Lebewesen oder die Entwick-lung von Gleichmut. Neben dem Überwinden der Hemmungen und der Er-zielung zur Konzentration, gibt es noch andere vielfältige Vorteile, die durch die Praxis dieser Meditationen gewonnen werden können.

Traurigkeit, Kummer und Jammer

Dies sind unglückliche geistige Zustände, die normalerweise durch ein Ereignis der Trennung oder des Verlustes von etwas uns sehr Naheste-hendem hervorgebracht werden. Dies kann Eigentum betreffen oder ge-liebte Personen. Je tiefer und stärker die Anhaftung, desto schmerzhafter ist es, wenn die Zeit der Trennung kommt. Die Entwicklung von Gleichmut hilft uns diese Sorgen zu beschwichtigen. Hier reflektieren wir über kamma und seine Resultate in Bezug zu uns selbst und anderen. Wir können auch über das letztendlich kommende Alter, die Krankheit und den Tod reflek-tieren. Die Achtsamkeit, wenn man mit solch Kontemplationen beschäftigt ist, muss sehr losgelöst sein.

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Angst

Wir fürchten das Unbekannte, Geister, Verrückte, Höhen, Krankheiten etc. Es gibt einen großen Bereich an Phobien und Paranoia, unter denen die Leute leiden können. Angst wird durch Panik, Zittern und Verwirrung charakterisiert. Achtsamkeit, die damit beschäftigt ist die Angst zu notieren, sollte sehr fest sein, damit sie den zitternden Geist für eine ausreichend lange Zeit stillhalten kann. Vertrauen und Mut sind auch hilfreich. Wenn jemand ganz verloren ist, kann man schnell die Betrachtung der Vorzüge der drei Kleinodien (Buddha, dhamma, sangha) aufgreifen. Häufige Erinne-rung daran ruft zusätzlich auch noch eine Menge Freude hervor.

Mit was für anderen unterstützenden Bedingungen kann man das Übel-wollen überwinden? Das Meditationshandbuch „Der Weg zur Reinheit“ (visuddhi magga) empfiehlt angenehmes Wetter, angenehme Behausungen, angenehme Bedingungen zur Nahrungssuche, angenehme Menschen, an-genehme Körperhaltungen und noch Weiteres für das hassvolle Tempe-rament.

Mattigkeit und Müdigkeit (thīna-middha)

Thīna bezieht sich auf die Schwerfälligkeit und Unwilligkeit des Geistes. Es ist wie jemand, der sich weigert sich zu bewegen, seine Arbeit zu tun oder sich weigert in der Meditation achtsam zu notieren. Middha bezieht sich auf dieselben Bedingungen bei den mentalen Faktoren (cetasika). Der schwere und bewölkte Geist wickele den Meditierenden in einen solchen Zustand ein, verschleiert ihn, bis er das schließlich wegdöst und einschläft.

Diese Zwei entstehen zusammen und machen einen ziemlich schwach. Wie ein kranker Mann, der nicht lange sitzen und gerade laufen kann. Diese „geistige Müdigkeit“ muss von physischer Müdigkeit unterschieden werden. Aus Erfahrung hat sich gezeigt, dass für eine normalgesunde Person während eines intensiven Retreats vier Stunden Schlaf ausreichend für den Körper sind, um sich von der körperlichen Ermüdung (durch die Meditation am Tage) zu erholen. Natürlich mögen einige damit nicht übereinstimmen, insbesondere da erzählt wird, dass ein Mensch mindestens sieben oder acht Stunden Schlaf braucht. Ich denke, das gilt nicht für normale, gesunde Meditierende. Aber ich bin bereit zuzustimmen, dass der Körper Ruhe haben muss (trotz der Tatsache, dass einige begeisterte Meditierende es gerne auch ohne tun würden), speziell, wenn die Praxis noch nicht tief genug ist um für längere Zeit in der Vertiefung zu bleiben.

Wir müssen lernen die Schläfrigkeit sofort zu notieren, wenn sie ent-steht. Oft sind wir nicht achtsam auf sie, bis wir von ihr ungünstig beein-flusst werden. Mattigkeit und Müdigkeit tragen zu einem schwachen, ver-schwommenen, stillen und trüben Geisteszustand bei. Deshalb müssen einige Fertigkeiten entwickelt werden um sie zu überwinden. Untenstehend sind einige Punkte aufgelistet, derer man sich erinnern sollte, während man Mattigkeit und Müdigkeit bemerkt:

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1. Scharfe Wahrnehmung ihrer Charakteristiken

Hier kann man nicht mit reinem Achtsamsein zufrieden sein. Man sollte scharf und präzise die Natur der Schläfrigkeit notieren. Es ist ein schwer-fälliger, schläfriger und schwerer Geisteszustand. Nur indem man seine spezifischen Eigenschaften notiert, kann man später seine allgemeinen Eigenschaften (d. h. das Vergehen und auch die anderen zwei Daseins-merkmale) erkennen.

2. Energisches Notieren

Energie und Anstrengung sind das Gegenteil von Mattigkeit und Müdigkeit. Energie kann durch Folgendes entwickelt werden:

a) Betrachtung der Vorzüge der drei Kleinodien und der energiegeladenen Anstrengung des Buddha und seiner Schüler sich selbst anzuregen. Betrach-tung über die Gefahr der Mattigkeit (wie das Geborenwerden in den jammervollen Zuständen) und die Vorteile der Energie.

b) Einen starken Entschluss fassen, energiegeladen zu notieren um diese Hemmung zu überwinden. Die wachgerüttelte Energie sollte leicht sein und ausgeglichen fließen.

c) Verstärktes Gedankenfassen (Mit dem Geist das Objekt fassen). Dies kann durch eine erhöhte Anzahl von kontinuierlichen Notierungen ohne Unterbrechung mit schnellem Tempo hervorgebracht werden. Solche Notie-rungen können besonders effektiv sein, wenn sie auf klare und grobe Objekte wie Schmerz oder die Berührungspunkte angewandt werden. Beispielsweise kann man die Berührungspunkte, drei oder mehr, in einer systematischen rhythmischen Art notieren um die Schwungkraft der Acht-samkeit zu erhöhen. Wenn die Schläfrigkeit bestehen bleibt, kann man auf-stehen und Gehmeditation mit einem erhöhtem aber klaren Schritttempo machen.

Stehmeditation wurde oft für Meditierende empfohlen, die sich häufig

mit dem schwierigen Kampf der Schläfrigkeit plagen. Es hat sich als sehr effektiv herausgestellt, da eine Menge Energie benötigt wird, um die Meditation während des Stehens aufrechtzuerhalten.

Andere Methoden als vipassanā zum Überwinden der Mattigkeit be-inhalten die Entwicklung der Wahrnehmung von Licht. Die Natur des Lichts ist hell und ausdehnend, das Gegenteil von Mattigkeit und Müdig-keit. Diese Praxis betrifft die Kasina-Meditationen. Meditieren in einem hellen offenen Raum ist auch hilfreich. Auch das Denken und Rezitieren des dhamma stimuliert den Geist. Angemessene Gespräche fallen auch unter diese Methode. Dann gibt es noch das Gesicht oder die Hände waschen und rubbeln und an den Ohren ziehen. Das ist auch zu einem ge-wissen Grade effektiv. Wenn alles versagt, wenden einige Meditierende das Sitzen in einer sehr unangenehmen Stellung an um Schmerz hervorzurufen. Das mag sich entsetzlich anhören, aber es ist nicht so schlecht wie bei den-

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jenigen, denen geraten wurde, auf Kanten, vor Klippen oder Löchern zu meditieren. Die Möglichkeit des Herunterfallens kann ja nicht ausgeschlos-sen werden.

Unruhe und Sorgen (uddhacca-kukkucca)

Uddhacca bedeutet Unruhe und kukkucca Sorgen. Sie beziehen sich auf einen turbulenten und genervten Geisteszustand, der wegen aller möglichen Dinge in alle Richtungen rennt. Der Meditierende wird verwirrt und ist un-fähig sich zu beruhigen und seine Achtsamkeitsarbeit durchzuführen.

Dieser Zustand tritt bei Anfängern auf, wenn sie sich nicht ihres wandernden Geistes bewusst sind. Sie sollten sich deshalb klar machen, dass, sobald ihr Geist wandert, sie das so schnell wie möglich notieren müssen. Da ihre Achtsamkeit noch nicht so scharf ist, müssen sie „Denken“ oder „Wandern“ so lange notieren, bis es aufhört. Noch einmal, dem Denken etc. darf nicht erlaubt werden länger als eine oder zwei Minuten lang anzudauern. Wenn das Denken oder Wandern bestehen bleibt, sollte man seinen Geist auf das Primärobjekt zurückzwingen. Wenn man in der Lage ist die Hemmung gut zu beobachten, wird man auch die verschie-denen Arten der Unruhe verstehen. Wie sie durch ihre Bedingungen ent-stehen, wie sie vorankommen und wie sie vergehen.

