11
Die Stalingrader Armee Der Weg zum' Bataillon führt über' Eisenbahngleise, auf denen in dichten Reihen Güterzüge stehen, mitten durch den frischen, nachts gefallenen Schnee. Dann geht es über ein aufgewühltes freies Gelände voller .Bo'rnben- und Granat- trichter. Auf dem Hügel vor uns ragen dunkel di,eWasse~- türme auf, in denen die Deutschen sitzen. Das freie Gelände, das wir durchqueren, wird von den feindlichen Scharfschützen und Beobachtern gut eingesehen. Aber der kleine, schmäch- tige Rotarmist in seinem langen Militärmantel stapft ruhig neben mir seines Weges und erklärt mir zum Trost bedächtig: »Sie meinen, die da drüben könnten uns nicht sehen? Aber gewiß können sie das. Früher sind wir hier nur nachts lang- gekrochen, aber jetzt ist es etwas anderes, jetzt. sparen sie drüben mit Patronen und Minen.« Dann fragt mich mein Begleiter plötzlich, ob ich nicht Schach spiele, und bei die~er Gelegenheit erfahre ich, daß er ein Schachspieler erster Klasse ist und gerade seinen Meister- titel bekommen sollte. Noch nie habe ich über dieses edle, geistvolle Spiel ein Gespräch geführt, während ich mir dau- ernd bewußt war, daß ich mich unter den Augen der patro- nensparenden Deutschen befand. Ich gab meinem Begleiter ziemlich zerstreute Antworten, denn meine Gedanken wur- den durch die beständige Erwägung abgelenkt, ob die in dem Eisenbeton der Wassertürm~ nistenden Deutschen wohl auch 'sparsam genug wären. Aber die Wassertürme entschwanden unseren Blicken, je näher wir ihnen kamen, und versteckten sich schließlich hinter dem Hügelkamm. Wir gingen auf kaum merkbaren Pfaden über das Gelände der Werkhalle eines Stalingrader Großbetriebs. Wir kamen an ganzen Bergen von fuchsrotem Eisenschrott, an gewaltigen Gießpfannen, an Stahlplatten und eingestürzten Mauern vorbei. Die Rot- armisten sind an die Zerstörungen ringsum so gewöhnt, daß /'ilie ihnen gar nicht mehr auffallen. Im Gegenteil, ein zufällig

Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

Die Stalingrader Armee

Der Weg zum' Bataillon führt über' Eisenbahngleise, aufdenen in dichten Reihen Güterzüge stehen, mitten durch denfrischen, nachts gefallenen Schnee. Dann geht es über einaufgewühltes freies Gelände voller .Bo'rnben- und Granat-trichter. Auf dem Hügel vor uns ragen dunkel di,eWasse~-türme auf, in denen die Deutschen sitzen. Das freie Gelände,das wir durchqueren, wird von den feindlichen Scharfschützenund Beobachtern gut eingesehen. Aber der kleine, schmäch-tige Rotarmist in seinem langen Militärmantel stapft ruhigneben mir seines Weges und erklärt mir zum Trost bedächtig:

»Siemeinen, die da drüben könnten uns nicht sehen? Abergewiß können sie das. Früher sind wir hier nur nachts lang-gekrochen, aber jetzt ist es etwas anderes, jetzt. sparen siedrüben mit Patronen und Minen.«

Dann fragt mich mein Begleiter plötzlich, ob ich nichtSchach spiele, und bei die~er Gelegenheit erfahre ich, daß erein Schachspieler erster Klasse ist und gerade seinen Meister-titel bekommen sollte. Noch nie habe ich über dieses edle,geistvolle Spiel ein Gespräch geführt, während ich mir dau-ernd bewußt war, daß ich mich unter den Augen der patro-nensparenden Deutschen befand. Ich gab meinem Begleiterziemlich zerstreute Antworten, denn meine Gedanken wur-den durch die beständige Erwägung abgelenkt, ob die in demEisenbeton der Wassertürm~ nistenden Deutschen wohl auch'sparsam genug wären. Aber die Wassertürme entschwandenunseren Blicken, je näher wir ihnen kamen, und verstecktensich schließlich hinter dem Hügelkamm. Wir gingen auf kaummerkbaren Pfaden über das Gelände der Werkhalle einesStalingrader Großbetriebs. Wir kamen an ganzen Bergen vonfuchsrotem Eisenschrott, an gewaltigen Gießpfannen, anStahlplatten und eingestürzten Mauern vorbei. Die Rot-armisten sind an die Zerstörungen ringsum so gewöhnt, daß

