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Die Schmiede der Götter

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Thorin Band 1

Die Schmiede der Götter von Al Wallon

Ein Krieger im Kampf gegen die Mächte der Finsternis - die große Saga um Thorin, den Nordlandwolf

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»... wo die Eisgebirge in den Himmel ragen und der Nordwind durch die Pässe pfeift -

hoch über unzugänglichen Pfaden hebt sie sich dunkel und geheimnisvoll empor!

Die Schmiede der Götter ­der Hort, wo Thunor der Donnerer herrscht.

Wenn Blitze am Himmel zucken, dann zürnt der mächtige Donnergott,

und sein Fluch richtet sich gegen diejenigen, die mit den Mächten der Finsternis paktieren.

Denn der Kampf zwischen der Macht des Lichts und den Kräften der Finsternis -

er wird solange anhalten, bis die Welt stirbt...« (aus den Chroniken von Kh'an Sor)

Der eisige Wind sang sein durchdringendes Lied, während er einzelne Schneeflocken heftig vor sich hintrieb. Dunkle Wolken hingen am grauen Himmel und die Sonne zeigte sich schon seit einigen Stunden nicht mehr. Ein stetiges Heulen des Nordwindes erfüllte die kalte Win­terluft, die sich allmählich in einen handfesten Sturm verwandelte.

Der einsame Reiter, der die schneebedeckten Hochebenen von Andustan durchquerte, hatte große Mühe, sein Pferd unter Kontrolle zu halten. Denn das Tier scheute immer mehr, je stärker der Wind wurde und ihn am Vorwärtskommen in der weißen Felsenwildnis hinderte. Aber der Reiter riss das Tier umso härter an den Hanfzügeln und zwang es, sich weiter seinen Weg zu suchen, obwohl das Pferd mit den Vorderläufen schon sehr tief im Schnee einsank.

Der Mann auf dem Rücken des kräftigen Pferdes war groß, fast schon ein Hüne von Gestalt. Der Wind wirbelte die langen blonden Haare hin und her. Der Reiter musste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen, weil ihm der Wind eine Schneewolke ins Gesicht blies. Deshalb hielt er sein Haupt gesenkt, um dem Sturm so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.

Ein dickes Bärenfell umhüllte seinen Körper und schützte ihn vor

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der schlimmsten Kälte. Aber er fror dennoch, da er mit so einer ent­setzlichen Witterung hier oben nicht gerechnet hatte. Er war von den Bewohnern drüben auf der anderen Seite der Berge ausdrücklich ge­warnt worden, zu dieser Jahreszeit den Pass zu überqueren. Denn in den Bergen wusste jedes Kleinkind die Anzeichen eines bevorstehen­den Sturmes zu deuten. Die dunklen Wolken und der immer stärker werdende Wind waren die Vorboten gewesen und jetzt hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet und das Land mit Schnee überzogen!

Trotzdem kehrte der Reiter nicht um. Sein Ziel waren die Ebenen von Kh'an Sor, die sich jenseits des Eisgebirges erstreckten und dieses Ziel wollte er so schnell wie möglich erreichen. Weder Schnee noch Eis konnten ihn davon abhalten. Deshalb hatten ihn die Bewohner des kleinen Dorfes kopfschüttelnd in Richtung des Eispasses davon reiten sehen.

Der Name des Reiters war Thorin. Er war ein Krieger aus den Eis­ländern des fernen Nordens. Er stammte aus einer Welt, in der Schnee und Eis ein fester Bestandteil des harten Lebens war. Nur deshalb hat­te er nicht gezögert, den Weg über das Eisgebirge einzuschlagen.

Auf seiner Reise durch die westlichen Länder hatte er mehrmals von verschiedenen Leuten gehört, dass der König des Steppenreiches von Kh'an Sor einen Feldzug gegen das benachbarte Fürstentum plan­te. Söldner wurden gesucht und deswegen zog es Thorin auf die ande­re Seite der Berge, wo ihn der Kampf, das Abenteuer und reiche Beute lockten.

Thorin hatte seine ferne Heimat verlassen, um die fremden Länder des Südens kennen zu lernen. Seit er im Besitz des Götterschwertes Sternfeuer war, hatte er zahlreiche Kämpfe ausfechten müssen. Bis jetzt hatten ihn die Götter immer beschützt. Das stärkte und ermutigte ihn, diese abenteuerliche Reise ins Unbekannte fortzusetzen.

Deshalb trieb er das ermüdete Pferd unbarmherzig weiter durch den dichten Schnee, obwohl der eisige Wind Pferd und Reiter Tausen­de von kleinen scharfen Eiskristallen ins Gesicht schleuderte. Der Ritt durch die einsame Winterwelt war eine Qual für Mensch und Tier, doch der Krieger aus den Norden gab nicht auf. Er trotzte Wind und Schnee, die ihn am Vorwärtskommen zu hindern versuchten. Aber er

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kannte sein Ziel und das trieb ihn voran. Vor seinen Augen tanzten Schneewirbel und er fühlte sich wie in

einem endlosen Nebelmeer. Er konnte nur wenige Schritte weit sehen. Thorin musste sich deshalb ganz auf den Instinkt seines Pferdes ver­lassen.

Plötzlich wieherte das Tier laut auf. Schon einen Atemzug später geriet es ins Taumeln. Thorin riss an den Zügeln, versuchte das Schlimmste zu verhindern, doch das Pferd gehorchte ihm nicht mehr. Stattdessen spürte er, wie die Vorderhufe einbrachen. Das Tier strau­chelte. Thorin versuchte sich im Sattel festzuhalten, doch es misslang ihm. Das Pferd wieherte nochmals, bevor es dann weiter einknickte und Thorin nach vorn gerissen wurde.

Der stürzende Körper des Pferdes vermischte sich mit einer gigan­tischen Schneewolke. Thorin selbst fiel so unsanft vom Pferd, dass er von Glück reden konnte, dass er sich bei diesem harten Sturz nicht einige Knochen gebrochen hatte. Für eine winzige Ewigkeit spürte er Schneemassen auf seinem Körper, ruderte deshalb wild mit den Ar­men, um sich Luft zu verschaffen. Es gelang ihm auch, aber wirklich im letzten Augenblick!

Schließlich versuchte er sich wieder zu erheben und stöhnte leise, als er den Schmerz an der Hüfte verspürte. Zumindest eine Prellung schien er sich doch zugezogen zu haben. Und noch immer schneite es unaufhörlich.

Irgendwo weiter vor sich im Sturm hörte Thorin das schrille Wie­hern seines Pferdes. Panik erfasste den Nordlandwolf, als er daran dachte, dass das Tier sich bei diesem plötzlichen Sturz vielleicht ver­letzt hatte. Dann war er wirklich in einer schlimmen Lage. In diesem heftigen Schneesturm würde er nicht lange überleben...

Thorin kämpfte sich vorwärts in die Richtung, wo er das Wiehern vernommen hatte. Wenig später erkannte er die Konturen des Pferdes im wirbelnden Schnee. Sofort griff er nach den Zügeln, während er mit der anderen Hand das Tier zu beruhigen versuchte.

Er murmelte einige Worte dicht am Ohr des Pferdes, aber sie wur­den vom heulender Wind fast vollständig verschluckt. Er hatte es nur seinen Händen zu verdanken, dass sich die Panik des Pferdes nicht

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noch mehr steigerte indem er dem Tier über Nüstern und Ohren strich, beruhigte er es schließlich soweit, dass es nicht die Flucht ergriff.

Es war Wahnsinn gewesen, bei diesem Wetter die sicheren Täler zu verlassen und in die Berge zu reiten. Thorin begriff das jetzt und deshalb überlegte er fieberhaft nach einer Möglichkeit, diesem hölli­schen Sturm so schnell wie möglich zu entfliehen. Alles was er brauch­te, war ein sicherer und trockener Unterschlupf, wo Thorin so lange ausharren konnte, bis wenigstens dieser Eiswind nach ließ.

Thorin stieg wieder in den Sattel und überließ es diesmal dem Pferd, sich den richtigen Weg zu suchen. Er trieb das Tier auch nicht mehr an, denn das war wohl die Ursache dafür gewesen, dass es ge­stürzt war.

Er hob die rechte Hand, um sich vor der wirbelnden Eiskristallen wenigstens etwas zu schützen. Der Eispass lag noch in weiter Ferne, aber irgendwo in diesem bizarren Landstrich, der so einzigartig mar­kante Felsmassive hervorbrachte, musste es Schutz vor dem Schneesturm geben.

Er lenkte das Pferd noch tiefer zwischen die Felsen, weg von der Ebene und spürte, dass nun das Heulen des Windes wenigstens etwas abflaute. Trotzdem blieb die eisige Kälte des Winters und Thorin spür­te, wie sehr er sich nach einem warmen Feuer sehnte.

Wahrscheinlich hatte er es nur Odan, seinem Schutzgott und dem natürlichen Instinkt des Pferdes zu verdanken, dass er schließlich auf den schmalen Einschnitt im Felsmassiv stieß.

Als er noch näher heran ritt, erkannte er schließlich den Eingang zu einer Höhle. Thorin zögerte keine Sekunde mehr. Er stieg vom Rü­cken des Pferdes und zog dann Sternfeuer aus der Scheide, denn er wusste nicht, ob in dieser Höhle ein wildes Tier lebte. Er würde es aber gleich erfahren. Mit dem mächtigen Götterschwert in der Rechten stapfte er durch den kniehohen Schnee zum Eingang der Höhle. Das Pferd zog er mit der Linken am Zügel mit sich. Das Tier spürte, dass sein Herr einen schützenden Unterschlupf gefunden hatte und folgte ihm willig.

Augenblicke später ließ das Toben des Sturmes fast ganz nach, als Thorin die Höhle betrat. Er wartete ab, bis auch das Pferd in Sicherheit

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war und schüttelte dann erst den Schnee ab, der sich in seiner Klei­dung festgesetzt hatte.

Die Höhle war zwar nicht groß, aber dafür umso höher. Sie lag in einem finsteren Zwielicht, aber es reichte aus, um Thorin erkennen zu lassen, dass sich kein weiteres Lebewesen in dieser Höhle aufhielt. Reiter und Pferd waren somit vorerst sicher.

Er wollte gerade das Pferd absatteln, als ein merkwürdiger Ton an seine Ohren drang, der irgendwo von draußen zu kommen schien und ihn zusammenzucken ließ. Es klang so, als wenn jemand kräftig in ein Horn stieß, um auf diese Weise ein Signal von sich zu geben.

Der blonde Krieger hielt in seinem ursprünglichen Vorhaben inne und wandte sich stattdessen wieder zum Eingang der Höhle. Draußen fiel immer noch dichter Schnee und er musste seine Augen gewaltig anstrengen, um in dieser weißen Hölle irgend etwas erkennen zu kön­nen.

Dann erblickte er die Gestalten in den wirbelnden Schneeflocken! Ein ganzer Reitertrupp war es. Thorin sah die dunklen Helme und Brustpanzer, die alle Reiter trugen und ihnen ein geheimnisvolles Aus­sehen verlieh. Die Helme bedeckten vollständig die Köpfe der Reiter. Nur der klirrende Trab drang zu ihm hinüber - die Reiter dagegen schwiegen, als sie nur wenige Schritte von seinem Unterschlupf ent­fernt vorbei ritten. Thorin erkannte nun auch, woher dieser lang gezo­gene Laut stammte, den er eben gehört hatte. Der erste der Reiter setzte jetzt nämlich wieder ein Horn an den Mund und blies hinein. Erneut erklang dieser merkwürdige Laut, der Thorin frösteln ließ - und diesmal trug die Kälte des Winters keine Schuld daran!

Bevor Thorin noch weitere Einzelheiten ausmachen konnte, waren die geheimnisvollen Reiter auch schon wieder seinen Blicken ent­schwunden. Der Nordlandwolf wischte sich über die Augen. War das ein Spuk der Götter gewesen? Diese dunklen Reiter hatten auf ihn wie Wesen aus einer anderen Welt gewirkt. Vielleicht war es sein Schicksal gewesen, dass er kurz vorher die Höhle gefunden hatte, denn sonst wäre er mit den Reitern zusammengestoßen.

Thorin erinnerte sich in diesem Moment daran, dass man sich über das Hochland von Andustan merkwürdige Dinge erzählte. Dieser ein­

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same Landstrich war nur schwach besiedelt und stellte somit ein Para­dies für Halunken und Plünderer dar, die auf Reisende lauerten, um ihnen dann den Garaus zu machen. Es war gut möglich, dass auch diese Reiter Finsteres im Schilde führten...

Mit gemischten Gefühlen ging er wieder ins Innere der Höhle, zu­rück zu seinem Pferd. Für die nächste Zeit würde er besser hier blei­ben und das Ende des Sturms abwarten. Hoffentlich hielt dieses dichte Schneetreiben aber nicht noch Tage an, denn Thorin hatte nicht viele Vorräte dabei. Schließlich hatte er nicht damit gerechnet, wie unbarm­herzig der Winter hierzulande war.

*

Irgendwann ließ das dichte Schneetreiben nach. Die dunklen Wolken am Himmel machten den ersten zögernden Sonnenstrahlen Platz. Auch der Wind war abgeflaut und das Unwetter hatte sich verzogen.

Thorin riskierte einen Blick hinaus ins Freie. Ein erleichtertes Lä­cheln huschte über seine markanten Gesichtszüge. Es sah ganz danach aus, als wenn er nun seinen Weg zum Eispass fortsetzen konnte. Des­halb sattelte er rasch sein Pferd und verließ die Höhle.

Die wärmenden Strahlen der Sonne taten ihm gut. Die furchtbare Kälte der letzten Stunden hatte seinen Körper ziemlich geschüttelt, aber jetzt fühlte er sich sichtlich wohler, als er hinauf zum blauen Himmel sah.

Während der letzten Stunden war ziemlich viel Schnee gefallen. Das erschwerte natürlich das Vorwärtskommen, aber das Pferd hatte ebenfalls neue Kräfte gesammelt. Thorin gab ihm die Zügel frei und das Tier suchte sich weiter seinen Weg durch den Schnee. In der Fer­ne zeichneten sich die hohen bizarren Gipfel des Eisgebirges ab und genau die waren Thorins Ziel. Er hatte keine andere Wahl, wenn er rechtzeitig zum beginnenden Feldzug in Kh'an Sor sein wollte. Er durf­te sich einfach keinen weiteren Umweg erlauben, denn das kostete ihn nur unnötige Zeit.

Die Ebenen von Andustan lagen weit hinter ihm zurück. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit er zum letzten mal eine mensch­

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liche Ansiedlung gesehen hatte. Dieses Land war öde und menschen­leer. Wenn ihm hier etwas zustieß, dann war sein Schicksal besiegelt.

Der Pfad hinauf in die Berge war schmal. Zerklüftete schneebe­deckte Felsen erhoben sich zu beiden Seiten des engen Weges. Der Boden war hart vom Frost und glatt noch dazu. Das Pferd hatte große Mühe, vorwärts zu kommen, so dass Thorin schon sehr bald absteigen und das Tier am Zügel hinter sich herziehen musste. Noch ein weiteres Plateau musste er überwinden, dann hatte er das Eisgebirge erreicht - und wenn er Glück hatte, so konnte er in zwei Tagen auf der anderen Seite der Berge und somit am Ziel sein.

Als er den steilsten Teil des Pfades hinter sich und somit das erste Plateau erreicht hatte, saß er wieder auf. Das war der Augenblick, wo er plötzlich wieder diesen lang gezogenen Ton vernahm, der ihn be­reits während seines Aufenthaltes in der Höhle aufgeschreckt hatte. Diesmal klang er wieder nicht weit entfernt. Thorin beschloss, diesen Dingen nun auf den Grund zu gehen, denn sein Gefühl sagte ihm, dass es nun endgültig aus und vorbei war mit der Ruhe und Einsamkeit der abgeschiedenen Berge...

*

Die Reiter verharrten auf der Anhöhe und blickten hinunter in die Sen­ke, in der sich das kleine Dorf befand. Schweigen herrschte unter den dunkelgekleideten Männern. Nur das Schnauben der Pferde und das Knarren des Sattelleders durchbrach die Stille.

Die unheimlichen Reiter erschienen wie eine apokalyptische Vision der Finsternis. Mitleidlose leere Augen starrten aus dem schmalen Vi­sieren der geschlossenen Helme hinunter in die Senke. Die Hände be­fanden sich in der Nähe der Lanzen und Schwerter und es bedurfte nur noch eines weiteren Signals, bis sie angriffen. Sie waren gekom­men, um den Tod in das Bergdorf zu bringen und die unschuldigen Bewohner ahnten nichts davon.

Der Mann, der den Reitertrupp anführte, trug ebenfalls eine schwarze Rüstung. Seine breitschultrige Gestalt wurde ebenfalls von einem schwarzen Umhang verhüllt. Siegessicher blickte er hinunter auf

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das kleine Dorf, das das Ziel seiner finsteren Pläne war. Sein Name war Arian. In den Bergen von Andustan kannte man

ihn unter dem Namen Nachtherzog. Finstere Gerüchte umgaben die­sen Mann. Die Menschen in den Bergdörfern sprachen seinen Namen nur unter vorgehaltener Hand aus und beteten in stürmischen Nächten zu ihren Göttern, dass sie von den schwarzen Reitern des Nachther­zogs verschont wurden. Arian und seine unheimlichen Krieger - seelen­lose Kreaturen der Finsternis, die nur durch seine Magie lebten - waren eine schlimme Plage.

Jetzt stand ein weiterer Vernichtungsschlag gegen ein Bergdorf bevor. Noch wussten die Menschen da unten nicht, dass sich ihr Schicksal schon längst entschieden hatte. Noch fühlten sie sich ganz sicher im Schutze dieses abgelegenen Tales. Aber gegen den Nacht­herzog und seine Kreaturen der Hölle gab es keinen wirksamen Schutz!

Arian lächelte grausam. Er sah einige der Bewohner, die zwischen den einfachen Hütten ihrer Tätigkeit nachgingen. Keiner von ihnen rechnete jetzt mit einem Überfall. Der Nachtherzog drehte sich nun um zu seinen Reitern. Zehn an der Zahl waren es, die mit ihm die Dra­chenburg verlassen hatten und mit ihm auf Beutejagd gegangen wa­ren. Zehn reichten auch aus, um dieses Dorf in Schutt und Asche zu legen. Die schwarzen Reiter blieben stumm und warteten auf seinen Befehl. Sie hatten keinen eigenen Willen, denn nur Arians Zauberkräfte hielten sie am Leben, hauchten ihnen dämonische Kräfte ein. Der Nachtherzog war ein mächtiger Magier, der seine Stärke aus dem Reich der Finsternis schöpfte.

»Blast zum Angriff!«, rief er den Reitern zu. »Brennt das Dorf nie­der!«

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Mit monotonen Bewe­gungen riss eine von Arians Kreaturen das Horn an die eiskalten Lip­pen. Der durchdringende Ton wurde wenig später von den Felswänden als verzerrtes Echo zurückgeworfen.

Arian trieb als erster sein Pferd an und die zehn Reiter folgten ihm. Schnee stob unter den wirbelnden Hufen der Pferde auf, als die schwarzen Reiter hinunter in die Senke ritten. Und der Tod war ihr

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Begleiter...

*

Mara setzte den Korb ab und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Zu dieser Stunde herrschte in dem kleinen Dorf ein emsiges Treiben, denn nach dem heftigen Sturm galt es, die schlimmsten Schäden rasch auszubessern. Da musste eben jeder mithelfen. Auch das schlanke Mädchen mit den schwarzen Haaren trug ihren Teil dazu bei.

Sie wollte den Korb gerade wieder hochheben, als ihr Blick wie von einer Laune des Schicksals gelenkt plötzlich hinauf zur Anhöhe schweifte. Mara wurde leichenblass und der Korb entglitt ihren Hän­den, als sie die schwarzen Reiter sah. Ein gellender Schrei kam ihr über die Lippen, als sie das Hornsignal hörte.

»Der Nachtherzog!«, schrie sie voller Panik. »Die Reiter der Fins­ternis kommen!«

Nun erkannten es auch die anderen. Entsetzt und im ersten Mo­ment wie gelähmt richteten sich die Blicke der Menschen auf die apo­kalyptischen Reiter, die jetzt ihre Pferde antrieben und lospreschten. Mara sah sich um, aber sie erkannte nur angstverzerrte Gesichter.

Die Dorfbewohner rannten jetzt umher wie aufgescheuchte Hüh­ner. Eine einzige Stimme forderte die anderen auf, zu den Waffen zu greifen und sich zu wehren. Doch dieser Ruf verhallte ungehört. Zu groß war die Furcht vor dem Nachtherzog, der die Mächte der Finster­nis auf seiner Seite hatte.

Mara überwand ihren ersten Schock und stolperte vorwärts zu der Hütte, in der sie allein mit ihrem Großvater lebte. Der alte Eroch war der Schamane des kleinen Dorfes.

»Großvater!«, rief Mara, während sie in die schäbige Hütte stürm­te. »Wir müssen fliehen, sofort! Der Nachtherzog und seine Reiter greifen das Dorf an!«

Während sie das sagte, saß der Schamane auf einer Decke und blickte in die Flammen eines rauchlosen Feuers. Sein weißbärtiges Ge­sicht schimmerte geheimnisvoll im Schein der Flammen. Als Mara in die Hütte kam, wurde er von einem Augenblick zum anderen aus sei­

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nen Träumen gerissen. »Der Nachtherzog...«, murmelte er. »Also hat er unser Dorf doch

noch gefunden.« »Ja, Großvater«, antwortete Mara ungeduldig. »Aber sie werden

uns alle töten, wenn wir nicht schnellstens fliehen. Komm, Großvater - sonst ist es zu spät!«

Sie eilte auf den alten Mann zu und half ihm beim Aufstehen. Dann hasteten beide aus der Hütte hinaus ins Freie und bekamen mit, wie die dunklen Reiter in diesem Moment die ersten Behausungen des Dorfes erreicht hatten. Angstschreie erfüllten die Luft, während sich die dunklen Kreaturen auf die hilflosen Dorfbewohner stürzten. Mara sah fassungslos zu, wie ihre Freundin Layn von einem der Reiter ver­folgt wurde. Das Mädchen schrie laut um Hilfe und sie erkannte nun Mara und ihren Großvater, die in diesem Moment die Hütte verlassen hatten.

Natürlich wollte Mara instinktiv ihrer Freundin zu Hilfe eilen, doch der alte Schamane hielt sie am Arm fest.

»Nicht, Mara!«, rief er gehetzt. »Es bleibt keine Zeit mehr dafür. Der Nachtherzog kennt keine Gnade...«

Eroch riss das schwarzhaarige Mädchen mit sich, während ihn sei­ne schwachen Beine durch den Schnee trugen. Seine Enkelin sah zu­rück und erkannte mit Entsetzen, dass der dunkle Reiter Layn nun eingeholt hatte. In seinen Händen hielt er eine große Lanze und zielte mit ihr nach dem hilflosen Mädchen.

Mara schloss die Augen, während Layn von der Lanze aufgespießt wurde. Aber für Trauer blieb jetzt keine Zeit mehr. Schließlich ging es um ihr eigenes Leben, das sie retten wollten. Der alte Mann und das Mädchen liefen so schnell sie konnten. Eroch stützte sich dabei auf einen knorrigen Stock, der ihm das Vorwärtskommen im Schnee etwas erleichterte.

»In die Berge!«, rief er seiner Enkelin zu. »Mara, wir müssen in die Berge!«

Das Mädchen begriff, was ihr Großvater damit sagen wollte. Das Dorf war nicht mehr zu retten. Bereits jetzt schon schlugen die ersten Flammen aus den armseligen Hüttendächern empor und immer wieder

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waren die Hilfeschreie der unglücklichen Menschen im Dorf zu hören, die sich gegen die Übermacht von Arians Kreaturen zu wehren ver­suchten. Aber das gelang ihnen natürlich nicht. Die Krieger des Nacht­herzogs waren unheimliche Kämpfer und dem konnten die einfachen Menschen nichts entgegensetzen.

Der dunkle Reiter, der Layn getötet hatte, stürmte jetzt zwischen zwei Hütten hindurch. Zufällig fiel sein Blick auf die beiden Flüchten-den. Sofort ließ er die Beute fallen, der er eben noch seine Aufmerk­samkeit geschenkt hatte.

