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Fassungslos. Salime Yaşar, 82, steht am Tatort, einem vermüllten Parkplatz, in der Nürnberger Scharrer- straße. Ihr Enkel Kerem tröstet seinen Onkel Ibrahim Von Lena Kampf und Michael Streck; Fotos: Franz Bischof FRAU YASAR IM LAND DER MÖRDER Ihr Sohn hieß Ismail. In Nürnberg betrieb er eine Dönerbude – bis ihn die Terroristen der NSU erschossen. Sein Tod spaltete die Familie. Acht Jahre später reist seine Mutter erstmals nach Deutschland DIE STERN REPORTAGE

DIE STERN REPORTAGE FRAU YASAR IM LAND … · ... wo die deutsche Politik zu klären versucht, wie die Neonazis ... wo eine Frau vor Gericht steht, die Ismails ... sie nennt das Trio

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Fassungslos. Salime Yaşar, 82, steht am Tatort, einem vermüllten Parkplatz, in der Nürnberger Scharrer-straße. Ihr Enkel Kerem tröstet seinen Onkel Ibrahim

74 12.9.2013

Von Lena Kampf und Michael Streck; Fotos: Franz Bischof

FRAU YASAR IM LAND DER MÖRDER

Ihr Sohn hieß Ismail. In Nürnberg betrieb er eine Dönerbude – bis ihn die Terroristen der NSU erschossen. Sein Tod spaltete die Familie. Acht Jahre später reist seine Mutter erstmals nach Deutschland

DIE STERN!REPORTAGE

Morgen bricht sie auf, in das Land, in dem ihr Sohn das Glück suchte und den Tod fand. Also verabschie-det sich Salime Ya!ar von ihrer Freundin Hadile. Hand in Hand stapfen die bei-den alten Frauen durch das staubi-

ge Dorf, in dem sie aufwuchsen. Alanyurt heißt es auf Türkisch und Zachwan auf Kurdisch. Vor den niedrigen Lehmhäusern trocknen Paprikafrüchte in der Sonne. Ein Baum im Dorf singt. Er hängt voller Vogel-nester, die Bewohner nennen ihn deshalb den „zwitschernden Akazienbaum“.

Mitten im Dorf verläuft die Grenze zu Syrien. Ein Soldat der türkischen Streit-kräfte patrouilliert mit dem MG3 im Anschlag. In der Ferne Gewehrsalven, am Horizont Nato-Panzer. Es ist Krieg auf der anderen Seite. Salime steigt, davon unbe-eindruckt, mit Hadile noch einmal durch ihr Haus, eine Lehmruine, die sie vor zwei Jahren verließ, nach dem Tod ihres Man-nes Hıdır. Sie gebar elf Kinder darin, vier davon starben hier. Eines starb in der Fremde, 3000 Kilometer entfernt.

Die Bäuerin Salime Ya!ar, 82, ist die Mut-ter von Ismail Ya!ar, dem sechsten Opfer der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund. Der Dönerbuden-Besitzer wurde am 9. Juni 2005 in Nürnberg von den Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, ja: hingerichtet. Nach der Tat schuf eine Zeitung den rassistischen Ausdruck „Döner-Morde“, der sich in der Ö"fentlichkeit jahrelang hielt. Der Mord an Ismail Ya!ar hätte früher aufgeklärt wer-den können, und vier Menschen könnten womöglich noch leben.

Der stern hatte Salime Ya!ar schon ein-mal besucht. Damals, es war im März vor dem Prozessbeginn in München, erzählte sie von ihrer Sehnsucht danach, den toten Sohn besser zu verstehen. Sie erzählte von dem Wunsch, nach Deutschland zu kom-men. Sie ist zwar Nebenklägerin im Pro-zess, erhielt auch Geld aus dem Opferent-schädigungsfonds, doch bislang hatte sich niemand darum gekümmert, Salime bei einer Reise nach Deutschland zu unter-stützen. Der stern half ihr dabei, den Be-such zu organisieren.

