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§1.7 Die Gegensätze als Prinzipien – Ph. 1.5, 188a19‒27 145 §1.7 Die Gegensätze als Prinzipien – Ph. 1.5, 188a19‒27 Kommentare zur Stelle: Themistios: Ar 122 (§1.7.2) Iohannes Philoponos: Th 449 (§1.7.3); Th 450 (§1.7.4) Simplikios: Th 415 / As 143 (§1.7.5) §1.7.1 Aristoteles, Physica 1.5, 188a19‒27 (ed. Ross) Πάντες δὴ τἀναντία ἀρχὰς ποιοῦσιν οἵ τε λέγοντες ὅτι ἓν τὸ πᾶν καὶ μὴ κινούμενον (καὶ γὰρ Παρμενίδης θερμὸν καὶ ψυχρὸν ἀρχὰς ποιεῖ, ταῦτα δὲ προσαγορεύει πῦρ καὶ γῆν) καὶ οἱ μανὸν καὶ πυκνόν, καὶ Δημόκριτος τὸ πλῆρες καὶ κενόν, ὧν τὸ μὲν ὡς ὂν τὸ δὲ ὡς οὐκ ὂν εἶναί φησιν· ἔτι θέσει, σχήματι, τάξει. ταῦτα δὲ γένη ἐναντίων· θέσεως ἄνω κάτω, πρόσθεν ὄπισθεν, σχήματος γεγωνιωμένον ἀγώνιον, εὐθὺ περιφερές. ὅτι μὲν οὖν τἀναντία πως πάντες ποιοῦσι τὰς ἀρχάς, δῆλον. Die angeführte Stelle wirft v.a. folgende Fragen auf: 1) Woraus wird die Konklusion „Πάντες δὴ τἀναντία ἀρχὰς ποιοῦσιν“ (188a19) gezogen?, 2) Welche Funktion hat der Textabschnitt, der sich zwischen dieser Feststellung und ihrer Wiederholung in 188a26‒27 („ὅτι μὲν οὖν τἀναντία πως πάντες ποιοῦσι τὰς ἀρχάς, δῆλον“) be- findet und in dem drei verschiedene vorsokratische Lehren von den Gegensätzen genannt werden? 3) Aus welchem Grund werden in diesem Textabschnitt gerade diese und nicht andere (bzw. nicht alle relevanten) Lehren erwähnt? 4) Welche Funktion hat die Feststellung, dass „alle die Gegensätze zu Prinzipien machen“? Die Feststellung, dass „alle die Gegensätze zu Prinzipien machen“ (188a19), wird als eine Konklusion eingeführt („δή“), die sich teilweise auf das vorher expli- zit Gesagte (187a12‒23: die Gegensätze wurden hier beiden Gruppen von Naturphi- losophen und beiläufig auch Platon zugeschrieben³⁹²), teilweise auf offensicht- lich schon als bekannt angesehene Tatsachen (in Bezug auf alle anderen Denker, denen bisher keine Gegensätze zugeschrieben wurden) stützt (vgl. Frage 1). Der Text zwischen der These in 188a19 und ihrer Wiederholung in 188a26‒27 („ὅτι μὲν οὖν τἀναντία πως πάντες ποιοῦσι τὰς ἀρχάς, δῆλον“) enthält keine eigentliche Begründung, sondern eine erhellende Aufzählung von Beispielen (vgl. Frage 2). Die Formulierung „οἵ τε λέγοντες ὅτι ἓν τὸ πᾶν καὶ μὴ κινούμενον“ (188a19‒20) zeigt, dass in Ph. 1.5 immer noch mit dem Schema der Prinzipienlehrentypen von Ph. 184b15‒22 (vgl. oben §1.2.1) operiert wird, auch wenn die dort unterschiede- 392 S. Ar 1, vgl. oben §1.5.1. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/7/14 11:09 PM

Die Prinzipienlehre der Milesier (Kommentar zu den Textzeugnissen bei Aristoteles und seinen Kommentatoren) || §1.7 Die Gegensätze als Prinzipien – Ph. 1.5, 188a19–27