»Er hat uns gesehen, Großvater!«, schrie Mara und wurde bleich. »Jetzt verfolgt er uns!«

Eroch hielt inne, drehte sich hastig um. Die Anstrengung hatte sein Gesicht gezeichnet. Das Alter forderte nun seinen Tribut. Seine Hände zitterten und doch wollte er noch nicht aufgeben. Denn es ging auch um Maras Leben. Sie durfte nicht in die Hände dieser Kreaturen fallen, sonst stand ihr ein schlimmes Ende bevor.

»Lauf weiter, Mara!«, rief er ihr zu. »Ich werde versuchen, den schwarzen Teufel irgendwie aufzuhalten. Nun lauf doch schon, Mäd­chen!«

Ungläubig blickte ihn Mara an. »Großvater, du darfst dich nicht opfern. Du kannst doch nicht...« »Ich habe mein Leben hinter mir«, schnitt ihr der alte Schamane

heftig das Wort ab. »Jetzt geht es nur noch um dich. Du kennst doch die Höhlen am Eispass. Dort versteckst du dich. Sieh doch, da drüben rennen Derwan und Marth. Du bist also nicht ganz allein - und nun lauf!«

Die letzten Worte kamen ihm hastig über die Lippen. Da begriff Mara, dass ihr keine andere Chance mehr blieb. Aufschluchzend lief sie los, bahnte sich einen Weg durch den tiefen Schnee, während der alte Eroch auf der Stelle verharrte. Seine gichtigen Hände richteten den Knotenstock zum Himmel empor. Mit lauter Stimme flehte er die Göt­ter der Berge an, ihm zu helfen. Aber der dunkle Reiter kam immer näher...

*

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Thorin sah die schwarzen Rauchwolken, noch bevor er die Spitze des Hügels erreicht hatte. Augenblicke später trug der Wind die verzweifel­ten Hilfeschreie von Menschen zu ihm empor und er hörte das schrille Wiehern von Pferden.

Irgendwo dort drüben schlug der Tod erbarmungslos zu und die­jenigen, die es betraf, waren machtlos dagegen. Sofort riss Thorin mit einer geschmeidigen Bewegung Sternfeuer aus der Scheide auf seinem Rücken und drückte gleichzeitig seinem Pferd die Hacken in die Wei­chen. Er wusste zwar nicht, was ihn nun erwartete, aber dort waren Menschen in Not, die seine Hilfe brauchten.

Wenig später sah er die brennenden Hütten des Bergdorfes. Seine Augen nahmen einen harten Glanz an, als er sah, wie schwarz geklei­dete Reiter zwischen den Hütten wüteten und dort ein Bild des Schre­ckens anrichteten. Menschen starben unter den Schwertern und Lan­zen. Thorin begriff angesichts dieser Gewalt nicht, woher diese Halun­ken das Recht nahmen, ein einsames Bergdorf einfach auszulöschen.

Er lenkte das Pferd hinunter in die Senke und hielt Sternfeuer hoch empor. Im selben Moment erkannte er das schwarzhaarige Mäd­chen, das auf ihn zu rannte wie ein gehetztes Stück Wild. Immer wie­der blickte sie hinter sich, als wenn eine Horde bösartiger Teufel ihr folgten. Jetzt erst erkannte sie den blonden Nordlandwolf und stoppte ihren Lauf. Zuerst schrie sie laut auf, als sie den hünenhaften Krieger mit dem Schwert in der Hand näher kommen sah. Erst dann schien sie zu begreifen, dass Thorin nicht zu diesen Mordbrennern gehörte.

»Helft uns, Fremder!«, rief sie verzweifelt und wies mit der Hand hinter sich. »Der dunkle Reiter... mein Großvater ist viel zu schwach, um ihn aufzuhalten...« Sie hielt in ihrem Redeschwall inne, weil sie ganz außer Atem war.

»Lauf dort drüben zu den Felsen, Mädchen!«, rief ihr Thorin zu. »Ich werde deinem Großvater helfen.« Er verlor keine weiteren Worte mehr, sondern handelte unverzüglich.

Während er weiter hinunter in Richtung Dorf ritt, erblickte er die dürre Gestalt des weißbärtigen Schamanen, dessen Gewand vom Wind hin- und hergewirbelt wurde. Er sah auch, wie der Alte verzweifelt

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versuchte, die drohende Gefahr von sich abzuwenden. Wahrscheinlich betete er zu seinen Göttern. Aber es mussten schlechte Götter sein, denn sie verhüllten ihr Haupt und halfen ihm nicht. »Rette dein Leben, alter Mann!«, schrie ihm Thorin zu, als er ihn fast schon erreicht hatte. »Ich werde für dich kämpfen. Das Mädchen wartet oben bei den Fel­sen auf dich!«

Falls der alte Mann wirklich überrascht über Thorins plötzliches Auftauchen war, so nahm der blonde Krieger das gar nicht mehr wahr. Denn nun fixierte er seinen Gegner, der mit gezogenem Schwert auf ihn zugeritten kam. Er trug die dunkle Rüstung seiner Gefährten und Thorin spürte die Gefahr, die von diesem Reiter ausging.

Er stieß den Kriegsruf der Nordlandwölfe aus und wartete ab, bis sein Gegner so nahe gekommen war, dass er einen ersten Hieb wagen konnte. Das scharfe Schwert des dunklen Reiters zielte nach Thorins Brust, als die beiden aufeinander prallten, aber dieser konnte sich im letzten Moment noch im Sattel ducken und entging so dem tödlichen Stoß des dunklen Reiters.

Nun teilte Thorin einen Hieb aus, zielte nach dem Halsansatz des Gegners. Sternfeuer traf auch das Ziel. Dieser Hieb hätte eigentlich das Ende des dunklen Reiters bedeuten müssen. Doch nichts geschah. Stattdessen glühte Sternfeuers Klinge rötlich auf - ein Zeichen dafür, dass hier Kräfte der Finsternis am Werk waren.

Zwar wankte der dunkle Reiter kurz im Sattel, aber dann schwang er erneut seine tödliche Waffe. Thorin kam ihm jedoch zuvor und ver­abreichte ihm einen zweiten Hieb, der diesmal den Helm des Gegners traf.

Der dunkle Reiter zitterte plötzlich und das Schwert entglitt seinen Händen. Thorin wusste, dass er jetzt nur diese eine Chance hatte und die musste er nutzen.

»Dein Blut für Odan!«, schrie der blonde Hüne und holte zu einem alles vernichtenden Hieb aus. Sternfeuer bohrte sich tief in die Brust des Gegners und durchschnitt schließlich die gepanzerte Rüstung mit Leichtigkeit. Thorin riss das Götterschwert nur einen Atemzug später wieder zurück und sah mit Genugtuung den Feind vom Pferd stürzen. Dumpf schlug er im Schnee auf und rührte sich nicht mehr.

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Nachdenklich blickte Thorin auf den Toten. Dreimal hatte er zu­schlagen müssen, bis er den Reiter besiegt hatte - und das, obwohl Sternfeuer eine mächtige Waffe war, die nicht von dieser Welt stamm­te. Was waren das nur für Wesen, die so lange einer solchen Waffe trotzen konnten?

Thorin hatte keine Zeit mehr, noch länger darüber nachzudenken, denn mittlerweile war er von den Gefährten des Toten entdeckt wor­den. Während er mit dem dunklen Reiter einen Kampf auf Leben und Tod ausgetragen hatte, war man im brennenden Dorf Zeuge dieser Auseinandersetzung geworden. Einer der Reiter, der einen wallenden Umhang um seine Schultern trug, stürmte jetzt mit gezogener Klinge auf Thorin zu und der Nordlandwolf hörte den grässlichen Fluch hinter dem Helm des Gegners.

»Komm nur näher, du elender Mörder!«, rief Thorin dem Reiter entgegen, den er für den Anführer dieser Meute hielt. »Ich werde dich zur Hölle schicken - wo du hingehörst!«

Ein grollendes Lachen drang an Thorins Ohr, während der un­heimliche Gegner seine Waffe schwang. Aus den Augenwinkeln er­kannte Thorin, dass mit weiteren Gegnern im Moment nicht zu rech­nen war.

Offensichtlich wollte der Anführer mit Thorin allein fertig werden und hatte deshalb seinen Leuten befohlen, die bereits begonnene Plünderung des Dorfes fortzusetzen.

Sekunden später stießen die beiden Gegner aufeinander. Stahl schlug gegen Stahl und wieder wurde die Klinge Sternfeuers von ei­nem rötlichen Glühen erfasst. Das Schwert des dunklen Reiters dage­gen versprühte grelle Funken. Also war diese Klinge ebenfalls ein be­sonderes Schwert, dessen Kräfte sich nun gegen Thorin und sein Schwert Sternfeuer richteten.

Erneut griff der Feind an. Deshalb riss Thorin seine Waffe hoch, um den Ansturm des Gegners abzuwehren. Doch der dunkle Reiter ahnte Thorins Absicht schon und versuchte, dem blonden Krieger ei­nen tödlichen Stich zu versetzen. Thorin konnte dem gerade noch in letzter Sekunde ausweichen.

Sternfeuer und die Klinge des Feindes waren es, die den eigentli­

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chen Kampf ausfochten. Die Waffe des schwarzen Reiters schien jetzt immer stärker zu werden. Sternfeuer verlor dagegen an Leuchtkraft und die Anzahl der grellen Blitze der gegnerischen Waffe nahm umso mehr zu.

Jetzt streifte ihn das Schwert des dunklen Reiters schmerzhaft an der Hüfte. Er verbiss das Feuer, das die Wunde nun in ihm auslöste und versuchte stattdessen, den Gegner zu schwächen. Aber der dunk­le Reiter war ein geschickter Kämpfer. Er wehrte den Hieb des blonden Kriegers ab und als diesmal die beiden Klingen zum wiederholten Male aufeinander trafen, erfüllte ein harter Donnerschlag die Luft. Gleichzei­tig erlosch das Leuchten, das von Sternfeuer ausging, von einem A­temzug zum anderen.

Thorin blickte fassungslos auf die geborstene Klinge in seiner Hand. Sternfeuer ist besiegt, schoss es ihm voller Panik durch den Kopf. Der dunkle Reiter lachte aus vollem Halse, als er Thorins hilflose Blicke sah. Er wusste, dass seine Klinge die stärkere war - und nun würde er den Kampf endgültig entscheiden! Auch Thorin begriff die Ausweglosigkeit seiner Situation und deshalb blieb ihm nur noch eine Möglichkeit - nämlich ganz schnell sein Heil in der Flucht zu suchen.

Er riss sein Pferd hart an den Zügeln herum und trieb es an. Wind kam auf, der ihm ins Gesicht peitschte, während das Pferd davon stürmte. Jedoch machte der dunkle Reiter gar keinen Versuch, seinem fliehenden Gegner nachzusetzen. Stattdessen lachte er schrecklich laut über die Niederlage des blonden Kriegers.

Bittere Gedanken erfüllten Thorin, als er vom Ort des Grauens flüchtete und sich dabei kurz im Sattel umdrehte. Alles, was er noch sah, war die drohende Gestalt des dunklen Reiters, der sein Schwert triumphierend gen Himmel emporreckte und dessen Lachen noch in Thorins Ohren dröhnte.

Wie war es möglich, dass Sternfeuer diesen Kampf verloren hatte und dabei sogar zerstört worden war? Schließlich war die Klinge doch von den Göttern selbst geschmiedet worden. Bedeutete dies vielleicht, dass die Götter keine Macht mehr über die Finsternis hatten? Stand das Ende der Welt bevor, die von den dunklen Mächten verschlungen wurde? Das waren Fragen, auf die Thorin in diesem Moment keine

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Antwort fand...

*

Mara wagte sich nicht zu rühren. Sie hatte sich eng zwischen die Fel­sen gepresst, obwohl sie erbärmlich fror. Ihr dünnes Kleid war kein Schutz gegen die Kälte und in ihren Händen hatte sie kaum noch Ge­fühl.

Vorsichtig hob sie den Kopf und spähte hinab ins Tal, wo sich ihr Leben und das der übrigen Bewohner innerhalb weniger Augenblicke von Grund auf verändert hatten...

Rauchwolken stiegen zum Himmel auf. Das Dorf brannte lichterloh und Mara wusste, dass dies kaum jemand überlebt haben konnte. Sie dachte an ihren Großvater, der sich dem dunklen Reiter in den Weg gestellt hatte. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Ob der alte Schamane noch am Leben war, oder hatten ihn die grausamen Mörder ebenfalls umgebracht?

Dann hörte sie auf einmal dumpfe Hufschläge. Sofort duckte sie sich wieder hinter die Felsen, riskierte aber trotzdem einen kurzen Blick in die Richtung, wo sie die Hufschläge vernommen hatte.

Es war der fremde Reiter, der so plötzlich aufgetaucht war. Und im Sattel hinter ihm saß Eroch, ihr Großvater. Grenzenlose Erleichte­rung ergriff Mara, als sie sah, dass Eroch noch am Leben war. Jetzt hielt sie es in ihrem Versteck nicht mehr aus, sondern erhob sich has­tig und lief ihrem Großvater entgegen. Der alte Schamane seufzte auf, als er seine Enkelin erkannte und ließ sich von dem Fremden beim Absteigen helfen. Kurz darauf hielt er Mara in seinen Armen und strich ihr mit den Händen beruhigend durch die langen Haare.

»Großvater, du lebst!«, rief das Mädchen und war dem Weinen nahe. Sie klammerte sich an den alten Mann, als wolle sie ihn nie mehr loslassen. »Ich habe nicht mehr geglaubt, dich wieder zu sehen - und jetzt...«

»Es wird alles gut, Mara«, flüsterte Eroch mit beruhigender Stim­me. »Wir verdanken dem Fremden hier unser Leben. Er erschlug einen der dunklen Reiter, musste dann aber selbst fliehen.«

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Mara warf dem Fremden einen dankbaren Blick zu. Sie sah sein markantes Gesicht, das von Entschlossenheit und starkem Willen ge­kennzeichnet war. Gleichzeitig aber bemerkte sie auch die Sorgen, die die Augen des Mannes widerspiegelten. So als wenn er gerade etwas sehr Schlimmes erlebt hatte.

»Wir müssen weg von hier«, meldete sich der Fremde nun zu Wort und wandte sich an den Schamanen. »Alter, du hast von Höhlen in den Bergen gesprochen. Kannst du uns dorthin führen?«

Eroch nickte stumm. Wenig später brachen die drei Menschen auf in die Schneewelt der zerklüfteten Berge von Andustan, während hin­ter ihnen unten im Tal das Bergdorf in Schutt und Asche versank.

*

Es hatte wieder angefangen zu schneien und der Wind war stärker geworden. Eiskalt pfiff er draußen zwischen den Felsen.

Im hinteren Teil der Höhle flackerte ein kleines Feuer, mit dessen Flammen der Wind spielte. Das Feuer vertrieb die Kälte des harten Winters nur wenig, aber weder Eroch noch Mara spürten den eisigen Wind. Denn der Schock über das, was sie erlebt hatten, saß noch viel tiefer. Sie hatten alles verloren, ihren Besitz und die anderen Freunde, mit denen sie zusammengelebt hatten. Wie es nun weitergehen sollte, das wussten sie nicht.

Thorin saß ein Stück abseits von dem alten Mann und seiner Enke­lin und blickte gedankenverloren auf die geborstene Klinge seines Schwertes. Sternfeuer war unbrauchbar geworden, denn die Klinge wies bis zum Knauf einen breiten Riss auf.

»Du hast uns noch nicht deinen Namen genannt, Fremder«, riss ihn die Stimme des Mädchens aus seinen Gedanken.

Sie schien zu spüren, dass den blonden Krieger etwas bedrückte. Deshalb wollte sie mit ihm sprechen, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Weshalb hast du für uns gekämpft?«, wollte Mara nun von ihm wissen. »Die Reiter des Nachtherzogs haben bis jetzt jeden getötet, der sich ihnen in den Weg gestellt hat.«

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»Ich fürchte niemanden, Mädchen«, erwiderte Thorin und nannte nun seinen Namen. »Dort, wo ich herkomme, muss man sein Leben zu jeder Stunde verteidigen, denn das Land ist hart. Ich habe gelernt, mich zu behaupten, auch wenn Gefahr droht...« Seine Augen nahmen einen traurigen Glanz an, als er nun auf sein geborstenes Schwert blickte. »Bis jetzt war ich immer siegreich, denn diese Klinge hier ist eine besondere Waffe. Sie ist von den Göttern geschmiedet worden und hat mich immer beschützt. Aber jetzt...«

Er brach mitten im Satz ab, als er sich wieder an den schreckli­chen Moment erinnerte, wo die Klinge des Gegners Sternfeuer besiegt hatte.

»Gegen die Macht des Nachtherzogs Arian kommt kein Sterblicher an, Thorin«, ergriff nun der alte Schamane das Wort. »Arian ist ein Teufel. Mit seinen willenlosen Kreaturen beherrscht er die Berge und schon so manches Dorf wurde einfach ausgelöscht. Er haust in der Drachenburg in einem verborgenen Tal und von dort aus beginnt er seine Raubzüge. Diesmal war es unser Dorf, das er zum Ziel auserko­ren hat.«

»Herrscht er über die Mächte der Finsternis?«, fragte Thorin. »Sein Schwert versprühte grelle Blitze, als ich mit ihm kämpfte. Das müssen Dämonenkräfte sein.«

»So ist es«, bestätigte Eroch Thorins Vermutung. »Man erzählt sich, dass er diese Klinge direkt von den Herrschern der Finsternis er­halten haben soll. Damit soll die Erde unterjocht werden, Thorin. Du hast versucht, uns zu helfen und dafür danken wir dir. Aber dass dein Schwert unterliegen würde, das hätte ich dir gleich sagen können. Niemand kann Arian jemals besiegen, denn er ist kein Mensch, son­dern ein Teufel!«

In Thorins Augen blitzte es wütend auf, als er die Worte des alten Schamanen hörte.

»Das mag sein«, antwortete er nun. »Aber ich glaube und ver­traue meinen Göttern Odan, Einar und Thunor. Sie verhalfen mir zu meinem Schwert Sternfeuer - und ich kann nicht glauben, dass die Götter jetzt schweigen...« In kurzen Sätzen schilderte Thorin dem al-ten Mann und Mara, wie er in den Besitz der Götterklinge gekommen

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war und welche Abenteuer er seitdem erlebt hatte. Eroch und das Mädchen hörten dem blonden Krieger schweigend

zu. Als der Name des Donnergottes Thunor fiel, warf der Schamane seiner Enkelin einen raschen Blick zu. Thorin entging das natürlich nicht. Er wollte Eroch gerade darauf ansprechen, kam aber nicht mehr dazu, denn in diesem Moment waren draußen vor der Höhle Schritte zu hören. Sofort wirbelte Thorin herum, das geborstene Schwert griff­bereit. Wenn das aber die dunklen Reiter waren, dann war es zweck­los, sich zu wehren. Trotzdem wollte Thorin um sein Leben kämpfen, wenn jetzt Gefahr drohte. Egal wie aussichtslos es auch sein mochte. Das war der Augenblick, wo er die Umrisse von zwei Männern im Ein­gang der Höhle sah. Sie hatten keine Ähnlichkeit mit der bedrohlichen Erscheinung der dunklen Reiter. Als die beiden Gestalten ziemlich ent­kräftet in die Höhle stolperten, sprang Eroch auf.

»Derwan! Marth!«, rief er mit lauter Stimme und eilte auf die bei­den Männer zu. »Ihr habt es also auch geschafft, dieser Mörderbande zu entkommen!«

Die entkräfteten Männer warfen Thorin misstrauische Blicke zu, bevor sie sich schließlich am Feuer niederließen. Während sie sich aufwärmten, klärte Eroch die beiden auf, welche Rolle Thorin in diesen Auseinandersetzungen gespielt hatte und dass der alte Schamane und seine Enkelin es nur dem blonden Krieger zu verdanken hatten, dass sie überhaupt bis hierher gekommen waren.

Derwan, der größere der beiden Männer, sah Thorin nun mit an­deren Augen an.

»Was ist mit meiner Schwester?«, wandte er sich dann unvermit­telt an Mara. »Ich habe Layn aus den Augen verloren. Hast du sie flie­hen sehen, Mara?«

Schweigen herrschte für Sekunden in der Höhle, bevor das schwarzhaarige Mädchen die Frage Derwans beantwortete. Sie schlug die Augen nieder.

»Layn ist tot, Derwan...« Der Mann am Feuer zuckte zusammen. Seine Augen weiteten sich

ungläubig, als wolle er nicht wahrhaben, was er gerade gehört hatte. »Mara, du musst dich irren!«, rief er voller Verzweiflung. »Sag

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doch, dass es nicht wahr ist. Layn kann doch nicht...« »Es ist aber wahr, Derwan«, meldete sich nun der alte Schamane

zu Wort. »Ich habe gesehen, wie deine Schwester von einem der dunklen Reiter ermordet worden ist.«

Derwans Kehle entrang sich ein trockenes Schluchzen und er schämte sich seiner Tränen nicht. Mara ging sofort zu ihm und ver­suchte ihn zu trösten, aber der Schmerz über den Tod seiner Schwes­ter saß zu tief. Marth, sein Gefährte, blickte mit grimmiger Miene in die Flammen des Feuers, denn auch er hatte Angehörige verloren, die von Arians Geschöpfen getötet worden waren.

Thorin hatte sich bis jetzt zurückgehalten. Er hatte nicht das Recht, sich einzumischen. Die Bewohner des Bergdorfes hatten viel mitgemacht und mussten erst einmal wieder zu sich selbst finden.

Stumm blickte er hinaus in die Abenddämmerung. Die Sonne war vor kurzem hinter den Bergen versunken und noch immer stiegen dunkle Rauchwolken aus dem Tal bis hier hinauf. Thorin wandte sich erst ab, als er hinter sich Schritte hörte und dann sah, wie Eroch näher kam.

»Es muss hart für sie sein«, meinte Thorin mit einem kurzen Sei­tenblick zu Derwan und Marth. »Sie haben alles verloren und wissen nicht, was sie jetzt tun sollen...«

»Für mich zählt erst einmal, dass Mara noch am Leben ist«, erwi­derte der alte Schamane. »Sie ist alles, was ich noch habe. Derwan ist schlimmer dran. Er trauert sehr um seine Schwester.«

»Was ist mit den dunklen Reitern, alter Mann?«, fragte ihn Thorin, weil er sich darüber die ganze Zeit Gedanken gemacht hatte. »Ich bin immer noch nicht sicher, ob diese Höhle wirklich ein so gutes Versteck ist. Die Feinde könnten uns hier sehr schnell finden.«

»Warum sollten sie?«, stellte Eroch die Gegenfrage. »Arian weiß ganz genau, dass diese Handvoll Menschen für ihn keine Gefahr mehr darstellt. Er hat doch bekommen, was er wollte. Das Dorf hat er aus­geplündert und niedergebrannt. Die Handvoll Menschen, die mit dem Leben davongekommen sind, kümmern ihn nicht. Der Nachtherzog weiß sehr wohl, wie hilflos wir jetzt sind.«

»Wollt ihr euch denn alle mit eurem Schicksal so einfach abfin­

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den?«, fragte Thorin. »Ich habe auch etwas verloren - nämlich die Kraft meines Schwertes. Aber deshalb gebe ich nicht auf. Dieser Arian wird es bereuen, dass er Sternfeuer besiegt hat!«

»Du hast uns erzählt, dass diese Klinge von den Göttern stammt«, sagte Eroch, während er auf das geborstene Schwert sah und Thorin daraufhin nickte. »Du wolltest doch auf die andere Seite der Berge, wie du uns berichtet hast. Was weißt du eigentlich über das Land, das du durchquerst, Thorin?«

Thorin begriff nicht so ganz, was der Schamane mit dieser Frage bezwecken wollte.

»Ein einsamer Landstrich, viele zerklüftete Felsen mit einigen Bergdörfern«, antwortete er trotzdem. »Worauf willst du hinaus?«

»Woher solltest du es auch wissen?«, erwiderte Eroch. »Sieh hin­über zu den Bergen, wo die Sonne eben versunken ist. Dort über den Eispass führt der Weg nach Kh'an Sor. Aber nun schau zum Gipfel des höchsten Berges. Was kannst du erkennen?«

Thorins Blicke folgten dem Fingerzeig des alten Mannes. Das Ge­birge erhob sich steil und menschenfeindlich. Den Eispass zu dieser Jahreszeit zu überqueren - das würde keine leichte Aufgabe sein.

»Ich sehe den Gipfel verhüllt im dichten Nebel«, sagte Thorin un­geduldig. »Und was siehst du?« Die letzten Worte galten bewusst den seltsamen Andeutungen des Schamanen.