Wenn man den unruhigen denkenden Geist beobachtet, meint man zu-erst oft, dass es dafür keine Ursache gibt. Aber bei näherer Betrachtung kann man erkennen, dass die Unruhe häufig um ein paar ungeordnete Problempunkte kreist. Es ist wie ein oder zwei ins Wasser geworfene Steine. Durch sie entstehen eine Menge Wellen und kleinere Störungen. Wir sollten hier einige der Ursachen für diese Hemmung herausfinden.

Häufig kommt sie in Form von hartnäckigen Gewissensbissen und Ärger über getane und ungetane Dinge vor. Tatsächlich sind eine Menge dieser Dinge nicht sehr wichtig und können beiseite gelegt werden. Es wird immer Probleme oder zu lösende Dinge geben, die in dieser Welt getan werden müssen. Wenn wir die nötigen Schritte unternommen haben, ist all das, was wir tun können, warten. Kummer und Sorgen werden sicher nicht helfen. Aber Achtsamkeit wird helfen.

Wenn die Unruhe durch besondere Probleme oder Angelegenheiten ver-ursacht wird, ist es ratsam, vor ihr auf der Hut zu sein. Das ist wie das Setzen von rotem Alarm um einen wildgewordenen Täter zu finden. Wenn wir ihn fangen und bezwingen können, dann ist das Problem gelöst. Solche Unruhe kann mehrmals in der Minute auftauchen, aber immer, wenn sie es tut, wird sie notiert. Mit der Zeit verliert sie ihre Stärke und verschwindet. Diese Methode kann auch auf eine hartnäckige Gewohnheit oder zum Ein-stimmen des Geistes angewandt werden.

Hartnäckige Arten von Unruhe können auch durch lang anhaltende Stö-rungen an den fünf Sinnestoren, wie kontinuierliche Geräusche oder Schmerz, entstehen. Daraus resultiert, dass man unfähig ist das primäre Meditationsobjekt wie das „Heben“ und „Senken“ zu notieren. Dieses Problem trifft diejenigen mit „eckiger“ Achtsamkeit eher als solche mit „runder“. Das sind Leute, die rigide und unflexibel sind und auch solche,

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die davon besessen sind auf dem Objekt lange zu verbleiben. So eine Un-ruhe kann auch entstehen, wenn das Primärobjekt sehr fein und schwierig zu notieren ist, wenn es sich unerwartet verändert oder sich ein unerwar-tetes interferierendes Objekt einmischt. Das Resultat ist, dass der Geist durcheinander ist und unzufrieden wird. Unruhe ist dann das Endergebnis. Deshalb sollte man achtsam und kontinuierlich notieren. Die Achtsamkeit sollte flexibel genug sein die Objekte angemessen zu wechseln, wenn es notwendig ist. Das Vipassanā-Objekt ist ein sich veränderndes Objekt. Es beinhaltet auch Unzufriedenheit. Es benimmt sich nicht so und erscheint auch nicht so, wie wir es uns wünschen. Seid bereit dafür.

Ein anderer Grund für das Erscheinen der Unruhe ist, wenn die Fähig-keiten des Geistes nicht ausbalanciert sind. Wenn es z. B. zu viel Energie gibt und der Geist dadurch zu aktiv wird. Die Energiefähigkeit ist dann im Überschuss. Auch übermäßiges Vertrauen kann uns zu diesem Zustand führen. In diesem Fall ist das Entspannen der Energie wichtig.

„Last but not least“ könnte man in der Lage sein, die Wurzel, durch die die Unruhe entsteht, zu entdecken. Es gibt diese drei üblen Wurzeln, Gier, Hass und Verblendung, die - sofern sie genau notiert werden - verschwin-den. Es ist allerdings schwieriger für die Praxis, da die drei Wurzeln beim Entstehen nicht gleich erkennbar sind. Gier, Hass oder Verblendung, die die Unruhe verursachen, mögen noch da sein, obwohl das aktive Denken schon aufgehört hat. Man sollte das alles achtsam beobachten, bis es vollständig aufhört. Dann wird der Geist frei von der Hemmung sein. Wenn er abrupt von Unruhe und Sorgen befreit ist, erfährt der Geist etwas wie eine un-erwarteten „Angriff“ der Ruhe. Ähnlich ist es, wenn er von Mattigkeit und Müdigkeit befreit ist. Es ist, als ob dunkle Wolken sich verteilt haben und die helle Sonne wieder scheint. Wenn wir jedoch Spuren der Hemmungen zurücklassen, laden wir sie nur zum Wiederkehren ein. Das schnelle Jäten macht einen frischen klaren Grund, der auch noch besser als zuvor ist.

Wie man sieht, ist die ganze Sache der Unruhe sehr kompliziert, da alle Befleckungen beteiligt sein können. Nur durch wirklich kontinuierliche Achtsamkeit kann sie ausreichend abgewehrt werden. Zusammengefasst gehen wir diese Hemmung so an:

1. Notieren „Denken, Denken“, bis sie verschwindet 2. Wenn sie mehr als ein bis zwei Minuten bleibt, ignoriert sie und

bringt den Geist auf das Primärobjekt. 3. Wenn die Hemmung immer noch da ist, versucht die Natur der Un-

ruhe zu identifizieren und zwar in der Weise, dass ihr versucht die Ursache, die üble Wurzel, herauszufinden und entsprechend mit ihr umgeht. Das heißt durch mehr Notieren.

Manchmal kommt ein Meditierender und fragt: „Ich denke der Geist ist völlig verrückt. Manchmal denkt er wirklich schreckliche Dinge, auch über meinen Lehrer und den Buddha. Das ist sehr schlechtes mentales kamma. „Warum entsteht das und wie kann ich damit umgehen?“ Es entsteht durch

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die Befleckungen. Um sie zu behandeln, muss man zuerst die Natur der Be-fleckungen erkennen und dann die angemessenen Mittel einsetzen.

Es gibt auch andere Mittel störende Gedanken wie diese zu beseitigen. Diese werden ausführlich in der Lehrreden über Gedankenformen oder dem SatipaSShāna-Sutta behandelt. Einige dieser Mittel sind:

Korrekter Umgang und Gespräche mit hilfreichen und freundlichen Ge-fährten, die rechte Ansicht erworben haben, die Gefahr der Unruhe und die Vorteile der Konzentration etc. betrachten. Als letzter Ausweg wird in der Lehrrede über Gedankenformen geraten, den Geist mit dem Geist zu be-kämpfen. „Mit zusammengepressten Zähnen, mit der Zunge gegen den Gaumen gepresst. Wenn er so widersteht, dann herrscht der Geist über den Geist. Diese üblen Gedanken verbunden mit Gier, Hass und Verblendung wird man auf die Art los und sie kommen so zu ihrem Ende“ Indem man sie los wird, wird der Geist stetig, beruhigt sich und ist einspitzig konzentriert.

Skeptischer Zweifel (vicikicchā)

Vicikicchā, die fünfte Hemmung, bezieht sich auf den verwirrten und perplexen Zustand des Geistes, der einen skeptisch und ungläubig gegen-über dem, was wahr ist (in diesem Fall die drei Kleinodien), macht. Man sollte dies jedoch von einem gesunden Zweifel, wie er im kalama sutta (Anzweifeln, was angezweifelt werden sollte) beschrieben wird, unter-scheiden. Das Letztere ist in Wirklichkeit die Fähigkeit „Wissen“, die ver-sucht den Weg zu verstehen.

Skeptischer Zweifel entsteht in einem, der über das nachdenkt, was jenseits seiner Fähigkeit liegt. Dhamma ist jenseits logischem Denkens, das auf der Stufe der Konzepte abläuft. Das Resultat ist, dass solche Leute verwirrt und unentschlossen enden. Dies lähmt den ganzen Prozess der-jenigen, die auf dem Weg vorankommen möchten. Die Methode, die Zweifel zu notieren, hilft in den meisten Fällen. Die hartnäckigeren Zweifel können durch ein Interview mit dem Meditationslehrer geklärt werden.

Ein echtes Problem entsteht bei Leuten, die mit wenig oder ohne Glauben in die drei Kleinodien zum Meditieren kommen, ohne den vollen Zweck, die Praxis und die Natur des dhammas richtig verstanden zu haben.

Richtiges theoretisches Verständnis entfernt zum großen Teil all diese Skeptischen Zweifel, wie es auch für adäquaten Glauben sorgt. Dieser Glauben sorgt dafür, dass jemand in seiner Praxis lang genug durchhält und dann letztendlich durch die Vipassanā-Praxis über noch mehr Glauben ver-fügt.

Zusammenfassung

1. Sinnesbegehren (kāmachanda) kann vertrieben werden durch: • Es als ungünstigen Gegenstand der Meditation betrachten. • Die Entfaltung von jhāna mit dem Gedanken an ein sinnlich ungüns-

tiges Objekt. • Überwachter Zustand der Kontrollfähigkeiten • Maßhalten beim Essen

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• Mitgefühl und Unterstützung guter Menschen in ihren Bemühungen. • Anregende Gespräche, die bei der Bewältigung des betreffenden

Objektes helfen.