Ismail liegt zwar am südlichen Rand der Türkei begraben, aber sein Leben war Deutschland. Er verließ sein Dorf mit einem Schlepper im März 1978, da war er 23, weil ihm Alanyurt nach dem Militär-dienst zu klein geworden war. Und kam am 14. Juni 2005, Turkish-Airlines-Flug 1506,

Auf dem Weg in die Fremde. Salime ist bislang nur einmal geflogen – nach Mekka. Die Reise nach Berlin kostet sie viel Überwindung. Sie ist neugierig und ängstlich zugleich

Abschied von ihrer Freundin Hadile (rechts). Die beiden sind in Alanyurt an der türkisch-syrisch en Grenze aufgewachsen. Salime ist eine zähe, unerschütterliche Frau

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in einem Sarg für immer zurück. Er wurde 50 Jahre alt.

Er hatte drei Frauen, keine Ehe hielt. Er hat zwei Kinder und eine Stieftochter hin-terlassen, zu denen Salime und ihre Fami-lie keinen Kontakt mehr haben. Die alte Frau hat so viele Fragen, auf die es in der Türkei keine Antworten gibt. Sie will wis-sen, wie ihr Drittgeborener in Deutschland lebte. Und natürlich will sie wissen, warum Ismail sterben musste. „Çıma“ bedeutet auf Kurdisch „warum“. Die Frage wird sie nach Berlin führen, wo die deutsche Politik zu klären versucht, wie die Neonazis mehr als ein Jahrzehnt lang unerkannt bleiben, bomben und töten konnten. Sie wird sie nach Nürnberg führen, wo ihr Sohn lebte. Nach München schließlich, wo eine Frau vor Gericht steht, die Ismails Exekution mutmaßlich mitgeplant hat. Die alte Freundin Hadile küsst ihr beide Wangen zum Abschied.

Ein Festmahl zu Salimes AbschiedAm Abend vor ihrer Abreise ist ihre gesam-te Familie in Suruç, der Kleinstadt nahe ihres Heimatortes, erschienen. Sie lebt dort im Haus ihres Sohnes Ibrahim, nachgebo-rener Bruder des Ermordeten. Zwei Dut-zend Kinder, Enkelkinder, Urenkel spielen. Auf einer Plastikdecke auf dem Boden stehen Teller mit gegrillten Paprika und Auberginen, Schüsseln mit Couscous, Melonen und P!rsichen. Ein Festmahl für Salime, verehrt und geliebt. Die Frauen, die das Essen zubereitet haben, sitzen in der zweiten Reihe. Ibrahim, das Familienober-haupt, führt das Wort, er spricht ziemlich laut. Ibrahim ist 53 Jahre alt, besitzt ein Fotostudio und begleitet seine Mutter. Er überspielt seine Nervosität mit Redselig-keit. Salime weint unterdessen und sagt: „Warum darf ich erst jetzt kommen, wo du tot bist, mein Sohn?“

Am nächsten Abend landen die beiden in Berlin. „Trauriges Land“, sagt Salime beim Blick aus dem Taxifenster. Sie nimmt die Stadt kaum wahr, bis sie Regentropfen auf der Fensterscheibe bemerkt. Salime mag Regen. Regen ist gut, Regen bedeutet Leben im ausgedörrten Land daheim. Sie lächelt zum ersten Mal an diesem Tag.