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  • 1.7Die Gegenstze als Prinzipien Ph. 1.5, 188a1927 145

    1.7 Die Gegenstze als Prinzipien Ph. 1.5, 188a1927

    Kommentare zur Stelle: Themistios: Ar 122 (1.7.2) Iohannes Philoponos: Th 449 (1.7.3); Th 450 (1.7.4) Simplikios: Th 415 / As 143 (1.7.5)

    1.7.1 Aristoteles, Physica 1.5, 188a1927 (ed. Ross)

    ( , ) , , , , . , , , . , .

    Die angefhrte Stelle wirft v.a. folgende Fragen auf: 1) Woraus wird die Konklusion (188a19) gezogen?, 2) Welche Funktion hat der Textabschnitt, der sich zwischen dieser Feststellung und ihrer Wiederholung in 188a2627 ( , ) be-findet und in dem drei verschiedene vorsokratische Lehren von den Gegenstzen genannt werden? 3) Aus welchem Grund werden in diesem Textabschnitt gerade diese und nicht andere (bzw. nicht alle relevanten) Lehren erwhnt? 4) Welche Funktion hat die Feststellung, dass alle die Gegenstze zu Prinzipien machen?

    Die Feststellung, dass alle die Gegenstze zu Prinzipien machen (188a19), wird als eine Konklusion eingefhrt (), die sich teilweise auf das vorher expli-zit Gesagte (187a1223: die Gegenstze wurden hier beiden Gruppen von Naturphi-losophen und beilufig auch Platon zugeschrieben), teilweise auf offensicht-lich schon als bekannt angesehene Tatsachen (in Bezug auf alle anderen Denker, denen bisher keine Gegenstze zugeschrieben wurden) sttzt (vgl. Frage1). Der Text zwischen der These in 188a19 und ihrer Wiederholung in 188a2627 ( , ) enthlt keine eigentliche Begrndung, sondern eine erhellende Aufzhlung von Beispielen (vgl. Frage 2). Die Formulierung (188a1920) zeigt, dass in Ph. 1.5 immer noch mit dem Schema der Prinzipienlehrentypen von Ph. 184b1522 (vgl. oben 1.2.1) operiert wird, auch wenn die dort unterschiede-

    392S. Ar 1, vgl. oben 1.5.1.

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  • 146 Physica

    nen Typen nicht systematisch durchgegangen werden. Die explizite Erwhnung der Gegenstze der beiden ersten Typen von Monisten (188a1922) ist vermutlich damit zu erklren, dass die Annahme der Gegenstze in den monistischen Theo-rien etwas nicht Evidentes im Falle von nur Erschlosse-nes, im Falle des Parmenides nicht einmal Erschliebares ist; dass von den Pluralisten nur Demokrit genannt wird, erklrt sich dagegen damit, dass er weder in der Einteilung der Naturphilosophen in Ph. 187a1223 noch in der Auseinan-dersetzung mit der Annahme der unendlich vielen Prinzipien in 187a26188a18 erwhnt wurde (vgl. Frage 3).

    Die Beobachtung, dass alle die Gegenstze zu Prinzipien machen (188a19), ermglicht es Aristoteles, von der Kritik an den frheren Lehren in Ph. 1.24 zu einem positiven und konstruktiven Teil seiner Ausfhrungen berzugehen. Er billigt die berzeugung seiner Vorgnger (vgl. 188a27) mit der Be-grndung, dass die ersten Gegenstze ( ) die Bedingungen erfllen, die erfllen mssen: Sie seien absolut primr (188a2730). Der Grund, die These von der Gegenstzlichkeit der Prinzipien anzunehmen, liegt also fr Aristoteles nicht wirklich in dem Konsens der Denker; ihre berzeugung wird von ihm vielmehr unter Bezug auf ein generelleres Prinzip kritisch geprft und erst dann gebilligt. Trotzdem bedient er sich dieser berzeugung als eines Arguments ex consensu, auf das ein weiteres, sich aus einer Untersuchung in Ph. 188a30b26 ergebendes Argument folgt (vgl. Frage 4).