2. Übelwollen (vyāpāda) kann vertrieben werden durch: • Praktizieren von Liebender-Güte-Meditation. • Die Entfaltung von jhāna mit dem Gedanken an liebende Güte. • Betrachtung darüber, dass jemandes Taten Eigentum von ihm sind. • Der Reichtum der weisen Betrachtung. • Freundliche und hilfreiche Freundschaft mit guten Menschen. • Anregende Gespräche, die bei der Entwicklung von liebender Güte

helfen.

3. Mattigkeit und Müdigkeit (thīna-middha) können vertrieben werden durch:

• Sehen, dass Mattigkeit und Müdigkeit durch zu viel Essen hervorge-

rufen wird oder von Gefräßigkeit (das bedeutet Maßhalten beim Essen)

• Das komplette Ändern der Körperhaltung. • Betrachtung über die Wahrnehmung von Licht. • Stehen im Freien. • Freundliche und hilfreiche Freundschaft mit guten Menschen. • Anregende Gespräche, die bei der Vertreibung von Mattigkeit und

Müdigkeit helfen.

Die acht Wege, die durch Maha Moggalana aufgezeigt wurden: 1. Vergesst den Gedanken an Schläfrigkeit. 2. Denkt über den dhamma nach. 3. Rezitiert den dhamma. 4. Zieht an euren Ohrläppchen und massiert oder reibt eure Glieder mit

den Händen. 5. Steht auf, wascht und reibt eure Augen mit Wasser, schaut in die

Ferne, den Himmel oder auf die Sterne. 6. Reflektiert über Gedanken von Licht. 7. Fixiert eure Gedanken an das Ende der Glieder 8. Wenn all diese sieben Wege versagen, schlaft. Seid bewusst des

Momentes vom Aufwachen und beim Aufwachen steht schnell auf und denkt dabei, dass man sich selbst nicht die Bequemlichkeit des Niederliegens und der Schwäche vergeben wird.

4. Unruhe und Sorgen (uddhacca kukkucha) können vertrieben werden durch:

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• Das Kennen der Schriften • Befragung zur Praxis im Orden. • Das Verstehen der Disziplinarregeln • Verbindung mit solchen, die erfahrener in der Praxis und der Tugend

sind als man selbst • Freundliche und hilfreiche Freundschaft mit guten Menschen. • Anregende Gespräche, die helfen bei der Vertreibung von Unruhe

und Sorgen. 5. Skeptischer Zweifel (vicikicchā) kann vertrieben werden durch:

• Bewandert sein in der Lehre • Nachforschungen über den Buddha, die Lehre und den heiligen

Orden anstellen. • Gründlich die Natur der Disziplin verstehen. • Entschieden sein (im Vertrauen) über die Wahrheit der drei Klein-

odien. • Freundliche und hilfreiche Freundschaft mit guten Menschen. • Anregende Gespräche, die helfen bei der Vertreibung von skepti-

schem Zweifel.

Zusätzlich zeigt die Lehrrede über Gedankenformen (vitakka santhena sutta) verschiedene Wege um unreine und unmoralische Gedanken zu überwinden.

• Die Überwindung eines unmoralischen Gedankens durch einen

moralischen. (Dies ist ein Prozess des Ersetzens oder der Substitu-tion. Dies kann man effektiv mit einem reinen Gedanken machen, dessen Natur der besonderen Befleckung gegenübersteht.)

• Durch Erkennen der Gefahr durch den unmoralischen Gedanken, durch Kontemplation über die Gefahr solch übler Gedanken.

• Durch das Ignorieren dieser üblen Gedanken und durch Vergessen werden sie verschwinden.

• Durch Ändern der Funktion und Form des Gedankens. • Durch Unterwerfen und ihrer Bezwingung durch reine Willenskraft.

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B. Konzept und Realität Es ist wichtig für den Meditierenden, den Unterschied zwischen „Kon-

zepten“ und „Letztendlichen Wirklichkeiten“ zu verstehen, da der Geist von den Konzepten in Richtung Realität geführt werden muss.

Konzepte sind die Dinge oder Ideen, die vom Geist ausgedacht und er-zeugt werden. Sie bauen auf den „Letztendlichen Wirklichkeiten“ auf. Kon-zepte sind nur konventionell und subjektiv wahr.

„Letztendliche Wirklichkeiten“ auf der anderen Seite sind die Phäno-mene, die unmittelbar wahrgenommen werden können (deshalb „letztend-lich“), ohne durch den Prozess des konzeptuellen Denkens, Folgerns oder Vorstellens gegangen zu sein. Dies sind Wahrheiten, die unabhängig von konventionellen Definitionen sind. „Letztendliche Wirklichkeit“ jedoch bedeutet nicht notwendigerweise „Absolute Realität.“ Dies bezieht sich nur auf den unveränderlichen, unbedingten Zustand nibbāna.

Obwohl wir die konventionelle oder konzeptuelle Wirklichkeit im All-tag nicht ganz über Bord werfen können, müssen wir sie während unserer Meditationszeiten beiseite tun, um uns zu erlauben wirklich zu sehen und die Dinge, so wie sie sind, zu erfahren. Konzeptbildung geschieht auf zwei Wegen:

i. Aktives Denken

Aktives Denken kann als Philosophieren, Planen oder Phantasieren auf-treten. Es ist klar, dass, wenn man das mit einer Menge an Annahmen, Vor-urteilen, Ideen oder Halluzinationen macht, man nicht zur gleichen Zeit die Natur direkt erfahren kann. Man muss zuerst dies alles beiseite tun, bevor irgendeine Einsicht entstehen kann.

ii. „Unbewusstes“ Denken

Die zweite Art der Konzeptbildung ist insofern feiner, als dass man nicht aktiv „denkt“ oder zumindest man sich dessen nicht bewusst ist. Diese Konzepte werden gewohnheitsmäßig vom Geist gebildet und sind tief im Geist eingebettet. Sie können auch ein untrennbarer Teil des geistigen Pro-zesses, der von kamma und seinen Resultaten beeinflusst wird, sein. Obwohl man diese nicht gänzlich verhindern kann, ist es trotzdem nötig, sie beizeiten mittels hochkonzentrierter reiner Achtsamkeit zu transzendieren um Einsicht entstehen zu lassen.

Beispiele von Konzepten, die für den Meditierenden relevant sind, sind:

1. Wort Konzepte (sadda paññatti)

Wörter bestehen aus Silben oder Geräuschen, die fortlaufend entstehen und vergehen. In einem Zeitmoment existieren die Wörter nicht. Es existiert nur das Entstehen und Vergehen des Geräusches, eine vibrierende Form materieller Natur. Gleichwie ein Musikstück aus vielen „Noten“ (den Ge-räuschen) gemacht ist. Solche gehörten Worte basieren auf Geräuschen,

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durch die wir Ideen und Erfahrungen mitgeteilt bekommen. Hier sind sie auch visuell, da sie niedergeschrieben wurden.

Geräuschkonzepte (Worte) können real sein, wenn sie sich direkt auf reale Phänomene beziehen, die unmittelbar erfahren werden können. Un-wirkliche Konzepte sind jene, die sich nicht direkt auf Realitäten beziehen. Sie beziehen sich auf andere Konzepte und Ideen, die selbst nicht wirklich existieren.

Andere Wörter werden mit weiteren Wörtern verbunden und weitere Konzepte werden aufgebaut und können eine Kombination von realen und unrealen Konzepten sein.

Beispiel: Das Wort „Bewusstsein“ ist ein reales Konzept, da es sich auf geistige Phänomene, die unmittelbar ohne Konzeptbildung erfahren werden können, bezieht.

Das Wort „Mensch“ ist ein unreales Konzept, da es sich auf etwas be-zieht, das nicht ohne Konzeptbildung unmittelbar erfahren werden kann. Einige Worte sind beides z. B. „patient“ (patient = deutsch: Patient) kann sich auf eine kranke Person beziehen und ist unreal oder es bezieht sich auf einen toleranten geistigen Zustand (patient = deutsch: Geduld) und ist in dem Fall real.

In der Meditation benutzen wir reale Konzepte als Marken um uns beim Identifizieren der Realitäten zu helfen. Wörter oder Kennzeichen sollten während der Meditation nicht ergriffen werden. Stattdessen sollte man ver-suchen zu verstehen, was es bedeutet zu erfahren.

2. Form, Gestalt und Entfernung

Diese Konzepte lassen die zwei und dreidimensionale Welt entstehen. Wenn ihr den Fernsehschirm richtig betrachtet, ist das Bild aus einem Elek-tronenstrahl gemacht, der mit großer Geschwindigkeit innerhalb der Röhre herumläuft. Er entsteht und vergeht so schnell. Zu schnell als dass jemand wirklich erfassen kann, was tatsächlich gerade passiert. Was der Geist er-fasst (zu langsam) ist ein Farbenspiel mit Formen und vermittelt uns so Ideen. Sie entstehen so schnell, dass es scheint, als würden sie zur gleichen Zeit auftauchen.