Im Fernsehen duellieren sich Angela Merkel und Peer Steinbrück. Salime hockt im Schneidersitz auf dem Hotelbett, die Füße schmerzen, und sie kennt die Men-schen nicht, die in fremder Sprache disku-tieren. Ihr Sohn sagt: „Die Frau da ist unser Erdo"an.“ Sie nickt. Salime hat weder Le-sen noch Schreiben gelernt. Sie hat nie eine Schule besucht. Sie hat ihren Mann Hıdır geheiratet, auf dem Feld gearbeitet und Kinder zur Welt gebracht. Wenn Salime von ihrer Familie spricht, benutzt sie das kur-dische Wort für Glück. 4

Auf dem Weg in die Fremde. Salime ist bislang nur einmal geflogen – nach Mekka. Die Reise nach Berlin kostet sie viel Überwindung. Sie ist neugierig und ängstlich zugleich

Abschied von ihrer Freundin Hadile (rechts). Die beiden sind in Alanyurt an der türkisch-syrisch en Grenze aufgewachsen. Salime ist eine zähe, unerschütterliche Frau

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Am Morgen, einem Montag, kommen Angehörige und Hinterbliebene der NSU-Anschläge im Steigenberger-Hotel zusam-men. Der Bundestag hat sie eingeladen, Tagesordnungspunkt eins: Deutschland entschuldigt sich bei den Opferfamilien. Der Tag ist perfekt organisiert.

Salime und Ibrahim sind nervös. Sie begegnen, das wissen sie, erstmals Dilek Özcan, Enkelin und Nichte, 32 Jahre alt, Ismails Tochter aus zweiter Ehe, früh ge-scheitert nach wenigen Monaten. Dilek lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Herne. Sie hatte nur sporadisch Kontakt zum Vater und schon gar nicht zur Fami-lie. Salime hatte ihren Sohn immer wieder gemahnt, „kümmere dich um Dilek“, aber dafür ist es jetzt zu spät.

Sie fragt ständig: „Çıma?“ – „Warum?“Ibrahim hat die Nichte auf Facebook ent-deckt, und nun fallen sie sich in die Arme, der Onkel und die zierliche Dilek, langes Schwarzhaar. Und die Oma und die Enke-lin, die einander nicht verstehen, weil Dilek kein Kurdisch spricht und Salime kein Türkisch, aber das macht nichts in diesem Moment der vereinten Trauer und des, auch ja: Glücks. Salime streichelt ihr über die Wangen und sagt: „Ich würde mich für meine Enkeltochter opfern.“ Ibrahim spricht salbungsvoll: „Wenn du magst, werde ich meiner Verantwor-tung als Onkel gerecht.“ Dilek lächelt, ant-wortet aber nicht. Stattdessen sagt ihr Mann: „Ist es nicht absurd, dass so etwas

Nachmittags emp!ängt Bundespräsi-dent Joachim Gauck. Sie werden mit ihm auf die Ehrentribüne im Plenarsaal ge-führt. Salime blickt von hier oben hinab auf diese Frau aus dem Fernsehen, den deutschen Erdo"an. Sie lauschen zwei Stunden lang elf Rednern, die alle die Aus-schussarbeit loben, „gemeinsam“, „partei-übergreifend“, „beispielhaft“. O!fenbar hat Ibrahim niemand erklärt, dass er die De-batte mit seinen Kop!hörern auch auf Tür-kisch verfolgen kann. Er klatscht, wenn die Parlamentarier sich selbst beklatschen. Zwischenzeitlich döst er ein. Ein Dolmet-scher übersetzt für Salime auf Kurdisch, sie nickt immerzu. Der Abschlussbericht, der hier debattiert wird, ist 1300 Seiten dick und ein kiloschwerer Arbeitsnachweis par-teiübergreifender Empörung. Die wich-tigste Frage stellt eine kurdische Analpha-betin: „Çıma?“, warum?

Der Tag im Reichstag endet in der Biblio-thek. Ein Politiker der Linken kniet vor Salimes Rollstuhl und hält ihre Hand, sie schluchzt. Der junge Mann #ndet versöhn-liche Worte. Er entschuldigt sich erkenn-bar ergri!fen. Schlimm, wie die Stadt Ros-tock reagiert habe. Schlimm, dass es noch keinen Gedenkstein gebe. Er kniet vor der falschen Frau. Er hat Salime mit der Mut-ter von Mehmet Turgut, erschossen in Ros-tock, verwechselt. Deutschland verneigt sich vor den Opfern, egal, welchen.