    Von den vier oben gestellten Fragen wird bei den antiken Kommentatoren nur die vierte, die nach der Funktion der Feststellung alle machen die Gegen-stze zu Prinzipien (188a19), explizit behandelt. Philoponos und Simplikios teilen die auch von vielen modernen Forschern vertretene Ansicht, der zufolge der Konsens der frheren Denker (neben dem Argument von Ph. 188a30b26) als Argument fr die These von der Gegenstzlichkeit der Prinzipien eingefhrt wird (vgl. Philop., In Ph. 109.3334: , (); Simpl., In Ph. 179.2729:

    393Vgl. Mansfeld (1986, 15), dem zufolge die Erwhnung der zwei Prinzipien des Parmenides nach der Ablehnung seines strikten Monismus so unerwartet wirke, dass es sich dabei wahr-scheinlich um einen nachtrglichen Einschub handele.394Vgl. Marcinkowska-Ros (2011, 235f.).395Zu diesem Ausdruck vgl. Le Blond (1938, bes. 119).396In der Begrndung dieses Lobs knnte auerdem zugleich eine implizite Kritik enthalten sein. Es ist nmlich klar, dass die vorsokratischen Gegenstze mit Aristoteles ersten Gegenst-zen nicht identisch sind, sondern nur verschiedene auf sie reduzierbare Beispiele von Gegen-stzen darstellen. Die implizite Kritik wrde also besagen, dass nicht beliebige, sondern nur die ersten Gegenstze als Prinzipien fungieren knnen. Vgl. Falcon (2005, 25 mit Anm. 50).397Vgl. Ross (1936, 489), Charlton (1992, 65) u. Horstschfer (1998, 170).

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  • 1.7Die Gegenstze als Prinzipien Ph. 1.5, 188a1927 147

    () , ). In Bezug auf Frage 3) scheint Simplikios (In Ph. 180.25ff.) anzunehmen, dass die Lehre des Empedokles von Aristoteles als evident, die des Anaxagoras als schon frher erwhnt bergangen werde, whrend Themistios zu glauben scheint, dass die konkreten Beispiele fr die Annahme der Gegenstze bei beiden Typen von Prinzipienlehren, Monismus und Pluralismus, nur neue Belege liefern sollen (In Ph. 17.2728 u. 18.57, vgl. unten 1.7.2). Alle drei Kommentatoren fgen den von Aristoteles genannten Bei-spielen weitere Prinzipienlehren hinzu, Philoponos und Simplikios offenbar in der Absicht, Aristoteles Zuschreibung der Gegenstze an alle Denker durch eine vollstndigere Aufzhlung der Lehren (Beleg fr jeden Typ von Prinzipienlehren) zu plausibilisieren:

    Typen von Prinzipienleh-ren nach Ph. 184b1522

    Aristoteles(Ph. 188a927)

    Themistios(In Ph. 17.28 18.7)

    Philoponos(In Ph. 109.33 110.14)

    Simplikios(In Ph. 179.29181.30)

    1.1 (ein einziges unbewegtes Prinzip)

    Parmenides( )

    Parmenides (wie Arist.)

    Parmenides (wie Arist.)

    Parmenides (wie Arist., mit DK 28 B 8.5359 u. B 9 als Belegen)

    1.2 (ein einziges bewegtes Prinzip)

    [sc. ]

    die Anhnger von

    die Anhnger von wie Thales

    die Anhnger von wie Thales und Anaxi-menes

    2.1 (eine begrenzte Zahl von Prinzipien)

    Empedokles Empedokles ( , [sc. ] )

    Empedokles( , )

    398[Ps.-]Psellos behandelt die Stelle kurz und nennt von den frheren Denkern nur Demokrit (In Ph. 34.118); Averroes fgt den aristotelischen Beispielen nur den Gegensatz magnum par-vum hinzu (Mittl. Physik-Komm. 438v I-K; Harvey 1977, 267).399Vgl. oben 1.2.1.

