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Fortschritte der Kieferorthopiidie Band 36, 1975 Heft 2 Die Retention von Milchz~ihnen (II.) Von Gerhard H. Miiller, Gi~ttingen Mit 8 Abbildungen Herrn Professor Dr. Dr. G. Korkhaus zum 80. Geburtstag In Band 34 (1973) dieser Zeitschrift hatte ich zusammen mit E. S a u e r w e i n unterschiedliche M6glichkeiten der Milchzahnretention beschrieben. Inzwi- schen wurden in der G6ttinger Klinik drei neue F~lle mit weiteren interessanten Variationen dieser Entwicklung.sst6rung erfal~t. Bei Fail I. R., einem Madchen von 31/2 Jahren (Abbildung 1), liegt eine der h6chst seltenen ,,kompletten" Milchzahnretentionen vor. Ein um .seine L~ings- achse gedrehter oberer linker Milchzweier steht mit seiner inzisalen Kante etwa in H6he der Zahnh~ilse seiner Nachbarn. Der Entwicklungsstand der iibrigen Milchzahne und der bleibenden Keime entspricht dem Lebensalter; es sind jedoch die Zihne 12, 22 und 32 nicht angelegt (evtl. auch 35 und 45). Abb. 1. Fall I. R., 31/2 Jahre alt: Retention des linken oberen Milchzweiers sowie Nicht- anlage yon drei bleibenden seitlichen Schneidez~ihnen und evtl. der unteren zweiten Pr~imolaren

Die Retention von Milchzähnen (II.)

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Fortschritte der Kieferorthopiidie Band 36, 1975 Hef t 2

Die Retention von Milchz~ihnen (II.)

Von Gerhard H. Miiller, Gi~ttingen

Mit 8 Abbildungen

Herrn Professor Dr. Dr. G. Korkhaus zum 80. Geburtstag

In Band 34 (1973) dieser Zeitschrift hat te ich zusammen mit E. S a u e r w e i n unterschiedliche M6glichkeiten der Milchzahnretent ion beschrieben. Inzwi- schen wurden in der G6tt inger Klinik drei neue F~lle mit wei teren interessanten Variat ionen dieser Entwicklung.sst6rung erfal~t.

Bei Fail I. R., einem Madchen von 31/2 Jahren (Abbildung 1), liegt eine der h6chst seltenen , ,komplet ten" Milchzahnretentionen vor. Ein um .seine L~ings- achse gedrehter oberer linker Milchzweier steht mit seiner inzisalen Kante etwa in H6he der Zahnh~ilse seiner Nachbarn. Der Entwicklungsstand der iibrigen Milchzahne und der bleibenden Keime entspricht dem Lebensalter; es sind jedoch die Z i h n e 12, 22 und 32 nicht angelegt (evtl. auch 35 und 45).

Abb. 1. Fall I. R., 31/2 Jahre alt: Retention des linken oberen Milchzweiers sowie Nicht- anlage yon drei bleibenden seitlichen Schneidez~ihnen und evtl. der unteren

zweiten Pr~imolaren

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Abb. 2. Fall I. R. (wie Abb. 1): leichter Mesialstand der linken oberen Seitenz/ihne, der je- doch als Ursache ftir die Retention nicht in Betracht kommt

Die Model lanalyse (Abbildung 2) ergibt einen geringen Mesialstand der l inken oberen Seitenz~ihne. Dieser komrnt aber natiirlich als Ur.sache fiir die Retent ion nicht in Betracht, da sich die Sei tenzahngruppe erst relativ sp~it ein-

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Abb. 3. Fall P. M., 15 Jahre alt: Halbretention von drei Milchfiinfern und vermutlich auch des linken oberen Zahnes'vom gleichen Typ (entfernt) -- bei Nichtanlage der

zweiten Pr~imolaren

stelh und /iberdies immer noch reichlich Platz vorhanden ist. Zwei Kausal- faktoren kbnnten zugrundeliegen, erstens die Mikromanifestation einer Kieferspahe und zweitens eine prim~ire St6rung an den Initialmolek/ilen der seitlichen Schneidez~ihne (vgl. G. H. M/i 11 e r 1972).

ad 1) F/Jr diese Deutung spr~iche die Lokal~sation: Region der ehemaligen Epithelmauer nach H o c h s t e t t e r (Ber/ihrung.sstelle zwischen embryo- nalem medianem Nasenwutst und Oberkieferwulst) auf der linken Seite (etwa 2/3 der Spalten liegen links); ferner findet sich auch bei Kieferspalten h~iufig Nichtanlage seitlicher Schneidez~ihne, -- allerdings dann gewiShnlich auf den Oberkiefer beschr~inkt. Hier ist jedoch zus~itzlich der linke untere Zweier nicht angelegt, so dat~ diese Deutung allein nicht befriedigt.

ad 2) Die abweichende Keimentwicklung des Milchzweiers (Durchbruchs- st/Srung und Drehung) in Verbindung mit der Nichtanlage des zugeordneten bleibenden Zweiers sowie des entsprechenden Zahnes auf der Gegenseite und im Gegenkiefer spricht fiir ein gemeinsames Elementarereignis an der DNS- Codierungs-Tetrade im yon uns angegebenen Modell (M/i 11 e r 1972). Nach diesem liegen auf einem sehr frtihen Entwicklungsniveau die Initialmolek/ile der Z~ihne gleichen Types dicht beisammen und sind u. U. miteinander durch eine Noxe angreifbar.