3. Richtungskonzepte (disa paññatti)

Dies sind Konzepte, die mit Richtungen korrespondieren, ein Ding mit einem anderen in Beziehung setzen wie z. B. Ost, West, rechts, links, oben, unten, einwärts, auswärts etc.

4. Zeitkonzepte (kala paññatti)

Das Zeitkonzept wird aus Ideen gebildet, die die wiederkehrende und aufeinanderfolgende Erscheinung von materiellen und geistigen Phäno-menen betreffen. Materiell ist Licht und Dunkelheit betroffen (wie am Tag oder bei Nacht), der physische Zustand des Körpers (wie in alt und jung) etc.

Mental sind mentale Aktivitäten und Funktionen wie Schlafdauer, Arbeitszeit etc. betroffen.

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Obwohl wir einen allgemeinen Zeitplan für unsere Praxis benötigen, müssen wir ihm nicht blindlings folgen. Anpassungen können gemacht werden, wenn es gerade unpassend ist. In Gruppen muss manchmal das eigene Wohlergehen dem Wohlergehen der Gruppe geopfert werden.

5. Kollektive Konzepte (samuha paññatti)

Diese korrespondieren zu Gruppen oder Sammlungen an Dingen, z. B. eine Klasse, ein Rennen, ein Auto, eine Stadt, Gruppenmeditation etc.

6. Raumkonzepte (akasha paññatti)

Raumkonzepte sind solche, die sich auf offene Räume beziehen wie, Wellen, Höhlen, Löcher oder Fenster.

7. Sichtkonzepte (nimitta paññatti)

Dies sind visualisierte Bilder wie das aufgefasste Bild und das Gegen-bild der Ruhemeditation. Viele Halluzinationen und Vorstellungen fallen auch unter diese Kategorie.

8. Lebewesen, Ego (satta paññatti)

Was Leute normalerweise als „ich, du, er, sie, Person,“ oder „Hund“ oder „Engel“ bezeichnen, sind tatsächlich Serien von sich ständig ändern-den Körper-Geist-Prozessen. Diese Konzepte von Lebewesen sollten zur Bequemlichkeit in der Kommunikation benutzt werden, aber wenn sie als wirklich aufgefasst werden, als letztendlich wirklich oder absolut, hilft das nicht, sondern erzeugt große Konflikte.

Das Aufgeben des Ego-Konzeptes ist von äußerster Wichtigkeit für die Vipassanā-Meditation. Bis zur Realisation, dass „Alle dhamma Nicht-Selbst sind “, sollte man nicht denken: „Ich gehe“, sondern nur achtsam auf den Gehprozess sein. Einige mögen philosophieren, wenn sie gehen. Dies fällt wieder in eine andere Kategorie von Konzepten.

Es gibt noch eine Menge mehr an Konzepten wie Glück, Leiden, Leben etc., aber wir werden sie hier jetzt nicht behandeln. Um ein besseres Bild der Konzeptbildung zu bekommen, ist es hilfreich den Gedankenprozess zu erläutern.

Der Gedankenprozess kann als eine Serie von Bewusstseinsarten, die in einer gewissen Reihenfolge erscheinen, beschrieben werden. Diese Reihen-folge schafft das, was wir „sehen,“ „hören,“ und „denken.“

Diese Gedankenprozesse entstehen aus dem Lebenskontinuum, das ist ein Bewusstseinsstrom ähnlich dem Zustand im tiefen Schlaf, wenn man dem Stimuli von internen oder externen Objekten folgt.

Es gibt sechs Arten von Gedankenprozessen, abhängig von dem „Tor“, wo das Objekt entsteht:

1. Der Gedankenprozess, der am Seh-Tor entsteht. 2. Der Gedankenprozess, der am Hör-Tor entsteht. 3. Der Gedankenprozess, der am Riech-Tor entsteht. 4. Der Gedankenprozess, der am Schmeck-Tor entsteht. 5. Der Gedankenprozess, der am Körper-Tor entsteht.

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6. Der Gedankenprozess, der am Geist-Tor entsteht. Die ersten fünf werden „Sinnestor-Hinwendungs-Gedankenprozesse“

genannt, während das letzte „Geisttor-Hinwendungs-Gedankenprozess“ genannt wird

Innerhalb jedes Prozesses gibt es eine passive Phase, die aus resultie-renden Bewusstseinsarten (geistigen Kamma-Resultaten) besteht, die dann ihr Objekt erhalten (z. B am Seh-Tor das Sehobjekt, das Farbe und Hellig-keit ist), gefolgt von einem funktionalen Bestimmungs-Bewusstsein. Dieses bestimmt die aktive Phase, die heilsam (gutes kamma) oder unheilsam (schlechtes kamma) sein kann.

Nach diesem Sinnestorprozess entstehen die verschiedenen Arten des Geisttorprozesses. Sie bilden die Ideen und Vorstellungen etc. zu den Objekten. Diese Letzteren konstituieren die Konzeptbildung. Im Falle eines Sehtorprozesses ist eine typische Reihenfolge beispielsweise so:

Sinnestorprozess : b At bc bu pc v sp st vo J J J J J J J t t b Geisttorprozess : b At bc bu M J J J J J J J t t b

Erklärung: At : Vergangener Bewusstseinsmoment des Lebenskontinuums bc : Vibrationsmoment des Lebenskontinuums bu : Abschließender Moment des Lebenskontinuums pc : Sinnestorhinwendungsbewusstseinsmoment v : Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck- oder Tastbewusstseinsmoment sp : Objektaufnahmebewusstseinsmoment st : Objektuntersuchungsbewusstseinsmoment vo : Objektbewertendermoment J : Karmisch aktive Momente t : Nachwirkender erfahrender Moment M : Geisttorhinwendungsbewusstseinsmoment b : Lebenskontinuumsmoment Danach folgt der Geisttorprozess in dieser Art:

1. Der erste folgende Geisttorprozess ist gewöhnlich eine kompak-tere Form des letzten Sinnestorprozesses, die das Objekt vom Sinnestor in das Geisttor überträgt (atitaghannavithi).

2. Der folgende Geisttorprozess ist der Ansammlungsprozess, wo die verschiedenen Objekte (z. B. Sehobjekt etc.) zu Informa-tionen angesammelt werden, das heißt zu Gestaltkonzepten (samuhaghanavithi)

3. Als Nächstes entstehen die Ideen (was das nun bedeutet) durch den Bedeutungs- oder Ideenprozess (atthaghanavithi).

4. Zum Schluss wird der zugeschriebene Name mental gegeben. Dies ist der Namensprozess (namaghanavithi)

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Diese mögen sich später zu weiteren abstrakteren Ideen entwickeln,

speziell, wenn sie mit anderen Sinnestoren oder Ideen verbunden werden. Hier können wir schon erkennen, dass das Notieren von „Sehen“ ohne zu denken, eine Menge an Folgekonzepten abschneidet. Hilfreich dazu ist auch die Gestalt oder Form so weit wie möglich zu missachten. Mit dem Hörprozess:

1. Letzter Prozess 2. Ansammlung der Geräuschformen 3. Bedeutung oder Idee 4. Benennen

Dasselbe gilt auch hier: Durch bloßes Benennen „Hören“ schneiden wir

die Konzepte ab. Es hilft auch die gehörten Worte zu missachten oder unbe-rücksichtigt zu lassen um näher an das Vipassanā-Objekt zu rücken.

Und hier nun wieder dasselbe mit den Riech-, Schmeck- und Tastobjekten:

1. Letzter Prozess 2. Ansammlung 3. Bedeutung 4. Benennen

Nur durch das Notieren des Geruchs mit „Riechen“ etc. schneiden wir

die Konzepte ab. Ideen, was gerochen, geschmeckt oder getastet wurde, sollten auch missachtet werden.

Die Prozesse folgen so schnell aufeinander, dass die daraus entste-henden Konzepte komplex, solide und als Ganzes erscheinen.

Vier Arten der scheinbaren Solidität/Festigkeit (ghana paññatti)

1. Santati ghana (Kompaktheit der Kontinuität) Die mentalen und geistigen Prozesse entstehen und vergehen so schnell einer nach dem anderen, sodass es scheint, als wären sie eine sich nicht verändernde Erscheinung. 2. Samuha ghana (Kompaktheit der Menge) Die mentalen und geistigen Prozesse sind aus so vielen Eigenschaften oder Phänomenen gemacht, die durch komplexe Bedingungen fein zu-sammengestrickt sind, sodass sie erscheinen wie ein einziges Teil. 3. Kicca ghana (Kompaktheit der Funktion) Es gibt verschiedene Bewusstseinsarten. Jede hat ihre charakteristische Funktion (z. B. Sehen, Hören etc.), die sehr fein und schwer zu erkennen sind. Deshalb macht man den Fehler das Bewusstsein für eine einzige Arbeitseinheit anzusehen.

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4. Arammana ghana (Kompaktheit der Objekte) Da das Bewusstsein und die Prozesse mit hoher Geschwindigkeit ab-laufen, erscheinen auch die Objekte so, als würden sie in einem Bild auftauchen um Formen, Gestalten etc. entstehen zu lassen.