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  • 148 Physica

    Platon Platon( )

    die Pythagoreer(neben dem Einen als Prinzip auch die Gegenstze als -; mit Zitaten aus Eudoros)

    2.2 (eine unbegrenzte Zahl von Prinzipien)

    Demokrit( , bzw. , , , , )

    Demokrit ( , , , , )

    Demokrit( bzw. bzw. ; [sc. ])

    Demokrit( , bzw. ; , , , , , )

    Anaxagoras ( - )

    Anaximander ( )

    Anaxagoras ( [sc. ])

    Anaxagoras(Verweis auf Ph. 187a2526: u. DK 59 B 12: die Absonderung des Dichten vom Dnnen, des Warmen vom Kalten etc.)

    1.7.2 Ar 122Themistios, In Aristotelis Physica Paraphrasis 17.2718.2 (CAG V.2, ed. Schenkl)

    Lit.: Todd (2012, 35, mit Anm. 228 u. 229)

    KontextThemistios Paraphrase von Ph. 1.5, 188a1924. Zu der Aristoteles-Stelle s. oben 1.7.1.

    400Zu dieser Einordnung Anaximanders s. Ar 122 und Komm. unter 1.7.2.

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  • 1.7Die Gegenstze als Prinzipien Ph. 1.5, 188a1927 149

    KommentarMit den Worten , , steckt Themistios einen Rahmen fr die im Folgenden genannten vier Beispiele vorsokratischer Lehren von den Gegenstzen ( ; vgl. die Zusammenstel-lung der von den Kommentatoren angefhrten Beispiele oben 1.7.1) ab, die die Aussage alle machen die Gegenstze zu Prinzipien (zumindest teilweise) bele-gen sollen. Die ausdrckliche Bercksichtigung von nur zwei Typen von Lehren (der Annahme eines einzigen unbewegten Prinzips und der Annahme unendlich zahlreicher Prinzipien - vgl. ) stellt eine Anknpfung an Aris-toteles Auseinandersetzung mit diesen beiden extremen Lehrentypen in Ph. 1.24 dar und findet zugleich eine Sttze darin, dass in Themistios Sicht die Gegen-stze der Anhnger der beiden brigen Lehrentypen (der Annahme eines einzi-gen bewegten Prinzips und mehrerer begrenzter Prinzipien) schon frher erwhnt wurden (vgl. , , In Ph. 18.57), was jedoch nicht ganz konsequent ist (einerseits wurde auch von den Gegenstzen des Anaxagoras schon gesprochen, s. In Ph. 3.12, 13.2832; ande-rerseits wurden die Gegenstze des Empedokles noch nicht explizit genannt).

    Themistios ist der einzige Kommentator, der unter seinen Beispielen die Lehre des Anaximander erwhnt. Diese Erwhnung ist jedoch nicht unproble-matisch: Anaximander, der in Themistios Kommentar zu Ph. 187a1223 als reiner Monist betrachtet und den Pluralisten Anaxagoras und Empedokles ( , In Ph. 13.21) gegenbergestellt wurde (s. Ar 121 u. 1.5.2), wird jetzt nach der einleitenden Formel , , zwischen Anaxagoras und Demokrit genannt:

    Aristoteles(Ph. 188a927)

    Themistios(In Ph. 17.2818.7)

    Parmenides( )

    Parmenides (wie Arist.)

    Anaxagoras ( )

    Anaximander ( [sc. ] , )

    401Die in Ar 122 Anaximander zugeschriebenen Gegenstze wurden frher nicht erwhnt (vgl. lediglich die Erwhnung von von Ph. 187a20 in In Ph. 13.20).