Salime Ya$ar weint viel an diesem Abend. Sie will vor allem Ismail näherkommen und begreifen, was er hier suchte. Sie 4

passieren muss, damit man sich erstmals sieht?“

Dann steigen alle in den Bus und fahren zum Reichstag. Dilek sitzt neben der Oma. An der Siegessäule rauschen sie an einem Wahlplakat der Republikaner vorbei. Die fordern ein Minarettverbot.

Empfang im Reichstag, Protokollsaal 2. Man hat Salime einen Rollstuhl besorgt, die Füße dick und geschwollen, voll Schmerz und Wasser. Fragen dürfen ge-stellt werden an die Abgeordneten des NSU-Untersuchungsausschusses, die ih-nen den Abschlussbericht vorstellen. Wie kann es sein, dass Beweismaterial ge-schreddert wurde? Warum wurde selbst-verständlich davon ausgegangen, es han-dele sich bei den Mordmotiven um Fehden, Ma#a und Drogen? Salime versteht nicht, warum niemand von Ismail spricht.

Der ermordete Sohn: Ismail Yaşar kam 1978 nach Deutschland. Die Familie bezahlte seinerzeit einen Schlepper. Freunde schildern ihn als einen Mann, der lieber zuhörte als redete. Er wurde 50 Jahre alt

Familienzusammenführung vor dem Reichstag. Salime mit Enkelin Dilek, die sie vor diesem Tag noch nie gesehen hat

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muss nach Nürnberg, die Stadt, in der Is-mail landete, weil er zuvor in einem Asyl-sammellager in der Nähe gestrandet war. Und die Stadt, in der immer noch der En-kel Kerem wohnt, den sie seit Ismails Tod nicht mehr gesehen hat, weil der Mord die Familie entzweite. Die Ya!ars in Suruç be-schuldigten Belgin, Ismails letzte Ehefrau, Drahtzieherin zu sein. Sie sprachen unver-hohlen von einem Auftragsmord, dass es ihr ums Geld gegangen sei. Ibrahim schick-te Bekannte zur trauernden Witwe mit kla-rer Botschaft: Er wollte an Ismails Erbe.

Kerem, der Enkel, schlug sich selbstver-ständlich auf die Seite der Mutter, bei der er lebte. Es war ein schrecklicher, unappe-titlicher Familienstreit, befeuert von den schlampigen Ermittlungen, der so lange andauerte, bis die Zwickauer Zelle im No-vember 2011 auf"og. Ibrahim und Salime reisen auch nach Nürnberg, um endlich Frieden zu machen. Mit Belgin und mit dem Enkel. „Ich werde sie um Verzeihung bitten“, sagt Ibrahim. Doch ob Kerem sie se-hen will, wissen sie nicht; ihre Briefe blie-ben unbeantwortet.

Auf der langen Zugfahrt von Berlin schaut Salime stundenlang aus dem Fens-ter. Reisende starren in ihr Gesicht, das von einem langen Leben erzählt. Kinn und Hals voller Tattoos, bis auf den Kehlkopf hi-nunter – Kreise, Kreuze, Punkte. Gestochen in ihre Haut, als Salime ein Kleinkind war.

Deutschland rast an ihr vorbei. Es ist für sie immer noch das Land, in das Kurden kommen und getötet werden. Ausgerech-

net in Jena hält der ICE für ein paar Minu-ten. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe stammen aus Jena. Salime kennt ihre Namen nicht, sie nennt das Trio „diese zwei Männer und diese Frau“.