Deswegen entstehen falsche Wahrnehmungen und Halluzinationen. Diese Halluzinationen entstehen im aufsteigenden Maß:

1. Halluzinationen der Wahrnehmung Falsche Wahrnehmung eines Objektes. Zum Beispiel denkt man, der eigene Schatten gehöre zu jemand anderem. 2. Halluzinationen der Gedanken Basierend auf den Halluzinationen der Wahrnehmung entwickelt man falsche Gedanken und Schlussfolgerungen. Wenn man z. B. nicht gut hört, könnte man die Absichten und Untertöne von anderen missver-stehen. 3. Halluzinationen der Ansicht Mit vielen Halluzinationen der Gedanken erfasst man falsche Ansichten hinsichtlich des Lebens, wie an der Ansicht festhalten, dass die Welt dauerhaft, perfekt glücklich ist und sich auf ein immerwährendes Selbst bezieht.

Um durch diese ganzen Konzepte auch nur für einen Moment durchzu-brechen, um also die Realität zu durchdringen, können wir von hier aus-gehend klar erkennen, dass unsere Achtsamkeit wie folgt zu sein hat:

i. Beweglich und schnell genug ii. Gründlich und kontinuierlich, sodass kein Stein unumgedreht bleibt. iii. Sehr klar und konzentriert um durch die Komplexität hindurchzu-sehen und klar die Natur des Objektes wahrzunehmen.

Der abhidhamma klassifiziert die „Letztendlichen Realitäten“ (paramattha dhamma) in vier Hauptkategorien:

1. Bewusstsein (citta) – z. B. heilsames und unheilsames Bewusstsein 2. Geistige Zustände, Bewusstseinsbegleitfaktoren (cetasika) – z. B.

Gier 3. Materie (rūpa) – z. B. das Element der Härte 4. Nibbāna – das Unbedingte

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Kurzgefasst sind diese (das Letzte ausgenommen) geistige und mate-rielle Prozesse, die vom Meditierenden als unbeständig, unbefriedigend und als Nicht-Selbst erkannt werden müssen.

Jedoch kann dies alles nicht vom Anfänger erkannt werden. Zum Bei-spiel ist es für sie nicht möglich die jhāna (Vertiefungs-) und lokuttara (überweltlichen) Bewusstseinsarten zu erkennen, da sie beim Anfänger nicht entstehen. Neutrale Gefühle werden auch nur von erfahrenen Meditie-renden erkannt, da diese Gefühle feiner sind und eine schärfere und stärkere Achtsamkeit benötigen.

Tatsächlich sind die Anfänger nicht in der Lage, Objekte ohne Konzepte zu notieren, da sie so lange Umgang mit ihnen hatten. Deshalb notieren An-fänger, um die Situation zu erleichtern, reale Konzepte um ihren Geist zu helfen, ihn auf die Realitäten zu richten. Das Benennen muss gesteigert werden, wenn die Achtsamkeit mehr Phänomene notieren kann. Aber vipassanā ist nicht bloßes Benennen oder Aufsagen. Deshalb darf man nicht blind daran hängen. Manchmal ist es besser ohne sie zu meditieren. Mit weiterem Fortschritt wird es sehr viele dieser mit großer Geschwindigkeit entstehenden und vergehenden Phänomene geben. Dann muss das Mar-kieren aufgegeben werden oder es wird zum Hindernis.

Von den Konzept-Ideen muss das Konzept des Lebewesens verworfen werden, wenn jemand überhaupt irgendeine Vipassanā-Einsicht haben möchte. Es ist klar, dass man beim Achtsamsein auf Geist und Materie keinerlei Lebewesen finden wird, egal wie stark man es versucht. Im Laufe des Fortschritts, wenn die Realitäten sehr gut notiert werden können, muss man andere Konzepte wie das der Form, der Richtung, der Gestalt, des Raumes und der Zeit verwerfen. Es gibt da auch feine Konzepte wie des Glücklichseins und der Realität, die ihr mit der Zeit erkennen werdet. Zum Beispiel:

a) Gehmeditation Zuerst machen die Meditierenden noch ihre Gehmeditation mit der Form der Beine in ihrem Geist. Mit konstanter Hilfe des Benennens der einzelnen Schrittphasen wie „Heben,“ „Schreiten“ richten die Meditierenden den Geist auf die verschie-denen Erfahrungen aus. Wenn sie klar die Bewegung, Spannung, das Ziehen, die Hitze und Kälte erfahren können, wird die Gestalt der Beine bald verworfen werden. Mit erhöhter Achtsamkeit auf die Realitäten und ihr Verhalten, muss auch das Benennen aufgegeben werden. Wenn die Konzentration tief wird, kann der Meditierende auch die Zeit, die Richtung, oder wo sie sich im Moment befinden, vergessen.

b) Sitzmeditation Zuerst richtet man seine Achtsamkeit auf die Bewegung der Bauchdecke und anderer Erfahrungen, die als „Heben“ und „Senken“ benannt werden.

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Wenn man die „ziehenden“ und „drückenden“ Bewegungen und die anderen Erfahrungen wie Druck, Härte etc. trennen kann, kann man den Sinn für die Richtung verlieren und es ist deshalb besser es so benennen, wie es sich anfühlt anstatt mit „Heben“ und „Senken.“ Hier kann man ent-weder eine angemessenere Benennung benutzen oder sie alle beiseite legen.

Zu Zeiten wo das „Heben“ und „Senken“ sehr klar und langsam ist, werden mehr Benennungen „„Heben, Heben, Heben...“ dem Geist helfen den aktuellen Moment zu notieren. Wenn die Momente als sich sehr schnell verändernd wahrgenommen werden können, ist es sehr schwierig diese Bewegungen alle zu benennen.

Die Meditierenden schärfen ihre Achtsamkeit, indem sie versuchen von Moment zu Moment alle dieser Realitäten, wie sie entstehen und vergehen, zu erfahren. Um den Meditierenden zu helfen klarer zu sehen, werden sie oft gebeten ihre Erfahrungen in ihren eigenen Worten zu beschreiben und gründlich zu berichten. Technische Ausdrücke wie dukkha sind dann defi-nitiv zu vermeiden. Ein häufiger Gebrauch derselben zeigt, dass der Geist noch in theoretischem Denken und Konzepten verwickelt ist.

Es muss aber noch zur Vorsicht eine andere Bemerkung gemacht werden. Das Verwerfen von Konzepten kann bei falschem Verständnis zur Desorientierung in der konventionellen Wahrnehmung führen. Wenn man dabei nicht vorsichtig vorgeht, kann der Geist so eventuell zu weiterer Des-orientierung und Desorganisation geführt werden. Es ist essenziell, dass man versteht, dass die konzeptionelle und konventionelle Welt zwar im ultimativen Sinne nicht real, aber auf Realitäten aufgebaut ist. Das muss akzeptiert und darin muss gelebt werden.

Es gibt z. B. Leute, die ablehnen die Worte „ich“ und „du“ zu benutzen, weil sie denken, dass das die Idee eines Selbst hervorrufen könnte. Das ist unnütz!

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C. Schwierige Situationen auf dem Weg In den letzten paar Jahren haben eine große Anzahl an Malaien mit Ein-

sichtsmeditation angefangen. Von dem erhaltenen Feedback könnten wir eine Liste der entstandenen Probleme erstellen. Wir werden sie hier jedoch etwas allgemeiner behandeln.

Weshalb entstehen Probleme?

Achtsamkeit ist Bewusstheit der Dinge so wie sie sind. Wenn wir acht-sam sind, ist unser Geist sehr wachsam auf die uns umgebenden Situationen - ob das nun profitabel ist oder nicht - und handelt entsprechend.

Die Praxis der vipassanā bhāvanā handelt vom anstrengenden Einüben und ununterbrochener Achtsamkeit auf jeden körperlichen und geistigen Prozess, der sich in jedem Moment neu ereignet. Diese konzentrierte Bewusstheit, wenn sie ausreichend kraftvoll und richtig ausgerichtet ist, ist in der Lage den dicken Schleier des Wahns zu durchdringen und einen von den Befleckungen und dem Leiden zu befreien.

Wenn dem so ist, wie - mögen einige Meditierende fragen -können dann Komplikationen entstehen? Die Antwort ist einfach. Sie sind nicht achtsam, obwohl sie es versuchten. Achtsamkeit ist überall hilfreich.“ Ohne Acht-samkeit treten allerdings Probleme auf. Ich klassifiziere die Probleme, wie sie beim Meditierenden gewöhnlich erscheinen:

1. Der Konflikt von Begierde und Wertschätzung 2. Furcht 3. Mangel

Konflikte

Der häufigste Konflikt ist der zwischen materiellen und spirituellen Ambitionen. Schon der dhammapada sagt:

„Ein Weg in der Tat erreicht weltliche Ziele Ein Weg in der Tat führt zum nibbāna.“ Ich denke, dass die meisten Buddhisten wissen, dass spirituelles Glück

besser und dem weltlichen Glück überlegen ist. Es ist spirituelles Glück, das am Ende wirklich zählt. Aber es ist auch schnell einsehbar, dass spiri-tuelles Glück wesentlich schwieriger zu erhalten ist als materieller Besitz. Da unsere Wogen des Verlangens noch sehr stark sind und unser Wissen meist noch oberflächlich ist, werden die meisten von uns, wenn nicht alle, während ihres sterblichen Lebens als Hausleute verbleiben. Einige werden sich anstrengen beides zu erreichen, sowohl ihre spirituellen als auch ihre weltlichen Ambitionen und fühlen sich zerrissen. Andere versuchen eines von beiden zu ignorieren, aber das hilft auch nicht das Problem zu lösen.