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  • 150 Physica

    [sc. ]

    Demokrit( bzw. , , , , )

    Demokrit ( , , , , )

    Als schon frher besprochen: Empedokles Platon die Anhnger von

    Die Art, wie Themistios die Annahme der Gegenstze fr Anaximander nach-weist, legt nahe, dass diese Einordnung des Milesiers kein Zufall ist. Themistios versucht zwar nicht, die von Ph. 187a20 als Prinzipien aufzufassen; er versucht, eine Gegensatzlehre aus der Anaximander in Ph. 187a20 zugeschrie-benen Theorie der Ekkrisis abzuleiten: , . Damit nennt er ein Gegensatzpaar, das in den Kommentaren zu unserer Stelle Demokrit und Anaxagoras (bei Philoponos) oder Empedokles (bei Simplikios) zugeschrieben wird. In der peripatetischen Doxographie werden die Begriffe und am hufigsten auf die Prozesse des Entstehens und Vergehens der zusammengesetzten Dinge infolge der Verbindung und Trennung der Elemente des Demokrit und Empedokles bezo-gen; in Bezug auf die Lehre des Anaxagoras werden sie in analogem Sinne ver-wendet und von dem Begriff der der Elemente aus der Urmischung un-terschieden (z.B. Philop., In Ph. 95.1518; vgl. Simpl., In Ph. 163.915, 163.1824). Rein theoretisch lieen sich die Konzepte und durchaus in unterschiedlicher Weise verbinden; der von Themistios in Ar 122 intendierte Sinn seiner Formulierung ( ) bleibt allerdings unklar. Mglicherweise assimiliert er hier die Lehre des Anaximander an eine bestimmte Auffassung der Lehre des Anaxagoras: Die sich aussondernden Ele-mente bestimmter Art (z.B. unsichtbare Goldteilchen) () verbinden sich zugleich zu greren Stcken (z.B. Goldklumpen) (), die wiederum ge-teilt werden mssen (), wenn aus ihren Stcken andere Dinge entstehen (z.B. Goldring).

    402Vgl. die tabellarische Zusammenstellung oben in 1.7.1.403Z.B. GC 315b8 (s. auch 314b146); Porphyr. apud Simpl., In Ph. 163.1718; Philop., In Ph. 88.1214, 95.1215.404So knnte das konsekutive [sc. ] erklrt werden. Zu einer anderen Auffassung des Ausdrucks vgl. Whrle (2012, 99), der bersetzt: Anaximander lsst durch eine Aussonderung die Entstehung durch Zusammenstellung wie auch Trennung bewir-

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  • 1.7Die Gegenstze als Prinzipien Ph. 1.5, 188a1927 151

    Mit der letzteren Hypothese, der zufolge Anaximanders Lehre an unserer Stelle an die pluralistische Lehre des Anaxagoras angeglichen wird, stimmt berein, dass Themistios hier, wie der unmittelbare Kontext der Erwhnung Ana-ximanders zeigt, Anaximander als Pluralisten zu klassifizieren scheint. Dass ihm (bzw. schon seiner Quelle) dabei ein Versehen unterlaufen ist, ist zwar nicht aus-zuschlieen; plausibler scheint allerdings die These, dass Themistios an unserer Stelle auf eine alternative, durch die Zusammenstellung des Anaximander mit den Pluralisten und die Bestimmung seiner Genesis als in Ph. 187a2021 inspirierte pluralistische Interpretation der Lehre Anaximanders zurckgreift.

    1.7.3 Th 449Philoponos, In Aristotelis Physicorum libros tres priores commentaria 110.47 (CAG XVI, ed. Vitelli)

    Lit.: Osborne (2009, 54)

    KontextPhiloponos Kommentar zu Ph. 1.5, 188a1922 im Rahmen des allgemeinen Teils seines Kommentars zu Ph. 1.5, 188a19b26 (Lemma: [= 188a19]). Zu der Aristoteles-Stelle s. oben 1.7.1.