Salime schaut vom Bahnsteig auf die Stadt. Als sie damals, im Juni 2005, von Is-mails Tod erfuhr, zerkratzte sie sich vor Schmerz das Gesicht und rupfte sich die weißen Haare aus. Sohn Ibrahim machte sich sofort auf den Weg nach Ankara in die deutsche Botschaft, um ein Besuchervi-sum zu bekommen, denn er wollte den Leichnam des Bruders heimholen. Man sagte ihm, er brauche dafür eine Einladung aus Deutschland, und Ibrahim fragte: „Wie kann mich jemand einladen, der in Ihrem Land erschossen wurde?“ Ismails Leich-nam wurde fünf Tage nach seinem Tod nach Istanbul überführt. An Bord der Ma-

schine saß Kerem, aber der weigerte sich, weiterzureisen nach Suruç. Oma Salime ist bis heute darüber enttäuscht. Sie hält viel auf Tradition und Rituale, sie sagt: „Er hät-te seinen Vater beerdigen müssen.“

In Nürnberg werden sie von einem gro-ßen, kahlen Mann mit lauter Stimme begrüßt, Recep Yüksel, ein Freund Ismails. Er bittet am Abend in sein kleines Café. In Yüksels Kulturverein war Ismail Kassen-wart. Abends, nach Schichtende, kam er, brachte Döner für die Freunde mit, trank Tee und erzählte von seinen Eheproblemen mit Belgin und dem ewigen Zo#f mit der Stieftochter Deniz. Er schlug sie, weil De-niz nicht das Leben führte, das er für sie vorsah. Salime begreift in diesem Keller-café, dass Ismail selbst nach fast 30 Jahren Deutschland stets ihr wertkonservativer Sohn aus Alanyurt geblieben war.

Sie sieht den Enkel. „Ein Geschenk!“Recep Yüksel hat Kerem Ya!ar erzählt, dass seine Oma und sein Onkel kommen wür-den. Und Kerem hat zugesagt. Eine merk-würdige Stimmung legt sich über den Raum, eine Mischung aus Ungläubigkeit, Respekt, Scham und Freude. Pizza steht auf dem Tisch, Tee wird gereicht. Im Fernsehen laufen türkische Schnulzen. Schweigen und Warten. Um sieben steht er in der Tür, Ke-rem, ein stattlicher, kräftiger junger Mann von 23 Jahren im schwarzen Poloshirt und in Shorts. Er stürzt wortlos auf Salime zu, küsst ihre Hand nach kurdischem Protokoll, küsst auch die Hand des Onkels. Alle 4

Enkel Kerem hatte den Kontakt zur Familie abgebrochen und sich hinter seine angefeindete Mutter gestellt

DIE FAMILIE BESCHULDIGTE DIE EXFRAU, DEN MORD AN ISMAIL IN AUFTRAG GEGEBEN ZU HABEN

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weinen, Salime schlägt die Hände vors Ge-sicht. Sie setzen sich und beginnen zu erzählen. Endlich. 2004 haben sie sich das letzte Mal gesehen, ein Jahr vor dem Mord. Kerem war mit seinem Vater mit dem Auto nach Suruç gekommen. Er sagt, sein Vater liebte das Fahren. Auch Kerem liebt Autos. In einem der angesehensten Autohäuser Nürnbergs macht er seine zweite Ausbil-dung als Karosseriebauer. „Blechbatscher“, wie er mit fränkischem Dialekt erklärt. Ib-rahim muss für Salime vom Türkischen ins Kurdische übersetzen. Der Onkel wird pa-thetisch: „Wenn du uns besuchen kommst, wird deiner Oma die Welt gehören.“

Ibrahim wird am späteren Abend auch mit der Mutter Belgin telefonieren, die nach Istanbul gezogen ist. Er wird sich ent-schuldigen für die Vorwürfe, die Drohun-gen, den Streit ums Erbe. Acht sprachlose Jahre enden in Recep Yüksels Café. „Es ist ein Geschenk“, sagt Salime. Kerem fragt nach dem Opa. Und als er hört, dass der Großvater tot ist, stiert er auf seine Hände und bekommt rote Augen. Er schweigt lan-ge, dann !üstert er auf Deutsch: „Es ist nicht so, dass ich nicht früher fahren woll-te. Aber bei allem, was war …“