/'ilie ihnen gar nicht mehr auffallen. Im Gegenteil, ein zufällig

Page 2: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

heilgebliebenes Fensterglas im Gebäude der Fabrikverwal-tung, ein hoher· Schornstein ohne Durchschuß, ein Holz-häuschen, das wie durch ein Wunder unversehrt steht, rufenStaunen und Neugier hervor.

»Sieh doch mal, das Häuschen dort lebt«, sagen sie imVorbeimarschieren und lächeln.

Und wirklich, sie nehmen sich rührend aus, diese wenigenunversehrten Zeugen friedlichen Lebens im Reiche des Todesund der Verwüstung. Der Gefechtsstand des Bataillons be-findet sich im Keller eines riesigen, vierstöckigen Fabrik-blocks in einem der Industriewerke. Es ist der am weitestenwestwärts vorgeschobene Punkt der Stalingrader Front, dersich wie eine Landzunge in das Gewirr der von den Deutschenbesetzten Häuser und Bauten hineinschiebt. Der Feind stehtgleich nebenan, aber das hindert die Rotarmisten nicht, sichruhig und bedächtig mit ihrer Wirtschaft zu befassen. ZweiMann sägen Holz, und ein dritter spaltet die Kloben mit einemBeil. 'Dann kommen Soldaten mit Thermosgefäßen vorbei.In der Nische einer halbzerfallenen Mauer sitzt ein Schützeund schlossert eifrig. Was er repariert, ist ein beschädigterTeil eines Granatwerfers; er überlegt, bevor er sich überEinzelheiten seiner Arbeit schlüssig wird, dann greift er wie-der nach dem Werkzeug und summt leise vor sich hin - ersitzt da wie ein richtiger Handwerker in seiner alten, ihmwohlvertrauten Werkstatt.

Das Haus aber trägt die Spuren des grausigen Zerstörungs-werks der Deutschen. Ringsum haben ihre »Fünfhunderter«riesige schwarze Löcher gerissen. Betonwände und Zimmer-decken sind infolge von Bombentreffern eingestürzt. Ver-bogene.Eisenkonstruktionen hängen, von Detonationen zer-fetzt und zerknickt, herab und erinnern an ein dünnes Fi-schernetz, das ein großer Stör zerrissen hat. Die Westmauerist von der Fernartillerie zerstört, die anderthalb Meter dickeNordmauer von einem sechsläufigen Granatwerfer zum Ein-sturz gebracht worden. Ein großes Rohr, eine Mine, deren

Page 3: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

oberer Rand blütenförmig aufgerissen ist, liegt auf demSteinjußboden. Die Wände sind von leichten Geschossen undMinen wie zerpickt. Aber Eisen und Stein, vom Feuer derDeutschen kleingemahlen, haben die Rotarmisten mit ihrenHänden zu neuen Mauern gefügt, die mit langen, schmalenSchießscharten versehen sind. Und diese Festung aus Trüm-mern hat sich nicht ergeben. Sie hat als ein Vorposten unsererVerteidigung standgehalten und unterstützt heute mit ihremFeuer unsere Offensive.