    KommentarWie oben (1.7.1) erwhnt, sieht Philoponos in dem Rckgriff auf die Lehren der Vorgnger des Aristoteles ber die Gegenstze in Ph. 188a1927 eine fr die These, dass die Prinzipien gegenstzlich seien (In Ph. 109.3334): Die These wird ihm zufolge von Aristoteles allen frheren Denkern, d.h. sowohl den Monisten als auch den Pluralisten, zugeschrieben. Philoponos Formulierung (In Ph. 109.35) erinnert an die Aussage des Themistios an der entsprechenden Stelle seines Kommentars (

    ken, und Todd (2012, 35, mit Anm. 229), der zu emendiert und bersetzt: Ana-ximander has coming to be by an extraction involving aggregation as much as segregation.405Die zahlreichen, durch und verbundenen und getrennten Elemente gel-ten normalerweise als Prinzipien: , , , (Alexand. apud Simpl., In Ph. 41.2527).406Zu der pluralistischen Interpretation von Anaximanders Lehre vgl. Simpl. Ar 171 (unten 1.10.1). Vgl. auch 1.2.11 (II).

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  • 152 Physica

    , , , Them., In Ph. 17.2728, s.Ar 122 u. 1.7.2), ist aber allgemeiner als diese und daher zutreffender.

    In seiner Besprechung der konkreten Lehren, die die These illustrieren und belegen, hlt sich Philoponos jedoch nicht an die Einteilung in Monisten und Plu-ralisten: Er behlt die aristotelische Struktur des Textes weitgehend bei, fgt nur der Darstellung der Gegenstze des Parmenides eine Erwhnung des Empedok-les und der der Gegenstze des Demokrit eine Erwhnung des Anaxagoras hinzu (in beiden Fllen wegen der hnlichkeit der postulierten Gegenstze: warm kalt bzw. Verbindung Trennung) und beschliet die gesamte Besprechung mit einem kurzen Verweis auf Platons Lehre (vgl. auch die Zusammenstellung oben unter 1.7.1):

    Aristoteles(Ph. 188a927)

    Philoponos(In Ph. 109.33110.14)

    Parmenides( )

    Parmenides ( )

    Empedokles ( , [sc. ] )

    [sc. ] die Anhnger von wie Thales

    Demokrit( , bzw. u. , , , , )

    Demokrit( bzw. bzw. ; [sc. ])

    Anaxagoras ( [sc. ])

    Platon( )

    Bei seiner nheren Darstellung von greift Philoponos auf Ph. 187a1220 zurck und stellt dementsprechend die so bezeichneten Denker als Monisten dar, die ein einziges annehmen und durch dessen Verdich-

    407Vgl. Averroes, Groer Physik-Kommentar 27r B: omnes Naturales fuerunt coacti a natura entis ad ponendum principia esse contraria, non solum modo qui eorum concedunt entia esse plura tantum, sed etiam qui non concedunt hoc, scilicet qui dicit totum esse unum.408Zu dem Gegensatz bei Empedokles vgl. GC 330b2021.

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  • 1.7Die Gegenstze als Prinzipien Ph. 1.5, 188a1927 153

    tung und Verdnnung alles andere entstehen lassen. Er nennt als Vertreter der Gruppe Thales (zu weiteren Namen vgl. Philoponos Komm. zu Ph. 187a1220: Th 448 / Ar 204 / As 171), ohne das von ihm postulierte Element anzugeben (vgl. Th450), und identifiziert die Verdichtung und Verdnnung der Monisten als ge-genstzliche Prinzipien. Wie sich aus seiner spteren Diskussion indirekt ergibt, hlt er diese Prinzipien fr formal ( ) (vgl. In Ph. 110.427).

    1.7.4 Th 450Philoponos, In Aristotelis Physicorum libros tres priores commentaria 116.1821 (CAG XVI, ed. Vitelli)

    Lit.: Osborne (2009, 60)

    KontextPhiloponos Kommentar zu Ph. 1.5, 188a1922 (Lemma: [= Ph. 188a19] (so Vitelli) bzw. Lemmata [= Ph. 188a19] und [=Ph.188a22] (so Osborne 2009, 60)) im Rahmen des detaillierten Teils seines Kommentars zu Ph. 1.5, 188a19b26. Zu der Aristoteles-Stelle s. oben 1.7.1.