Zu Recht sollte ein Buddhist in seinem ganzen Leben das spirituelle Ziel im Auge behalten, damit sein Leben eine spirituelle Beimengung hat, um sich und andere über die weltlichen Probleme zur überweltlichen Befreiung

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zu erheben. Wenn man die Kultivierung seiner eigenen innersten Freiheit ignoriert, wird man in erbärmlichen Bedingungen enden.

Im abhidhamma wird erklärt, dass nach dem Auftauchen aus dem Ge-dankenprozess von Pfad und Frucht (d.h. Erleuchtung) Folgendes passiert: Das Nibbāna-Objekt wird mittels eines Geisttorprozesses in ein Bewusst-sein der Sinnessphäre übertragen, das von Wissen (pañña) begleitet wird und das die aktive Phase (javana) durchläuft. Das bedeutet, dass man klar um das unbedingte Element, die absolute Wahrheit, die friedvolle Glück-seligkeit weiß und sie mit dem Geist wahrnimmt. Mit diesem Bild hat man für immer Folgendes aufgegeben:

• Die falsche Sicht eines Selbst (sakkāya di))hi) • Zweifel betreffend der drei Kleinodien (vicikicchā) • Das Annehmen von anderen Praktiken als den edlen achtfachen Pfad

um aus dem samsara zu entkommen (sīlabhata parāmāsa) • Sinnesbegehren, das zu den jammervollen Zuständen führt

(apayagamaniya kāmaraga) • Übelwollen, das zu den jammervollen Zuständen führt

(apayagamaniya patigha) In den Kommentaren wird erwähnt, das auch Geiz (macchariya) und

Neid (issā) aufgegeben wird. Es wird gesagt, dass man unerschütterliches Vertrauen in die drei Kleinodien besitzt und nie wieder die fünf Sittenregeln überschreiten kann. In den Schriften wurde es oft so ausgedrückt:

„Wunderbar Ehrwürdiger Gotama, wunderbar Ehrwürdiger Gotama,! Gerade wie, o Herr, Umgestürztes aufgerichtet, Verborgenes enthüllt worden wäre, als wenn man einem Verirrten den Weg weisen oder in die Dunkelheit eine Öllampe bringen würde - wer Augen hat, wird sehen - ebenso hat der Erhabene auf mancherlei Art die Lehre erläutert. Ich nehme, o Herr, zum Erhabenen und zur Lehre und zur Mönchsgemeinde meine Zuflucht. Der Erhabene möge mich als einen Laienanhänger be-trachten, der von heute an zeitlebens Zuflucht zu ihm genommen hat.“

Wenn dies tatsächlich passiert, wird der dhamma bis zum vollständigen

Aufhören der Daseinsgruppen in einem weiterleben. Es ist vielleicht besser zu fragen:

„Gibt es eine absolute Wahrheit?“

Die Frage kann weiter verfeinert werden zu: „Gibt es das, was sich nicht verändert?“

In den meisten Fällen ist es vielleicht besser edle Stille einzuhalten. Doch dann, was ist die Motivation?

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„Ist nicht das Leiden genug Motivation?“ ist eine Gegenfrage. „Warum dann aber nicht andere Wege, andere Methoden?“ Eine Antwort wird im kalama sutta gegeben, wo einem geraten wird,

nicht bloß wegen des Hörensagens und der Gerüchte, wegen der Tradi-tionen und der heiligen Schriften etc. zu glauben.

Wenn man praktiziert, entsteht Glauben. Deshalb wird die beste Antwort vielleicht sein: „Wenn ihr genug praktiziert, werden sich die Dinge klären.“

Sehr oft bekam ich diese Antwort von meinem Lehrer auf viele meiner Fragen und es ist auch eine Antwort, die ich jetzt oft passend finde um sie anderen zu geben.

Das bedeutet jedoch nicht, dass, wenn man ein erhabenes Ziel wie das Erreichen des nibbanās hat, man ohne Mangel sein muss, allem weltlichen Glück oder den Besitztümern entsagen muss. Das Erreichen des nibbanās ist das letztendliche Ziel aller Buddhisten, aber wir müssen unsere Mängel anerkennen. Man wird deshalb zweitrangige Ziele haben, die definieren, wie viel man sich für die Spiritualität oder für die materiellen Entsagung anstrengen wird. Zum Beispiel müssen wir die Art der Berufswahl be-denken. Was es auch immer für eine Wahl sein mag, lasst sie fest, edel (be-denkt im Geist die spirituelle Relevanz), realistisch (bedenkt die reale Situ-ation – die Umgebung – das Gute und das Böse), und flexibel (d.h. an die sich schnell ändernde Welt adaptierbar) sein. Wenn die Entscheidung ge-troffen wurde, sollte sich der Konflikt legen oder zumindest nur noch sehr klein sein.

Mögen die Bewegungen eurer zweitrangigen Ziele stetig in Richtung des einen Zieles fortschreiten.

Einige fürchten vipassanā-bhāvanā zu praktizieren, da sie dann den Pfad erreichen könnten. Das bedeutet, dass sie nicht länger in der Lage sind ihr Bodhisatta-Versprechen (ein samma sambuddha zu werden) einzu-halten. Tatsächlich muss man nichts Derartiges befürchten, da, wenn man ernsthaft versprochen hat ein bodhisatta zu werden, es unwahrscheinlich ist, dass man die überweltlichen Stadien während der Meditation erreicht. Jedoch kann man diese Ambition ruhig aufgeben und sich für Arahatschaft entscheiden, wenn man die Schwelle des Pfades erreicht. Beide Pfade sind sehr edel, einer ist pragmatisch, der andere idealistisch.

Furcht

a) Furcht vor dem Unbekanntem

Dies schließt die Furcht verrückt zu werden mit ein. Als Resultat dieser Furcht hören einige Leute auf zu meditieren, deswegen bleiben sie in ihrem Meditationsfortschritt stehen. Das ist auf keinen Fall eine grundlose Furcht. Leute könne aus verschiedenen Gründen „explodieren.“ Wir werden sie in zwei Kategorien packen. Abnorme Verhaltenstendenzen und falsche Praxis.

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i. Abnorme Verhaltenstendenzen

Tief in unserem Geist liegen latente versteckte Tendenzen und zwar gute wie schlechte, die vielleicht nicht nur in diesem Leben akkumuliert wurden, sondern auch aus vorherigen. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn solche sehr starken Tendenzen während eines Meditationskurses in einem auftauchen. Wenn ihr sie nicht führen könnt, werden sie euch führen. In einigen von uns (glücklicherweise nur wenigen) ist die Tendenz zu-sammenzubrechen stärker als bei anderen. Dies tritt bei Leuten mit starken Neurosen auf, während es sich bei anderen um genetische Faktoren handelt. Wenn das bei euch so ist, solltet ihr extrem vorsichtig mit eurer Meditation umgehen. Intensive Retreats besonders ohne Leitung sind nicht empfeh-lenswert. Es ist deshalb ratsam eure weltlichen Probleme - so gut ihr könnt - vor der Meditation zu behandeln. Es disqualifiziert einen nicht wirklich davon vipassanā zu praktizieren. Es muss nur unter ständiger Beaufsichti-gung durch einen erfahrenen Lehrer stattfinden. Man sollte eine Beratung aufsuchen, den Lehrer informieren und ihn von den Problemen oder vor-herigen Zusammenbrüchen berichten, wenn es solche gibt.

ii Falsche Praxis

Was hier gemeint ist, ist falsche Konzentration im Vergleich zu rechter Konzentration. Der Unterschied ist die An- oder Abwesenheit von Acht-samkeit. Wenn Achtsamkeit abwesend ist, ist der Geist unheilsam und so werdet ihr damit enden, dass die Konzentration eure Begierde, euren Zorn und euren Wahn erhöht. Das bedeutet, dass, wenn ihr ärgerlich seid, euer Ärger noch viel stärker ist. Genauso ist es auch, wenn ihr gierig oder im Wahne seid. Ein solcher Geist ist nicht sehr von dem eines Verrückten ver-schieden und es wird noch schlimmer, wenn der Meditierende mit falscher Konzentration weitermeditiert. Was lief falsch?