»In den Büchern meines Volkes steht eine Legende geschrieben, Thorin«, begann Eroch. »Sie berichtet von einem Ort hoch oben auf der Spitze des größten Berges. Man nennt diesen Ort die Schmiede der Götter...«

Thorin blickte Eroch bei diesen Worten sehr erstaunt an. Die Schmiede der Götter! Auch in den Überlieferungen seines Volkes er­zählte man sich davon. Ein Ort auf dem Dach der höchsten Berge der Welt - die Heimat von Thunor, dem Donnergott. Von hier aus überzog er den Himmel mit Blitz und Feuer, so berichteten es die alten Sagen. Von dort stammte auch Sternfeuer, die Klinge der Götter.

»Erzähl mir mehr«, forderte ihn Thorin auf. »Was weißt du noch?« »Ich erkenne, dass du dir Gedanken über dein Schwert machst,

Thorin«, fuhr der Schamane nun fort. »Natürlich hoffst du jetzt, dass

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diese Klinge wieder so wird wie sie einst war. Thunor, der Donnergott, ist auch bei meinem Volk bekannt. Nur in der Schmiede der Götter wirst du die Hilfe bekommen, die du suchst. Aber ich weiß nicht, ob Thunor deine Bitten erhören wird. Viele junge Menschen haben den Namen dieses mächtigen Gottes schon vergessen - nur noch die Alten kennen und fürchten ihn...«

»Wenn dies wirklich Thunors Götterschmiede ist, dann ist das mein Ziel«, erwiderte Thorin. »Die Götter gaben mir die Klinge - sie müssen mich einfach erhören.«

»Deine Worte zeigen mir, dass du Mut hast«, antwortete Eroch. »Aber noch nie zuvor ist es einem Sterblichen gelungen, zur Schmiede der Götter aufzusteigen, Thorin. Viele Gefahren lauern dort. Dieser Hort ist unerreichbar für uns Menschen. Der Donnergott ist zornig auf uns Sterbliche. Er hat sein Haupt verhüllt und lässt zu, dass die Mächte der Finsternis sich immer weiter ausbreiten. Du kannst versuchen, den Gipfel zu erklimmen aber weit kommst du nicht. Entweder wirst du abstürzen oder schrecklichen Eisungeheuern zum Opfer fallen. Davon erzählen jedenfalls die Legenden. Diese Ungeheuer beschützen den Götterhort und töten jeden, der so versessen ist, es trotzdem zu ver­suchen.«

»Ich wage es dennoch«, sprach Thorin. »Nur mit einer neu ge­schmiedeten Klinge habe ich eine Chance, den Nachtherzog und seine dunklen Reiter zu besiegen. Ich kann einfach nicht glauben, dass es einen Gott gibt, der zusieht, dass die Bergwelt von solchen Mördern bevölkert wird und die Menschen ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Das muss ein Ende haben, Eroch!«

Der alte Schamane erwiderte nichts darauf, denn die Furcht über den grausamen Überfall des Nachtherzogs und seiner Kreaturen über­schattete jeden weiteren Gedanken.

»Ich werde für dich beten, Thorin«, sagte er leise. »Aber jetzt komm wieder hinüber zu uns ans Feuer. Die Nacht ist noch lang und der Wind ist kalt. Du wirst die Wärme des Feuers vermissen, wenn du dich auf den Weg zur Götterschmiede machst...«

*

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Am nächsten Morgen ließ die klirrende Kälte der vergangenen Nacht etwas nach. Die Morgensonne überschüttete die winterliche Felsenwelt mit ihren wärmenden Strahlen. Der Zeitpunkt war für Thorin gekom­men, nun aufzubrechen und das zu tun, was er letzte Nacht beschlos­sen hatte.

Eroch, seine Enkelin Mara sowie Derwan und Marth hatten be­schlossen, sich bis ins Nachbartal durchzuschlagen, wo ein befreunde­ter Volksstamm lebte, der sie sicherlich aufnahm. Mara hatte Thorin fassungslos angesehen, als ihr Großvater von Thorins Plan erzählt hat­te, den Aufstieg zur Schmiede der Götter zu wagen.

Schließlich war nun der Moment gekommen, wo es Abschied nehmen hieß. Marth, der mit Thorin nur wenige Worte gewechselt hatte, ging nun auf den blonden Krieger zu und drückte ihm sein kur­zes Breitschwert in die Hand.

»Eroch hat mir gesagt, was du vorhast«, sagte er. »Nimm deshalb mein Schwert, bis du dein Ziel erreicht hast. Ich weiß, dass es nicht viel ist, was ich für dich tun kann - aber das Schwert ist immer noch besser als deine geborstene Klinge.«

Thorin war im ersten Moment überrascht von dieser Geste. Dann aber hielt er das Breitschwert prüfend in den Händen. Zweifellos war es gut geschmiedet, aber gegen eine Klinge wie Sternfeuer war es natürlich nur ein dürftiger Ersatz. Trotzdem war es eine Waffe, mit der er sich im Gefahrfall wehren konnte.

»Ich danke dir, Marth«, murmelte er und drückte die Hand des Mannes. »Ich werde deine Klinge in Ehren halten.«

Marth winkte nur ab. »Der Weg ins Nachbartal ist nicht beschwerlich«, meinte er.

»Deshalb kann ich auch auf meine Waffe jetzt verzichten. Außerdem hat Derwan ja noch eine Waffe...«

Damit war alles gesagt. Er wandte sich ab und ging wieder zurück zu den anderen. Der Abschied war kurz. Thorin warf Mara noch einen kurzen Blick zu, bevor er in den Sattel seines Pferdes stieg und ihm die Hacken in die Weichen drückte. Er spürte die bewundernden Blicke des schwarzhaarigen Mädchens in seinem Rücken. Wahrscheinlich

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hatte Mara bisher noch nie solch einen Krieger wie Thorin getroffen und wenn er länger geblieben wäre, so hätte er ihr Herz sicherlich im Sturm erobern können. Doch das waren Dinge, die jetzt nicht zählten. Thorins Gedanken kreisten ausschließlich um Sternfeuer und eine mögliche Hoffnung, dass es eine Rettung für die Götterklinge gab.

Er drehte sich nicht mehr im Sattel um, als er das Tier in Richtung Eispass dirigierte. Im Stillen wünschte er Eroch und seinen Leuten, dass sie nun sicher vor Arians Kreaturen waren, wenn sie das Nach­bartal erreicht hatten. Er selbst dagegen hatte aber dem Nachtherzog Rache geschworen. Rache dafür, dass Arians Höllenklinge Sternfeuer zum Bersten gebracht hatte...

*

Steil erhoben sich die schneebedeckten Gipfel der rauen Berge im Morgenhimmel. Die wärmende Sonne, die noch vor kurzem das Land mit ihren hellen Strahlen überzogen hatte, war nun einer dichten Wol­kendecke gewichen und der Wind, der jetzt von Norden wieder auf­kam, wurde heftiger, je höher Thorin kam.

Der blonde Krieger fror trotz des dichten Bärenfells, das er trug. Seine Augen richteten sich auf den majestätischen Berg weiter oben, dessen Spitze halb in den dichten Wolken verschwunden war. Dort oben lag sein Ziel die Schmiede der Götter.

Das Pferd bahnte sich mühsam einen Weg durch den tiefen Schnee, der die Hochebene bedeckte. Aber bald säumten massive Gletscher aus Eis den Pfad, dem der einsame Reiter folgte - das erste Zeichen dafür, dass die Hochebene hier zu Ende war und die Bergwelt begann.

Da das Tier immer größere Schwierigkeiten hatte, vorwärts zu kommen, stieg Thorin ab und führte es am Zügel mit sich. Schritt für Schritt ging er weiter. Es war mühsam für Mensch und Tier, aber sie kamen voran - auch wenn das viel Zeit kostete.

Weiter vorn führte der schmale Pfad in einigen Windungen weiter nach oben. Thorin fragte sich im stillen, ob die Gefahren, von denen der alte Schamane gesprochen hatte, wirklich waren. Er selbst hatte es

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sich eigentlich noch viel mühsamer vorgestellt, den Berg zu erklimmen. Aber solange er diesem Pfad folgen konnte, umso weniger Mühe wür­de er haben.

Auf einmal hörte er ein leises Donnergrollen, dem er zuerst keine Bedeutung schenkte. Beim zweiten mal gewann das Donnern an Stär­ke und ließ ihn unwillkürlich innehalten. Thorin blickte hinauf zum Berg und wurde blass, als er dann die gewaltigen Schnee- und Eismassen sah, die sich vom Gletscher gelöst hatten und hinunter ins Tal stürzten - allerdings genau in seine Richtung!

Thorin riss das vor Schreck aufwiehernde Pferd hart am Zügel zu­rück. Denn das Tier hatte auch schon gespürt, dass tödliche Gefahr drohte. Es stieg mit den Vorderläufen hoch und keilte aus. Die Zügel entglitten Thorins Händen.

Der Nordlandwolf hatte gerade noch Zeit genug, um zu einem ü­berhängenden Felsen zu rennen, bevor ihn die Schneelawine eingeholt hatte. Dieser Felsen erschien ihm stark genug, um ihm Schutz zu bie­ten. Während sich Thorin keuchend unter dem überhängenden Felsen duckte, versank um ihn herum die Welt in einem weißen Chaos aus Schnee und Eis. Er erhaschte noch Sekunden vorher einen kurzen Blick auf sein Pferd, das von der gewaltigen Lawine erfasst und einfach ver­schlungen wurde. Der Todesschrei des Tieres ging im Lärm der Eis­massen unter.

Thorin wagte sich nicht zu rühren und betete zu seinen Schutzgöt­tern, dass sie ihn jetzt noch einmal verschonten. Er war seinem Ziel schon so nahe und er wollte einfach noch nicht sterben.

Wie lange er im Schutz des überhängenden Felsens verharrte und abwartete, bis der Lärm der ins Tal stürzenden Lawine endlich nach­ließ, konnte er nicht sagen. Aber irgendwann ließ das Tosen der Schneemassen nach und die Sicht wurde allmählich wieder frei. Thorin wagte sich aber immer noch nicht unter dem Felsen hervor und blickte erst einmal misstrauisch hinauf zum Berg. Aber es kamen keine weite­ren Lawinen mehr. Der Berg war jetzt verstummt.

»Ihr Götter...«, murmelte Thorin, denn jetzt wurde ihm erst so richtig bewusst, wie knapp er eigentlich dem Tod entronnen war. Sein Pferd dagegen hatte kein Glück gehabt - die Lawine hatte das Tier

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mitgerissen! Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als den Rest des Weges zu

Fuß fortzusetzen. Das machte das Vorhaben natürlich nicht leichter, aber Thorin war kein Mann, der in solch einer Situation aufgab.

Er wollte gerade weitergehen, als er plötzlich in einiger Entfernung eine hünenhafte Gestalt erspähte. Zuerst erschien sie ihm sehr ver­schwommen und nebelhaft, dann aber zeichnete sie sich klar und deutlich vor seinen Augen ab. Es war ein großer Krieger in einem lan­gen Umhang. Auf seinem Kopf saß ein Helm, wie ihn die Nordmänner trugen. Eisgraues Haar und ein langer Bart bedeckten sein hartes Ge­sicht. Trotz des Alters besaß der Krieger einen muskulösen und ge­stählten Körper. Die lange Lanze, die er in seinen nervigen Händen hielt, zeugte von der Kraft, die er besaß.

Thorins Hand zuckte unwillkürlich zur Hüfte, wo er sich Marths Breitschwert umgegürtet hatte.

»Wenn du kämpfen willst, dann komm nur näher!«, rief er dem Nordmann zu. Aber nur ein Lachen war die Antwort des Kriegers auf Thorins Herausforderung. Ein Lachen, das wie ein Donnergrollen klang.

»Ich will nicht mit dir kämpfen!«, rief er dann Thorin zu. »Der Berg ist es, den du bezwingen musst, nicht mich. Aber ich warne dich vor dem, was noch vor dir liegt. Kehr lieber um und vergiss, was du vorhast - dort oben wartet nur der Tod auf dich!«

»Nur Feiglinge kehren zurück«, erwiderte Thorin. »Mein Ziel ist die Schmiede der Götter und auch du wirst mich nicht daran hindern. Mach endlich den Weg frei oder kämpfe mit mir!«

Drohend richtete er das Breitschwert auf den hünenhaften Krie­ger, der sich immer noch nicht von der Stelle rührte. Stattdessen lach­te er erneut, diesmal sogar noch lauter und verächtlicher als beim ers­ten mal.

»Du würdest es tatsächlich wagen, mich zum Kampf herauszufor­dern!«, rief er. »Das zeugt von Mut und das gefällt mir. Nur deshalb will ich dir jetzt sagen, was dich auf dem Weg zur Bergspitze alles er­wartet. Sieh dort hinauf zur Felswand. Der Pfad, dem du jetzt folgst, endet schon bald. Du musst diese steile Wand erklimmen, bevor du

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deinen Weg fortsetzen kannst!« Thorins Blicke folgten dem Fingerzeig des graubärtigen Kriegers.

Er sah die steile Felswand und begriff, dass die Schwierigkeiten nun erst beginnen würden.

»Dieser Pfad führt durch die Nebelzone«, fuhr der Hüne nun fort. »Wenn du dort bist, warten die Eislöwen auf dich. Sie werden dich in Stücke reißen. Dein Weg ist dort zu Ende, falls du nicht schon vorher von der Felswand stürzt. Trotzdem sollst du noch erfahren, was nach der Nebelzone kommt. Dieses Wissen kannst du dann mit in den Tod nehmen. Zur Götterschmiede führt eine schmale Brücke aus Eis, die du überschreiten musst. Das wird dir aber nicht gelingen, das weiß ich. Trotzdem bist du seit langer Zeit der erste Sterbliche, der den Aufstieg überhaupt wagen will...«

Thorin hatte geschwiegen, während der Hüne ihm die Gefahren schilderte.

»Du kannst mich nicht einschüchtern, Graubart«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Willst du nun endlich kämpfen, oder machst du jetzt den Weg frei für mich?«

Wieder lachte der Graubärtige, als schien er sich über Thorins Herausforderung gewaltig zu amüsieren. Er hob die rechte Hand.

»Der Weg ist frei für dich!«, rief er. »Geh nur und wage den Auf­stieg. Bete zu deinen Göttern - vielleicht erhören sie dich ja!«

Die letzten Worte des graubärtigen Kriegers wurden von einem plötzlich aufkommenden Wirbelwind verschluckt.

Schnee und Eiskristalle wurden in Thorins Gesicht geschleudert, so dass dieser einige Schritte zurückweichen musste. Seltsamerweise verschwand der Wind nun aber wieder so plötzlich wie er aufgekom­men war. Als Thorin dann auf die Stelle blickte, wo der graubärtige Krieger gestanden hatte, sah er nichts mehr. Die Gestalt war von ei­nem Atemzug zum anderen verschwunden - so als hätte sie nie exis­tiert...

*

Der Pfad war sehr schmal. Zu Thorins Linken fiel die Felswand steil ab.

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Ein falscher Tritt und er würde in die gähnende Tiefe stürzen und dort zerschmettern. Deshalb zwang sich Thorin, die Augen nur geradeaus zu richten. Er folgte den Windungen des Pfades, der weiter hinauf führte und schon bald hatte er die Stelle erreicht, vor der ihn der Krie­ger gewarnt hatte - dort, wo der Pfad ein plötzliches Ende fand.

Nun sah er mit eigenen Augen, wie gewaltig das Hindernis war, das sich vor ihm auftürmte. Aus der Ferne hatte er die steile Felswand zwar schon erkennen können. Aber erst jetzt, wo er unmittelbar davor stand, wurde ihm klar, wie schwer es sein würde, diese Felswand zu erklimmen.

Kerzengerade wuchtete die Wand in den Himmel empor. Es gab nur wenige Vertiefungen und Vorsprünge. Dieser Aufstieg würde seine ganzen Kräfte erfordern, aber er wollte es trotzdem wagen.

Die Hände tasteten nach einem Vorsprung genau über seinem Kopf, während sein Fuß nach einem zusätzlichen Halt suchte. Langsam zog er sich dann empor. So ging es weiter. Zuerst prüfte er, ob der Felsen auch sein Gewicht aushielt und erst danach tasteten seine Fin­ger nach einem weiteren Halt.

Auf diese Weise schaffte er es, nun schon drei Mannslängen hoch­zusteigen. Jetzt befand er sich bereits so hoch, dass es kein Zurück mehr für ihn gab, denn ein Sturz aus dieser relativ niedrigen Höhe würde schon schlimme Folgen haben. Deshalb kletterte er weiter ver­bissen nach oben und bemühte sich, nicht nach unten zu schauen.

Je höher er kam, umso glatter wurde die Felswand. Thorin ver­harrte deshalb in seiner mühseligen Stellung, um erst einmal Luft zu holen. Dann hielt er Ausschau nach einem geeigneten Halt, dem er das Gewicht seines Körpers anvertrauen konnte. Trotzdem vergingen lange Augenblicke, bis er schließlich die schmale Rinne über sich ent­deckte. Sie führte schräg nach oben und dort schien es auch genü­gend Halt für ihn zu geben. Nur musste er es erst einmal schaffen, sich bis dort hinauf zu ziehen.

Vorsichtig tastete er nach links. Seine Hand streckte sich nach ei­nem winzigen Vorsprung in der Wand. Schließlich umschlossen die Finger den erkalteten Stein. Genau in diesem Moment bröckelte der Felsen ab. Thorin geriet ins Taumeln, aber zum Glück hatte er sich mit

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der Rechten noch so gut festgeklammert, dass er den Sturz in die Tie­fe noch verhindern konnte. Keuchend hielt er inne. Das war knapp gewesen.

Gerade wollte er einen zweiten Versuch wagen, als er hoch über sich einen lauten und durchdringenden Schrei vernahm. Thorin hob den Kopf und was er dann sah, ließ ihn bleich werden. Er entdeckte einen großen Adler, der mit weit ausgebreiteten Schwingen genau auf ihn zuschwebte. Der Herrscher der Lüfte fühlte sich in seinem Reich von diesem Eindringling bedroht und deshalb zögerte er nicht, Thorin anzugreifen - mit seinen scharfen Krallen wollte er den Feind zerrei­ßen!

Thorin hatte zwar schon einmal gegen eine Schar Raubvögel ge­kämpft, als er damals auf der Suche nach Sternfeuer gewesen war. Aber jetzt hing er an einem schmalen Sims mitten in der Felswand und hatte fast keine Bewegungsfreiheit. Ob er sich so überhaupt wehren konnte?

Der Nordlandwolf hatte keine Zeit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn in diesem Moment stürzte sich der Adler auf ihn. Thorin sah die großen Schwingen, mit denen der Vogel wild um sich schlug, um seinen Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen. Sein scharfer Schnabel zuckte vor, zielte direkt nach Thorins Gesicht.

Geistesgegenwärtig riss er den linken Arm hoch und konnte dies­mal den zornigen Adler noch abwehren. Trotzdem streiften ihn die Klauen an der Schulter, rissen dort die Haut auf. Ein Stöhnen kam über Thorins Lippen, während der Adler zurückwich und in einem weiten Bogen einen zweiten Angriff startete.

Die Schulter und der Arm, mit dem er sich am Felsen festklam­merte, schmerzten. Aber Thorin konnte sich nicht um die blutende Wunde kümmern. Mühsam zog er das Breitschwert aus seinem Gürtel und umschloss es fest mit der Hand.

»Komm nur näher...«, murmelte er und sah mit einer Mischung aus Mut und Verzweiflung den heran fliegenden Adler, der sich schon einen Atemzug später erneut auf Thorin stürzte. Diesmal war Thorin allerdings besser gewappnet. Sein Schwert stieß vor und versetzte dem Vogel einen kräftigen Hieb, dass dieser Federn lassen musste.

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Aber damit gab sich der König der Lüfte noch lange nicht geschlagen. Er zog ab, aber nur um in einer weiten Schleife wiederzukommen.

Als er Thorin dann zum dritten mal angriff, ließ dieser die Klinge so gut kreisen, wie es seine augenblickliche Situation ermöglichte. Er wartete bis zum entscheidenden Moment ab, obwohl seine Nerven fast bis zum Zerreißen gespannt waren. Der Schnabel des Adlers befand sich schon in gefährlicher Nähe von Thorins Gesicht. Da stieß der Nordlandwolf mit der Klinge zu und er traf mitten ins Leben! Der To­desschrei des Adlers erklang, als ihn der kalte Stahl vernichtete. Die schlagenden Schwingen streiften noch ein letztes mal Thorins Kopf, richteten aber keinen Schaden mehr an.

Thorin riss sein Schwert zurück und sah nun, wie der Adler ab­stürzte und wie ein Stein in die gähnende Tiefe fiel, bis der Vogel ganz aus dem Blickfeld des Nordlandwolfs verschwand.

Erleichtert steckte Thorin sein Schwert wieder zurück und spürte jetzt erst so richtig den heftigen Schmerz in der Schulter. Er musste trotzdem weiter nach oben klettern, denn wenn er weiter Blut verlor, würde er schwächer werden. Dann war sein Ende ebenfalls besiegelt...

Seine Augen erblickten einen weiteren Felsvorsprung und den galt es nun zu erreichen. Dann sah er den kaminähnlichen Schacht, der genug Unebenheiten besaß, um dort besser hochklettern zu können. Thorin streckte sich und seine Hand erreichte die Rinne. Unter Aufbie­tung sämtlicher Kräfte gelang es ihm, diesen Punkt zu erreichen und von dort aus war es dann nicht mehr so schwer, in den Schacht zu gelangen. Eine halbe Ewigkeit später hatte er es dann geschafft.

Stück für Stück stemmte sich Thorin weiter nach oben. Er war er­leichtert darüber, dass er den schlimmsten Teil der Felswand hinter sich gebracht hatte. Den Rest würde er auch schaffen. Ermutigt durch seinen Sieg über den Adler zog er sich weiter nach oben und als er dann schließlich das Plateau erreichte, streckte er sich keuchend auf dem gefrorenen Boden aus, um erst einmal tief Luft zu holen.

Als er wieder etwas Kraft geschöpft hatte, griff er nach einer Handvoll Schnee und packte sie auf die immer noch blutende Wunde. Durch das Abkühlen ließ die Blutung nun etwas nach und der heftige Schmerz wich einem dumpfen Pochen. Nachdem er die Wunde not­

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dürftig gereinigt hatte, schnitt er sich einen Streifen aus dem Bärenfell und umwickelte damit den verletzten Arm. Mehr konnte er nicht tun und er hoffte, dass er kein Wundfieber bekam.

Erst nachdem er seine Wunde versorgt hatte, sah er sich um. Hier oben wirkten die vielen Felsen noch bizarrer als weit unten in der Ebe­ne. Ihm erschien es, als befände er sich in einer anderen Welt und im gewissen Sinne war es ja auch so. Hier oben, auf halbem Weg zum Gipfel, war er mit Sicherheit das einzige menschliche Wesen weit und breit. Die feindliche Eiswelt umgab ihn von allen Seiten und in Thorins Ohren klangen jetzt noch die Worte des graubärtigen Hünen an, der ihn vor dem Aufstieg deutlich gewarnt hatte.

Deshalb kniete er nieder und bedankte sich in stiller Demut bei seinen Schutzgöttern, dass sie ihn bis hierher geleitet hatten. Dann erhob sich der Nordlandwolf und setzte seinen gefährlichen Weg fort...

*

Zuerst war es nur ein feines weißes Gespinst, das ihn umgab, aber dann wurde es immer dichter. Die weißlichen Schleier wurden zu grauen dichten Nebelbänken, die ihm keinerlei Sicht mehr ermöglich­ten.

Der unheimliche Nebel ließ ihn nur noch ahnen, wo er sich jetzt befand. Er musste langsam weitergehen, damit er nicht doch noch vom schmalen Pfad abkam.

Verborgene Schlünde lauerten auf ihn, um ihn zu verschlingen. Der Nebel wirkte so bedrückend, dass Thorin Atemnot verspürte. Diese milchigen Schleier waren nicht das Werk der winterlichen Natur, son­dern mussten magischen Ursprung haben. Ein Grund mehr für den Nordlandwolf, jetzt besonders vorsichtig zu sein. Deshalb hielt er das kurze Breitschwert in der Hand, um sich so rasch wie möglich gegen plötzliche Gegner wehren zu können.

Der Pfad war glatt und eisbedeckt. Thorin wusste nicht, wie lange er schon diese Nebelzone durchschritt, als er glaubte, irgendwo seitlich vor sich ein Geräusch vernommen zu haben. Als wären es leise und geheimnisvolle Schritte, die sich ihm näherten.