Und heute wie gestern tobt hier der erbarmungslose, ge-rechte Krieg. An manchen Stellen kommen die Gräben desBataillons bis auf zwanzig Meter an den Feind heran. DerPosten hört, wie die Deutschen in ihren Gräben stapfen, hörtdas Geschimpfe, das sich jedesmal bei der Essenausgabe er-hebt, und hört die ganze Nacht, wie der deutsche Posten inseinen zerrissenen Schuhen in der Kälte herumtanzt. Hierhat. man sich auf jeden Fleck eingeschossen, und jeder Steinist hier Richtziel. Hier wimmelt es von Scharfschützen. Aufdiesen tiefen, schmalen Gräben, wo sich die Menschen Erd-hütten gegraben und darin Öfchen mit Rohren aus Kartusch-hülsen aufgestellt haben, in denen sie wie in der eigenen Wirt-schaft gelegentlich den Kameraden schelten, der sich vomHolzhacken drückt, in denen sie, saftig schlürfend, mit ge-schnitzten Löffeln ihre Suppe essen, die in Thermosgefäßendurch die Laufgräben nach vorn gebracht wird - auf diesenGräben lastet Tag und Nacht die Spannung der Vernich-tungsschlacht.

Die Deutschen wissen, welche Bedeutung dieser Abschnittin ihrem ganzen Verteidigungs system hat. Auch nicht eineSpanne hoch darf man den Kopf über den Grabenrand heben,schon knackt ein Schuß eines deutschen Scliarfschützen.Hier sparen die Deutschen nicht mit Patronen. Aber die fest-gefrorene, steinige Erde, in die sich die Deutschen tief ein-gewühlt haben, kann sie nicht schützen. Tag und Nacht häm-mern Spaten und Hacken, Schritt für Schritt arbeiten sich

Page 4: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

unsere Rotarmisten vor, bahnen sich mit.ihren Leibern denWeg durch das Erdreich, immer näher an die Anhöhe heran,die das Gelände beherrscht. Und die Deutschen ahnen, daßbald die Stunde schlagen wird, wo ihnen weder Scharfschüt-zen noch Maschinengewehre helfen können. Und diesesHäm-mern der Spaten macht sie erschauern, sie möchten eswenigstens für eine kurze Weile, wenigstens eine Minute langzum Schweigen bringen.

»Russ", mach 'ne Rauchpause!« rufen sie herüber.Aber aus den russischen Stellungen kommt keine Antwort,

und gleich darauf geht das Hämmern der Spaten und derHacken im Getöse der Detonationen unter. Die Deutschenmöchten, das Krachen der Handgranaten solle die furcht-bare, planmäßige Arbeit der Russen übertönen. Als Antwortfliegen auch aus unseren Gräben die Granaten. Aber kaumhat sich der Rauch verzogen, kaum ist das Getöse verklun-gen, da hören die Deutschenschon wieder das Schaufeln ihrerTotengräber. Nein, diese Erde schützt sic nicht. Diese Erdeist ihr Tod. Mit jeder Stunde und jeder Minute graben sichdie Russen weiter vor, überwinden die eiserne Härte des fest-gefrorenen Winterbodens.

Und nun sind wir wieder auf dem Gefechtsstand des Ba-taillons. Durch eine zerstörte Wand, an der noch ein Täfel-chen mit der Aufschrift »Kämpft gegen die Fliegenplage,schli~ßt die Türen !« hängt, gelangen wir in einen tiefenKellerraum. Ein rotglänzender Kupfer-Samowar steht aufdem Tische. Auf Sprungfedermatratzen, die aus benachbar-ten zerstörten Häusern stammen, schlafen Rotarmisten undKommandeure.