- Es mag sein, dass der Meditierend mit den falschen Motiven begonnen hat. Leute meditieren aus verschiedenen Gründen. Wenn eure Motive egoistisch sind, werdet ihr sehr wahrscheinlich noch egoistischer und verblendeter enden. Das Ziel von vipassanā ist, die Befleckungen (Gier, Hass und Verblendung) durch konstante und ununterbrochene Achtsam-keit auf die körperlichen und geistigen Prozesse aufzugeben. Wenn ihr meditiert, um Millionäre zu werden, um mit unsichtbaren Wesen zu sprechen oder die Gedanken anderer Leute zu lesen, empfehle ich euch, dass ihr mit dem Meditieren aufhört. - Die Einstellung ist ein anderer wichtiger zu beachtender Faktor. Viele Leute in dieser zielorientierten Welt hängen dermaßen daran sich Ziele zu setzen, dass sie schrecklich frustriert sind, wenn Dinge nicht so laufen, wie sie sich das vorgestellt haben. Das Ergebnis ist, dass sie entweder zusammenbrechen und heulen oder sie versuchen sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass sie das, was sie nicht haben, haben. Es gibt eine oft gestellte Frage von Meditierenden: Wie können wie erkennen, dass wir verrückt werden? Die Antwort: Wenn ihr denkt

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ihr seid ein Arahant (oder so etwas Ähnliches), fähig die Gedanken anderer Leute zu lesen, euch an eure vergangenen Leben erinnern könnt, Lebewesen seht und hört, die andere nicht hören und sehen können, dann besteht da eine Möglichkeit, dass ihr verrückt werdet. Die Natur bewegt sich in ihrem eigenen Tempo und es ist nicht hilfreich ungedul-dig zu sein. Wir müssen besondern achtsam sein, wenn wir besessen davon sind, dass wir Fortschritte machen. - Das Handhaben von Objekten auf falsche Weise. Im Laufe der Praxis mag der Meditierende auf ungewöhnliche Erfahrungen treffen, die sehr schrecklich oder glückselig (so wie Bilder, Stimmen oder Gefühle) sein können. Beim vipassanā werden sie achtsam notiert und sie vergehen dann normalerweise. Wenn sie bestehen bleiben, ist der nächste Schritt sie zu ignorieren und ein anderes Vipassanā-Objekt (wie „Heben“ und „Senken“) zu beobachten. Wenn das Objekt (das Schreckliche oder Glückselige) weiterhin vorherrscht, ist es besser aufzustehen und Geh-meditation zu machen. Das Problem ist, dass die Meditierenden an diesen Phänomenen an-

haften können, sodass sie wieder und wieder erscheinen und so diesen un-heilsamen Geisteszustand intensivieren. Wenn Anhaften an Furcht entsteht, müsst ihr das Objekt ignorieren und den mentalen Zustand notieren, bis er verschwindet. Sonst entsteht falsche Konzentration. Wenn die ungewünsch-ten Objekte extrem machtvoll oder hartnäckig sind, ist es weise mit der Meditation aufzuhören, bis ihr einen richtigen Rat bekommt.

b) Furcht vor Schmerzen und körperlicher Behinderung

Schmerz ist eine unvermeidbare Erscheinung, sowohl in der Meditation als auch im Leben. Aber in der Meditation benutzen wir ihn um unseren Geist zu trainieren, damit er stark und unbeeinflusst bleibt und um seine (die des Schmerzes) wahre Natur (der Unbeständigkeit, des Leidens und des Nicht-Selbst) zu durchdringen.

Der Anfänger wird den gewöhnlichen Anfängerschmerzen gegenüber-treten müssen, die mit ein wenig Geduld weggehen. Später mag sich der Schmerz infolge der tiefen Konzentration intensivieren. Danach macht man dann die Erfahrung, dass er aufhört. Bei erfahreneren Meditierenden kann der Schmerz tatsächlich willkommen sein, da er ein scharfes Objekt dar-stellt, auf dem man Achtsamkeit und Konzentration aufbauen kann.

Furcht entsteht auch, wenn man zu viel Schmerzen hat. Dies ist ver-gleichbar mit einem Kind, das seine Medizin nicht nehmen kann, weil sie bitter ist. Mehr Wissen über den dhamma kann helfen dies zu überwinden. Man kann sich auch im Geist vorstellen, dass es eine Menge Freude und Vorteile durch die Meditation gibt. Außerdem könnt ihr versuchen den Schmerz zu ignorieren und stattdessen ein anderes Objekt beobachten. Bitte notiert die Furcht, wenn sie entsteht. Wenn das nicht funktioniert, hilft oft die Betrachtung der Vorzüge eines Buddha.

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Einige Leute fürchten, während sie den Schmerz beobachten, dass sie dauerhaft behindert sein könnten oder sterben. Hiervon gibt es zwei Arten: Ohne tatsächliche Leiden und mit realen Leiden z. B. Herzrhythmusstö-rungen, Hämorrhoiden, Asthma, hohen Blutdruck etc.

Ohne tatsächliche Leiden: In diesen Fällen verschwindet der Schmerz sehr schnell, wenn sie auf-hören zu meditieren. Vorher sollte man aber zuerst die Absicht notieren, bevor man aufgibt und auch versuchen die Furcht zu notieren, bis sie weggeht. Die Furcht ist tatsächlich grundlos. Leute haben schon mehr als sechs Stunden gesessen ohne hinterher Krüppel zu sein.

Mit realen Leiden: Medizinische Hilfe sollte in solchen Fällen vor Meditationsanfang in Anspruch genommen werden. Beim vipassanā wird der Schmerz und die Furcht zuerst direkt notiert, aber wenn das nicht möglich ist (weil sie zu stark und andauernd sind), werden sie ignoriert, bis die Achtsamkeit und die Konzentration machtvoll genug sind, sie wieder zu bremsen. Viele Krankheiten, die als chronisch und unheilbar galten, wurden durch vipassanā überwunden. Aber es braucht eine Menge an Anstrengung und Willenskraft. Es sollte auch erwogen werden, dass es äusserst günstig ist während der Meditation zu sterben.

Mangel

a) Unangemessene Orte

Das ist gewöhnlich eine der schlechtesten Entschuldigungen. Wenn der Platz laut ist, kann „Hören“ von „Geräuschen“ euer Vipassanā-Objekt sein. Man kann genauso „Hitze“ oder „Kälte“ notieren. Es ist auch nicht sehr schwer, einen kühleren und ruhigeren Platz zu finden.

b) Zuwenig Zeit

Dieser scheinbar zu rechtfertigende Grund warum Leute nicht genug Zeit finden können zu meditieren, entsteht durch weltliche Verpflichtungen (Beruf, Familie). Keine Zeit zum Meditieren zu haben, ist nicht akzeptabel. Man hat sicher etwas Zeit zur Verfügung (vielleicht nicht genug). Damit bin ich einverstanden), wenn man es wirklich will. Zumindest am frühen Morgen oder vor dem Schlafengehen. Außerdem können wir Achtsamkeit bezüglich unserer täglichen Aktivitäten üben durch völlige Wachheit und Verbundenheit mit dem, was wir gerade im Moment tun, sei es fahren, reden, gehen, denken etc. Wir können auch andere Tugenden einüben neben reiner Achtsamkeit wie die zehn Vollkommenheiten, Großzügigkeit, Ent-sagung, Verzicht, Weisheit, Energie, Geduld, Wahrhaftigkeit, Entschlos-senheit, liebende Güte und Gleichmut.

c) Mangel an Lehrern

Es gibt ein Mangel an Meditationslehrern. Es ist vielleicht korrekter zu sagen, dass es einen Mangel an qualifizierten Meditationslehrern gibt.

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Was für Qualifikationen? Es ist eine unleugbare Tatsache, dass es das Beste für alle Beteiligten ist, wenn der Meditationslehrer wirklich weiß, wie man meditiert und kompetent genug ist, es anderen beizubringen. Kompe-tentes Wissen, wie man meditiert, kann man so definieren: Man braucht gründliche Praxis. Das bedeutet, klares Verständnis der Kunst der Geist-entwicklung durch eigene Erfahrung. Der Lehrer sollte Entsagung üben, die man bei ihm durch Einhalten der Sittenregeln beobachten kann. Seine Ruhe sollte klar durch den ruhigen und unerschütterlichen Geisteszustand er-kennbar sein und die Stärke der Befleckungen (Gier, Hass, Verblendung) sollte schwach sein.

Die Kompetenz den Weg zu zeigen kann so definiert werden. Man muss ein mitfühlendes Herz haben, das mit ausreichend Wissen über die buddhis-tische Lehre ausgestattet ist, wie sie im Palikanon und seinen Kommentaren verkörpert wird. Ein Meditationslehrer ist auch in der Lage präzise Instruk-tionen und rechtzeitige Ermutigung zu geben, sodass der Meditierende schnell und sicher auf dem Pfad der Läuterung fortschreiten kann.