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Thorin blieb stehen und lauschte in den Nebel hinein. Das war der Moment, wo er ein tiefes Knurren hörte, das ihn zusammenfahren ließ. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als sich plötzlich in den weißgrauen Nebelbänken die Umrisse einer Kreatur abzeichneten, die kräftig und gedrungen wirkte. Ein Fauchen entrang sich der gewaltigen Kehle und glühend rote Augen richteten sich auf den Mensch, der es gewagt hatte, in das Reich des Eislöwen einzudringen.

Thorin blickte in einen weit geöffneten Fangrachen, der mit mes­serscharfen Zähnen besetzt war. Geifer floss aus dem Maul des Eislö­wen und das war der Augenblick, wo das Tier mit einem gewaltigen Satz Thorin ansprang, um ihn in Stücke zu zerreißen.

Thorin hatte diese Absicht jedoch geahnt und geistesgegenwärtig sein Schwert hochgerissen. Die Waffe Marths traf den Löwen am Hals, prallte jedoch ab. Thorins Augen weiteten sich vor Schreck in diesem Moment, als er sah, dass diese Bestie kein normaler Löwe war. Sein ganzer mächtiger Körper bestand aus kaltem Eis!

Im gleichen Augenblick schoss die gewaltige Pranke des Eislöwen vor, aber Thorin hatte das noch kommen sehen und war deshalb mit einem Satz zur Seite gesprungen. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, schlug die Pranke der Bestie in den Schnee und ließ den Boden bis in den Grund erzittern.

Thorin ahnte, dass der Eislöwe so gut wie unverwundbar war. Wenn er Sternfeuer jetzt hätte einsetzen können, dann hätte er besse­re Chancen gehabt. Wieder zuckte der zähnefletschende Kopf des Eis­löwen nach vorn, der natürlich bemerkt hatte, dass ihm sein Opfer flink ausgewichen war. Diesmal streifte das Maul der Bestie Thorins linkes Bein, als dieser nicht schnell genug gewesen war, um sich er­neut in Sicherheit zu bringen. Ein heißer Schmerz erfasste den Nord­landwolf, als die Zähne des Eislöwen einen blutigen Riss in seinem Oberschenkel verursachten.

Thorin geriet ins Taumeln und stürzte nach hinten. Beinahe hätte er das Breitschwert fallen lassen, weil der Schmerz jetzt so stark war, dass bunte Kreise vor seinen Augen zu tanzen begannen. Trotzdem raffte er sich noch einmal auf und streckte die Klinge mit letzter Kraft dem Ungeheuer entgegen, das nun mit einem alles vernichtenden

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Prankenhieb Thorins Leben auslöschen wollte. Die scharfe Klinge traf das rechte rot glühende Auge des Eislöwen.

Die Bestie stieß nun einen fürchterlichen Schrei aus, als der beißende Schmerz sie schwächte. Thorin nutzte diesen Moment und setzte so­fort nach. Mit großer Überwindung, die ihn fast die letzten Kräfte kos­tete, bohrte er das Breitschwert in das andere Auge des Eislöwen und blendete ihn.

Das war das Ende des Ungeheuers. Seiner Sehkraft beraubt, hieb es noch einmal mit den gewaltigen Pranken durch die Luft, als wolle es den Gegner doch noch im letzten Augenblick erwischen. Aber dazu kam es nicht mehr. Der Eislöwe brach zusammen, blieb reglos im Schnee liegen.

Thorin stöhnte laut auf, als er sich schließlich mühsam erhob und mit der Waffe in der Hand dann zu dem Eislöwen hinüber humpelte. Um sich zu vergewissern, dass der Eislöwe auch wirklich tot war. Je­doch kam er nicht mehr dazu, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn auf einmal erklang weiter vorn im Nebel ein lang gezogenes Heu­len, das nur wenige Atemzüge später von einem zweiten durchdrin­genden Gejaule beantwortet wurde. Thorin zögerte keine Sekunde mehr, sondern beeilte sich, von hier zu verschwinden. Er biss die Zäh­ne zusammen und entfernte sich von dem Kadaver des getöteten Eis­löwen. Gerade noch rechtzeitig, um zu erkennen, wie einige schemen­hafte, hundeähnliche Wesen im Nebel auftauchten und sich dann auf den toten Eislöwen stürzten. Während Thorin weiterhastete, hörte er das Knurren und Lechzen, als sich die Tiere dann auf die tote Beute stürzten.

Der Nordlandwolf beeilte sich, von hier wegzukommen, denn die anderen Geschöpfe der Nebelzone schienen ihn in diesem Moment gar nicht zu beachten. Sie hatten genug mit dem toten Eislöwen zu tun - also war das für Thorin genau der richtige Moment, um das Weite zu suchen. Er war wirklich kein Feigling, aber jetzt hatte er nicht mehr genügend Kraft, um einen zweiten Kampf noch durchstehen zu kön­nen.

Unter Aufbietung sämtlicher Kräfte schleppte sich der angeschla­gene Nordlandwolf davon. Er hinkte vorwärts, immer höher, bis er die

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schmatzenden Geräusche der hundeähnlichen Wesen nicht mehr hö­ren konnte. Obwohl sein Körper vom Schmerz und der Erschöpfung gezeichnet war, trieb ihn sein Wille weiter voran. Ein anderer an seiner Stelle wäre vermutlich schon längst zusammengebrochen.

Er entfernte sich immer weiter vom Ort des Schreckens, bis er schließlich bemerkte, dass sich die Nebelschleier allmählich zu lichten begannen. Wenig später hatte er den dichten Nebel hinter sich ge­bracht.

Thorin schleppte sich auf einen Felsen zu, der ihm von drei Seiten Deckung gab. Dort sank er jetzt nieder, denn die Erschöpfung forderte nun ihren Tribut. Schon bald fielen ihm die Augen zu. Der Nordland­wolf fiel in einen tiefen und traumlosen Schlaf...

*

Der Schein eines flackernden Feuers warf bizarre Schatten an die rau­en Felsenwände. Tief aus dem Inneren des Berges erklangen häm­mernde Geräusche dumpf und hohl. Eine hünenhafte Gestalt mit grau­em Bart blickte gedankenverloren in die hellen Flammen, schweigend und abwartend. Erst dann sah er den anderen an.

»Es ist ihm gelungen, die Nebelzone hinter sich zu bringen.« In seiner Stimme klang eine Spur von Anerkennung mit. »Ich hätte es nicht vermutet, dass er es schafft. Er hat den Eiswolf getötet und ist nun vor den Wölfen geflohen. Jetzt ruht er unterhalb der Steinbarriere. Der Schlaf der Erschöpfung hat ihm die Sinne geraubt. Es wäre ein leichtes für mich, ihm jetzt das Leben zu nehmen...«

Sein Gegenüber, eine in ein kapuzenähnliches Gewand gekleidete Gestalt, schüttelte stumm den Kopf. Auch er war groß und kräftig. Aber das auffälligste an seinem bleichen Gesicht war das blinde Auge, das milchig trüb schimmerte, während das andere eisblau aufleuchte­te.

»Reizt es dich nicht herauszufinden, ob er nicht auch die letzte Prüfung besteht?«, fragte die Kapuzengestalt. »Vergiss nicht - er ist der Krieger, der Sternfeuer aus der vergessenen Stadt holte. Und je­mand, dem das gelingt, das ist kein normaler Mensch, sondern ein

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mutiger Kämpfer, wie man ihn nur selten findet.« »Götterwaffen gehören nicht in die Hände von Sterblichen«, erwi­

derte der Graubärtige. »Er hat Sternfeuer nur erringen können, weil du ihm damals in der vergessenen Stadt geholfen hast. Du bist es, der sein Schicksal bisher gelenkt hat. Er selbst hätte es nie soweit ge­bracht...«

»Die Menschen sprechen von dir als dem ewig Zürnenden«, fuhr der Halbblinde fort. »Willst du deshalb nicht einmal Gnade walten las­sen und diesem Krieger Gelegenheit geben, seinen Mut unter Beweis zu stellen? Willst du denn nicht herausfinden, ob er würdig genug ist, diese Klinge überhaupt zu tragen? Selbst wo sie jetzt geborsten ist?«

»Bei unserem gemeinsamen Vater, den wir haben - du sprichst wahre Worte«, antwortete nun der andere. »Ich habe den Krieger gewarnt, diesen Weg zu beschreiten, aber er hat sich nicht abschre­cken lassen. Nun, mutig ist er und das gefällt mir. Ich werde ihn ruhen lassen, bis er wieder zu Kräften gekommen ist. Und dann werden wir sehen, ob es ihm nun gelingt, die Eisbrücke zu überwinden. Der Geg­ner, der dort auf ihn wartet, ist ihm mehr als nur ebenbürtig.«

Die Gestalt mit dem blinde Auge lächelte. »Du bist der Herrscher über die Wolken und den Himmel«, fügte

er hinzu. »Aber ich kann mit meinem Auge Dinge sehen, die dir ver­borgen bleiben. Ich weiß um die Vergangenheit und auch um die Zu­kunft - und deshalb sage ich dir, dass dieser Krieger ein Mann ist, von dem man noch sprechen wird. Er sollte eine Gelegenheit bekommen, seinen Weg zur Schmiede fortzusetzen.«

»Wir werden sehen«, meinte der Graubärtige und blickte den Halbblinden sehr lange an.

»Wenn er auch die Eisbrücke überwindet, so will ich ihm seinen Wunsch erfüllen - aber nur dann. Ist das in deinem Sinne, Bruder?«

»Ja, Thunor«, stimmte ihm Einar zu, den man auch den Allwis­senden nannte, während er nun ebenfalls in die flackernden Flammen des Feuers blickte. Aber im Gegensatz zu seinem Götterbruder besaß er Kenntnis über Dinge, die dem graubärtigen Hünen immer verschlos­sen bleiben würden...

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*

Thorin schlug von einem Atemzug zum anderen die Augen auf. Ver­wirrt blickte er sich im ersten Moment um und riss das Schwert instink­tiv hoch. Erst als er ganz sicher war, dass er allein in der Felsenwildnis war, legte sich die Anspannung wieder.

Er sah etwas weiter unterhalb seines Schlupfwinkels die geheim­nisvolle Nebelzone, die er durchquert hatte und die ihn von der übri­gen menschlichen Zivilisation trennte. Er war davon genau soweit ent­fernt als befinde er sich am Ende der Welt.

Dagegen konnte er aber umso besser erkennen, was nun vor ihm lag. Vor seinen Augen zeichnete sich der schneebedeckte Gipfel des Felsmassivs ab. Steil erhob er sich in den grauen Himmel. Der Pfad, der sich vor Thorins Blicken erstreckte, führte genau auf den Gipfel zu.

Der Nordlandwolf wusste nicht, dass eine höhere Macht ihn wäh­rend seines tiefen Schlafes vor weiterem Unheil beschützt hatte. Das winzige Zünglein an der Waage des Schicksals hatte zu seinen Gunsten ausgeschlagen, aber Thorin vermutete ganz einfach, dass er Glück gehabt hatte.

Er verließ seine Deckung und spürte bei den ersten Schritten, dass der Schmerz in seiner Wunde am Oberschenkel abgeflaut war. Das Bluten hatte ebenfalls aufgehört, so dass Thorin ganz zuversichtlich war und hoffte, dass auch das letzte dumpfe Pochen irgendwann ganz nachließ.

Mit neuem Mut machte er sich auf den Weg zum Gipfel. Er erin­nerte sich jetzt wieder an die Worte des weißbärtigen Kriegers, dem er ganz unten am Fuße des Berges begegnet war. Drei Hindernisse galt es aus dem Weg zu räumen, hatte der Graubärtige gesagt. Nun, zwei davon hatte Thorin bereits hinter sich gelassen. Dann würde er das letzte ganz bestimmt auch noch schaffen!

Er stapfte durch den Schnee und folgte dem engen Pfad. Der Luft hier oben war zwar nicht mehr so kalt, dafür aber umso dünner. Tho­rin musste deshalb öfter Atem holen als ihm lieb war. Denn in dieser Höhe vergeudete man seine Kräfte umso schneller.

Es war eine eigentümliche Welt, so hoch über der Welt der Men­

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schen, die ihm bisher so vertraut war und die so unendlich weit von ihm entfernt lag. Die Berge ringsherum leuchteten in eigenartigen Far­ben und die Sonnenstrahlen, die bisweilen die dichte Wolkendecke durchstießen, waren viel intensiver und heller, als er das jemals be­wusst erlebt hatte.

Der Gipfel rückte immer näher. Der schmale Einschnitt durch die Felsenge, an der der Weg entlang führte, kündigte an, dass sich ir­gendwo weiter vorn etwas befinden musste, das noch heller strahlte als die Sonne. Der Nordlandwolf bemerkte das gleißende Leuchten noch bevor er die betreffende Stelle erreicht hatte.

Als der Pfad eine kleine Biegung machte, sah Thorin die Ursache des Leuchtens. Vor seinen Augen erstreckte sich ein gewaltiger Ab­grund, dessen tatsächliche Tiefe von dichten Nebeln verhüllt wurde.

Über diesen gähnenden Abgrund führte eine schmale Brücke aus Eis, die zu einem Felsmassiv führte, auf dessen Gipfel ein Palast zu sehen war, der in überirdischem Licht strahlte. Thorin musste im ers­ten Moment die Augen schließen, weil ihn die Helligkeit so sehr blen­dete.

Es war ein mächtiges Bauwerk, das eine göttliche Macht auf die­sem Gipfel errichtet haben musste. Weiß glänzten die Mauern, als sei­en sie auch aus Eis erbaut worden. Die Mitte des Palastes bildete ein ebenmäßiger Turm, der alle anderen Gebäude mit ihren Zinnen und Erkern deutlich überragte.

Die Eisbrücke endete genau vor einem großen Tor auf der ande­ren Seite des Abgrundes direkt am Fuße des Palastes. Das war also die Schmiede der Götter! Ein Bollwerk, das bestimmt noch kein Sterblicher außer ihm selbst zu sehen bekommen hatte. Dieser Ort war die Heimat Sternfeuers, der Götterklinge. Erst jetzt begriff Thorin, welche große Verantwortung er damals übernommen hatte, als es ihm gelungen war, Noh'nym, die vergessene Stadt, zu betreten und Sternfeuer zu erringen.

Langsam näherte er sich mit vorsichtigen Schritten dem Abgrund, über den die Brücke führte. Je näher er der gähnenden Tiefe kam, umso mehr Einzelheiten der Brücke konnte er erkennen. Sie schien mit den Felsen verwachsen zu sein und doch war sie ganz aus Eis, das

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vielleicht zerbrach, wenn er nur einen Fuß darauf setzte! Trotzdem blieb ihm keine andere Möglichkeit als auch dieses Wagnis einzugehen. Denn schließlich war das der einzige Weg, der zur Schmiede der Götter führte - Thorin musste also dieses Risiko auf sich nehmen.

Als der Nordlandwolf unmittelbar vor der Kante des Abgrundes stand, spürte er das eigenartige Gefühl in seinem Magen, das ihn noch zögern ließ. Sollte er wirklich während des Überschreitens das Gleich­gewicht verlieren und in die gähnende Tiefe stürzen, dann würde er noch während des Fallens tausend Tode sterben.

»Odan, beschütze mich...«, murmelte Thorin mit leiser Stimme und fasste sich dann ein Herz. Vorsichtig setzte er den rechten Fuß auf die Eisbrücke und wartete ab, ob sie wirklich sein Gewicht trug. Nichts geschah. Die Brücke wankte und knirschte auch nicht. Dann betrat er auch mit dem anderen Fuß die Brücke. Dabei bemühte er sich, nicht nach unten zu sehen, denn er hatte ohnehin schon große Mühe, das Gleichgewicht beizubehalten. Der Steg, den er beschritt, war sehr schmal. Es bedurfte nur eines einzigen Atemzuges, in dem seine Kon­zentration nachließ und schon war es um ihn geschehen!

Langsam ging er voran. Thorin wusste nicht, wie viel Zeit vergan­gen war, bis er endlich die Mitte der Eisbrücke erreicht hatte. Wind kam nun auf, blies ihm entgegen. Dadurch war das Vorwärtskommen noch ein wenig schwerer geworden. Deshalb zwang sich Thorin, nur ganz kleine Schritte zu machen, bis der Wind wieder soweit abgeflaut war, dass er den Weg zügiger fortsetzen konnte.

Nun sah er das große Tor der Götterschmiede fast greifbar nahe vor sich. Bald würde er sein Ziel erreicht haben und dann musste ihn Thunor, der Donnergott, einfach anhören.

Noch während er das dachte, öffnete sich das große Tor plötzlich mit einem leisen, doch zugleich durchdringenden Geräusch. Zuerst gab das Tor nur einen Spalt breit nach, dann aber stand es schließlich weit offen.

Thorin entdeckte die Umrisse einer riesenhaften Gestalt, die sich im Eingang abzeichnete und blieb erst einmal stehen. Der Riese mach­te nun einen Schritt vorwärts und Thorin zuckte zusammen, als ihm bewusst wurde, was für ein Gegner ihn nun erwartete.

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Es war ein kräftiger Bursche, der auf seinem kantigen Schädel ei­nen glänzenden Helm trug. Aus einem bärtigen und zernarbten Gesicht blickten Thorin zwei rot funkelnde Augen entgegen. In seinen großen Pranken hielt der Riese einen Speer, der genau auf Thorins Magen zielte. Bekleidet war der Hüne mit einer schimmernden Rüstung.

»Wohin des Weges, du Winzling?«, brüllte der bärtige Krieger herausfordernd. »Dein Weg ist hier zu Ende, falls du das noch nicht begriffen hast!«

»Ich will zur Schmiede der Götter!«, antwortete Thorin und ver­suchte sich nicht ansehen zu lassen, dass ihm der Anblick des Hünen einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Auch du wirst mich da­von nicht abhalten können!«, rief er der gepanzerten Gestalt zu. »Wenn du trotzdem kämpfen willst, dann komm - wenn nicht, dann gib den Weg frei!« Der Gegner lachte bei Thorins Worten verächtlich und reckte den Speer so hoch, dass sich in der scharfen Spitze das Licht der Sonne spiegelte. Thorin ahnte, dass er hier auf einen Feind traf, dem er womöglich nicht gewachsen war.

»Mein Speer wird dich von der Brücke stoßen, du Zwerg!«, schrie der bärtige Hüne in höhnischem Ton. »Deine Knochen werden in der Tiefe zerschmettern!«

Mit diesen Worten setzte er ebenfalls einen Fuß auf die Eisbrücke. Der Riese schien gar keine Angst vor der gähnenden Tiefe zu haben. Stattdessen waren seine Schritte ganz zielsicher und er tat so, als habe er normalen festen Boden unter den Füßen.

Thorin hob das Breitschwert hoch, die einzige Waffe, mit der er sich wehren konnte. Er verfluchte erneut die Tatsache, dass ihm das Götterschwert nicht zur Verfügung stand. Er musste sich stattdessen umso mehr vorsehen, denn der Speer des Gegners hatte natürlich eine größere Reichweite als seine Klinge.

»Nun komm doch, du plumper Koloss!«, reizte Thorin todesmutig seinen Gegner. »Denn du wirst es sein, der in der Tiefe zerschellt und nicht ich...«

Das ließ sich der Riese nicht zweimal sagen. Er hob seinen Speer und stieß damit nach Thorin. Sicherlich hätte die scharfe Waffe ihr Ziel auch getroffen, wenn Thorin nicht doch noch im letzten Moment aus­

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gewichen wäre. So schoss der Speer haarscharf an seinem Hals vorbei und stieß ins Leere.

Gleichzeitig schnellte Thorin vor und zielte mit dem Breitschwert auf das rechte Bein des Kriegers, denn die Rüstung bedeckte nur den Oberkörper des Hünen. Das Breitschwert traf zwar sein Ziel, aber aus­gerechnet in diesem Moment machte der Feind eine unerwartete Dre­hung, so dass ihn Thorins Waffe nur leicht am Bein verwundete.

Der Bärtige stieß einen lästerlichen Fluch aus, als er sah, dass Thorins Schwert ihn verletzt hatte. Das machte ihn noch wütender als er ohnehin schon war. Erneut stieß er mit dem Speer nach Thorin und wieder verdankte es der Nordlandwolf seinem raschen und sicheren Instinkt, der ihn vor dem Tod rettete. Zwar überragte der bärtige Rie­se den blonden Krieger um fast zwei Häupter, aber sein Körper war plump und bewegte sie nicht so schnell wie der Nordlandwolf. Das war sein Nachteil und genau das wusste Thorin trefflich auszunutzen.

Er stieß das Breitschwert ins andere Bein des Riesen, während er sich gleichzeitig ducken musste, um dem Speer auszuweichen. Jeder andere hätte bei diesem Gegner einen Rückzieher gemacht. Aber Tho­rin befand sich so nahe am Ziel - da konnte er einfach nicht mehr auf­geben.

Allerdings blickte Thorin nun einen winzige Augenblick zu lange auf die Wunde, die er seinem Gegner beigebracht hatte.

Deshalb sah er zu spät, dass der Riese mit dem Speer trotz der Verletzung wieder ausholte. Zwar wollte Thorin noch den Kopf zur Sei­te reißen, um das Schlimmste zu verhindern, aber diesmal war es zu spät. Der Speer traf ihn mit der flachen Klinge seitlich an der Schläfe und ließ ihn zurücktaumeln. Der Riese bemerkte Thorins augenblickli­che Unsicherheit und setzte sofort nach, um Thorin nun endgültig den Garaus zu machen.

Der blonde Krieger spürte, wie bunte Kreise vor seinen Augen tanzten. Er sah seine Umgebung nur noch nebelhaft, während sein Schädel von dem schmerzhaften Schlag fast zu zerspringen drohte. Deshalb bemerkte er auch nicht, wie er sich immer mehr dem Rand der Eisbrücke näherte. Plötzlich trat der rechte Fuß ins Leere und Tho­rin verlor das Gleichgewicht.

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Er wollte sich im letzten Moment fangen, schaffte das aber nicht mehr. Der Abgrund tat sich unter ihm auf, als Thorin von der Brücke stürzte. Ausgerechnet in diesem Moment klärte sich sein Blick wieder und er sah einen der Brückenpfeiler dicht vor seinen Augen. Geistes­gegenwärtig streckte er die linke Hand danach aus und bekam ihn noch zu fassen.

In seinem Schultergelenk gab es einen fürchterlichen Ruck, als Thorin mit seinem ganzen Gewicht diese Stelle des Körpers belastete. Er schrie laut auf vor Schmerz, ließ aber nicht los.

Währenddessen hatte sich der Riese ihm so weit genähert, dass er nun direkt über ihm stand. Genau am Pfeiler, wo sich Thorin mit nur einer Hand festgeklammert hatte und spürte, wie die Kräfte allmählich nachließen. In den Augen des Riesen dagegen war Thorin bereits schon tot. Deshalb ließ er sich jetzt genügend Zeit, um mit dem Speer nach dem hilflosen blonden Krieger zu zielen.

»Jetzt holt dich der Tod!«, brüllte der Riese und hob den Speer zum alles entscheidenden Stoß. Triumphierende Blicke hefteten sich auf sein Opfer.

Aber der Gigant hatte nicht mit dem eisernen Überlebenswillen Thorins gerechnet, den man nicht umsonst den Nordlandwolf nannte. Während des Sturzes hatte Thorin sein Schwert trotz seiner gefährli­chen Lage nicht fallen lassen. Auch jetzt, wo er nur mit einem Arm zwischen Leben und Tod hing, hielt er das Schwert fest in der anderen Hand. Mit letzter Kraft hob er die Waffe empor und stieß das Schwert dem Riesen entgegen, als dieser Thorin töten wollte. Die Waffe bohrte sich von unten in den ungeschützten Körper des Gegners, der mit die­ser überraschenden Wende nicht mehr gerechnet hatte.

Ungläubig starrte der Riese auf die Klinge, die ihn mitten ins Le­ben getroffen hatte, während der Speer seinen Händen entglitt. Thorin dagegen klammerte sich nun auch mit der anderen Hand am Brücken­pfeiler fest und sah zu, wie der tödlich verletzte Riese ins Wanken ge­riet. Die Augen des Gegners verloren ihren zornigen Glanz und bra­chen, als er über die Brücke in die Tiefe stürzte. Er war bereits tot, als ihn der nebelumhüllte Abgrund verschlang.