Bataillonsführer ist Hauptmann Ilgatschkin, ein hoch-gewachsener, schlanker Jüngling mit schwarzen Augen unddunkler, hoher Stirn, ein Tschuwasche. In seinem Gesicht,seinen heißen Augen, seinen eingefallenen Wangen und inseiner Rede spürt man den Fanatismus, die Verbissenheit derStalingrader. Er sagt es auch selbst:

Page 5: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

·»Seit September bin ich hier. Und jetzt kann ich an nichtsandres denken als an diese Anhöhe - vom frühen Morgen an,wenn ich aufstehe, bis in die späte Nacht hinein. Und sogarim Schlafe sehe ich sie vor mir. « Er klopft erregt mit derFaust auf den Tisch und erklärt: »Ich nehme sie ein, be-stimmt nehme ich sie ein. Der Plan ist so bis ins klei~ste aus-gearbeitet, daß kein Irrtum unterlaufen kann. «

Im Oktober war es ein anderer Einfall, der ihn und denSchützen Repa nicht losließ: sie wollten - koste es, was eswolle! -lernen, die du 87«mit Panzerbüchsen abzuschießen.Ilgatschkin nahm ziemlich schwierige Berechnungen mit derAnfangsgeschwindigkeit des Geschosses und der Durch-schnittsgeschwindigkeit des Flugzeugs vor und arbeiteteschließlich eine Tabelle für die Schußberichtigung des Feuersaus. Mit viel Phantasie zimmerten sie ein bei all seiner Ein-fachheit geistreiches »Fliegerabwehrgerät«. Sierammten einenPfahl in den Boden und brachten ein Wagenrad mit einerNabe darauf an. Die Panzerbüchse wurde mit Eisenklammernan den Speichen befestigt, so daß sie zwischen diese zu liegenkam. Und der hagere, mürrische Repa schoß noch am selbenTag drei deutsche Sturzbomber !)Ju 87«ab, die unsere Haupt-kampflinie bombardierten.

In letzter Zeit hat sich der berühmte Stalingrader Scharf-schütze Wassilij Saizew dieser Panzerbüchse angenommen.Er ist dabei, eine Fernzielvorrichtung von einem Scharf-schützengewehr daran anzubringen, und hat sich vorge-nommen, seine Kugel mitten durch die Schießscharte in diedeutschen MG.-Nester zu setzen. Und ich bin überzeugt, daßer erreicht, was er will. Saizew selbst ist ein wortkargerMensch, von dem die Kameraden in der Division sagen:»Unser Saizew ist so gebildet und bescheiden, er hat schonzweihundertfünfundzwanzig Deutsche getötet.« In der Stadtgenießt er hohes Ansehen. Die von ihm geschalten jungenScharfschützen heißen die »Hasenjungen« (1),.und wenn er sie(1) Wortspiel. Der Name Saizew kommt von Sajaz - Hase.

Page 6: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

nach einer Rede fragt: »Stimmt's? «,dann antwortet alles imChor: »Esstimmt, Wassilij Iwanowitsch, es stimmt.« Unddieser Saizew berät sich jetzt mit den Ingenieuren, skizziert,grübelt und berechnet. .

Hier in Stalingrad trifft man erstaunlich viele Menschen,die nicht nur ihr Herzblut, sondern all ihre geistigen Kräfte,ihr ganzes angespanntes Denken ill den Krieg hineinlegen.Wie viele solcher. Menschen habe ich gesehen - Obersten,Sergeanten und einfache Rotarmisten -, in denen Tag undNacht nur ein Gedanke bohrte, die Tag und Nacht an irgendetwas rechneten und konstruierten, als hätten es diese Men-schen, die die Stadt verteidigten, auf sich genommen, hierin diesen Kellern Erfindungen und wissenschaftliche Ent-deckungen auszuarbeiten, mit denen sich noch vor kurzemin den geräumigen Laboratorien der Institute und Betriebeberühmte Professoren und Ingenieure befaßt hatten.

Die Stalingrader Armee kämpft in der Stadt und in denBetrieben. Und wie früher einmal die Direktoren der Stalin-grader Industriegiganten und die Parteisekretäre der Be-zirksleitungen ihren Stolz darin sahen, daß dieser und jenerberühmte' Stachanowar beiter, diese und jene Staehanow-arbeiterin bei ihnen und in keinem anderen Stadtteil arbei-teten, so sind jetzt di;;-;inzelnen Divisionskommandeure aufihre berühmten Kämpfer stolz. Batjuk zählt schmunzelndan den Fingern auf: .