Hingewiesen sei auf das entsprechende Zusammentreffen von verz6gerter Keimentwicklung und Keimdrehung sowie Kippung bei zweiten Pr~imolaren (Z e h 1 e 1964), f/Jr das in gleicher Wei.se St~rungen an den Initialmolekiilen als Ursache vorliegen k/Snnten.

Bei Fall P. M., einem M~idchen von 15 Jahren (Abbildung 3), besteht Halb- retention yon drei zweiten Milchmolaren, deren Kaufl~ichen sich etwa in H6he der Zahnh~ilse der Nachbarn befinden. S~antliche zweiten Pr~imolaren sind

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Abb. 4. Fall P. M. (wie Abb. 3) : starke Hemmung des alveol~iren Vertikalwachstums, beider- seits stark oftener Bit~

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Abb. 5. Fall H. K., 32 Jahre alt: Verschattung der re&ten Kieferh~Shle, etwa zehn Jahre lang erfolglos behandelt

nicht angelegt; aut~erdem fehlt der linke obere Sechser. Die okkludierenden Modelle (Abbildung 4) lassen eine verheerende Wirkung der Halbretentionen auf die Gebit~entwicklung erkennen: Es sind nicht nu t -- wie tiblich -- die Nachbarz~ihne tiber die halbretinierten Milchmolaren gekippt und in ihrem Stiitzapparat gesch~idigt, sondern wurden in toto vertikal so stark gehemmt, dat~ jetzt beiderseits ein stark offener Bit~ besteht, der den Funktionswert des Gebisses erheblich senkt. Die mit den iibrigen Kieferquadranten diesbeziiglich identische Situation links oben l~itgt darauf schliet~en, da~ auch der vierte Milch- fiinfer halbretiniert war und den benachbarten Sechser schon friihzeitig der Extraktion zugeftihrt hat. Exakte Angaben zur Vorgeschichte waren allerdings nicht zu erlangen.

Bei Fail H. K. handelt es sich um eine 32j~ihrige Frau mit besonders drama- tischer Anamnese: Die Patientin litt seit etwa 10 Jahren unter chronischen ,Erk~iltungen" mit Beschwerden vorwiegend an der re&ten Kopfseite. Seit etwa 5 Jahren erhielt sie nach eigenen Angaben von einem Facharzt fiir Hals- Nasen~ verschiedene Medikamente verabreicht, vorwiegend

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Abb. 6. Fall H. K. (wie Abb. 5) : als ,,Odontom" oder ,,Milchzahnwurzelrest" angesprochene Opazit~it (in Pfeilrichtung)

Abb. 8

Abb. 7

Abb. 7. Fall H. K. (wie Abb. 5 und 6): am Boden einer tiefen Knochentasche halbretinierte Krone des rechten oberen zweiten Milchmolaren, in die Kieferh~hle hineinragend; Sechs-

jahrmolar und erster Pr~imolar tiber die Tasche gekippt

Abb. 8. Fall H. K. (wie Abb. 5--7) : Operationspriiparat mit Schmelziiberzug und H~d<er-Fissuren-Struktur

in F o r m v o n Kie fe rh /Sh lensp / i lungen (ira F r i ih j ah r 1974 d a v o n a l le in 17). Doch d a m i t k o n n t e n d ie Beschwerden n ie vo l l s t~nd ig b~se i t ig t , s o n d e r n i m m e r nu r f i i r r e l a t iv k u r z e Zei tr~iume g e m i l d e r t we rden .

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l~ber eine H-N-O-Klinik gelangte die Patientin schliefllich in kieferchirur- gische H~inde. Die aufgrund von R~ntgenbildern und klinischer Untersuchung erhobene Diagnose erw~ihnt neben deutlicher Verschattung der re&ten Kiefer- h~hle (Abbildung 5) und Dcsensibilit~it yon 16 und 14 eine tief sondierbare Knochentasche zwischen den genannten Z~ihnen (Abbildung 6 u. 7) mit Ver- dacht auf , O d o n t o m " oder ,Milchzahnwurzelrest". Es erfolgte Operat ion nach C a 1 d w e 11 - L u c mit Entfernung des Sechsers und des vermeintlichen Odontom.s bzw. Wurzelrestes.