Thorin blickte ihm nicht nach, denn sein Schultergelenk schmerzte

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höllisch. Er musste es schnell schaffen, sich wieder auf die Brücke zu ziehen, bevor er zu schwach dazu war. Er schrie vor Schmerz und stei­gerte dieses entsetzliche Gefühl noch, als er sich mit letzter Kraft wie­der hochzog und dann schließlich festen Boden unter sich spürte.

Keuchend blieb er dort liegen. Er war knapp dem Tod entronnen, aber so knapp war es noch nie gewesen. Gleichzeitig wurde ihm nun aber auch bewusst, dass dies die letzte Prüfung gewesen war, die er hatte durchstehen müssen.

Wenn er den Worten des Weißbärtigen Glauben schenken konnte, dann stand nichts mehr zwischen der Schmiede der Götter und ihm. Er erhob sich stöhnend und legte nun die letzten Schritte auf der Eisbrü­cke zurück, bis er schließlich das Tor erreichte und den tiefen Abgrund hinter sich ließ.

Das große Tor stand noch immer offen. Thorin blickte sich vorsich­tig um, konnte jedoch nichts Verdächtiges bemerken, das vielleicht noch auf einen weiteren Gegner schließen ließ. Erst als er das Tor durchschritten hatte, machte sich die Erschöpfung bemerkbar, die er seinem Körper die ganze Zeit über zugemutet hatte. Nur wenige Schritte später gaben ihm die Knie nach und er brach zusammen. Sein Bewusstsein erlosch von einem Atemzug zum anderen...

*

Milchige Schleier tanzten vor Thorins Augen, als er wieder zu sich kam. Sein Kopf schmerzte sehr und seine Glieder wirkten wie aus Blei ge­gossen. Er riss die Augen auf und blickte sich um. Erstaunt stellte er fest, dass die Kälte der Bergwelt, die sein ständiger Begleiter gewesen war, mittlerweile einer wohltuenden Wärme Platz gemacht hatte. Eine Wärme, deren Ursprung die flackernden Flammen eines großen Ka­minfeuers waren. Erst dann erkannte der Nordlandwolf, dass er sich nicht mehr an derselben Stelle befand, wo er zusammengebrochen war. Er hielt sich stattdessen in einem großen Raum auf und lag auf einem Bett, dessen Decke aus Fellen bestand.

»Endlich bist du wach!«, hörte Thorin auf einmal eine Stimme hin­ter sich. So schnell wie es sein immer noch erschöpfter Körper gerade

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noch zuließ, drehte er sich um und blickte in das runzlige Gesicht eines Mannes, der fast drei Häupter kleiner war als er. Man hätte die Gestalt fast für ein heranwachsendes Kind halten können, wenn nicht das runzlige Gesicht und die tiefe Stimme gewesen wären. Dieser Mann gehörte der Rasse der Zwerge an, ein kleinwüchsiges Volk, von dem Thorin schon gehört hatte. Aber begegnet war er diesen Menschen noch nie...

»Was starrst du mich so an, Krieger?«, fragte ihn der kleine Mann, der ein dunkelgrünes Gewand trug. »Sehe ich so anders aus als du?«

Thorin murmelte eine Entschuldigung, bevor er wieder seiner Neugier freien Lauf ließ. »Wo bin ich hier?«, wollte er wissen. »Eben noch kämpfte ich mit dem Riesen und nun...«

»Nun befindest du dich in der Schmiede der Götter«, vollendete der Zwerg Thorins Gedankengänge. »War das nicht dein Ziel?«

»Woher weißt du alles?«, fragte ihn der blonde Krieger. »Kannst du meine Gedanken lesen, Zwerg?«

»Nenn mich Cunn«, unterbrach ihn der kleinwüchsige Mann. »Weißt du denn nicht, dass die Wege und Schicksale derjenigen, die den Aufstieg zu uns wagen, schon vorgezeichnet sind? Natürlich weiß ich, dass du mit Thunor, dem Donnerer sprechen willst. Er ist es auch, der mich beauftragt hat, dich zu ihm zu bringen, sobald du wieder neue Kräfte geschöpft hast. Also steh jetzt auf und folge mir. Ein Gott wartet nicht gerne...«

Das ließ sich Thorin nicht zweimal sagen. Er erhob sich vom Bett und bemerkte dann erst, dass Sternfeuer nirgendwo mehr zu sehen war. Die Götterklinge hatte er die ganze Zeit in der Scheide auf seinem Rücken getragen. Aber als er sich nun anzog, stellte er fest, dass Gür­tel und Schwert verschwunden waren. Er hoffte jedoch, dass dies kein böses Omen war, denn Sternfeuer stammte ja von diesem Ort.

Der Zwerg deutete Thorin noch einmal an, ihm zu folgen und öff­nete die Tür des Raumes, in dem Thorin aufgewacht war. Ein langer Gang ganz aus Eis, das merkwürdigerweise keine Kälte ausstrahlte, erstreckte sich vor Thorins Augen. Cunn schritt voran und Thorin kam nicht umhin, die wunderbare Bauweise dieses Palastes zu bestaunen. Natürlich bemerkte das Cunn und lächelte darüber still vor sich hin.

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Der Eisgang endete schließlich in einer Art Halle, wo sich ein zwei­tes Tor befand, das normale menschliche Maße sprengte. Es war noch höher als ein Haus und Thorin stellte sich vor, dass hier sicherlich Dut­zende von Menschen notwendig waren, um es überhaupt öffnen zu können. Die Eiszapfen an der Decke der Halle, die den oberen Teil des Tores fast berührten, erweckten in Thorin den Eindruck, dass sich da­hinter etwas befinden musste, das von großer Bedeutung war.

»Du vermutest richtig, Krieger«, sagte Cunn plötzlich mit einem wissenden Lächeln. »Nun betrittst du gleich die Halle des mächtigen Thunor. Begrüße ihn würdig, Sterblicher. Denn er ist ein mächtiger Gott!«

Als wenn der Name des Donnergottes ein unsichtbares Signal ausgelöst hätte, so öffnete sich plötzlich das riesige Tor wie von Geis­terhand, während gleichzeitig von der Kuppel der Halle her sphärische Klänge zu vernehmen waren. Dann war der Blick auf einen giganti­schen Thronsaal frei. Dort am Ende ragte eine Treppe empor und auf der Spitze stand ein Thron ganz aus Gold, der so stark funkelte, dass Thorin im ersten Moment kurz die Augen schließen musste.

»Verneige dich vor dem allmächtigen Thunor, Krieger«, flüsterte Cunn und warf sich selbst anschließend zu Boden. Thorin ließ jedoch nur in stummer Ehrerbietung den Kopf sinken. Er hatte sich bis jetzt noch vor niemanden zu Boden geworfen und würde das auch jetzt nicht tun.

»Es ist gut, Cunn!«, hörte Thorin nun eine sehr tiefe Stimme. »Geh und lass uns beide allein. Und du, Thorin, komm näher zu mir. Ich möchte den Menschen kennen lernen, der es geschafft hat, alle drei Prüfungen zu bestehen...«

Aus den Augenwinkeln erkannte Thorin, dass sich Cunn hastig er­hob und dann davoneilte. Erst jetzt hob Thorin den Kopf und sah nach vorn. Erschrocken fuhr er zusammen, als er den Weißbärtigen auf dem Thron sofort wieder erkannte. Das war doch der Krieger gewesen, der ihn davor gewarnt hatte, den Aufstieg zur Götterschmiede zu wagen! Und nun wurde Thorin auch klar, dass der Donnergott von Anfang an alles gewusst hatte - jetzt wurde ihm deutlich, wie groß die Macht der Götter doch war.

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»Verzeiht mir, allmächtiger Thunor«, murmelte er ergriffen und wäre nun doch beinahe auf die Knie gefallen, wenn ihn die Stimme des Donnergottes nicht doch noch daran gehindert hätte.

»Du sollst nicht vor mir knien, Thorin«, sagte Thunor nun zu ihm. »Nicht ein so tapferer Krieger wie du es bist, der alle meine Warnun­gen in den Wind geschlagen hat und das Wagnis trotz aller Gefahren eingegangen ist. Ich habe deinen Weg mitverfolgt, als du in der Ne­belzone warst. Mein Götterbruder Einar war es, der für dich gespro­chen hat. Ihm hast du es zu verdanken, dass du überhaupt so weit gekommen bist.«

»Einar der Allwissende!«, rief Thorin und erinnerte sich wieder an den einäugigen Gott, der seinen Schicksalsweg maßgeblich bestimmt hatte. »Schon wieder hat er mir geholfen. Wie kann ich ihm nur dan­ken?«

»Indem du dich als würdiger Träger Sternfeuers zeigst, Thorin«, erwiderte Thunor. »Deshalb bist du doch hier, nicht wahr?«

Thorin nickte heftig. »Die Klinge ist geborsten, mächtiger Thunor«, begann er. Und

dann erzählte er dem Donnergott vom Nachtherzog Arian und dessen finsteren Kreaturen. Er berichtete, wie die Reiter das Bergdorf in Schutt und Asche gelegt hatten und wie Sternfeuer das erste mal seine Kraft verloren hatte.

Thunor hörte schweigend zu und schien über die Worte des blon­den Kriegers lange nachzudenken, bevor er schließlich zu einer Ant­wort ansetzte.

»Nachtherzog Arian...«, murmelte er und sah dann zu Thorin. »Ich habe zwar von ihm gehört, wusste aber nicht, dass er schon so viel Macht hat. Das Reich der Finsternis muss ihm untertan sein. Und du sagst, dass alle Bewohner der Bergdörfer vor ihm zittern?«

»Die Menschen sind nahezu hilflos«, antwortete Thorin. »Sie be­ten zu euch, aber niemand erhört ihr Flehen. Sollen sie den Glauben an die guten Götter ganz verlieren?«

»Bei Odan, meinem Göttervater!«, entfuhr es Thunor. »Das soll niemals geschehen. Thorin, wir werden den Kampf gegen die Mächte der Finsternis aufnehmen. Ich weiß, dass du wegen der geborstenen

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Klinge gekommen bist. Nun, deine Bitte soll erhört werden. Komm und folge mir hinunter in die Höhlen unterhalb des Palastes, wo sich die Schmiede befindet. Dort wird man dir ganz sicher sofort helfen...«

Thorin verneigte sich voller Dankbarkeit vor dem Donnergott. Im stillen hatte er gehofft, dass ihm Thunor helfen würde und jetzt atme­te er erleichtert auf, als er Thunors Worte vernahm. Deshalb folgte der blonde Krieger dem Gott, als dieser sich von seinem Thron erhob.

»Schließ die Augen und vertraue mir«, riet ihm Thunor. »Fürchte dich nicht vor dem Nebel, der dich gleich umgeben wird.«

Noch ehe Thunor den Satz vollendet hatte, veränderte sich plötz­lich die Umgebung. Feiner Nebel drang aus den Felsspalten und ver­schleierte Thorins Blicke. Gehorsam schloss der Nordlandwolf die Au­gen und vertraute ganz der Stimme des Donnergottes.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als plötzlich von fern ein dumpfes Hämmern zu hören war, das allmählich an Intensität ge­wann. Es wurde immer lauter und wuchs nur wenige Atemzüge sogar noch weiter an.

»Öffne die Augen, Thorin!«, übertönte die Stimme des Donnergot­tes trotz allem den Lärm. »Wir sind am Ziel!«

Thorin befolgte Thunors Befehl. Erstaunt sah er sich nun um. Der Thronsaal war einer riesenhaften Höhle gewichen, wo aus Dutzenden verschiedener Stellen Rauch empor quoll. Thorin entdeckte viele Men­schen des kleinen Zwergenvolkes, die emsig umher rannten. Einige von ihnen standen an Ambossen und bearbeiteten mit kraftvollen Hammerschlägen glühendes Metall. Das waren die Laute, die Thorin schon von fern gehört hatte!

»Das ist die Schmiede der Götter, Thorin!«, erklang nun wieder die Stimme des Donnergottes. »Schau dir diesen Hort ruhig ganz ge­nau an - noch nie zuvor hat ihn jemals ein Sterblicher gesehen.«

Thorin fehlten in diesem Moment wirklich die Worte. Die Männer des Zwergenvolkes waren es also, die hier unten tief im Inneren des Berges arbeiteten - und zwar mit einer Kraft und einem Willen, den man den kleinen Körpern gar nicht zutraute.

»Hier entstehen unsere Waffen, Thorin«, klärte ihn Thunor auf. »Auch Sternfeuer wurde in dieser heißen Glut geschmiedet. Doch der

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Mann, der diese Klinge einst von uns erhielt, erwies sich als unwürdig. Du kennst die Geschichte?«

Thorin nickte. Damals auf seinen Irrfahrten, hatte er zum ersten mal davon gehört.

Genauer gesagt in der Felsenstadt Cathar. Thorin erinnerte sich noch gut an diese schlimme Zeit, wo er als Gefangener in den Kerkern von Cathar auf einen grauenvollen Tod gewartet hatte. Aber die Le­gende von dem Schwert der Götter hatte ihn ermutigt, nicht auf­zugeben - und nur deshalb hatte er den Ausbruch aus den Kerkern gewagt und es auch geschafft. Und jetzt stand er an dem Ort, wo ge­wissermaßen alles begonnen hatte!

»Komm mit!«, forderte ihn Thunor auf und schritt voran. Thorin folgte ihm. Ein kleiner, gewundener Pfad führte an den Feueressen vorbei. Zwerge hämmerten mit verbissener Miene auf glühendes Eisen ein und schienen die beiden Besucher überhaupt nicht wahrzunehmen. So sehr waren sie in ihr Handwerk vertieft.

Der Donnergott führte Thorin in den hinteren Teil der großen Höh­le, wo ein schwarzbärtiger Zwerg eine Klinge bearbeitete, die der Nordlandwolf unter hundert anderen sofort erkannt hätte - es war Sternfeuer!

»Deine Augen sind gut«, sagte Thunor, dem Thorins Blicke natür­lich nicht entgangen waren. »Dieser Zwerg hier hört auf den Namen Erz. Er ist der beste Schmied hier unten und seine Hände haben schon viele gute Waffen hergestellt. Er kennt Sternfeuer und weiß, wie die Klinge jetzt neu geschmiedet werden muss.«

Der schwarzbärtige kleine Mann drehte sich bei diesen Worten um. Sein Gesicht war von der Hitze, die hier unten herrschte, schweiß­überströmt und doch schien ihm das nichts auszumachen.

»Dieses Schwert ist es wert, dass es noch einmal neu geschmiedet wird, Herr!«, rief er und holte mit seinem schweren Hammer aus. »Danach wird Sternfeuer noch mächtiger sein als zuvor!«

Dann stoben Funken auf. Thorin trat unwillkürlich einige Schritte zurück, während Erz wie ein Besessener die Klinge bearbeitete, um sie nach seinen Vorstellungen zu formen. Thorin sah die rot glühende Spitze der Klinge und befürchtete für einen winzigen Moment, dass der

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Zwerg mit seinen gewaltigen Schlägen Sternfeuer ganz entzwei hieb. Doch er kannte nicht die meisterhaften Fähigkeiten des kleinen

Erz. Nicht umsonst hatte ihn Thunor als den besten der zahlreichen Schmiede hier unten bezeichnet. Erz hämmerte schnell und zügig wei­ter, bis die Klinge allmählich wieder Gestalt annahm. Der Zwerg hielt inne und betrachtete prüfend seine Arbeit. Dann schüttelte er nur den Kopf und setzte seine Arbeit erneut fort, bis er schließlich zufrieden war.

Er ließ daraufhin den Hammer sinken und tauchte die heiße Klinge in einen Wasserbottich. Lautes Zischen erfüllte die Luft und heißer Dampf stieg auf, quoll bis zur Decke der Höhle empor.

»Jetzt ist die Klinge fertig, Herr«, sagte Erz mit einer gehörigen Portion Stolz in der Stimme zu Thunor. »Ich habe sie wieder neu ge­schmiedet und diesmal wird sie allem standhalten - egal was kommen mag...«

Thunor lächelte und dankte dem Zwerg für seine gute Arbeit. Er nahm die Waffe aus Erz' Händen entgegen und prüfte sie, nickte dann anerkennend, nachdem er sich davon überzeugt hatte, wie perfekt Erz sein Handwerk verrichtet hatte.

»Es ist wirklich ein Meisterwerk geworden, Thorin«, meinte der Donnergott. »Hier, sieh doch selbst!«

Er streckte die Klinge Thorin entgegen und dieser nahm sie dank­bar an. Schon als Thorins Hände den Knauf Sternfeuers berührten, spürte er die starke Ausstrahlung. Es war eine Kraft, die er nicht zu beschreiben vermochte. Sie ging von der Klinge aus und übertrug sich auf den Träger des Schwertes.

Gleichzeitig leuchtete Sternfeuer in einem strahlenden Schimmer auf. Heller und intensiver als Thorin es jemals erlebt hatte.

»Ich danke dir«, sagte Thorin zu dem Zwerg, der natürlich sah, wie sehr sich Thorin über die neue Klinge freute.

»Erz weiß deine Worte zu schätzen, auch wenn er kein Mann gro­ßer Reden ist«, erwiderte Thunor an Stelle des Zwerges. »Er ist zufrie­den, wenn du Sternfeuer richtig einsetzt. Und nun komm - es ist Zeit für dich, aufzubrechen...«

Wieder erschien feiner Nebel, der zusehends dichter wurde und

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die nähere Umgebung vor Thorins Augen verhüllte. Thorin schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, war die große Höhle verschwun­den und er befand sich wieder in Thunors Thronsaal.

»Dein Aufenthalt hier ist nun zu Ende, Thorin«, ergriff der Don­nergott das Wort. »Du hast Sternfeuer wieder - neu geschmiedet. Ei­nar, mein Götterbruder, hatte recht mit dem, was er über dich sagte. Du bist ein mutiger Krieger und deshalb werde ich dich noch zusätzlich belohnen für deinen starken Willen und für deine Tapferkeit. Aber eins sage mir vorher - was willst du jetzt tun?«

Thorin betrachtete die prachtvolle Klinge für einen winzigen Mo­ment, bevor er sich dann eine Antwort zurechtlegte.

»Der Nachtherzog!«, erwiderte Thorin etwas heftiger als er zu­nächst beabsichtigt hatte. »Arian ist die Geißel der Menschen, die in dieser abgeschiedenen Bergwelt leben. Ihnen werde ich helfen. Jetzt kann ich gegen die Mächte der Finsternis ohne Furcht antreten.«

»Deine Worte ehren dich, Thorin«, antwortete Thunor. »Ich sehe jetzt, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe. Deshalb lasse ich nicht zu, dass du noch einmal einen gefährlichen Rückweg auf dich nimmst. Du darfst jetzt keine unnötige Zeit verlieren, sonst wird der Nachther­zog noch mächtiger als er ohnehin schon ist. Es gibt einen leichteren Weg, wieder zurück in die Welt der Menschen zu gelangen - und den zeige ich dir jetzt.«

Thorin verstand nicht genau, was ihm der Donnergott damit sagen wollte. Aber er folgte Thunor gehorsam bis zum anderen Ende der Thronhalle, wo sich jetzt auf dessen Handbewegung hin ein verborge­nes Tor in der Wand öffnete.

»Was zögerst du noch, Krieger?«, lachte der Donnergott. »hast du jetzt auf einmal Angst vor meinen Kräften? Bedenke, ich bin ein Gott und stehe trotzdem auf deiner Seite...«

Er schritt weiter voran in eine kleinere Halle. Was Thorin dann er­blickte, konnte er im allerersten Moment gar nicht glauben. Nahezu fassungslos starrte er auf ein schneeweißes Pferd, ein Tier mit einem vollendeten Körper, das ihn nun aus dunklen Augen ansah, als Thorin ebenfalls die Halle betrat.

»Das ist Sleipnir, mein Schimmelhengst«, sagte der Donnergott.

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»Ihm vertraue ich dich jetzt an. Er wird dich sicher hinunter ins Tal bringen.«

Erst jetzt bemerkte Thorin die eingezogenen Schwingen an den Flanken des Pferdes. Ehrfürchtig senkte er den Kopf. Denn in seiner Heimat erzählte man sich Legenden über das Götterpferd und jetzt sah er es mit eigenen Augen - aus einer Legende war somit Wirklichkeit geworden.

»Steig jetzt auf, Thorin«, forderte ihn Thunor auf. »Kämpfe für die Menschen dieser Bergwelt - Sternfeuer wird dich diesmal nicht im Stich lassen!«

Thorin zögerte nicht mehr, sondern ging auf Sleipnir zu. Der ge­flügelte Hengst blickte den Nordlandwolf aus seinen dunklen Augen ganz ruhig an, als Thorin auf seinen Rücken stieg. Dann drehte er sich noch einmal um.

»Ich danke euch, Herr!«, rief er, während die Felsenwand sich plötzlich zu öffnen begann.

Der Blick auf die winterlichen Gipfel der Bergwelt war frei und das war auch der Augenblick, wo der Schimmelhengst seine weiten Schwingen ausbreitete. Das donnernde Lachen Thunors blieb hinter Thorin zurück, als Sleipnir schließlich die Felsenpforte erreichte. Auf einmal tat sich der gähnende Abgrund unter Thorin auf und er klam­merte sich unwillkürlich an der Mähne des Pferdes fest. Aber es ge­schah nichts, was Grund zur Furcht gab - der Hengst flog der Sonne entgegen...

*

Es wurde ein Ritt, den Thorin sein ganzes Leben lang nicht mehr ver­gessen sollte. Während sich tief unter ihm die Nebelzonen der Berg­welt erstreckten, flog er mit Sleipnir über die schneebedeckten Gipfel. Eisiger Wind kam auf, der an seinen langen Haaren zerrte, aber Thorin genoss trotzdem den Anblick, den nie ein Mensch zuvor gesehen hat­te. Tief unter ihm lagen die Täler der Bergbewohner und das war auch das Ziel des Schimmelhengstes, der nun allmählich in tiefere Regionen hinunterschwebte.

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Dichte Wolken kamen Thorin entgegen und für einen winzigen Moment fühlte sich der Nordlandwolf in dieser undurchsichtigen Zone ziemlich verloren. Aber Sleipnir kannte den Weg und als Pferd und Reiter schließlich bald darauf wieder die Wolkendecke durchstießen, war der Blick auf die Bergtäler frei.

Hoch oben über den Wolken hatte Thorin noch das helle Licht der Sonne gesehen, aber hier unten war sie schon am Untergehen. Der glühende Feuerball verschwand hinter den Bergen, während sich lang­sam die Abenddämmerung über das Land senkte.

Sleipnir schwebte noch tiefer. Irgendwann erkannte Thorin unter sich das Dorf, das von Arians Nachtreitern überfallen und verwüstet worden war. Nur ausgebrannte Hütten und zerstörte Höfe waren noch zu sehen - und natürlich die Leichen der Menschen, die dem Überfall zum Opfer gefallen waren. Die anderen Überlebenden hatten das Dorf verlassen, um ihre Haut zu retten...

Das leere Dorf blieb hinter Thorin zurück, während Sleipnir auf das Nachbartal zuflog. Dort ging der Schimmelhengst langsam nieder und kam ganz sanft auf dem gefrorenen Boden auf.

Thorin stieg vom Rücken des Pferdes und strich dem Tier dankend über die Nüstern. Weil es ihn sicher getragen hatte bis an sein Ziel. Aber Sleipnir erhob sich schon wenige Atemzüge später wieder in die Lüfte und entschwand daraufhin im Licht der untergehenden Sonne -in Richtung des Götterhortes, der seine Heimat war.

Der Schimmelhengst war so plötzlich verschwunden, dass Thorin im ersten Moment glaubte, er habe das alles nur geträumt. Er hatte immer noch ziemliche Mühe, all das zu begreifen, was er während die­sem herrlichen Flug durch die Bergwelt gesehen hatte.

Dann aber wandte er sich ab und dachte an das, was er vorhatte. Sleipnir hatte ihn am Ende des Nachbartals abgesetzt. Dort, wo ein Einschnitt in den Felsen sich abzeichnete, musste der Weg beginnen, der bis zur Burg des Nachtherzogs führte.

Während sich die Dämmerung unaufhaltsam ausbreitete, beeilte sich Thorin, den Felseneinschnitt zu erreichen. Der Spalt war schmal und bot gerade einmal Platz für zwei Reiter. Thorin spähte vorsichtig nach allen Seiten, aber in der einsetzenden Dunkelheit konnte er

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nichts mehr erkennen, was darauf schließen ließ, dass Feinde in der Nähe lauerten.