»Saizew, den besten Scharfschützen, habe ich in meinerTruppe, Besditko, den besten Granatwerferschützen, eben-falls, Schuklin, den besten Kanonier von ganz Stalingrad,desgleichen. «

Und wie früher jeder Stadtbezirk seine Traditionen, seinenCharakter, seine Eigenart hatte, so unterscheiden sich auchjetzt die Stalingrader Divisionen - einander ebenbürtig anRuhm und Verdienst - durch eine Menge von kleinen Beson-derheiten und charakteristischen Zügen. Von den Traditio-nen der Divisionen Rodimzews und Gurtjews haben wir

Page 7: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

bereits früher berichtet. Bei den Leuten aus der prächtigenDivision Batjuks herrscht ein Ton herzlicher ukrainischerGastfreundschaft, eine liebevoll-spöttische Gutmütigkeit.Sie erzählen gern, wie Batjuk einmal vor seinem Bunkersta~d und scherzend das Feuer der deutschen Granatwerferkorrigierte, deren Geschosse pfeifend eines nach dem anderenin eine Mulde flogen und dicht um den Artilleriechef ein-schlugen, der eben seine unterirdische'Höhle verlassen wollte:

»Rechts zwei Meter. So, und jetzt links ein Meter. Gibacht, Artilleriechef !«

Man lacht auch gern über den legendären Granatwerfer-virtuosen Besditko. Besditko, ein Mann, der nie sein Ziel ver-fehlt, der seine Granaten auf wenige Zentimeter genau hin-legt, ärgert sich wohl ein bißchen; aber er lacht mit. Undwiederum spöttelt Besditko, der schon tausenddreihundert-fünf Deutsche getötet hat, mit seiner singenden, weichenTenorstimme und seinem verschmitzten ukrainischen Lä-cheln liebevoll übel' den schmächtigen Batterieführer Schu-klin, der im Laufe eines Tages mit einer Kanone vierzehnPanzer abschoß:

»Er hatte eben nur die eine, da konnte er nicht mit mehre-ren schießen. «

Ja, man lacht gern im Bataillon, und einer erzählt gernvom andern etwas Lustiges. Von plötzlichen nächtlichen Zu-sammenstößen mit den Deutschen wird erzählt, und wie mandie in die Gräben fliegenden deutschen Handgranaten auf-fängt und in die deutschen Unterstände zurückschmeißr,oder wie gestern der sechsläufige »Dummerjan« der Deut-schen aufgespielt und alle seine sechs Minen treu undbrav in ~ie deutschen Stellungen verfrachtet hat. Eine be-liebte Geschichte ist auch die von dem Riesensplitter einertonnenschweren Fliegerbombe, der glatt einen Elefanten 'hätte töten kö-nnen und im Vorbeiflug einem Rotarmistenmesserscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse undsogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur die Haut

Page 8: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

zu ritzen und ohne daß ein Tröpfchen Blut geflossen wäre.Und bei all diesen Geschic4ten wird ausgiebig gelacht, undwenn man zuhört, erscheint einem wirklich alles komisch,und man fängt selbst zu lachen an.

In dem nebenan gelegenen Kellerraum des 'Werkes stehen.die Kompaniegranatwerfer. Hier wird geschossen, hier wirdder Feind beobachtet und hier wird gesungen, gegessen undGrammophon gespielt. Ein dünner Sonnenstrahl dringt durcheine Ritze der Holzverschalung, mit der das Kellerfensterabgedichtet ist. Langsam kriecht er am Fuße eines Betteshoch, liebkost den Schaftstiefel eines schlafenden Soldaten,spielt auf einem Metallknopf an seinem Mantel, kriecht dannzum Tisch hinüber und streicht behutsam, als fürchte er, siekönnte explodieren, über eine Handgranate, die neben demSamowar liegt. Immer höher klimmt der Strahl, und dasheißt, daß sich die Sonne zum Horizont neigt und der Winter-abend anbricht.

