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Die Stunde des Magiers

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Nr. 496

Die Stunde des Magiers

Eine neue Macht droht zu erwachen

von Horst Hoffmann

Die Herrschaft des Bösen über die Schwarze Galaxis ist längst aufgehoben. Der Zusammenbruch der dunklen Mächte begann damit, daß Duuhl Larx, der verrückte Neffe, durch die Schwarze Galaxis raste und Unheil unter seinen Kollegen stiftete. Es hatte damit zu tun, daß die große Plejade zum Zentrum der Schwarzen Galaxis ge­bracht wurde und nicht zuletzt auch damit, daß Atlan, der Arkonide, und Razamon, der Berserker, in ihrem Wirken gegen das Böse nicht aufsteckten.

Dann löste die große Plejade den Lebensring um Ritiquian auf. Der Dunkle Oheim mußte seine bisher schlimmste Niederlage einstecken, und die Statthalter des Dunklen Oheims starben aus. Doch das Schicksal der dunklen Mächte scheint damit noch nicht endgültig besiegelt zu sein. Der Dunkle Oheim traf jedenfalls einschnei­dende Maßnahmen, indem er die Dimensionsfahrstühle zusammenführte und mit ih­nen startete.

Die Lage, die gegenwärtig auf Pthor herrscht, ist schwer überschaubar. Eine Reihe von unheimlichen, bedrohlichen Vorgängen hält die Bewohner des Dimensionsfahr­stuhls in Atem, und eine neue dunkle Macht beginnt sich zu manifestieren, als die Masse der Quorks die FESTUNG erreicht.

Während diese Macht zu erwachen droht, schlägt DIE STUNDE DES MAGIERS …

3 Die Stunde des Magiers

Die Hautpersonen des Romans: Copasallior - Der Weltenmagier riskiert sein Leben für Pthor. Atlan - Der Arkonide beschäftigt sich mit dem Parraxynt. Sator Synk - Der Orxeyaner wird nach Hause geholt. Onte Derg - Ein ehemaliger Pirat. Mal - Ein Zwerg opfert sich.

PROLOG:

Schweigen herrschte im gewaltigen schwarzen Ring, der den Pseudoplaneten und jene dunkle Masse umschloß, die einst­mals in den Sonnen der Schwarzen Galaxis gespeichert gewesen war.

Unaufhaltsam jagte der Dunkle Oheim mit den vereinten Dimensionsfahrstühlen seinem nun schon ganz nahen Ziel entgegen, um Rache zu nehmen für eine Niederlage, die nicht sein Ende bedeutete – eher einen neuen Anfang.

Eines Tages sollten die hell strahlenden Sterne jener Welteninsel, die ihre Bewohner »Milchstraße« nannten, dunkle Kerne ha­ben. Eines Tages sollte es eine neue Schwar­ze Galaxis geben, eine neue Insel des Bösen im Universum.

Und der Planet, auf dem die Schuldigen an der Niederlage nach Pthor gekommen waren …

Ein lautloses Lachen erfüllte den schwar­zen Ring, der wußte, daß sich diese Schuldi­gen noch auf Pthor befanden, eingeschlos­sen von ihm.

Pthor war nach wie vor eine Insel des Unheils für den Oheim. Dort geschahen Dinge, die er sich nicht erklären konnte. Doch seine anfängliche Unsicherheit war weitgehend gewichen. Zwar gingen nach wie vor Tausende seiner Diener in den Tod, ka­men sogar von den entferntesten Dimensi­onsfahrstühlen über die Berührungspunkte der Inseln nach Pthor, um im schwarzen Kern zu vergehen. Und nach wie vor wurden die dabei freiwerdenden Energien nicht an den Oheim weitergeleitet. Es schien, als ver­pufften sie einfach im Nichts. Es konnte auch anders sein. Der Dunkle Oheim spürte, wie

sich etwas aufbaute, wie ein gewaltiges Re­servoir aus negativer Energie im Entstehen begriffen war. Und es wuchs. Es war un­wahrscheinlich, daß die Pthorer und jene, die sich den Dimensionsfahrstuhl Untertan gemacht hatten, davon wußten. Der Dunkle Oheim wartete. Sollte er recht behalten, so würde seine Macht bald noch größer sein als ohnehin schon. Er ahnte, daß seine Geg­ner seine Absichten kannten und ihnen ent­gegenzuwirken versuchen würden.