Was damals alles war, kommt in diesem kargen Kellerraum mit den rosa und orange gestrichenen Wänden wieder hoch. Recep Yüksel hat weitere Freunde von Ismail Ya"ar hergebeten, die Salime ihre Aufwartung machen. Sie alle besuchten regelmäßig den Kulturverein von Recep Yüksel. Sie alle sa-ßen am Abend vor dem Mord mit Ismail zu-

sammen, bis der aufstand und sagte: „Ich gehe nach Hause und schaue Nachrichten.“

Nach acht Jahren sitzen sie wieder an einem Tisch und erzählen sich Gruselge-schichten aus jener Zeit. Es sind Geschich-ten von Verhören, Verdächtigungen und Erniedrigungen. Geschichten, in denen 15-Jährige Fingerabdrücke abgeben müssen und Haare für DNA-Proben. Geschichten von Razzien, zerbrochenen Ehen, zerbro-chenen Freundeskreisen und zerbrochener Psyche. Die Polizei suchte den Mörder vor allem in Yüksels Kulturverein – ein Raum voller Türken, das allein machte schon verdächtig. Die Mitglieder wurden wie - der und wieder verhört. Einige zogen an den Stadtrand aus Furcht vor weiteren An-schlägen. Yüksel sagt, er sei seitdem krank. Die Angst von früher durchwirkt immer noch den Alltag.

Nürnberg ist der Brennpunkt des NSU-Terrors: Hier saß die Sondereinheit „Bos-porus“, beauftragt mit der Au#klärung der Mordserie, hier starben drei von zehn Op-fern. Der Blumenhändler Enver $im%ek, der Schneider Abdurrahim Özüdo&ru und Ismail Ya"ar. Es gibt ein Denkmal, das den drei Toten gewidmet ist. „Bäume der Men-schenrechte“ sollen in der Stadt wachsen. Bei der Einweihung war das Todesdatum auf der Stahlplatte falsch, die Stadt ließ Is-mail vier Tage zu früh sterben. Mittlerwei-le ist das korrigiert. Eine Woche nach Pro-zessbeginn in München klebten Neonazis der Kameradschaft „Freies Netz Süd“ ras-sistische Sticker auf die Platte. Das NSU-Trio hatte Kontakte zu fränkischen Neo-nazis, vielleicht halfen sie sogar dabei, die Opfer auszuwählen.

Wo es geschahIsmail Ya"ar starb an der Scharrerstraße Ecke Velburger Straße. Kerem führt seine Großmutter und den Onkel an den Tatort. Es sind nur wenige Schritte vom Auto, aber es sind die schwersten, die Salime auf die-ser Reise geht. Kerem hält sie an der Hand, er kommt fast jeden Tag vorbei. Er wohnt nur einen Häuserblock entfernt und ist hier zur Schule gegangen. Der Platz, an dem Is-mail sein Leben ließ, ist der Lieferantenein-gang und Parkplatz eines Edeka-Marktes. Einkaufswagen mit Altpapier und Plastik-müll vor dem Gebäude, Unkraut wuchert. Gehweg und Parkplatz trennt ein Zaun. Schüler der schräg gegenüberliegenden 4 FO

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Anwalt Aziz Sariyar (links) im Gespräch mit Salimes Sohn Ibrahim. Kurz darauf wird Beate Zschäpe in den Saal geführt

ISMAILS SOHN LEBT NUR EINEN BLOCK VOM TATORT ENTFERNT. FAST JEDEN TAG KOMMT ER DORT VORBEI

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GUT ZU WISSEN Die Aufarbeitung der NSU-Morde