»Ein stiller Abend«, sagt man gewöhnlich. Aber dieserAbend war schwerlich still zu nennen. Ein langgezogenesGackern .ertönte, dann hörte man schwere, dicht aufein-anderfolgende Detonationen, und alle Mann im Keller sagtenwie aus einem Mund: »Der Sechsläufige spielt auf. « Dannhörte man ebenso wuchtige Explosionen und ein langes, ver-hallendes Dröhnen. Ein paar Sekunden später ertönte einevereinzelte Detonation. »Das war unsere Weittragende vomanderen Ufer«, meinten die Leute im Bunker. Und wenn dasSchießen auch keinen Augenblick aufhörte und man in demkalten, dunklen Keller die Abenddämmerung nur daranmerkte, daß der Sonnenstrahl immer höher und höher krochund nun schon bald die schwarze, verrußte Decke erreichthatte, wurde es doch ein richtiger, stiller Abend.

Die Rotarmisten zogen das Grammophon auf.»Welche Platte wollen wir auflegen?« fragte einer.Und ein paar Stimmen antworteten durcheinander:»Unsere natürlich, unsere Lieblingsplatte.«

Page 9: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

Und da geschah etwas Merkwürdiges. Während der Rot-armist noch nach der Schallplatte suchte, dachte ich imstillen: ;Wie schön wäre es, hier in diesem zerschossenen,schwarzen Keller das irische Trinklied zu hören, das ich soliebe.' Und plötzlich erklang es, feierlich und traurig ge-tragen:

»Hinter den Fenstern braust der Sturm ... «Man sah es, das Lied drang.den Leuten ins Herz. Sie saßen

schweigend und lauschten. Und an die zehnmallegten sie dieNadel immer wieder auf dieselbe Stelle:

»Mylady Tod, wir hitten sehr,Warten Sie draußen vor der Tür ... «

Diese Worte und diese' zugleich schlichte und genialeBeethovensche Musik packten hier mit einer nicht wiederzu-gebenden Gewalt. Im Krieg erlebt der Mensch viele erregendeGefühle, freudige und traurige, er kennt Haß und Sehnsucht,Schmerz und Furcht, Liebe, Mitleid, Rache. Doch seltensucht Trauer den Kriegsmann heim. Aber in diesen Wortenund in diesen Klängen eines leidenden Herzens, in dieserherablassend spöttischen Bitte an Mylady Tod lagen eineunbeschreibliche Stärke und eine edle Trauer.

Und hier fühlte ich wie nie zuvor eine Freude über die ge-waltige Kraft der wahren Kunst, daß Rotarmisten, die dreiMonate lang Auge in Auge mit dem Tod in diesem zerstörten,verstümmelten Bau saßen,der sich den Faschisten dennochnicht ergab, andächtig wie bei einem Gottesdienst denBeethovenschen Melodien lauschten.

Und unter den Klängen dieses Liedes zogen feierlich undgreifbar nahe im Dämmerlicht des Kellers Dutzende vonMenschen vorüber, Menschen, die-teilhatten an der Stalin-grader Verteidigung und in denen sich die ganze Größe derVolksseele verkörpert. Da war der strenge, unversöhnliche,unbeugsameSergeantWlassow, der die Überfahrt hielt. Dawar der Pionier Bryssin, ein schöner, dunkelhäutiger Mensch,dessen fast sagenhafte Verwegenheit keine Grenzen kannte