Wahrscheinlich fühlte sich der Nachtherzog sehr sicher und das mit Recht. Sämtliche Bewohner der umliegenden Dörfer fürchteten ihn wie einen grausamen Dämon und deshalb hatte es Arian nicht nötig, übertriebene Vorsicht walten zu lassen. Er konnte tun und lassen was er wollte - es gab niemanden, der ihn an seinem Treiben hinderte!

Thorin folgte dem Weg durch den Felsspalt weiter, bis er sich schließlich einige Schritte vor ihm verbreiterte. Er erblickte eine von Schnee bedeckte Hochebene, die zur anderen Seite hin steil abfiel. An der höchsten Stelle ragte eine bizarre Felsenburg in die Abenddämme­rung empor. Das Licht der untergehenden Sonne tauchte Arians Be­hausung in ein fremdes und geheimnisvolles Licht.

Es war eine große und wuchtige Burg, fast für die Ewigkeit ge­baut. Umgeben von einer breiten Mauer, die jedem Angriff standhalten konnte. Den Mittelpunkt der Burg bildete ein hoher Turm, in dem sich wohl das Quartier Arians befand. Alles in allem war es ein Gemäuer, das den Bewohnern eines ganzen Dorfes hätte Unterschlupf bieten können, nicht nur einer Handvoll finsterer Kreaturen. Thorin harrte noch einen winzigen Moment im Felsspalt aus. Fieberhaft überlegte er, wie er am besten ungesehen in die Burg eindringen konnte. Das war eine besonders schwere Aufgabe, die vor ihm lag und er kannte auch das Risiko. Aber diese Geißel der Menschheit musste ausgelöscht wer­den und Sternfeuer, die neu geschmiedete Klinge, würde ihren Teil dazu beitragen!

*

Als die Sonne gänzlich hinter den Hügeln verschwand und die Dämme­rung der Nacht wich, machte sich Thorin auf zur Felsenburg.

Die Hochebene bot nur wenig Deckung und deshalb musste er immer erst abwarten, bis das helle Licht des Mondes von Wolken ver­deckt wurde.

Thorin hastete vorwärts. Er legte immer nur ein kleines Stück des Weges zurück, nutzte dabei jede noch so geringe Deckung aus. Auch

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wenn die dunkle Burg vor ihm kein Lebenszeichen von sich gab, so hatte das nichts zu bedeuten. Schließlich konnte er nicht wissen, ob man ihn vielleicht nicht doch schon entdeckt hatte. Arians Mächte wa­ren gefährlich...

Eine halbe Ewigkeit verstrich, bis er schließlich die unmittelbare Nähe der Burgmauer erreicht hatte. Keuchend verbarg er sich im Schatten des wuchtigen Gemäuers und holte erst einmal tief Luft.

Dann spähte er vorsichtig nach oben zu den Zinnen, aber es war nichts zu sehen. Thorin blieb trotzdem misstrauisch, denn irgendwo mussten sich diese elenden Kreaturen doch verborgen halten. Wahr­scheinlich tauchten sie erst dann auf, wenn er am wenigsten damit rechnete und gegen diesen Augenblick musste er gewappnet sein.

Thorin entdeckte den steinigen Pfad, der zum Haupttor der Fel­senburg führte. Er sah das wuchtige geschlossene Tor. Dort gab es ganz gewiss kein Weiterkommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu versuchen, über die Mauer ins Innere der Burg zu gelangen. Wie riskant das war, daran wollte er jetzt lieber nicht denken, denn wenn ihn eines von Arians finsteren Geschöpfen in dem Moment entdeckte, wo er die Mauer empor kletterte, dann war es aus und vorbei mit ihm.

Trotzdem wagte er es. Thorins Augen suchten die Mauer ab und entdeckten schließlich eine schmale Öffnung unterhalb des Mauersim­ses. Es mochte eine Art Fenster sein, aber auf jeden Fall war es ein Weg ins Innere!

Dann machte er sich an den Aufstieg. Seine Hände tasteten nach einer Unebenheit in der Burgmauer und fanden auch sofort einen Vor­sprung, der sein Gewicht aushielt. Langsam zog sich Thorin empor, bis auch seine Füße einen Halt gefunden hatten. Zwar bot die Burgmauer mehr Halt als die steile Felsenwand oben im Eisgebirge, aber dafür wusste Thorin nicht, was jenseits der Zinnen ihn oben erwartete.

Erneut wurde das helle Mondlicht von dunklen Wolken ver­schluckt. Mühsam kletterte Thorin weiter und versuchte, das so lautlos wie nur möglich zu tun. Er befand sich jetzt schon gut vier Mannslän­gen über dem Erdboden. Sollte ihn nun jemand entdecken, dann wür­de er sich bei einem möglichen Sturz ganz sicher das Genick brechen.

Die dunkle Öffnung befand sich nur noch zwei Armlängen vor ihm,

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als er oben auf dem Wehrgang plötzlich schwere tappende Schritte hörte. Thorin versuchte dennoch, die Öffnung in der Mauer zu errei­chen, aber er war noch zu weit davon entfernt. Erneut streckte er sich, bis seine Fingerspitzen den Rand des Loches ertasteten, das ins Innere des Gemäuers fühlte. Mit der anderen Hand verstärkte er diesen Halt und zog sich dann rasch hoch.

Er atmete keuchend, als er seinen breiten Oberkörper durch die schmale Öffnung zwängte. Federnd kam er auf dem Steinboden auf und sah sich sofort wieder um. Aber kein Mensch war in der Nähe, es blieb alles still. Bis auf die Schritte oben auf dem Wehrgang, die sich jetzt den Zinnen direkt über Thorin unaufhaltsam näherten. Auch wenn Thorin jetzt ganz bestimmt vorerst sicher war, so presste er sich dennoch eng gegen die Steinmauer und wagte kaum zu atmen. Das war gerade noch einmal gut gegangen!

Die Schritte verstummten jetzt und Thorin vermutete, dass der Wächter oben von der Zinne hinunter zur Ebene blickte. Wäre er nur wenige Augenblicke früher gekommen, so wäre Thorins Schicksal be­siegelt gewesen. So aber geschah nichts und Thorin wartete geduldig ab, bis wieder die schweren tappenden Schritte des Wächters zu hören waren, der sich wieder entfernte und seinen Weg auf dem Wehrgang zur anderen Seite der Felsenburg fortsetzte.

Das erste Hindernis hatte Thorin gut überwinden können. War das nicht vielleicht ein Zeichen, dass die Götter auf seiner Seite standen und ihn bei seiner Mission unterstützten, der Schreckensherrschaft des Nachtherzogs ein Ende zu machen?

Der Raum, in dem sich Thorin jetzt aufhielt, war düster und leer. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemals ein Mensch gelebt hatte. Es war kalt und feucht und ein Schauer nach dem anderen jagte über Thorins Rücken. Da half auch nicht das dichte Bärenfell, das seinen Körper umhüllte.

Es gab keine Tür, sondern nur einen schmalen Torbogen, der wei­ter ins Innere der Burg führte. Thorin musste wohl oder übel dieses Wagnis auf sich nehmen und dem Weg folgen. Auch wenn er nicht wusste, wohin er dann gelangte.

Er zog Sternfeuer aus der Scheide. Als die Klinge in seiner Hand

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lag, spürte er wieder dieses eigenartige Gefühl der ungeahnten Macht, die jetzt in Sternfeuer ruhte. Diese Kraft übertrug sich nun auch auf ihn und das ermutigte ihn zusehends.

Leise waren seine Schritte, als er auf den Torbogen zuging. Was­sertropfen fielen von der feuchten Decke herunter auf den Steinboden und verwandelten ihn in eine glitschige Oberfläche. Er musste aufpas­sen, um nicht auszurutschen.

Weiter vorn machte der Gang eine Biegung. Dort sah Thorin dann ein schwaches Licht!

Seine Schritte wurden langsamer, als er sich der Biegung näherte. Vorsichtig spähte er um die Ecke, aber alles was er sah, war die kleine Fackel in der Eisenhalterung in der Wand, die ein spärliches Licht auf den Gang warf.

Thorin musste es schaffen, diesem Gewirr von Gängen und Räu­men so rasch wie möglich zu entfliehen. Sein Weg führte nach oben zu dem großen Turm in der Mitte der Burg, wo der Nachtherzog hauste. Er wusste, wenn er Arian tötete, dann starben auch seine Geschöpfe mit ihm.

Langsam ging er weiter. Der Gang war nicht gerade hoch und Thorin hatte Mühe, manchmal aufrecht zu gehen. Aber schließlich ge­langte er in ein höheres Gewölbe, wo er doch rascher vorankam.

Das zischende Geräusch hinter sich hörte er erst dann, als es schon fast zu spät war. Im letzten Moment riss er den Kopf zur Seite und entging dadurch der mächtigen Lanze, die ihn hatte durchbohren sollen. Die tödliche Waffe schoss haarscharf an ihm vorbei und bohrte sich in die Wand neben ihm.

Thorin wirbelte herum und entdeckte eine große Gestalt am ande­ren Ende des Raumes. Eine von Arians finsteren Kreaturen war das, die die Lanze nach ihm geschleudert hatte. Nun ergriff der Gegner ein breites Schwert und griff damit den Nordlandwolf an.

Während Thorin ebenfalls Sternfeuer hochriss, um sich zu wehren, sah er die Treppe direkt hinter dem unheimlichen Wesen. Das musste der Weg sein, der zum Turm führte und nur Arians Kreatur hinderte ihn jetzt noch am Weiterkommen.

Mit seltsam leblos wirkenden Bewegungen näherte sich der Geg­

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ner nun Thorin. Trotzdem steckte dämonisches Leben in der Gestalt, deren Gesicht und Körper von einer dunklen Rüstung verborgen wur­den.

»Komm nur näher!«, forderte Thorin seinen Feind auf. »Ich werde deine dunkle Seele in die Hölle schicken...«

Dann holte der Gewappnete auch schon zu einem vernichtenden Hieb aus. Thorin duckte sich und der Schlag fuhr dicht über ihn hin­weg. Stattdessen schlug das Schwert mit voller Wucht in einen Balken hinein, der unter dieser Kraft entzweibrach. Gewaltige Kräfte steckten in dem Körper des dunklen Wesens!

Thorin stieß Sternfeuer nach vorn. Die Klinge traf den Gegner an der Schulter. Thorins Waffe durchbohrte die schwere Rüstung, als stel­le sie überhaupt kein Hindernis dar. Der finstere Krieger stieß jetzt einen überraschten Laut aus. Er taumelte zwar zurück, konnte aber noch einmal sein Schwert hochreißen und so noch rechtzeitig den zweiten Hieb des Nordlandwolfs parieren.

Die feindlichen Klingen trafen aufeinander und Sternfeuer leuchte­te strahlend auf. Eine Hitzewelle strömte von diesem Schwert aus, die Thorin in seinem ganzen Körper spürte. Die Klinge des Gegners ver­formte sich ganz plötzlich und verwandelte sich in einen Metallklum­pen. Gleichzeitig ließ der Dunkle den Knauf seiner Waffe los, weil er die Hitze wohl nicht vertragen konnte.

Thorin nutzte diesen Augenblick der Verwirrung bei seinem Geg­ner und setzte sofort nach. Diesmal traf Sternfeuer mitten ins dämoni­sche Leben! Ein geradezu unheimliches Stöhnen erklang hinter dem Visier des gehörnten Helms, als der dunkle Gegner zu taumeln be­gann.

Thorin riss Sternfeuer aus der Brust des Gegners zurück und stell­te erstaunt fest, dass sich überhaupt kein Blut an der Klinge befand. Ein erneuter Beweis dafür, dass diese Kreatur nur noch von finsteren Mächten am Leben erhalten worden war - nämlich von Nachtherzog Arian!

Er wollte noch einmal zuschlagen, stellte jedoch dann fest, dass das nicht mehr nötig war.

Sternfeuer hatte das unwirkliche Leben seines Gegners vernichtet

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und die Gestalt brach zusammen, ohne einen weiteren Laut von sich zu geben.

Thorin atmete schwer auf, während er auf den regungslosen Kör­per seines Feindes sah. Er vergewisserte sich kurz, dass oben auf der Treppe niemand zu erkennen war und dass keiner den Kampf bemerkt hatte. Dann beugte er sich über den Leichnam und schleifte ihn hin­über in eine Ecke, die man von der Treppe aus nicht sehen konnte.

Der blonde Krieger öffnete das Visier des Getöteten und fuhr un­willkürlich zurück, als er in ein bleiches Gesicht mit weit aufgerissenen Augen blickte, das mit einem Menschen überhaupt nichts mehr gemein hatte. Der Mensch, den Thorin getötet hatte, war schon lange vorher gestorben und er hatte ihn nur von seinen unbeschreiblichen Leiden erlöst. Was für Kräfte besaß Arian, dass er Tote am Leben erhalten konnte und dass sie auch noch seinen Befehlen gehorchten?

Kurzerhand nahm Thorin Helm und Umhang des Toten an sich. Der Helm passte und würde sein Gesicht verbergen. Von weitem sah er aus wie eine von Arians Kreaturen und das passte sehr gut zu sei­nen weiteren Plänen.

Im gleichen Moment, wo er sich den Umhang des getöteten Fein­des über die Schultern geworfen und den Helm aufgesetzt hatte, über­fiel den Leichnam plötzlich ein heftiges Zittern. Fassungslos sah Tho­rin, wie der Tote in wenigen Augenblicken vollkommen zu Staub zer­fiel. Das war alles, was von dem Gegner noch übrig blieb - wieder ein Zeichen, dass hier schwarze Magie im Spiel war!

»Blendwerk des Teufels«, murmelte Thorin und verließ dann den Ort des Schreckens, näherte sich der Treppe, die nach oben führte. Er setzte einen Fuß auf die feuchten Stufen und sah sich um. Aber noch blieb alles ruhig. Den Kampflärm schien tatsächlich niemand bemerkt zu haben. Er wollte schon weitergehen, als er auf einmal irgendwo unter sich einen schwachen Hilferuf vernahm. Den Hilferuf eines Men­schen!

*

Das Licht der brennenden Pechfackeln erhellte den großen Saal nur

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dürftig. Der weitaus größte Teil des Raumes lag im dämmrigen Zwie­licht, so dass das Licht der Fackeln bizarre Schatten an die steinernen Wände warf.

Auf einem Thron aus Jade saß ein Mann, dessen Gestalt sehr groß und noch kräftiger wirkte. Ein wild wuchernder schwarzer Bart bedeck­te das Gesicht mit den harten Zügen und die ebenfalls schwarzen Au­gen verhießen nichts Gutes. Arian, der Nachtherzog und Herrscher über diese finstere Burg, saß allein in seinem Thronsaal und schmiede­te dunkle Pläne, wie er die Völker der Bergwelt noch mehr unterjochen konnte.

Seine dunklen Reiter waren ihm dabei eine große Hilfe. Die Krea­turen hatte er mit Hilfe schwarzer Magie zum Leben erweckt und sie zu Söldnern der Finsternis gemacht. Sie führten alle seine Befehle oh­ne Zögern aus und stellten willige Werkzeuge dar, wenn es darum ging, seine Herrschaft über diesen Teil des Landes ständig zu vergrö­ßern.

Jetzt war er gefürchtet wie kein anderer in der Bergregion und niemand wagte es, sich ihm entgegenzustellen. Arian strich sich grin­send über seinen dichten Bart, als er an den Überfall auf das kleine Dorf vor zwei Tagen dachte. Er erinnerte sich noch an den blonden Krieger, der ihm mit bloßem Schwert getrotzt hatte. Verloren hatte er dennoch!

Genau wie alle anderen, denn die Kräfte von Arians Schwert wa­ren stärker gewesen.

Arian schob den Gedanken an den fremden Krieger wieder beisei­te. Wahrscheinlich war dieser schon längst auf der anderen Seite der Berge und hatte diesen unliebsamen Kampf schon längst aus seiner Erinnerung verbannt. Es war nicht gut, wenn man sich mit den Mäch­ten der Finsternis anlegte...

Der Nachtherzog hatte am Morgen dieses Tages einen siegreichen Beutezug durchgeführt. Er und seine dunklen Reiter hatten erneut ein Dorf überfallen. Diesmal aber hatten sie sechs Menschen mitge­schleppt, die am nächsten Morgen den dunklen Mächten geopfert werden sollten. Arian wusste, was er den Herrschern der Finsternis schuldig war, denn ihnen hatte er seine Macht zu verdanken. Also

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musste er auch seine Dankbarkeit unter Beweis stellen. Wenn das Licht der Morgensonne sich bald über den Bergen aus­

breitete, dann würde die Opferung stattfinden. Und die Herrscher der Finsternis würden zufrieden sein mit ihm!

Plötzlich durchfuhr ihn ein eigenartiges Gefühl. Arian zuckte zu­sammen, weil ihn auf einmal eine dumpfe Ahnung überkam. Die seeli­sche Verbindung zu einer seiner dunklen Kreaturen war von einem Atemzug zum anderen plötzlich abgerissen. Aber der Nachtherzog stand mit jedem seiner Geschöpfe in Verbindung und fühlte sich des­wegen umso sicherer. Nun war etwas geschehen, was er zumindest jetzt nicht begriff.

Arian erhob sich rasch von seinem Thron. Wieder versuchte er, ei­ne geistige Verbindung zu seinem Geschöpf herzustellen, aber es miss­lang erneut. Der Nachtherzog spürte, dass hier etwas geschehen war, womit er nicht gerechnet hatte. Das dunkle Geschöpf existierte nicht mehr und das konnte eigentlich nur möglich sein, wenn es jemand vernichtet hatte.

Ein Feind musste in die Burg eingedrungen sein. Ohnmächtiger Zorn ergriff Arian bei diesem Gedanken, weil er erst durch den Tod seiner Kreatur davon etwas mitbekommen hatte. Sofort hob er beide Hände und murmelte mit heiserer Stimme eine Beschwörung in einer längst vergessenen Sprache. Mit dieser Beschwörung erging der Ruf an alle anderen dunklen Geschöpfe in seiner Burg. Der Ruf der Wach­samkeit! Gefahr deutete sich an und die musste so rasch wie möglich beseitigt werden, ehe es zu weiteren Zwischenfällen kam...

*

Thorin glaubte im ersten Moment, dass er sich doch getäuscht hatte. Aber dann hörte er erneut den schwachen Hilferuf. Ganz leise drang er an seine Ohren. Es musste aus einem Gewölbe irgendwo unterhalb kommen, denn die Stimme klang hohl und dumpf zugleich.

Wenn dort unten Menschen seine Hilfe benötigten, dann durfte Thorin jetzt nicht mehr zögern. Der Nordlandwolf sah sich um und entdeckte dann weiter hinten im düsteren Fackelschein eine Öffnung

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im Steinboden, wo Stufen hinunterführten. Egal, welche finsteren Gefahren in diesen dunklen Mauern auf ihn

warteten. Jemand hatte um Hilfe gerufen und Thorin würde ihm bei­stehen!

Sternfeuer fest in der Rechten haltend, näherte sich Thorin dem Zugang in die unteren Gewölbe. Eine undurchdringliche Finsternis stellte sich dem blonden Krieger entgegen. Deshalb griff er sich eine der Pechfackeln, um überhaupt etwas erkennen zu können. Denn dem Zufall wollte er in dieser gefährlichen Situation nichts überlassen.

Die Stufen waren kalt und feucht wie die ganze Burg. Hier herrschte eine eisige Kälte wie oben in den Bergen. Aber diese Kälte war nicht natürlichen Ursprungs.

Dumpf erklangen seine Schritte, als er die Treppe hinunterging. Die Fackel erleuchtete das Kellergewölbe nur notdürftig, so dass er erst viel später die Gitterstäbe weiter hinten sah, die ein Weiterkom­men verhinderten.

Er hob die brennende Pechfackel höher, um besser sehen zu kön­nen. Im Schein des unruhig brennenden Lichtes sah er, dass diese Gitterstäbe offensichtlich den Zugang zu einem Verlies bildeten. Sche­menhafte Gestalten waren hinter den Gitterstäben zu erkennen, deren Arme sich Thorin hilfesuchend entgegenstreckten. Menschen wurden hier gefangen gehalten und der Himmel mochte wissen, wie lange sie hier schon ausharren mussten.

»Ihr Götter...«, murmelte er entsetzt, als er in die Gesichter der Menschen sah. Sechs an der Zahl waren es. Krieger irgendeines Volkes der Berge, die der Nachtherzog hierher verschleppt hatte.

»Rette uns!«, stieß einer der Gefangenen keuchend hervor, wäh­rend sich seine Hände um die Gitterstäbe klammerten. Nackte Angst über das ungewisse Schicksal von ihm und seinen Gefährten war in den Augen des Mannes zu erkennen.

Wilder Zorn ergriff Thorin, als ihm bewusst wurde, dass diese Un­glücklichen hier schlimmer eingesperrt waren wie Schlachtvieh. Der Nachtherzog war die personifizierte Inkarnation der Finsternis, die es so schnell wie nur möglich zu vernichten galt.

»Wer bist du und wie bist du in die Burg gekommen?«, wollte nun

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ein zweiter Gefangener von Thorin wissen, der den blonden Hünen ganz ungläubig anschaute. Er schien es immer noch nicht wahrhaben zu wollen, dass es ein Mensch überhaupt geschafft hatte, in die Burg einzudringen, ohne dass er von den finsteren Kreaturen entdeckt wur­de.

»Jetzt ist nicht die Zeit für große Worte«, erwiderte Thorin knapp. »Tretet zurück, wenn ich jetzt das Gitter zerschlage.«

Die Gefangen taten, was Thorin ihnen geraten hatte. Schweigend und staunend zugleich sahen sie zu, wie der Nordlandwolf mit der scharfen Klinge des Götterschwertes zu einem starken Hieb ausholte. Dann durchschnitt Sternfeuer die Gitterstäbe, als seien sie aus Holz oder irgend einem anderen weichen Material. Die Klinge leuchtete kurz auf, als sie mit dem Eisen in Berührung kam. Dann war das Schloss auch schon zerschmettert.

»Kommt heraus - ihr seid frei!«, rief Thorin den sechs Männern zu, die ihn nun anstarrten wie eine übersinnliche Erscheinung. Eine Klinge mit solch gewaltigen Kräften hatten sie noch nie gesehen. War der Fremde vielleicht sogar ein Sendbote, den die Götter der Berge geschickt hatten, um sie aus ihrer unglücklichen Lage zu befreien?

»Was zögert ihr noch?«, wandte sich Thorin nun mit sichtlicher Ungeduld an die immer noch erstarrten Gefangenen. »Ihr müsst weg von hier, bevor die dunklen Geschöpfe auf euch aufmerksam wer­den...«

»Und was ist mit dir, Krieger?«, stellte einer der Männer die Ge­genfrage. »Hat dich unser Volk geschickt, um uns zu befreien? Dann komm mit in unser Dorf - du wirst dort sehr willkommen sein.«

»Ich werde euch helfen, dass ihr von hier fliehen könnt«, antwor­tete Thorin daraufhin. »Aber auf mich warten noch andere Dinge. Nun kommt endlich!«

Mit diesen Worten wandte er sich hastig ab und eilte den Gang entlang. Die Gefangenen vergaßen nun ihre Furcht und folgten dem blonden Krieger. Sie wussten, dass der Tod seine Hand nach ihnen schon ausgestreckt hatte - deshalb durften sie keine Zeit verlieren.

Thorin lächelte grimmig, als er sah, dass ihm die Männer nun doch folgten. Erst dann richtete sich sein Blick auf die feuchten Stufen vor

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ihm, die hinauf in die dämmrige Halle führten, wo er die Kreatur der Finsternis besiegt hatte. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie viel er eigentlich riskiert hatte, als er sich dazu entschlossen hatte, die Ursache der Hilferufe zu ergründen. Denn in der Zwischenzeit hätte man ihn genauso gut schon entdecken können.

Leise stieg er die Stufen hinauf. Die Männer, die sich dicht hinter ihm befanden, blickten sich misstrauisch in dem Gewölbe um. Für sie sah es so aus, als wenn jeden Augenblick eines der dunklen Geschöpfe aus irgendeiner Nische kommen und sich dann auf sie stürzen würde. Thorin bemerkte die ängstlichen Gesichter der Männer und wies des­halb auf das winzige Häufchen Staub auf dem feuchten Gestein.