Ein lautloses Lachen jagte durch den Ring, hallte tausendfach in ihm wider und verstummte.

Der Dunkle Oheim und sein Sprößling, nach dessen Niederlage im Ritiquian-System in den Ring integriert, lauschten weiter …

1.

Wie ein Roboterheer kamen die Fremden heran, grau ihre Gesichter, grau die Rüstun­gen, die sie trugen, grau das lange, zerzaust über ihre Schulter fallende Haar. Der Blick ihrer vier Augen war starr geradeaus gerich­tet, in jene Richtung, in der die Ebene von Kalmlech lag – und damit der Krater, auf dessen Grund sich das alles verschlingende Etwas befand, das sie rief.

Der schwarze Kern von Pthor hatte sich verwandelt, als Atlan ihn mit dem Parra­xynt-Schlüssel konfrontierte. Kurz darauf hatte das Unheil begonnen. Wesen, die auf ihren jeweiligen Dimensionsfahrstühlen die Funktion der pthorischen Technos erfüllten, marschierten in einer wahren Völkerwande­rung über die Teile des Pseudoplaneten, schoben sich über die »Landbrücken« von einer Insel auf die andere, bis sie schließlich an den Grenzen Pthors standen.

Sie machten nicht halt. Sie marschierten

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weiter, wie an unsichtbaren Fäden gezogen auf den Krater zu – und in den sicheren Tod.

Niemand konnte es verhindern. Auch der Versuch, sie aufzuhalten, mußte mit ihrem Tod enden, wenn sie dem geheimnisvollen Ruf nicht folgen konnten. Alles, was Atlan und seine Gefährten tun konnten, war, den Todgeweihten wenigstens Wasser und Nah­rung zur Verfügung zu stellen, damit sie nicht schon vor Erreichen ihres Zieles star­ben. Darin drückte sich die verzweifelte Hoffnung aus, doch noch dem Massenster­ben Einhalt gebieten zu können.

Es bestand allerdings wenig Grund zum Optimismus.

Atlan hatte das Goldene Vlies angelegt und befand sich in der FESTUNG, wo er versuchte, das Parraxynt soweit wie möglich zusammenzufügen. Razamon war bei ihm und wachte über ihn, denn das Schicksal des Bildermagiers Valschein war allen noch in bester Erinnerung. Andere mußten sich um die Pthorer kümmern, die plötzlich von überallher Quorks zur FESTUNG brachten, die wie Pilze aus dem Boden wuchsen. Et­was Unheimliches ging vor, und noch wußte niemand, was sich daraus entwickeln würde. Doch man dachte an die Legende, nach der der Körper der Yuugh-Katze wiedererstehen und zum Leben erweckt werden sollte, falls es einem Pthorer gelang, sämtliche 30 Mil­lionen Quorks an einem Ort zu vereinen.

Die Pthorer, die nicht von dem rätselhaf­ten Zwang befallen waren, versuchten, den Invasoren von den anderen Dimensionsfahr­stühlen so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Dafür und für die Bereitstellung von Nahrung und Wasser hatte Atlan ihnen die in der FESTUNG gehorteten Schätze ver­sprochen. Wenn schon der endlose Zug der Diener des Oheims nicht aufzuhalten war, so sollten zumindest so wenig Pthorer wie möglich dadurch gefährdet werden.

Auch hierfür bestand wenig Hoffnung. Leenia sah die Grauen kommen, drei Me­

ter hohe Geschöpfe mit stämmigen Säulen­beinen und Armen wie aus Stahl. Wo sie hintraten, wuchs nichts mehr. Was ihnen im

Weg stand, wurde niedergewalzt. Wie hier in den Außenbezirken von Aghmonth sah es an vielen Orten Pthors aus. Längst nicht alle Bewohner des Dimensionsfahrstuhls hatten sich in Sicherheit bringen können. Wer seine Stadt verlassen hatte, sah bald darauf weite­re Kolonnen von Fremden, wo immer er sich auch niederließ.

Andere hatten erst gar nicht auf Atlans Appell gehört.