Page 10: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

und der sich allein gegen zwanzig Mann in einem leeren,zweistöckigen Hause geschlagen hatte. Da sah man Potcha~now, der verwundet war, aber auf keinen Fall ans linke Uferwollte. Als das Gefecht wieder einsetzte, schlich er sichausdem Sanitätsbunker , kroch in die vorderste Stellung und fingwieder an zu schießen. Da war der Sergeant Wytutschkin,der im Traktorenwerk im Trommelfeuer den verschüttetenDivisionsstab ausgrub und mit so wildem Eifer die Hackeschwang, daß ihm Schaum vor den Mund trat und er mitGewalt weggeschleppt werden mußte, weil man befürchtete,er könne von der übermenschlichen Anstrengung tot zusam-menbrechen. Es war derselbe Wyrutschkin, der ein paarStunden vorher zu einem brennenden Lastkraftwagen mitMunition gestürzt war und die Flammen erstickt hatte, undbei dem sich General Sholudew nicht mehr bedanken konnte,weil ihn inzwischen eine deutsche Mine getötet hatte. Viel-leicht lag ihm diese Soldatentapferkeit noch von seinen Ahnenher im Blut - alles ringsum vergessen zu können und demKameraden aus der Not zu helfen. Vielleicht trug auch des-halb ihr G-escWechtden Namen Wyrtitschkin (1). Ich dachtean den Soldaten Wolkow vom Pionierbataillon. Mit einemHalsschuß und zertrümmertem Schulterblatt hatte er siehdreißig Kilometer weit vom Lazarett zur Überfahrt ge-schleppt, streckenweise auf dem Bauch kriechend; zum Teilließ er sich von vorüberfahrenden Wagen mitnehmen undweinte bittere Tränen, als sie ihn wieder ins Lazarett zurück-brachten. Ich dachte an jene, die in der Siedlung des Trak-torenwerks in den Flammen umkamen, aber die brennendenHäuser nicht verließen und bis zur letzten Patrone feuerten.Ich dachte an jene, die das Werk )Barrikaden« und denMamai-Hügel verteidigten, an jene, die im Skulpturenparkdie deutschen Panzer abwehrten, ich dachte an das Bataillon,das vollzählig, vom Kommandeur bis zum linken Flügel-mann, bei der Verteidigung des Stalingrader Bahnhofs ge-(1) Von » Wyrutschka« = Hilfeleistung.

Page 11: Die Stalingrader Armeeciml.250x.com/archive/literature/german/stalingrad/...messerscharf den Mantel, die Steppjacke, die Feldbluse und sogar das Hemd durchschnitt, .ohne ihm auch nur

fallen war. Ich dachte an die breite, vielbefahrene Straße, diezur Fischersiedlung am Wolgaufer führt - eine Straße desRuhmes und des Todes -, und an die schweigsamen Kolon-nen, die auf dieser Straße im Staube des schwülen Augustsmarschiert waren, in den Mondnächten des Septembers, imUnwetter des Oktobers, im Novemberschnee. Sie waren mitschweren Schritten marschiert - Panzerj äger, MP.- Schützen,Infanteristen, MG.-Mannschaften-, sie waren feierlich, ernstund schweigend marschiert, und nur ihre Waffen hatten ge-klirrt und die Erde hatte unter ihren schweren Schritten ge-dröhnt.

Und da fiel mir auch plötzlich der von einer Kinderhandgeschriebene Brief ein, der neben einem im Bunker getötetenRotarmisten lag. » Guten Tag oder vielleicht auch gutenAbend, Papi. Ich habe große Sehnsucht nach Dir, komm baldzu uns, wenigstens für ein Stündchen, und schau nach uns.Ich schreib', und die Tränen kullern mir dabei herunter.Deine Tochter Nina.«

Und ich sah ihn vor mir, diesen toten Papi. Vielleicht hater den Brief noch einmal gelesen, als er seinen Tod nahenfühlte, und das zerknitterte Blättchen Papier blieb nebenseinem Kopfe liegen, als alles vorbei war ...

Wie soll ich beschreiben, was ich in dieser Stunde in demdunklen Keller eines Werkes, das sich dem Feindnicht er-gah, was ich bei den Klängen jenes feierlich-traurigen Liedesund bei der Betrachtung der versonnenen, harten Gesichterder Männer im Rotarmistenrock empfunden habe.

Stalingrad,1. Januar 1943