Der ProzessSeit Mai verhandelt das Münchner Oberlandes- gericht die Mordserie der Rechtsterroristen. Zu den einzelnen Morden werden nun auch die Angehörigen der Opfer als Zeugen befragt. Bereits vor der Sommerpause war die schwere Brandstiftung im Zwickauer Terrorversteck verhandelt worden. Zeu-gen sahen, wie die Haupt-angeklagte Beate Zschäpe aus dem Haus rannte und ihre Katzen rettete, nicht jedoch ihre Nachbarin. In

der Wohnung war Brand-beschleuniger verteilt worden, man fand Benzin-spuren an Zschäpes So-cken. Bis Ende 2014 sind noch etwa 200 Prozess-tage angesetzt.

KonsequenzenDass die Ermittler bei der Mordserie als Motive vor allem Drogenhandel, PKK- oder Mafia-Verstri-ckungen im Blick hatten und Rechtsextremismus nicht erkannten, hat der NSU-Untersuchungsaus-schuss in seinem Ab-

schlussbericht als „be-schämende Niederlage der deutschen Sicher-heits- und Ermittlungs-behörden“ bezeichnet. Die Vorschläge des Aus-schusses: Künftig soll die Polizei mögliche ras-sistische Motive einer Tat überprüfen müssen. Der Generalbundesanwalt soll Fälle früher an sich ziehen können. Und V-Leute sollen besser kontrolliert werden.

OpferentschädigungDie Bundesregierung hat knapp eine Million Euro an die Opfer und ihre An-gehörigen gezahlt. Die Witwen und Kinder der Ermordeten erhielten je-weils 10 000 Euro, die Ge-schwister 5000 Euro. An die Opfer des Kölner Na-gelbombenattentats flos-sen ebenfalls 5000 Euro. Bei Arbeitsunfähigkeit wurden zusätzliche Ent-schädigungen gezahlt.

Scharrerschule haben handbemalte Kera-mikplatten angebracht, „Frieden“ steht da-rauf oder „Irgendwie anders, irgendwie gleich“. Hier stand der Dönerimbiss von Is-mail Ya!ar. Er war das Herz und das Lachen der großen Pause. Die Kinder kauften bei ihm ihre Pausensnacks, die Nachbarn erin-nern sich gern an den hö"ichen Mann.

Salime klammert sich mit beiden Hän-den am Zaun fest. Dahinter ein Umzugs-karton, darin eine zerbrochene Glasschüs-sel und ein alter Regenschirm. Es ist ein schäbiger Ort zum Sterben. Salime seufzt, p"ückt ein vertrocknetes Blatt einer Ackerwinde ab, die sich am Zaun rankt. „Warum hier? Warum sterben für dieses kleine Leben? Für was?“ Er hätte einen Ge-müseladen aufmachen sollen zu Hause in Suruç, zufrieden sein mit weniger. 30 ver-schwendete Jahre.

Wäre er doch nie gegangen. Wäre er nur früher zurückgekehrt.

„Ich hab jetzt genug Geld verdient“, sag-te Ismail seiner Mutter bei ihrem letzten Telefonat. „Ich komme nach Hause.“ Ismail wollte am 15. Juni 2005 wieder in Suruç sein. Er starb sechs Tage davor.

Seine Mörder kamen auf Fahrrädern. Vermutlich begrüßte Ismail sie so freund-lich wie den Kunden, dem er kurz zuvor einen Döner verkauft hatte. Der erste FO

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Lena Kampf, Michael Streck und Fotograf Franz Bischof (v. l.) waren über Salimes Ausdauer erstaunt.

Sie wollte, wie zu Hause, möglichst lange zusammensitzen und reden. Das klappte dank der Hilfe des Übersetzers Karaman Yavuz

Akten gelegt. Böhnhardt und Mundlos er-mordeten noch vier Menschen.