Leenia landete den Zugor auf dem Flach­dach einer Lagerhalle, als sie die drei Kelot­ten sah, die in Panik vor den sich heranwal­zenden Kolonnen flohen. Sie kamen aus ei­nem Wohntrakt am Rand einer riesigen che­mischen Anlage. Weiter hinten schlugen Flammen in den dunklen Himmel. Die Däm­merung hatte eingesetzt. Von den Berüh­rungsstellen der Dimensionsfahrstühle glomm schwaches Licht herüber. Explosio­nen im Zentrum der Chemieanlage ließen ahnen, was dort in diesen Momenten vor­ging.

Die Kelotten blieben auf einem freien Platz stehen. Von allen Seiten kamen die Grauen heran. Sie schienen die schlanken, bleichen Wesen gar nicht zu sehen. Stamp­fend quollen sie zwischen den Blöcken her­vor, rissen Rohrleitungen ab und traten dün­ne Metallwände in den Boden.

Die Kelotten waren in der Falle. Leenia sprang aus dem Zugor, lief bis zum Rand des Flachdachs und sah die Leitern, die her­aufführten. Drei Dellos, die mit ihr gekom­men waren, erschienen neben ihr. Ein zwei­ter Zugor landete mit Sator Synk.

»Kommt hier herauf!« rief die ehemalige Körperlose den Eingeschlossenen zu. Sie hörten sie nicht. Der Platz füllte sich mit In­vasoren, deren Strom sich erst vor der Halle wieder teilte, bis sie eine Insel inmitten von grauen Körpern war. Leenia schrie. Einer der Kelotten sah endlich zu ihr auf, doch in seinem Blick stand der blanke Irrsinn.

Die Aghmonther begannen zu schießen, wahllos in die Menge der Fremden hinein. Ein Entsetzensschrei zerriß die Dämmerung, als die Waggus wirkungslos blieben. Die

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Fremden marschierten weiter, offensichtlich völlig immun gegen die Lähmstrahlen.

Noch wenige Sekunden, und sie würden die drei Unglücklichen zermalmen, ohne überhaupt zu begreifen, was sie taten.

Leenia suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Sie riß einen Strahler aus einer Ta­sche ihrer Kombination, der einmal einem Scuddamoren gehört hatte. Unsicher zielte sie auf die Grauen.

Sie konnte nicht auf sie schießen. »Sator!« rief sie Synk zu, der aus seinem

Zugor stieg. »Hier, fang auf! Ich klettere hinunter!«

»Bist du verrückt geworden?« protestierte der Orxeyaner. »Sie werden dich …«

»Schieß nur, wenn es unbedingt nötig ist!«

Sie warf ihm den Strahler zu und kletterte an der Leiter hinunter, wobei sie die eigene Angst mit Gewalt zurückdrängte und in sich hineinlauschte. War sie schon wieder in der Lage, ihre körpereigenen Energien soweit aufzubauen, um ihre Augen strahlen zu las­sen? Oder war sie noch vom Aufschweißen der Eisentür in der FESTUNG geschwächt?

Das letzte Stück sprang sie. Die nächsten Invasoren waren bis auf wenige Meter her­an. Leenia erreichte die Kelotten mit zwei, drei Sätzen und riß den ersten von der sich heranschiebenden grauen Mauer fort. Der Kelotte starrte sie aus leeren Augen an und leistete keinen Widerstand. Sie schob ihn auf die Leiter zu, ohne daß er Anstalten machte, aufs rettende Dach zu klettern.

»Sator, schick die Dellos her! Sie sollen sie hochziehen!«

Sie sah, wie der erste Spezialandroide sich auf die Leiter schob, und war schon wieder bei den Kelotten. Ein eisiger Schauer jagte ihr über den Rücken, als sie in die blicklosen Augen der Grauen sah. Sie zerrte einen der Aghmonther von ihnen fort und stieß ihn zur Leiter. Als sie sich umdrehte, um den dritten zu ergreifen, erstarrte sie.

Er lag am Boden und wartete auf das En­de. Die schweren Stiefel der Vieräugigen näherten sich ihm. Leenia sah, daß sie ihn

nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte, und setzte alles auf eine Karte.