Überflüssig zu sagen, dass effektive Kommunikation zwischen dem Lehrer und Schüler wichtig ist. Wahrheitstreue und Offenheit ist dabei der Part der Schüler. Es ist auch vernünftig einen Lehrer zu wählen, dessen Temperament zu unserem passt. Infolge des Mangels an Lehrern dürfte es weise sein nach den Retreats - in denen ihr die Tage in intensiver Medita-tion verbringen könnt und eine gute Vorstellung davon bekommt, was Meditation ist und wie sie durchgeführt wird - Ausschau nach guten Lehrern zu halten. Danach sollte man regelmäßigen Briefwechsel pflegen, damit man die Praxis fortsetzen kann. Anfängliche Instruktionen sollten besser persönlich gegeben werden.

d) Mangel an Konzentration

Ein anderer häufiger Grund, warum Leute die Vipassanā-Praxis auf-geben, ist die extrem unruhige Natur ihres Geistes. Anstatt Frieden zu finden, scheint es, als ob sie nicht nur ihre Zeit verschwenden, sondern auch unnötigerweise mehr leiden. Solche Personen sollten sich selbst Folgendes fragen:

• Habe ich die Sittenregeln gut eingehalten? Wie beherrscht bin ich in

meinem Alltag? Wenn wir stark in Genuss schwelgen, ist es kein Wunder, dass unser Geist verstört ist. Dem Übel absagen ist die Grundlage von Konzentration, deshalb sollte nicht die Meditation beschuldigt werden. Wenn diese Leute Achtsamkeit im Alltag üben, sollten sie fähig sein sich zu konzentrieren.

• Wie viel Stunden am Tag meditiere ich? Tu ich es jeden Tag ernst-

haft? Ihr könnt nicht zu viel erwarten, wenn ihr es nicht richtig ver-sucht. Wenn ihr regelmäßig, ernsthaft und begeistert praktiziert, werdet ihr kein Problem haben euren Geist zu konzentrieren.

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• Habt ihr richtige und vollständige Instruktionen erhalten. Habt ihr regelmäßige Interviews gehabt? Es ist ein Wunder, dass es euch nicht noch schlechter geht, wenn ihr nicht die richtige Anleitung be-kommen habt. Diese wird gewöhnlich erst nach vielen Interviewsit-zungen und Diskussionen mit dem Lehrer (weil wir normalerweise nicht richtig hören und dazu neigen zu vergessen) erlangt.

Die vier Schutzmeditationen

Starke Befleckungen können die Ursache sein, dass Leute ihre reine Vipassanā-Praxis aufgeben, ohne ihr eine faire Chance zu geben. Die vier Schutzmeditationen helfen denjenigen Leuten, die einen großen Bedarf an Freude und Frieden haben, Vertrauen zu erlangen, bevor sie die eher an-strengende Aufgabe der Vipassanā-Praxis aufnehmen. Außerdem können wir nicht leugnen, dass reine Samatha-Meditation einem schnell hilft starke Konzentration zu erlangen. Sie hilft uns auch in unseren weltlichen An-gelegenheiten, wenn sie richtig ausgeführt wird.

Deshalb werden die vier Schutzmeditationen oft vor der Vipassanā-Praxis empfohlen. Es sind:

1. Buddhanussati Die Betrachtung einer oder mehrerer Vorzüge des Buddha (generiert Vertrauen und Energie) 2. Mettabhāvanā Das Ausstrahlen von liebender Güte zu einem oder mehreren Lebe-wesen (überwältigt Übelwollen, Unzufriedenheit, flösst Freundschaft ein). 3. Asubha Betrachtung der Widerlichkeit des Körpers. Das sind die 32 einzelnen Körperteile (überwältigt Lust). 4. Maranasati Todesbetrachtung (überwältigt Furcht vor dem Tod und legt einem die Dringlichkeit nahe) Die Burmesen empfehlen jede dieser Schutzmeditationen zwei Minuten

lang (also insgesamt 8 min.) vor der Vipassanā-Praxis auszuführen.

Anhaltende Praxis

Ein anderes Problem dem der Vipassanā-Meditierende gegenübertritt, ist die Unfähigkeit die eifrige Praxis aufrechtzuerhalten oder zumindest regelmäßig zu sitzen. Das ist aber entscheidend für den Fortschritt. Praxis ist, wenn wir es genau betrachten, die aufgebrachte Anstrengung. Diese Fähigkeit (Tatkraft) ist sehr von der Fähigkeit Glauben/Vertrauen abhängig. Als Grundlage des Vertrauens wird das Objekt, das Vertrauen (saddha vatthu) einflösst, genannt.

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Die drei Kleinodien sind das, was ich dabei im Geist habe: • Der Buddha - oder Symbole, die den Lehrer repräsentieren z. B.

Bilder, Fußabdrücke, Bodhibäume und Reliquien. • Der dhamma – der durch das Rad des Gesetzes oder durch Bücher

dargestellt werden kann oder durch die tatsächlichen Lehren oder Praktiken, denen man begegnet oder sie ausführt.

• Die sangha – die Gemeinschaft der erleuchteten Schüler. • Dies behält uns in konstanter Kommunikation mit spirituellen

Objekten, Aktivitäten und Leuten und insbesondere verbinden uns diese direkt mit vipassanā. Sie helfen uns uns aufzurichten, wenn unser Geist schwach ist.

Wenn wir häufiger den Energiefaktor betrachten, können wir sehen,

dass er durch Betrachtung der acht Grundlagen der Ergriffenheit (samvega vatthu) aufgerüttelt werden kann. Es sind: Geburt, Alter, Krankheit, Tod, Leiden in den niederen Daseinsfährten, das im Daseinskreislauf der Ver-gangenheit wurzelnde Leiden, das im Daseinskreislauf der Zukunft wur-zelnde Leiden das im Daseinskreislauf der Gegenwart wurzelnde Leiden.

Jemand, der diese Betrachtungen ausübt, wird definitiv Energie wach-rütteln, um zum Ende des Leidens vorzustoßen. Mögt ihr euch eifrig be-mühen und niemals stagnieren in eurer Anstrengung, bis ihr diese letzte Freiheit, nibbāna, erreicht habt.

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Empfohlene Bücher

In Deutsch:

Geistestraining durch Achtsamkeit Nyanaponika (Beyerlein & Steinschulte) Vipassanā Meditation U Janakabhivamsa (In „Der Weg zum Nibbana“ Michael Zeh Verlag) Die Ausübung der Einsichtsmeditation Mahasi Sayadaw (In „Der Weg zum Nibbana“ Michael Zeh Verlag) Fortschreitende Einsicht Mahasi Sayadaw (In „Der Weg zum Nibbana“ Michael Zeh Verlag) Die sieben Stufen der Läuterung Ñanarama (In „Erkennen, nicht tadeln, ändern“ Jhana Verlag) Die sieben Betrachtungen der Einsicht Ñanarama (DBU) Der Weg zur Erlösung Nyanatiloka (Beyerlein & Steinschulte) Im Augenblick liegt alles Leben Sayadaw U Panditabhivamsa (O. W. Barth) Visuddhi Magga Buddhagosha (Übersetzt von Nyanatiloka) (Jhana Verlag)

In Englisch:

The Power of Mindfulness Nyanaponika Thera (BPS) The Way of Mindfulness Soma Thera (BPS) The Four Foundations of Mindfulness Venerable U Silananda (Wisdom) Living Dharma Jack Kornfield (Shambala) The Basic Principles of Satipatthana Vipassana Practice and Other Lectures Sayadaw U Pandita (free publication)

Weitere Bücher vom Ehrw. Sujiva:

Stilling of the Volcanoes (English, Deutsch & Chinese) Meditation on Loving Kindness (English) Awakening the Insight within (English) Divine Abodes (English & Chinese) Walking Iris (poems) The Door (poems) Wind in the Forest (poems) Funny Monks Tales

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Lebenslauf Bhante Sujiva ist in einer chinesischen Großfamilie in Kuala Lumpur,

Malaysia, aufgewachsen und hatte bei einem chinesischen Chan-Lehrer die ersten Kontakte mit der Meditation. Schon damals faszinierte ihn die Be-obachtung innerer Abläufe. Nach Abschluss seines Studiums der Agrar-wissenschaften wurde er Mönch, um sich so ganz seiner Liebe zur Medita-tion widmen zu können.

Bhante Sujiva meditierte als junger Mönch zuerst in verschiedenen Meditationszentren und Waldklöstern Südthailands und Malaysias. Bei einer mehrmonatigen, strukturierten Unterrichtung durch burmesische Meditationsmeister (insbesondere bei Sayadaw U Javana und Sayadaw U Pandita) erfuhr seine Meditation eine bedeutende Intensivierung. Heute lebt er vorwiegend in Europa und hält zahlreiche Retreats in Deutschland und in der Schweiz sowie in Italien als auch in der tschechischen und slowaki-schen Republik ab. Bhante Sujiva unterrichtet in einer flexiblen Art vipassanā (Einsicht) und samatha (Stille) Meditation. Seine Anweisungen beruhen einerseits auf seinem tiefen persönlichen Verständnis der Abläufe und andererseits auf seinem intuitiven Wahrnehmen der Anlagen einer Person.

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