»Seht nur genau hin«, sagte er leise. »Das ist alles, was von einer dieser Kreaturen übrig geblieben ist. Staub, den der Wind in alle Him­melsrichtungen blasen wird, wenn der Tag anbricht. Auch diese Ge­schöpfe sind sterblich und deshalb werde ich sie vernichten!« Er hielt inne, um Luft zu holen. »Dies Loch da drüben in der Mauer - das ist der Fluchtweg, der euch zur Freiheit verhilft. Ich habe auf diesem Weg die Mauer erklommen und ihr habt somit auch keine andere Möglich­keit. Nehmt die Stricke da drüben in der Ecke und knotet sie zu einem langen Seil zusammen. Aber beeilt euch, denn der Morgen ist nicht mehr fern und dann werden die Wächter oben auf den Zinnen ein leichtes Spiel mit euch haben. Vielleicht finden einige von euch dabei auch den Tod - aber ihr müsst es trotzdem wagen.«

»Das werden wir auch tun«, versprach ihm einer der Männer, der sich zum Sprecher der kleinen Gruppe gemacht hatte. Während zwei seiner Gefährten sich sputeten und hastig die Stricke zusammenknote­ten, hefteten sich seine Blicke auf den blonden Krieger. »Wir schließen dich in unsere Gebete mit ein, wenn wir in Sicherheit sind. Aber wie ist dein Name, Fremder?«

»Ich heiße Thorin und komme aus den Eisländern des Nordens«, erwiderte er knapp. »Und jetzt beeilt euch!«

Er wartete nicht mehr ab, ob der andere darauf noch etwas zu erwidern hatte. Nur wenige Atemzüge später war Thorin bereits in der Dunkelheit des Gewölbes schon wieder untergetaucht. Er war so schnell gegangen wie er gekommen war - leise und ganz plötzlich...

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*

Einer der Gefangenen spähte in die Tiefe und zuckte zusammen. Sein Gesicht war eine einzige Grimasse der Furcht, als er sich zu seinen Gefährten umdrehte.

»Es ist unmöglich«, flüsterte er. »Heimar, es wird uns niemals ge­lingen, dort unten anzukommen. Entweder wir stürzen ab, oder die Geschöpfe des Nachtherzogs werden uns entdecken. Wir sind verlo­ren.«

»Schweig, Elmer«, erwiderte Heimar, der Sprecher der kleinen Gruppe, heftig. »Thorin hat uns befreit und wir haben es ihm zu ver­danken, dass wir überhaupt bis hierher kommen konnten. Ich weiß zwar nicht, was in diesen unheimlichen Mauern noch so alles vor sich geht, aber wir dürfen nicht mehr zögern. Elmer, hast du die magischen Kräfte des Nachtherzogs schon vergessen? Wir müssen uns sputen - sonst ist es wirklich zu spät für uns. Ich will meine Familie wieder se­hen - ihr vielleicht nicht?«

Seine Worte gaben schließlich den Ausschlag. Er wusste, dass er den Anfang machen musste, um den anderen Mut zu machen. Ohne große Worte zu verlieren, schlang er sich das Seil um die Hüften und band es gut fest. Das andere Ende hatten seine Gefährten in der Zwi­schenzeit an einem Balken befestigt. Somit war ein guter Halt vorhan­den.

Vorsichtig beugte sich Heimar aus der Öffnung hinaus und spähte nach oben zu den Zinnen. Bis jetzt blieb noch alles still. Keiner der dunklen Wächter war zu sehen. Heimar betete im stillen zu seinen Göttern, als er sich aus der Öffnung zwängte und dann den Abstieg wagte. Jetzt stand alles auf des Messers Schneide. In dem Augenblick, wo ihn jemand entdeckte, war auch das Leben seiner Gefährten in Gefahr.

Heimar wagte erst gar nicht daran zu denken, sondern konzent­rierte sich ganz auf den Abstieg. Steil fiel die Mauer zu seinen Füßen ab und wenn das Seil riss, dann würde sein Körper unten auf dem felsigen Boden zerschmettern.

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Aber die Götter waren auf seiner Seite. Unbemerkt gelang es ihm, sich hinunterzuseilen und als er unten auf dem Boden aufkam, drohte sein Herz vor Aufregung fast zu zerspringen. Sofort band er sich los und wartete auf den zweiten seiner Gefährten, der nun das Wagnis auf sich nahm. Elmer war es, der nun an der Reihe war. Er wollte gerade seinen Körper durch die Öffnung zwängen, als Heimar den dunklen Schatten oben auf den Zinnen bemerkte.

Hastig warf er sich hinter einem Felsen in Deckung und hoffte im stillen, dass Elmer jetzt keinen Fehler machte. Er durfte nicht gesehen werden, sonst war alles aus. Aber der Gefährte schien die Schritte des dunklen Wächters gerade noch rechtzeitig bemerkt zu haben. Von sei­ner Deckung aus konnte Heimar beobachten, dass Elmer solange war­tete, bis sich der Wächter wieder entfernt hatte. Erst dann setzte er sein Vorhaben fort.

Alles andere ging dann schnell vonstatten. Elmer schaffte es Au­genblicke später, den Boden zu erreichen. Sein Gefährte blickte ihn erleichtert an.

»Ich dachte schon, du hättest ihn nicht gesehen«, flüsterte Hei­mar. »Er hätte dich sofort getötet...«

Elmer winkte ab. »Die Götter haben mich eben beschützt«, erwiderte er. »Sieh, da

oben kommt Dyll...« Der dritte der Männer schwang sich jetzt aus dem winzigen Fens­

ter und schon wenige Augenblicke später folgten die beiden nächsten. Jetzt war nur noch einer der Männer oben im Gemäuer. Heimar hoffte, dass auch ihm es gelang, sicher nach unten zu kommen. Er verspürte nämlich schon seit geraumer Zeit eine seltsame Ahnung von Gefahr -und dafür hatte er keine Erklärung.

Im gleichen Moment, wo ihm das durch den Kopf ging, erschallte von den Zinnen der Festung der Klang eines Hornes. Dumpf und kla­gend erschallte es in der Nacht und die Männer am Fuße der gewalti­gen Mauer zuckten zusammen.

»Sie haben unsere Flucht entdeckt«, murmelte Elmer. »Oder ist es etwa der blonde Krieger, den sie...?« Er sprach diesen Gedanken nicht zu Ende, als auch ihm klar wurde, was das zu bedeuten hatte.

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Währenddessen war auch der letzte der Männer dabei, sich das Seil umzuknoten und dann hinunterzuklettern. Natürlich hatte auch er das Hornsignal vernommen und legte nun eine ziemliche Eile an den Tag. Denn jetzt mussten sie alle so schnell wie möglich das Weite su­chen. Der Mann ahnte, was die Stunde geschlagen hatte und beeilte sich, nach unten zu gelangen - und zwar so schnell wie möglich.

Während seine Hände das Seil umklammerten, schaute er öfters nach oben zu den Zinnen. Doch der Tod hatte schon längst seine Hand nach ihm ausgestreckt. Plötzlich tauchte ein riesiger Schatten auf, der den Fliehenden sofort erspäht hatte. Ohne einen Laut von sich zu ge­ben, starrte er hinunter auf den Mann, der nun zwischen Himmel und Erde hing.

»Ihr Götter!«, schrie der Unglückliche. Jetzt beeilte er sich noch mehr mit dem Abseilen. »Heimar! Elmer!«, schrie er seinen Gefährten zu. »Steht mir doch bei!«

Aber die anderen waren vollkommen machtlos. Mit schreckgewei­teten Augen sah der Mann, wie die dunkle Gestalt sich über die Zinnen beugte und mit einer geschmeidigen Bewegung mit einer Lanze zum Todesstoß ausholte. Die scharfe Spitze leuchtete kurz im Licht des Mondes auf.

»Nein!«, kam ein Schreckensschrei über die Lippen des Mannes. Seine Stimme überschlug sich nun vor Angst, aber er konnte seinem Schicksal jetzt nicht mehr entrinnen. Die finstere Gestalt schleuderte die Lanze dem Mann entgegen und die Spitze bohrte sich zielsicher in die Brust des Unglücklichen.

Mit einem lauten Aufschrei ließ der Mann das Seil los. Er brüllte immer noch, als er schon in die Tiefe stürzte. Seine Stimme brach erst dann abrupt ab, als der Körper mit einem hässlichen Geräusch auf den felsigen Boden prallte und dort zerschmetterte.

Heimar war der erste, der kurz darauf aus der Starre des Schre­ckens erwachte.

»Flieht!«, rief er seinen Gefährten zu und ließ nun jede weitere Vorsicht außer acht. Weil ihm und den anderen nun klar war, dass sie absolut nichts mehr zu verlieren hatten. »Die Kreaturen Arians haben uns entdeckt! Lauft um euer Leben!«

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*

Thorin verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an die sechs Bergbewohner, die er aus dem dunklen Verlies befreit hatte. Sein gan­zes Augenmerk war jetzt auf den großen Turm inmitten der Festung gerichtet, den er von dem vergitterten Fenster, das er jetzt passierte, gut erkennen konnte.

Gerade als er den schmalen Gang hinter sich gebracht und ein Tor erreicht hatte, das zum Burghof führte, vernahm er den klagenden Schall des Horns, dessen Echo über die Zinnen schallte. Wahrschein­lich hatte einer der Wächter oben auf dem Wehrgang die fliehenden Gefangenen entdeckt und nun Alarm gegeben.

Thorin hoffte, dass den sechs Männern trotzdem die Flucht ge­lang. Aber diese günstige Gelegenheit wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Die dunklen Kreaturen des Nachtherzogs vermuteten jetzt bestimmt keinen weiteren Feind im Inneren der Burg mehr. Also würde es ihm leichter fallen, zum Quartier Arians ungesehen vorzu­dringen.

Unwillkürlich presste er sich in eine Nische, als er im letzten Au­genblick vier vermummte Gestalten sah, die aus einem Steinhaus ne­ben dem großen Turm herausgeeilt kamen. Obwohl diese Kreaturen nur durch dämonische Kräfte am Leben gehalten wurden, bewegten sie sich zumindest in diesem Moment schnell und sicher.

Im Schutze eines Torbogens beobachtete der Nordlandwolf, wie Arians Geschöpfe hastig die Pferde aus dem Stall holten und dann we­nig später schon über den Burghof in Richtung des großen Tores preschten. Das massive schwere Tor öffnete sich und schloss sich so­fort wieder, sobald der Reitertrupp es hinter sich gelassen und die Ver­folgung der flüchtigen Gefangenen aufgenommen hatte.

Der blonde Krieger vergewisserte sich kurz, dass ihn niemand sah. Dann eilte er weiter.

Allerdings wusste Thorin nicht, dass er diesmal gegen eine Macht kämpfte, die nichts mit den Gegnern gemeinsam hatte, denen er bis jetzt gegenüber gestanden hatte. Ishira, die Dämonenpriesterin des

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Dschungels, oder der finstere Meeresgott Baal - sie waren nichts ge­gen die magischen Kräfte des Nachtherzogs Arian. Nur Sternfeuer be­schützte Thorin und das war im Grunde genommen nicht sehr viel. Vor allem, wenn man nicht vergaß, was für ein heimtückischer Gegner die schwarze Magie doch war.

Der Nordlandwolf sah nicht den breitschultrigen Mann im dunklen Gewand, der am Fenster seines Gemaches stand und über den Burg­hof blickte. Kraft seines Geistes hatte er das Tor für seine Kreaturen geöffnet und es ebenso schnell wieder geschlossen. Dabei hatte er Thorin entdeckt!

Arian lächelte stumm, als er sah, wie sein Gegner über den In­nenhof der Festung eilte. Im stillen musste er lächeln über diesen Mut eines einzelnen. Der Fremde hatte die Gefangenen befreit und wahr­scheinlich dabei eines seiner Geschöpfe getötet. Trotzdem hatte der Eindringling sein Leben bereits verspielt, ohne es zu ahnen, denn Ari­ans Kräfte würden sich jetzt erst so richtig entfalten angesichts dieser Gefahr. Bis jetzt hatte er noch jeden unliebsamen Widersacher aus dem Weg räumen können - also würde ihm das jetzt auch wieder ge­lingen!

An den getöteten Nachtreiter verschwendete er keinen einzigen Gedanken mehr. Es waren ohnehin seelenlose Geschöpfe, die er nach seinem eigenen Willen geformt hatte. Sie waren somit jederzeit wieder durch andere zu ersetzen. Kraft seines Geistes konnte er jedem Opfer die Seele nehmen, wenn er das nur wollte. Und das würde er auch mit den flüchtigen Dorfbewohnern tun, sobald seine Geschöpfe sie wieder eingefangen hatten.

Sicher würden sie nicht weit kommen, denn ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Für den Nachtherzog war es überhaupt keine Frage, dass der soeben aufgebrochene Verfolgertrupp die Flüchtigen sehr schnell eingeholt haben würde. Sie waren und blieben eben dumm und hilflos, diese einfachen Menschen der Bergwelt. Diese sechs hatte er ursprünglich den Mächten der Finsternis opfern wollen, aber Arian hat­te sich das mittlerweile anders überlegt. Er würde sie stattdessen zu weiteren seelenlosen Kreaturen machen, die seine Truppe dann noch verstärkten. So erfüllten sie wenigstens einen Zweck!

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Der Nachtherzog wandte sich schließlich wieder ab vom Fenster. Seine Gedanken konzentrierten sich stattdessen auf den Eindringling, dessen Ziel wohl der Turm war. Nun gut, dieser Narr wollte es wahr­scheinlich nicht anders. Arian beschloss, noch ein wenig mit ihm zu spielen, bevor er ihn endgültig vernichtete. In seinen schwarzen Augen spiegelte sich das Licht der brennenden Pechfackeln, während über seine wulstigen Lippen ein grausames Lächeln huschte...

*

Das Tor hatte sich längst wieder geschlossen und jetzt blieb der Burg­hof in vollkommener Stille zurück. Thorin kam es so vor, als sei die Burg menschenleer und wenn man es genau nahm, war dem ja auch so. Aber irgendwo dort oben in diesem wuchtigen Turm hauste einer der schlimmsten Magier, den die Menschheit bisher gekannt hatte.

»Ich hole mir deinen Kopf, Arian«, murmelte Thorin. »Lange wird es nicht mehr dauern...« Wenige Schritte bevor er den Zugang zum Turm erreicht hatte, öffnete sich plötzlich die breite Tür wie von Geis­terhand.

Gähnendes Dunkel lauerte dahinter. Thorin blieb unwillkürlich ste­hen und wartete einige Atemzüge ab. Dann umfasste seine Rechte den Knauf des Götterschwertes noch etwas fester, während er seine Blicke umherschweifen ließ. So gut das in diesem dämmerigen Zwielicht ü­berhaupt möglich war.

Trotzdem schritt er weiter voran, passierte das Tor und befand sich schließlich im Inneren des großen Turmes. Erst jetzt sah er den schwachen rötlichen Schein, der die Treppenstufen weiter oberhalb erhellte, so dass der Nordlandwolf wenigstens etwas von seiner nähe­ren Umgebung erkennen konnte. Der Weg über die schwach beleuch­tete Treppe - er musste zum Quartier des Nachtherzogs führen. Thorin war sich umso sicherer, weil er erneut die Wärme spürte, die von der Götterklinge ausging. Sternfeuer ahnte die Macht des Bösen, die nicht mehr weit entfernt war.

Das war der Moment, als die Tür hinter ihm plötzlich zuschlug. Der Knall verursachte ein unangenehmes Echo im Turm. Thorin wirbelte

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geistesgegenwärtig herum, jederzeit darauf gefasst, seinem Todfeind gegenüberzustehen. Das Schwert hatte er hoch emporgereckt, um sich so besser gegen einen schnellen Angriff wehren zu können. Doch nichts war zu sehen und alles blieb still. Wenn ihm wirklich jemand auflauerte, dann musste er sich unsichtbar gemacht haben. Denn Tho­rin sah keine verdächtige Bewegung im rötlichen Schimmern an der Treppe.

Langsam ging er auf die Treppe zu, die in die oberen Räume des Turmes führte. Als er seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, erklang auf einmal ein lautes grollendes Lachen, das von den feuchten Wänden als Echo zurückgeworfen wurde.

Thorin zuckte zusammen, aber da war das Gelächter auch schon wieder verstummt. Der Nachtherzog hatte Thorin ganz offensichtlich verspotten und ihn noch verunsichern wollen.

Doch der Nordlandwolf gehörte nicht zu denjenigen, die sich durch so etwas in die Flucht schlagen oder gar einschüchtern ließen. Vielmehr hatte sich Thorin in den Kopf gesetzt, die Macht des Nacht­herzogs hier und heute zu beenden und von diesem Vorhaben wich er auch nicht ab.

Er wollte seinen Weg daraufhin fortsetzen, als hinter ihm auf ein­mal ein grellweißes Leuchten einsetzte und sich dann in einen bunten Farbenwirbel verwandelte. Mit aufgerissenen Augen starrte Thorin auf das makabre Schauspiel, das sich ihm dann bot. Aus dem Farbenwirbel schälte sich wenige Augenblicke später die Gestalt eines in Felle ge­kleideten grauhaarigen Mannes, den Thorin nur zu gut kannte.

»Modir!«, rief Thorin fassungslos, als er sich plötzlich dem Mann gegenüberstehen sah, der ihn vor vielen Jahren in den Eisländern zum Kämpfer ausgebildet hatte. Eine lange Zeit war seitdem vergangen, seit Thorin von dort aus nach Süden aufgebrochen war - und jetzt sah er Modir unerwartet wieder.

Für einen winzigen Moment ließ er jetzt das Schwert sinken und das wurde ihm beinahe zum Verhängnis. Denn die Gestalt, die Thorin für seinen alten Lehrmeister hielt, zückte sofort ein scharfes Schwert und stürzte sich auf den blonden Krieger, um ihm den Garaus zu ma­chen.

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Erst dann begriff Thorin, dass dies niemals Modir sein konnte. Rechtzeitig duckte er sich noch und entging dem mörderischen Hieb der gut geführten Klinge. Dieser Höllenhund Arian musste sich in Tho­rins Gedanken eingeschlichen haben und hatte nun daraus ein Ge­schöpf geformt, das wirklich geworden war. Aber Thorin konnte das Schlimmste verhindern. Nachdem er dem ersten Hieb ausgewichen war, ging er nun selbst zum Angriff über.

Dabei zwang er sich, nicht in das Gesicht des Gegners zu schauen. Das ist nicht Modir, sondern ein Spuk der Finsternis, sagte er sich im­mer wieder im stillen, während er mit dem Feind die Klingen kreuzte. Es ist eine Falle des Nachtherzogs!

Er duckte sich erneut und stieß gleichzeitig Sternfeuer vor. Die Klinge traf die Gestalt, die seinem Lehrmeister so ähnlich sah, mitten in die Brust. Aber nichts geschah daraufhin. Thorins Gegner schien diese Verletzung gar nicht zu spüren!

Die stumme Gestalt knurrte nur und drang nun umso heftiger auf den Nordlandwolf ein. Thorin hatte jetzt sichtliche Mühe, die Hiebe seines Gegners abzuwehren. Aber dann begann Sternfeuer in einem hellen Licht zu erstrahlen, das die Kreatur zurückweichen ließ. Thorin nutzte diesen Moment und setzte sofort nach. Er ließ Sternfeuer in einem großen Bogen kreisen, bevor er mit der Klinge schließlich nach dem Kopf der Gestalt zielte. Dann traf die Götterklinge ihr Ziel und enthauptete die seelenlose Gestalt.

Es war die einzige verwundbare Stelle, die Thorin instinktiv richtig getroffen hatte. Die Gestalt brach von einem Atemzug zum anderen zusammen und die Klinge entglitt den Fingern. Gleichzeitig setzte nun ein allmählicher Verwandlungsprozess ein, der Thorin erkennen ließ, gegen wen oder was er wirklich gekämpft hatte.

Modirs Züge verschwanden und machten einem grünlichen ge­schuppten Gesicht Platz. Der abgetrennte Haupt verwandelte sich in einen Echsenkopf und der Rumpf wurde zu dem eines Reptils. An­schließend löste sich dieser grauenhafte Körper ganz auf und ver­schwand in einem gelblichen Nebel. Pestilenzartiger Gestank erfüllte dabei den Raum, der Thorin fast den Magen umdrehte.

Thorin wich jetzt soweit zurück, bis er die kalten Steine der feuch­

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ten Wand in seinem Rücken spürte. Arians Kräfte waren gewaltig. Tho­rin musste sich sehr vorsehen, wenn er in diesem Kampf wirklich als Sieger hervorgehen wollte!

Weiter oben erschallte erneut das höhnische Lachen des Nacht­herzogs, allerdings diesmal mit einem wütenden Unterton, wie Thorin herauszuhören glaubte. Arian hatte natürlich mitbekommen, dass Tho­rin erneut einen Zweikampf gewonnen hatte und seine Wut darüber steigerte sich immer mehr.

»Du wirst sterben, du elender Hund!«, schrie es von oberhalb des Turms. Es war eine drohende Stimme, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. »Ich werde dich töten und anschließend in Stücke zer­reißen!«

Dann schwieg die zornige Stimme und wieder breitete sich grau­same Stille im Turm aus. Aber das rötliche Leuchten hatte nun an In­tensität zugenommen, je höher Thorin die Treppenstufen hinaufstieg. In lang gezogenen Windungen führte die feuchte Treppe nach oben und niemand konnte wissen, ob nicht schon hinter der nächsten Bie­gung ein weiterer Feind lauerte.

Aber es war nur weißer Nebel, der aus den Mauerritzen quoll und Thorin langsam aber sicher einhüllte. Der Nordlandwolf ahnte die Ab­sicht des Gegners und riss die Klinge hoch, um einen Angriff aus der Nebelwand abzuwehren.

Gleichzeitig fühlte Thorin auf einmal eine bleierne Schwere in sei­nem Kopf. Sternfeuer in seiner Rechten wog immer mehr, wie es ihm erschien. Die Klinge senkte sich nach unten, weil er kaum noch die Kraft besaß, sie hochzuhalten. Zuerst war es nur ein feines Wispern, das er in seinem Kopf vernahm. Eine süße lockende Stimme, die ihn in ihren Bann zog und immer mehr an Wachsamkeit verlieren ließ. Die Stimme trübte die Sinne des blondem Kriegers immer stärker!

»Ergib dich und lass deine Waffe fallen...«, flüsterte die eindringli­che Stimme in seinem Kopf - und zwar auf eine solche Weise, dass Thorin Traum und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Er geriet ins Wanken, wäre beinahe gestolpert, konnte sich aber im letzten Augenblick wieder fangen. Weil Sternfeuer wieder eine intensive Wärme ausstrahlte und mit seinem hellen Schimmer den

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dichten Nebel zu durchdringen versuchte. Erst in diesem Moment ließ der Druck in Thorins Kopf wieder nach

und je stärker die Götterklinge zu strahlen begann, umso mehr lichtete sich der dichte Nebel wieder, der kaum noch die Treppenstufen erken­nen ließ. Dann war der Treppenaufgang wieder klar zu erkennen und Thorin hörte erneut die Stimme des Nachtherzogs - diesmal aber be­deutend näher und deutlicher.

»Komm näher, du Hund!«, erklang die zornige Stimme von weiter oberhalb. »Diesmal wird dich das Schwert der Finsternis endgültig ver­nichten!«

*

Heimar rannte, als würde er von einer Meute blutgieriger Hunde ge­hetzt. Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine Lungen rasselten. Er lief so schnell er konnte und seine Gefährten taten es ihm gleich.

Jeder von ihnen versuchte nicht mehr an den abgestürzten Freund zu denken, aber das gelang ihnen nicht. Noch allzu deutlich hatten sie vor Augen, wie Arians Dämonenkreatur den Unglücklichen ermordet hatte - und nun waren sie selbst auf der Flucht vor den Geschöpfen der Finsternis.

Heimar drehte sich kurz um und sah seine Gefährten, die mehr stolperten als rannten.

Hier draußen vor der Burg lag der Schnee fast kniehoch und er­schwerte ein Vorwärtskommen. Bleiches Mondlicht ergoss sich über das Land und machte die Nacht fast zum Tag.

»Sie kommen, Heimar!«, schrie Elmer und gestikulierte wild mit den Händen. Heimars Blicke folgten denen seines Gefährten und dann sah er ebenfalls, dass sich das Burgtor geöffnet hatte. Ein Reitertrupp kam in diesem Moment herausgeprescht und hielt genau auf die flüch­tenden Männer zu.