Nach dem Prozesstag bestürmen Jour-nalisten Ibrahim und Salime. Ihr Anwalt spricht für die beiden. Salime ist erschöpft und müde. Sie hat zwischenzeitlich den Saal verlassen und sich im Anwaltszimmer auf die Pritsche gelegt. Ihre Beine schmer-zen, sie sitzt normalerweise nicht auf Stühlen. Zu Hause hockt sie auf Kissen. Nach sechs Tagen Deutschland hat sie Heimweh. Die Städte so sauber, die Fassa-den so rein, die Frauen unzüchtig geklei-det. Sie vermisst den Staub von Alanyurt und die Kinder und Enkel in Suruç.

Am Flughafen in der Türkei werden die beiden von Ibrahims Sohn Murat abgeholt. Salime erzählt stolz, dass der deutsche Präsident ihr die Hand gegeben hat. Sie gestikuliert viel, sie breitet die Arme aus, sagt dann: „Die Familie ist wieder eins geworden.“ 2

Schuss traf ihn an der Wange, er duckte sich, suchte wohl Deckung, die nächste Kugel durchschlug seinen Kopf und !og gegen den Grill, auf dem Brot röstete. Als er am Boden hinter seiner Theke lag, schos-sen ihm Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt noch dreimal in die Brust.

Es geschah kurz vor der großen Pause, und wäre Kerem zu diesem Zeitpunkt nicht zu"ällig in einem Betriebspraktikum gewesen, hätte er womöglich seinen toten Vater gefunden. Polizisten verhörten sei-ne Mitschüler, dann rückten sie mit Dro-genhunden an. Kerem konnte sie vom Klassenzimmer aus beobachten, er hatte den Beamten bereits gesagt: „Mein Vater hat nicht eine Zigarette geraucht.“

Im Saal A 101 sieht sie Beate ZschäpeDie Polizisten tauten sogar Ismails restli-che Dönerspieße auf und brachten sie ins Spurenlabor. „In beiden Spießen konnte kein Betäubungsmittel gefunden werden“, heißt es auf Blatt 60 des Tatortbefundbe-richts unter den Fotos des zerlegten Grill-!eisches. Auf der nächsten Seite beginnt das Protokoll der Obduktion von Ismail Ya#ar, Fotos seines zerschossenen Körpers.

Der Tag, an dem Ibrahim und Salime Beate Zschäpe im Münchner Oberlandes-gericht sehen, ist blau und heiß. An diesem

Morgen tre"fen Ibrahim und Salime ihren Anwalt Aziz Sariyar zum ersten Mal. Ibra-him erzählt ihm sogleich, dass ihr Anwalt in der Türkei von den 40 000 Euro Opfer-entschädigung 8000 einbehalten hat. Sa-riyar ist fassungslos. Er will sich kümmern.

In Saal A 101 richten sich alle Objektive auf die alte Frau mit dem langen Rock und dem Kopftuch. Sie nehmen Platz, ein Über-setzer neben Salime. Nur Meter von ihnen: Beate Zschäpe, schwarzer Hosenanzug, weiße Bluse, die Haare mit einer Glitzer-haarspange zusammengesteckt. „Wer im-mer Ismail umgebracht hat: Auch ihn soll-te man töten. Und ich würde das Blut der Mörder trinken“, hatte Salime in Suruç ge-sagt. Nun zieht sie das Kopftuch zu einem Sehschlitz zusammen. Später sagt sie: „Ich hätte diese Hure am liebsten geschlagen.“

Salime hört die Zeugin Beate K., eine Backwarenverkäuferin. Sie hat die beiden Täter in Nürnberg zweimal gesehen. Ein-mal kurz vor dem Mord auf Fahrrädern, einmal direkt vor der Bude, vermutlich nach der Tat. Beate K. hat diese Männer 2006, ein knappes Jahr später, auf einem Video vom Nagelbombenattentat in Köln wieder erkannt. Ihr entschiedenes „Das ist er“ dimmten die Vernehmer auf „eine ge-wisse Ähnlichkeit“ herunter. Der entschei-dende Hinweis der Zeugin wurde zu den