    KommentarPhiloponos detaillierter Kommentar zu den Worten (Ph.188a22) ist nicht informativer als seine diesbezgliche Aussage in dem all-gemeinen Teil seines Kommentars zu Ph. 188a19b26 (vgl. Th 449 u. 1.7.3), un-terscheidet sich von dieser aber insofern, als Philoponos hier ebenso wie bei den Besprechungen der brigen Lehren von Aristoteles Vorgngern konkreter vorzugehen versucht. Whrend in Th 449 die Lehre von und allgemein dargestellt und Thales als einer ihrer Vertreter genannt wurde, wird in Th 450 die konkrete Lehre des Thales von den die Materie formenden (vgl. ) Gegenstzen prsentiert. Dabei unterluft Philoponos aber ein

    409Vgl. Philoponos Kommentar zu Ph. 187a1618, wo er die Verdichtung und Verdnnung als (In Ph. 91.18) bzw. (In Ph. 91.2324) bezeichnet, sowie seinen Kommentar zu Ph. 187a1820, wo er sie als betrachtet und begrndet, dass , (In Ph. 92.2527).410Zur Terminologie an dieser Stelle vgl. die vorige Anm.

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  • 154 Physica

    grundstzlicher Fehler: Thales Prinzip wird, wie schon in Th 448 / Ar 204 / As 171 (vgl. oben 1.5.4), nicht als Wasser, sondern als Luft identifiziert. Offensichtlich betrachtet auch Philoponos die Lehre von den Umwandlungen der Luft als para-digmatisch (vgl. oben As 140 zu Theophrast), schreibt sie aber dem Falschen zu.

    1.7.5 Th 415 / As 143Simplikios, In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria 180.1416 (CAG IX, ed. Diels)

    Lit.: KRS (1983, 94, Anm. 1); Baltussen in: Baltussen Share Atkinson Mueller (2012, 18)

    KontextSimplikios Kommentar zu Ph. 1.5, 188a1927 (Lemma: [= Ph. 188a19] , [= Ph. 188a2627]). Zu der Aristoteles-Stelle s. oben 1.7.1.

    Kommentarhnlich wie Philoponos (vgl. oben 1.7.3) sieht Simplikios an der Stelle ein aris-totelisches Argument fr die These, dass die Prinzipien gegenstzlich sind, und zwar eines aus der der frheren Naturphilosophen. Obwohl er der Besprechung der einzelnen Lehren keine strukturierende Aussage wie Philo-ponos ( , Philop., In Ph. 109.35, s. Th 449 u. 1.7.3) oder Themistios ( , , , Them., In Ph. 17.2728, s. Ar 122 u. 1.7.2) voranstellt, zeigt seine Exegese, dass er die an die Einteilung der Prinzipienlehren in Ph. 184b1522 anknpfende Struktur von Ph. 188a1927 erkannt hat und in seiner Exegese des

    411S. In Ph. 28.3237.7 zu Simplikios These von der grundstzlichen bereinstimmung der fr-heren Philosophen (vgl. auch oben Th 411 / Ar 165/ As 135 mit 1.2.12) und v.a. In Ph. 30.2034.17 zu der dort Parmenides, Aristoteles und Empedokles zugeschriebenen Annahme einer Gegen-stzlichkeit unter den Prinzipien; Simplikios behauptet hier sogar, dass Aristoteles in seiner Annahme der gegenstzlichen Prinzipien Parmenides folgt (In Ph. 31.910). An unserer Stelle zeigt sich Simplikios bereit, eine Meinungsverschiedenheit der Philosophen in Bezug auf andere Fragen zuzugeben, um die Bedeutung ihrer Einstimmigkeit in Bezug auf die Gegenstzlichkeit der Prinzipien hervorzuheben ( , In Ph. 179.29).412In Ph. 181.7ff. schreibt Simplikios die Annahme gegenstzlicher Prinzipien auch den Pytha-goreern zu.