Sie schloß die Augen. Unter ihren Lidern begann es violett zu leuchten. Dann schos­sen grelle Strahlen aus ihren Pupillen auf die Heranmarschierenden zu und schlugen knapp vor ihren Füßen in den Boden ein – nur einen halben Meter neben dem am Bo­den Liegenden.

Der Kelotte schrie auf und warf sich her­um. Das rettete ihm das Leben. Die Grauen ließen sich auch durch die Glut nicht aufhal­ten. Ihre massigen Körper schoben sich durch die aufsteigenden Dämpfe. In diesem Moment glaubte Leenia tatsächlich, Roboter vor sich zu haben. Blitzschnell ergriff sie einen Arm des Kelotten und riß ihn daran in die Höhe. Sie warf ihn sich über die Schulter und rannte auf die Leiter zu. Synk stand auf dem Dach, den Strahler auf die nachrücken­den Fremden gerichtet. Ein Dello streckte ihr die Hand entgegen und zog sie auf die Leiter. Als sie die Sprossen umklammert hatte, nahm er ihr den Kelotten ab. Leenia spürte, wie etwas ihre Füße berührte, und schrie gellend auf. Sie trat, ohne zu sehen, was ihre Beine da zu zermalmen drohte. Nur das rechte hatte sie frei, während das linke gegen die Sprossen gedrückt wurde.

Es war, als versuchte sie, Stahl zu zertre­ten. Ihr Bein war eingeklemmt. Schon glaubte sie, ihre Knochen bersten zu hören, als der Lichtfinger an ihr vorbeizuckte.

Sofort ließ der Druck nach. Ein marker­schütternder Schrei drohte ihre Trommelfel­le zu zerreißen. Leenia sah die Mündung von Synks Strahler rötlich flimmern, begriff augenblicklich, was geschehen war, und zog sich in die Höhe. Ein Dello ergriff ihr Hand­gelenk und brachte sie aus der Gefahrenzo­ne, bevor sich die grauen Riesen erneut ge­gen das Gebäude schoben. Im linken Bein hatte sie kein Gefühl.

Der Spezialandroide zog sie aufs Dach. Kurz sah sie die drei Kelotten still neben dem Zugor liegen, dann die unten vorbeizie­henden Grauen, von denen sich einer mit verbrannter Schulter dem Nachrücken seiner

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eigenen Artgenossen zu erwehren hatte. Synk war heran und bettete ihren Kopf

auf sein Knie. Vorsichtig untersuchte er Leenias Bein, und er sah aus, als wäre er selbst nur um Haaresbreite dem Tod entgan­gen.

»Ich sagte dir, du bist verrückt«, flüsterte er. »Aber du hast mehr Glück als Verstand gehabt. Das Bein ist in Ordnung. Ich …«

»Aber ich … spüre nichts!« »Tut mir leid, Leenia, aber das muß ich

genau wissen.« Synk gab ihr einen leichten Schlag mit

dem Kolben der Waffe gegen das Schien­bein. Leenia schrie vor Schmerz.

»Na also«, sagte der Orxeyaner und sah schnell zu den Dellos hinüber, als Leenias zornige Blicke ihn trafen. »He, ihr beide da! Kommt her und schafft sie in den Zugor. Ihr anderen bringt die Kelotten an Bord!«

Er mußte sich dazu zwingen, nicht auf Leenias Proteste zu hören. Synk war in sei­nem Element. Er brüllte Kommandos und startete den Zugor, in dem Leenia und die Kelotten lagen. Den zweiten brachten die Dellos in die Luft.

Leenia richtete sich unter Schmerzen auf und stieß Synk zurück, als dieser sie daran hindern wollte. Noch immer hatte sie ein taubes Gefühl im Bein, doch es ließ nach. Die Erleichterung darüber war jedoch nur von kurzer Dauer.

Sie blickte über den Rand der Flugschale und sah graue, vieräugige Riesen, so weit der Blick reichte. Wie eine gigantische Flut­welle überschwemmten sie Pthor. An ande­ren Stellen mochten weitere Kelotten und Pfister um ihr Leben rennen, ohne Aussicht auf Erfolg. Drei waren gerettet worden, doch wie viele starben – hier und anderswo?