Erst die genauere Analyse des klinischen Bildes und der diagnostischen Unterlagen gibt Aufschlufl tiber die kausalen Zusammenh/inge: Sowohl die Panorama- wie auch die Einzelaufnahme lassen am Boden der Knochentasche eine Milchmolarenkrone erkennen, und das Operationspr~parat weist intakten Schmelziiberzug mit H(Scker-Fissuren-Muster auf (Abbildung 8). Es liegt also zweifellos eine ,,retinierte" Milchzahnkrone vor, und deren Lage am Boden der Knochentasche besagt mit hinreichender Sicherheit, dan es sich genauer um eine ,,Halbretention" handelt: Offenbar hatte der Milchmolar bei seinem Durchbruch zun~chst die Gingiva durchbrochen, ankylosierte dann sehr frtih und verschwand im Laufe der vertikalen Abw~irtsentwicklung der restlichen oberen Zahnreihe klinisch in die Tiefe. Die w~ihrend der Pneumatisation der Kieferh6hle stattfindende Knochenresorption hat .schlie~lich die Kronenober- fl~iche von kranial her freigelegt und oralen Keimen Zugang zur Kieferh~hle verschafft.

Abschlie~end m6chte ich zu den letzten beiden F~illen folgendes zum Aus- druck bringen: So selten derartige Krankheitsbilder auch sein m6gen, so sollten sie doch in Anbetracht der erheblichen Funktionsst~rung bei der Patientin F. M. und des jahrelangen Leidens der Patientin H. K. eindringlich auf die Notwen- digkeit hinweisen, jeder Halbretention die notwendige Aufmerksamkei t zu widmen und rechtzeitig steuernd einzugreifen.

Zusammenfassung

In Fortsetzung einer mit E. S a u e r w e i n 1973 in dieser Zeitschrift ver0ffentlichten Arbeit werden drei weitere F~ille yon Milchzahnretention beschrieben: 1. Retention eines 26, verbunden mit Nichtanlage yon 12, 22 und 32, ~itiologisch evtl. anzusprechen als Mikromani- festation einer Kieferspalte bzw. als St~Srung an den Initialmolekiilen des seitlichen Schneide- zahnes in der Entwicklungs-Tetrade des Gebisses. 2. Multiple Halbretention yon zweiten Milchmolaren bei Nichtanlage der zweiten Pr~imolaren, eine starke vertikale Entwicklungs- hemmung im Seitenzahngebiet beiderseits verursachend. 3. Halbretention eines oberen zweiten Milchmolaren mit resorptiver Er6ffnung der Kieferh0hle; ~itiologische Kl~irung und erfolgreiche Therapie erst etwa zehn Jahre nach Beginn der Beschwerden. -- Die beiden letzten F~ille mahnen eindringlich, halbretinierten Milchmolaren die gebotene Aufmerksam- keit zu widmen.

Summary

Three further cases of deciduous tooth retention are described, in sequence with an article published in this journal in 1973 in cooperation with E. S a u e r w e i n : 1. Retention of 26, associated with non-formation of 12, 22 and 32. Aetiologically this case may be regarded as a micromanifestation of a cleft, or as a disturbance of the initial molecules of the lateral incisor during the formative period of the dentition. 2. Multiple half retention of second

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deciduous molars with non-formation of the second premolars, leading to marked inter- ference with vertical development in the buccal regions on both sides. 3. Semi-retention of an upper deciduous second molar with resorptive opening to the maxillary antrum; aetio- logical assessment and successful treatment only after ten years following initial complaint.

The last two cases emphatically demonstrate that proper regard should be given to semi- retained deciduous molars.

R4sum4

Suite ~ l'article publi6 avec E. S a u e r w e i n en 1973 dans cette m4me revue, l 'auteur d6crit trois autres cas de r6tention de dents temporaires. 1. R6tention de la 26, li6e avec les ag6n6sies des 12, 22 et 32 ayant pour 6tiologie un ~microsymptome~ de division palatine, soit une perturbation des mol6cules initiales des incisives lat6rales lors de la dentition. 2. Multiples semi-r6tentions des secondes molaires de lait associ6es aux ag6n6sies des deuxi6mes pr6molaires et ~ une forte infraalv6olie de ces m~mes zones. 3. Semi-r6tention d'une seconde molaire sup6rieure temporaire avec ouverture par r6sorption du sinus maxil- laire: le diagnostic 6tiologique et la th6rapeutique n 'ont 6t6 effectu6s que 10 ans apr6s le d6but du processus pathologique.

Les deux derniers cas d6montrent avec quelle attention il faut observer le ph6nom6ne de r6tention des molaires lact6ales.

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. G .H. M ti 11 e r , 3400 G6ttingen, Geiststral~e 11.