»Die Reiter der Finsternis...«, flüsterte Heimar. »Ihr Götter, steht uns bei!«

Wildes Entsetzen überfiel ihn, als er die apokalyptischen Reiter sah, die ihre Pferde gnadenlos antrieben, um der Flüchtigen so rasch

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wie möglich habhaft zu werden. Heimar wollte es einfach nicht wahr­haben, dass das Schicksal so grausam und ungerecht sein konnte. Hatte der blonde Krieger sie alle unter großen Mühen aus den Kerkern befreit, nur damit sie jetzt unter den Schwerthieben der dämonischen Kreaturen hier draußen im Schnee ihr Leben ließen? Wo war Thorin in diesem Augenblick? Vielleicht hatte ihn der Nachtherzog ja schon längst getötet, weil er ohnehin die stärkere Macht besaß...

»Nein!«, schrie Elmer und zitterte am ganzen Leib, als die furcht­baren Reiter immer näher kamen. Schnee wirbelte unter den Hufen der Pferde empor und die Männer waren vor Angst wie gelähmt.

*

Hinter den letzten Stufen öffnete sich der Blick auf eine große Halle. Thorin schritt vorsichtig weiter, denn sein Gefühl warnte ihn, dass er mit allem rechnen musste. Arian lauerte hier irgendwo ganz sicher auf ihn!

Er sah Dutzende von brennenden Fackeln, die ein bizarres Licht an die Steinmauern warfen. Am anderen Ende der Halle befand sich ein Podest, auf dem ein Thron ganz aus Jade stand und dort saß er. Arian, der Nachtherzog! Groß und wuchtig wirkte er in seiner schwarzen Rüs­tung und sein Gesicht lag noch im Dunkel.

Als Thorin näher kam, erhob sich der Nachtherzog von seinem Thron. Er blickte Thorin an und der blonde Krieger sah nun zum ersten mal die grausamen Züge des finsteren Magiers.

Arian wirkte wie ein menschlich gewordener Dämon aus einer an­deren Welt auf Thorin. Als der Nachtherzog ihm das ganze Gesicht zuwendete, sah Thorin deutlich, dass das Antlitz Arians von großen Narben bedeckt war und zwei dunkle Augen blickten Thorin voller Hass an. Es war Hass, den man spüren konnte!

Augenblicke lang herrschte eisiges Schweigen in der großen Halle, während sich die beiden Gegner erst einmal musterten. Thorin fühlte die Kälte, die von dem unheimlichen Magier ausging. Hier trafen die Kräfte des Lichts und der Finsternis zu einem alles entscheidenden Kampf aufeinander und jeder von beiden wusste, dass es jetzt um viel

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mehr ging als nur körperliche Stärke. Das zukünftige Schicksal der gesamten Bergregion und ihrer Bewohner lag jetzt auf der Waagscha­le!

»Du bist ein mutiger Kämpfer«, richtete der Nachtherzog nun das Wort an Thorin. »Aber du bist trotzdem dumm. Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass meine Macht viel stärker ist als dein Schwert? Hast du die Stunde vergessen, wo ich es mit meiner Magie zerbersten ließ?« Die letzten Worte wurden von einem gehässigen Lachen untermalt. Er hoffte, dadurch, seinen Gegner noch mehr zu verunsichern und ihn schließlich in die Enge zu treiben.

»Schweig, du Dämon!«, erwiderte Thorin wütend. »Sternfeuer wird dich diesmal in die tiefsten Schlünde der Hölle schicken, Arian. Deine Schreckensherrschaft ist jetzt zu Ende. Du weißt es nur noch nicht!«

»Große Worte!«, lachte Arian. »Wer bist du, dass du soviel irrsin­nigen Mut beweisen willst? Gleich wirst du sterben, du Narr!«

»Sieh auf meine Klinge, Arian!«, rief Thorin und ignorierte die Drohung des Nachtherzogs völlig. »Sternfeuer ist ihr Name und sie besitzt die Macht des Lichts. Ein zweites mal wirst du mich nicht mehr besiegen können - ich war in der Schmiede der Götter und habe Stern­feuer dort erneuern lassen. Komm und stell dich zum Kampf.«

Die Augen Arians blitzen bei Thorins Worten kurz auf. Er konnte es einfach nicht fassen, was er da zu hören bekam. Dieser Krieger wagte es tatsächlich, ihn ein zweites mal herauszufordern. Aber das reizte ihn umso mehr, denn diesmal würde es einen Kampf geben, bei dem es nur einen Überlebenden geben würde - nämlich Arian.

Der Nachtherzog griff nun nach dem dunklen Schwert, das er schon bereitgehalten hatte. Fest umschloss er den Knauf und erhob dann die Klinge.

»Gut, bringen wir es also hinter uns!«, rief er in triumphierenden Ton. So als sei Thorins Tod schon beschlossene Sache. »Licht kämpft gegen die Finsternis - aber es wird nur einen Sieger geben - nämlich die Finsternis!«

»Rede nicht, sondern kämpfe!«, hielt ihm der blonde Krieger ent­gegen. Er wartete nicht mehr ab, bis Arian den ersten Angriff wagte,

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sondern sprang vor und holte mit Sternfeuer zu einem gewaltigen Hieb aus, der Arian zu Boden strecken sollte. Doch der Nachtherzog hatte den Hieb seines Gegners schon kommen sehen und riss geistesge­genwärtig seine eigene Klinge hoch.

Beide Schwerter prallten mit einem klingenden Geräusch aufein­ander. Als sich die Spitzen berührten, erstrahlten sie beide in einem unterschiedlichen Licht. Sternfeuer leuchtete hell wie die Sonne, wäh­rend Arians Klinge eher düsterer Natur war.

Thorin keuchte wütend, als er bemerkte, dass Arian seinen ersten Angriff abgewehrt hatte. Erneut sangen die scharfen Waffen ihr tödli­ches Lied. Beide Gegner stießen heftig zusammen, denn sie hatten nichts zu verlieren. Die Klingen kreuzten sich aufs neue und diesmal passte Thorin für einen winzigen Moment nicht genügend auf. Arians Schwert traf den blonden Krieger an der Schulter und versetzte ihm einen schmerzhaften Stich. Als Thorin die Verletzung spürte, überfiel ihn gleichzeitig auch eine eisige Kälte, die von der Klinge des Nacht­herzogs ausging und ihn fast lähmte. Einen zweiten Stich würde er nicht mehr aushalten, das wusste er jetzt.

»Jetzt vernichte ich dich!«, schrie Arian mit Triumph in der Stim­me. Dann holte er mit seinem finsteren Schwert zum tödlichen Stoß aus. Aber diesmal traf er Thorin nicht, denn der Nordlandwolf hatte die Absicht seines Gegners noch rechtzeitig ahnen können und war ihm demzufolge rasch ausgewichen. Das geschah aber so schnell, dass er nicht auf den Boden zu seinen Füßen achtete. Er stolperte über einen Balken und geriet ins Taumeln.

Instinktiv riss er Sternfeuer nach oben und wehrte so Arians wei­teren Schlag ab, der die augenblickliche Unsicherheit Thorins natürlich sofort bemerkt hatte und diese für sich hatte ausnutzen wollen. Sonst hätte dieser gut gezielte Hieb sicherlich Thorins Ende bedeutet!

Der Nachtherzog stieß einen lauten Fluch aus, als er feststellen musste, dass er seinen Gegner nun doch unterschätzt hatte. Umso entschlossener war er, Thorin nun zu töten und sich dadurch erneut zu beweisen, dass die Magie seiner Klinge allem trotzen konnte. Beide Männer keuchten jetzt heftiger. Dieser so verbissen geführte Kampf kostete sie viel Kraft. Thorin gelang es nun, sich wieder einen Vorteil

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zu holen, indem er verstärkt auf Arian einschlug. Und je mehr Stern­feuer auf die gegnerische Klinge traf, umso stärker erstrahlte die Göt­terwaffe in hellem Glanz. Jetzt zeigte sich das Meisterwerk des Zwer­ges Erz, der Sternfeuer neu geschmiedet und dadurch vervollkommnet hatte. Das gleißende Licht blendete Arian so sehr, dass er jetzt einige Schritte zurückwich. Thorin setzte sofort nach und hieb erneut auf den sich verzweifelt wehrenden Nachtherzog ein. Einmal hatte er Glück und konnte Arian am Bein verwunden.

Das gab dem blonden Krieger noch mehr Mut. Erneut holte er aus. Diesmal war der Hieb so stark, dass sich Arian kaum noch wehren konnte. Als daraufhin beide Klingen aufeinander prallten, konnte Ari­ans Waffe den Kräften der Götterklinge nicht länger standhalten. Das Schwert des Nachtherzogs zerbarst mit einem hässlichen Geräusch.

Ungläubig starrte Arian auf den Knauf, der in seiner Hand lag, während die Klinge, in mehreren Teilen schon zerbrochen, bereits am Boden lag. Das war die Chance, auf die Thorin schon so lange gewar­tet hatte. Er nutzte die augenblickliche Hilflosigkeit des Nachtherzogs und bohrte die Klinge Sternfeuers tief in Arians Brust.

Die Augen des finsteren Magiers weiteten sich. Ein plötzlicher Schatten überzog Arians Gesicht, bevor seine Augen schließlich jeden Glanz verloren. Dann brach der Magier in der dunklen Rüstung zu­sammen, als habe ihn ein Blitz gefällt. Auf dem kalten steinernen Bo­den blieb er liegen und starb so grausam wie er gelebt hatte. Die Ra­che Thorins hatte ihn eingeholt und vernichtet...

Im gleichen Atemzug, wo Arian sein dämonisches Leben aus­hauchte, erzitterten die Mauern der alten Festung. Der Nordlandwolf sah erschrocken zur Decke der Halle, wo sich in der Struktur plötzlich feine Risse zeigten. Wenige Augenblicke später lösten sich die ersten Steine aus der Decke und polterten hinunter auf den Boden. Thorin musste sofort zur Seite springen, sonst hätte ihn ein dicker Stein er­wischt und ihm den Schädel zertrümmert.

Ein dumpfes Grollen erklang aus der Tiefe der Burg, das ständig stärker wurde. Der Erdboden begann zu wanken. Thorin ahnte, dass all dies mit dem Tod des Nachtherzogs zusammenhing. Deshalb durfte er nicht mehr länger an diesem Ort des Grauens verweilen, sondern

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musste rasch von hier verschwinden, bevor die Burg in Schutt und Asche versank und er womöglich noch dabei starb.

Er hastete zur Treppe hinüber, von wo aus er in diesen Thronsaal gekommen war. Er sah noch ein letztes mal hinter sich und erkannte, wie die tragenden Säulen umzustürzen begannen. In dem Moment, wo Thorin seinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, begrub ein mannsgroßer Felsbrocken den Leichnam des Nachtherzogs unter sich.

Das Werk der Zerstörung schritt immer weiter voran. Hier tobten sich jetzt Kräfte aus, die jedes menschliche Ermessen bei weitem ü­berstiegen. Thorin musste förmlich um sein Leben rennen, während Arians Residenz in Trümmern versank.

*

Die furchtbaren Reiter des Nachtherzogs kamen immer näher. Heimar hörte das seelenlose Keuchen der Kreaturen, die ihm ganz dicht auf den Fersen waren. Er duckte sich unwillkürlich, weil er jeden Augen­blick damit rechnete, von einem Lanzenstoß getroffen zu werden. Das war das Letzte, was er in diesem Leben noch spüren würde!

Elmer, sein Gefährte, schrie angsterfüllt auf, als ihn einer der Rei­ter schließlich eingeholt hatte.

»Habt Erbarmen!«, brüllte der Unglückliche, obwohl er wusste, dass die dunklen Reiter keine Gnade kannten. Die finstere Gestalt an der Spitze des kleinen Trupps hob die Lanze zum tödlichen Stoß. Elmer schloss die Augen, weil er das nicht länger mit ansehen konnte und wartete nun auf den raschen Tod, der ihn von all den Qualen erlösen sollte.

Aber soweit kam es nicht mehr, denn auf einmal hielt der dunkle Reiter in seinem gut gezielten Stoß inne. Auch die anderen finsteren Gestalten durchlief ein plötzlicher, unerklärbarer Ruck. Fassungslos sahen die erschrockenen Flüchtlinge, wie die Kreaturen ihre Waffen fallen ließen und gleichzeitig im Sattel heftig wankten. Dann fielen sie steif vom Rücken der Pferde in den Schnee.

Ein intensives rötliches Leuchten umhüllte die regungslosen Kör­per und ließ sie wenige Augenblicke später durchsichtig erscheinen.

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Dann entschwanden die dunklen Gestalten den Blicken der Männer, so als hätten sie nie existiert. Nur eine tiefe Mulde im Schnee zeugte da­von, dass hier ein Körper gelegen hatte.

»Träume ich?«, murmelte Heimar ungläubig vor sich hin und blick­te dabei in die nicht minder erstaunten Gesichter seiner Gefährten. »Gerade noch wollten sie uns alle töten und jetzt...«

Er wollte noch mehr sagen, hatte aber Mühe, seine Gedanken und Empfindungen in diesem Moment in Worte zu kleiden. Deshalb ergriff Elmer nun das Wort, während er atemlos zur Felsenburg zurückblickte.

»Die Burg, Heimar!«, rief er erschrocken, während seine Gefähr­ten ebenfalls in diese Richtung blickten. »Sie stürzt ein!«

Von ferne vernahmen sie das dumpfe Grollen im Inneren der Burg. Dann sahen sie, wie der große Turm in der Mitte des Gemäuers in sich zusammenbrach und auch an den Mauern der Feste bröckelten die ersten Steine herunter. Dieses Werk der Zerstörung setzte sich mit jedem Atemzug immer mehr fort. Es vergingen nur wenige Augenbli­cke, aber in diesem Zeitraum wurde Arians Burg fast völlig vernichtet. Eine dichte Staubwolke stieg in den Himmel empor und verbarg so noch die hinter den Hügeln aufgehende Sonne, die aber dann ihre ersten wärmenden Strahlen über das Land schickte und die Schatten der Finsternis vertrieb.

Erst dann erkannten die Bergbewohner die menschliche Gestalt, die sich zwischen den Trümmern einen Weg bahnte. Der Mann hatte einen unsicheren Gang, so als habe er sehr viel Kraft verloren, aber er hielt sich dennoch auf den Beinen und stolperte den anderen entge­gen.

»Es ist Thorin!«, rief Heimar aufgeregt, als er den Nordlandwolf erkannte. »Er hat es also doch noch geschafft, zu entkommen...«

Sofort eilten sie auf den blonden Krieger zu. Sie blickten dann in ein Gesicht, das von Anstrengung und Erschöpfung gezeichnet war. Thorin spürte natürlich die fragenden Blicke der Männer auf sich ge­richtet und er beschloss, sie nicht länger im unklaren zu lassen.

»Der Nachtherzog ist tot!«, antwortete er mit schwacher Stimme. »Ich habe ihn getötet. Die Herrschaft des Schreckens hat jetzt ein En­de. Ihr seid frei und müsst niemanden mehr fürchten...«

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Er wollte eigentlich noch mehr sagen, aber die Erschöpfung der letzten Stunden forderte nun ihren Tribut. Ihm wurde auf einmal schwarz vor Augen und er spürte, dass er sich nicht mehr länger auf den Beinen halten konnte. Zum Glück waren Heimar und Elmer geis­tesgegenwärtig zur Stelle, um den Nordlandwolf noch rechtzeitig auf­zufangen, bevor er stürzte.

»Wir nehmen ihn mit ins nächste Dorf«, entschied Heimar, wäh­rend er dem bewusstlosen Thorin einen bewundernden Blick zuwarf. »Er hat uns alle gerettet - deswegen sind wir ihm Dank schuldig...«

Die Gefährten nickten stumm. Während zwei der Männer sich be­mühten, die mittlerweile reiterlosen Tiere einzufangen, kümmerten sich Heimar und Elmer um Thorin. Solange, bis sie ihn schließlich auf den Rücken eines der Pferde heben konnten. Dann machte sich der kleine Trupp auf den Weg zurück zum nächsten Dorf. Keiner von ihnen blickte mehr zurück auf die Trümmer der zerstörten Burg, wo eine Schreckensherrschaft ihr Ende gefunden hatte.

*

Er blieb nur einen Tag in dem kleinen Dorf. Gerade so lange, um wie­der zu Kräften zu kommen und sich dann noch mit etwas Proviant für den weiteren Weg durch die Bergwelt von Andustan zu versorgen. Dann hieß es aber auch schon wieder Abschied nehmen von den Men­schen, die ihn mit einer denkwürdigen Mischung aus Ehrfurcht und Dankbarkeit schweren Herzens ziehen ließen.

Thorin hatte eines der Pferde behalten, die die anderen von der Burg mitgenommen hatten. Es war ein starkes ausdauerndes Tier, das ihn ganz sicher bis an sein Ziel bringen würde - und das waren die weiten Steppen von Kh'an Sor.

Thorin hüllte sich in den dichten Umhang, den ihm die Frauen des Dorfes geschenkt hatten, weil durch seine Hilfe ihre Männer lebend zurückgekehrt waren. Auch wenn jetzt wieder kalter Wind aufkam, so fror er dennoch nicht mehr. Er winkte den Dorfbewohnern noch ein letztes mal zu, bevor er dem Pferd die Hacken in die Weichen stieß und es antrieb. Dann setzte sich das Tier auch schon in Bewegung und

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trabte los. Thorin drehte sich nicht mehr im Sattel um, sondern kon­zentrierte sich auf den Weg, der noch vor ihm lag. Wenn alles gut ging und das Wetter mitspielte, dann konnte er schon in zwei Tagen das Eisgebirge hinter sich haben und dann sein Ziel erreichen.

Das kleine Dorf verschwand schließlich am Horizont hinter Thorin. Die Einsamkeit der winterlichen Bergwelt umgab ihn wieder. All das, was er während der letzten Tage erlebt hatte, erschien ihm jetzt selt­sam unwirklich. Aber nur solange, bis er nach Sternfeuer griff und die Wärme der Klinge spürte. Dann wurde ihm erneut bewusst, welche gefährlichen Abenteuer er durch gestanden hatte.

Er trieb das Pferd den Eispass hinauf und kam auch gut voran, weil es gestern und heute nicht mehr geschneit hatte. Der Wind ließ nun wieder etwas nach, als er den Einschnitt in den Felsen erreichte, der geradewegs zur anderen Seite der Berge führte.

Es war ein wildes und einsames Land, aber dennoch von einer herben Schönheit. Thorins Blicke schweiften über die markanten Fel­sen, die den Pfad zu beiden Seiten säumten. Dann durchfuhr ihn ein eisiger Schreck, als er auf einmal die hagere Gestalt weiter oben sah, die in ein Kapuzengewand gekleidet war. Das Gesicht war von der Ka­puze verdeckt und doch erschien Thorin diese Gestalt seltsam vertraut.

Je näher er der Gestalt kam, umso mehr wurde für den Nordland­wolf zur Gewissheit, was er im stillen schon vermutet hatte. Denn die Gestalt hob nun die rechte Hand und wandte Thorin nun auch das Gesicht zu, in dem ein Auge milchig weiß schimmerte.

»Einar, der Allwissende!«, rief Thorin und zügelte sein Pferd, das beim Anblick der unheimlich wirkenden Gestalt nervös hin- und herzu­tänzeln begann. »Ist es wieder mein Schicksal, dass wir uns jetzt be­gegnen?«

»Du kannst es dein Schicksal nennen, Thorin«, erwiderte der halbblinde Gott mit tiefer Stimme. »Unsere Wege sind miteinander verknüpft. Es wird nicht das letzte mal sein, wo wir uns sehen werden. Vielleicht schon bald wieder, denn jetzt, wo Sternfeuer neue Kräfte besitzt, warten noch viele Aufgaben auf dich...«

Thorin hielt dem Blick Einars stand, obwohl ihm beim Anblick des milchigen Auges ein Frösteln über den Rücken lief. Der allwissende

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Gott war und blieb ihm unheimlich. »Weshalb ausgerechnet ich?«, fragte Thorin, weil er nicht

verstand, was ihm Einar damit sagen wollte. »Ich bin ein Sterblicher, der nur über ein gutes Schwert verfügt. Weshalb soll ich weiter gegen die Mächte der Finsternis kämpfen? Ist das nicht die Aufgabe der Göt­ter, diese Schlacht zu führen? Was kann ich als einzelner bewirken?«

»Mehr als du denkst, Krieger«, bekam er dann als Antwort zu hö­ren. »Bedenke eins, Thorin - ich kenne die Vergangenheit und auch die Zukunft. Und deshalb weiß ich, dass der Kampf zwischen dem Licht und der Finsternis noch nicht vorbei ist - er hat noch nicht einmal be­gonnen. All das wird erst noch geschehen. Und der Kampf wird auch hier auf dieser Welt ausgetragen werden. Hier und anderswo, aber das wirst du jetzt noch nicht verstehen. Es soll genügen, wenn ich dir sa­ge, dass du es in der Hand hast, ob diese Welt bestehen bleibt oder untergeht...«

Thorin blickte Einar erstaunt an, als er diese Worte vernahm. Er als einzelner sollte über die Existenz dieser Welt bestimmen? Wie bei allen Göttern war das nur möglich?

»Damals als du dich auf die Suche nach dem Schwert begeben hast, stand deine Bestimmung schon fest, Thorin«, fuhr Einar nun fort. »Viele vor dir versuchten es auch schon, aber keiner erwies sich bis jetzt als würdig. Und jetzt bist du der neue Besitzer von Sternfeuer - zu einem Zeitpunkt, wo die Mächte der Finsternis ihre Hände nach dieser Welt auszustrecken beginnen. Noch ist das Tor verschlossen, das ihre Welt von dieser trennt. Aber es sind schon erste Risse vor­handen und Arian war einer von denen, die diesen Mächten den Weg ebnen wollten. Und er war nicht der einzige. Jetzt, wo du ihn vernich­tet und seine Macht zerstört hast, kennt man die Macht von Sternfeu­er. Du kannst sicher sein, dass die finsteren Mächte dir das nicht ver­gessen werden, Thorin...«

»Ich will nicht zum Spielball göttlicher Mächte werden!«, entfuhr es dem blonden Krieger heftiger als er das eigentlich beabsichtigt hat­te. »Wenn das der Preis ist, den ich für Sternfeuer zahlen muss, dann will ich mich von dieser Klinge wieder trennen, wenn das der einzige Weg ist!«

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Mit diesen Worten griff er nach der Klinge in der Scheide, hielt dann aber in dieser Bewegung wieder inne. Viele verschiedene Gedan­ken gingen ihm in diesem Augenblick im Kopf herum.

»Du kannst dich gar nicht mehr trennen, auch wenn du es woll­test, Thorin«, sagte Einar mit einem wissenden Lächeln zu ihm. »Es ist wie ich gesagt habe - dein Schicksal ist bereits vorgezeichnet im Buch des Wissens, Krieger. Wehr dich nicht länger dagegen, sondern nimm die Aufgabe an, die man dir zugeteilt hat. Du kannst sicher sein, dass dein Name dann niemals vergessen werden wird. Du als Retter der menschlichen Welt - ist das nicht ein Ruhm wie du ihn noch nie zuvor gekannt hast?«

»Ich verließ die Eisländer des Nordens wegen Ruhm und Abenteu­ern«, erwiderte Thorin daraufhin. »Aber nicht um diesen Preis, all­mächtiger Einar. Ich weiß nicht, ob ich mich dieser Aufgabe überhaupt als würdig erweisen kann. Ich weiß nur, dass ich jetzt darüber nicht nachdenken will, sondern ich möchte vergessen, was ich hier erlebt habe. In den Steppen von Kh'an Sor wartet eine neue Aufgabe auf mich. Sie wird mich zwar nicht zum Retter der Welt machen, aber da­für ernte ich Ruhm und Gold!«

Mit diesen Worten trieb er sein Pferd hastig an und ritt los, ohne noch eine Antwort des allwissenden Einar abzuwarten. Im ersten Au­genblick funkelte das gesunde Auge des Gottes wütend, als er den blonden Krieger davon reiten sah. Dann aber vergaß er seinen Groll wieder so rasch wie er ihn überkommen hatte.

»Reite nur, Thorin«, murmelte er dann vor sich hin. »Aber deinem Schicksal wirst du trotzdem nicht entfliehen können. Niemand kann das, wenn die letzte Schlacht zwischen Licht und Dunkelheit bevor­steht...«

Einar verhüllte sein Haupt und hob die rechte Hand. Augenblicke später verschwand die Gestalt im Kapuzengewand von einem Atemzug zum anderen, während der einsame Reiter bereits zwischen den Fel­sen untergetaucht war...

Ende

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