Die Invasoren, die Besessenen, die auf unerklärliche Art und Weise von den Quorks gezwungen wurden, die Knochen der Yu­ugh-Katze zur FESTUNG zu bringen, die allgegenwärtige Bedrohung durch den Dunklen Oheim und die trotz des Goldenen Vlieses aussichtslos erscheinende Arbeit am Parraxynt – all das türmte sich zu einem

Berg von Problemen auf, den Leenia nicht mehr überschauen konnte.

Niemand konnte das. Pthor schien dem Untergang geweiht,

noch bevor es mit dem Dunklen Oheim das Ziel seiner Reise erreichte. Niemals zuvor hatte Leenia sich so hilflos gefühlt wie in diesen Augenblicken, als die beiden Zugors über das Land jagten.

War das Parraxynt wirklich eine Hoff­nung?

Immer größer wurde auch ihr Mißtrauen ihm gegenüber, das Atlan längst in seinen Bann gezogen hatte. Immer stärker wurde Leenias Gefühl, daß nicht Atlan und die Pthorer es benutzen konnten, sondern daß es genau umgekehrt sein würde.

Was würde in dem Augenblick gesche­hen, in dem es zusammengesetzt war?

»Wir fliegen zur FESTUNG zurück, Sa­tor!« sagte sie tonlos.

»Aber wir sollten alle Verbindungspunkte inspizieren – und vor allem herauszufinden versuchen, woher die Quorks kommen!«

»Zur FESTUNG, Sator! Was immer ge­schehen wird, geschieht dort!«

Der Orxeyaner verbiß sich eine Entgeg­nung. Wieder musterte er die ehemalige Körperlose voller Sorge – sie, die das ge­schafft hatte, was vor ihr noch keinem weib­lichen Wesen vergönnt gewesen war: Sie hatte sein Herz erobert.

Aber es sah nicht mehr danach aus, als könnte sich Synks Traum erfüllen. Leenia hatte ja recht. Dalazaaren aus dem Blutd­schungel hatten Körbe voller Quorks ge­bracht. Es bedurfte keiner Inspektionsflüge, um zu wissen, daß andere in diesen Augen­blicken von überallher kamen, um ihre Schätze abzuliefern. Manche mochten unter ihrer Last tot oder völlig erschöpft zusam­menbrechen – andere würden ihre Quorks an sich nehmen und den Weg fortsetzen. Es war ein Fluch, der über dem Dimensions­fahrstuhl lag, über seinen Bewohnern.

Mit grimmiger Miene steuerte Sator Synk den Zugor, jagte ihn durch die Nacht nach Südwesten und versuchte, nicht an das zu

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denken, was tief unter ihm vorging. Er dachte an eine Legende – und an die

Quorks, die anscheinend von selbst dafür sorgten, daß man sie fand und an einen zen­tralen Ort brachte. Sie alle.

Dreißig Millionen Stück.

*

Sator Synk wäre nicht er selbst gewesen, hätte er die Zeit bis zum Erreichen der FE­STUNG nicht dazu genutzt, sich für das, was nicht wahr sein konnte und durfte, eine »logische« Erklärung zurechtzulegen. Viel­leicht glaubte er selbst daran, verdrängte die Schreckensvisionen einer wiedererstehenden Yuugh-Katze und akzeptierte nur zu gerne, was er sich nun einredete.

Es gab keine Yuugh-Katze. Niemand hat­te sie je gesehen. Selbst in der Legende gab es keine genaue Beschreibung dieses We­sens, das aus dreißig Millionen fingergroßer Knochen bestehen sollte. Außerdem – allein durch die Knochen ließ sich kein neues We­sen erschaffen. Was machte es ohne Fleisch und Haut?

Synk, der noch vor Stunden zitternd im Lagerraum mit den Quorks gehockt hatte, nickte grimmig vor sich hin. Wie hatte er sich so gehen lassen können – er, der schon mit ganz anderen Monstren fertiggeworden war? Nicht ohne Grund nannte man ihn in Orxeya den Drachentöter!

Als er sich nun ein riesengroßes Skelett vorstellte, das klappernd durch die FE­STUNG kroch, kicherte er leise in sich hin­ein. Leenia blickte ihn von der Seite her an. Inzwischen war sie völlig wiederhergestellt. Zwar humpelte sie noch ein wenig, aber auch das würde sich geben.