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  • 1.7Die Gegenstze als Prinzipien Ph. 1.5, 188a1927 155

    aristotelischen Textes sogar strker beachtet als die beiden anderen Kommenta-toren. Er behlt die Reihenfolge von Aristoteles Aufzhlung der frheren Lehren bei und fgt den einzelnen Punkten lediglich Aussagen hinzu, die die vorlie-gende Struktur (ein einziges unbewegtes Prinzip; ein einziges bewegtes Prinzip; zahlreiche Prinzipien) klar machen (In Ph. 179.2930: ; In Ph. 180.14: ); den Punkt ber die Annahme von zahlreichen Prinzipien ergnzt er um eine Dar-stellung der Lehren der Pluralisten: Empedokles, Anaxagoras (die, wie er er-klrt, von Aristoteles absichtlich bergangen wurden) und der Pythagoreer:

    Aristoteles Simplikios(In Ph. 179.29181.30)

    Parmenides( )

    Parmenides (wie Arist., mit DK 28 B 8.5359 u. B 9 als Belegen)

    [sc. ] die Anhnger von wie Thales und Anaximenes

    Demokrit( bzw. , , , , )

    Demokrit( bzw. , , , , , , )

    Empedokles( , )

    Anaxagoras(Verweis auf Ph. 187a2526: u. DK 59 B 12: die Absonderung des Dichten vom Dnnen, des Warmen vom Kalten etc.)

    die Pythagoreer(neben dem Einen als Prinzip auch die Gegen-stze als ; mit Zitaten aus Eudoros)

    413S. In Ph. 180.25ff., wo Simplikios erklrt, dass Aristoteles an unserer Stelle die Gegensatz-lehre des Empedokles als evident, die des Anaxagoras als schon frher erwhnt (Ph. 187a2526) bergeht.414Vgl. Simplikios Zuordnung der Pythagoreer zu den Anhngern einer begrenzten Zahl von Prinzipien in In Ph. 26.2630.

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  • 156 Physica

    Simplikios erkennt in (188a22) die Naturphilosophen, deren Lehren in Ph. 187a1220 besprochen wurden; in seinem Kommentar zu den Worten verbindet er die Perspektive, aus der diese Denker in Ph. 184b1522 (vgl. , In Ph. 180.14), mit der, aus der sie (unter Ausschluss Anaximanders) in Ph. 187a1220 (vgl. , In Ph. 180.15) betrachtet wurden. Von den sechs in sei-nem Kommentar zu Ph. 187a1220 namentlich genannten Monisten (s. Th 414 / As 139) nennt er jetzt zwei Denker: Thales (vermutlich als den ltesten Vertreter der Gruppe) und Anaximenes (vermutlich als den reprsentativsten Anhnger der Verdichtungs- und Verdnnungslehre, vgl. As 140).

    Ein Vergleich mit Philoponos Kommentar zu der Stelle (Th 449, vgl. oben 1.7.3) lsst erkennen, dass beide Texte eine hnliche Struktur aufweisen und aus folgenden Punkten bestehen:

    Philop., In Ph. 110.57 (Th 449)

    Simpl., In Ph. 180.1416 (Th415 / As 143)

    1) nhere Charakterisierung von

    , ,

    2) Nennung von Vertretern der Gruppe

    3) Nachweis, dass die Denker gegenstzliche Prinzipien postulieren

    Diese hnlichkeit ist mglicherweise durch eine gemeinsame Quelle der Kom-mentatoren zu erklren.

    1.8 Arten von gegenstzlichen Prinzipien der frheren Philosophen Ph. 1.5, 188b26189a10

    Kommentare zur Stelle Iohannes Philoponos: Th 451 (1.8.2)

    415Zu Recht bemerken KRS (1983, 94, Anm. 1), dass diese Zuschreibung der Verdichtungs- und Verdnnungslehre an Thales keinen historischen Wert hat, sondern sich nur auf die Klassifika-tion von Ph. 187a1223 grndet.

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