Der Held von Pthor ignorierte ihre skepti­schen Blicke. Er hatte sich von einem alten Aberglauben narren lassen. Irgend jemand sorgte dafür, daß Pthorer und Dellos die Knochen heranschleppten, jemand, der viel­leicht seinen Spaß daran hatte, die Pthorer zittern zu sehen.

Synk lachte und nickte grimmig. Dieser

Jemand war vielleicht eine Gruppe von Ma­giern.

Nur so konnte es sein. Nur die Magier von Oth konnten die Quorks aus den Wän­den und dem Boden zaubern, sie zum »Leben« erwecken. Jetzt, wo er die Sache so sah, fragte sich der Orxeyaner, wieso er nicht schon viel früher darauf gekommen war.

Daß die Bewohner von Oth Schlimmes hatten mitmachen müssen, störte ihn dabei nicht sonderlich. Natürlich hatten sie jetzt ihre eigenen Sorgen, aber hieß das, daß nicht ein paar von ihnen wieder einmal hinter At­lans Rücken agierten?

»Die Magier«, murmelte Synk. »Nur sie kommen in Frage.«

»Was?« fragte Leenia irritiert. Synk legte ihr seine Überlegungen dar.

Leenia gab sich keine Mühe, ihm zu verber­gen, was sie davon hielt – und von seinem Geisteszustand.

»Sator, daran glaubst du doch selbst nicht! Die Magier haben gerade jetzt Besse­res zu tun, als uns zusätzlichen Ärger zu be­reiten.«

Er zuckte die Schultern und lächelte über­legen. Sicher stand Leenia noch unter den Nachwirkungen des erlittenen Schocks. Daß sie auf seinen Schutz angewiesen war, ließ seine Brust zusätzlich anschwellen.

»Vielleicht tun sie's nicht absichtlich«, räumte er ein. »Vielleicht denken sie sich gar nichts Böses dabei und wollen uns nur helfen.«

»Sator, wobei?« Wieder zuckte er die Schultern. »Was weiß ich? Das ist ja gerade die Ge­

meinheit, daß sie glauben, ohne sie würden wir mit unseren Problemen nicht fertig! Wenn sie uns also helfen wollen, dann soll­ten wir wissen, wobei.«

»Du meinst, wozu es gut sein soll, daß die Quorks zur FESTUNG gebracht werden?«

»Natürlich.« Je mehr Synk darüber redete, desto größer wurde seine Überzeugung, auf der richtigen Fährte zu sein. Synk glaubte, daß die Magier tatsächlich wieder einmal

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um Dinge wußten, die anderen verborgen blieben, und darum auf diese recht seltsame Weise aktiv wurden. Daß sie nicht mit offe­nen Karten spielten und Atlan sagten, was sie vorhatten, ließ ihn mit den Zähnen knir­schen.

»Aber ich werde es herausbekommen«, sagte er laut. »Ich will wissen, was bei ihrem Zauber herauskommen soll. Womöglich er­reichen sie, sollten sie also gute Absichten haben, durch ihr Wirken das genaue Gegen­teil und beschwören eine neue Katastrophe herauf.«

Leenia seufzte laut und wischte sich mit einer Hand über die Augen.

»Ja«, sagte Synk väterlich und nickte ihr begütigend zu. »Erhole dich, Leenia. Ich werde inzwischen darüber nachdenken, wie wir den Magiern am besten auf die Schliche kommen.« Er wiegte den Kopf. »Natürlich könnten wir auch einen Abstecher nach Oth machen, bevor wir …«

»Zur FESTUNG!« schrie Leenia ihn an. Synk zuckte so heftig zusammen, daß er für einen Moment die Kontrolle über den Zugor verlor und dieser einen gewaltigen Satz zur Seite machte. »Wir fliegen nirgendwohin außer zur FESTUNG, Sator Synk, oder du kannst dir deinen ›Verrosteten Roboter‹ gleich aus dem Kopf schlagen!«

Der Orxeyaner starrte sie mit weit offe­nem Mund an und ließ sich widerstandslos von der Steuersäule fortschieben, als Leenia den Zugor wieder auf Kurs brachte. Noch nie hatte er die ehemalige Körperlose so ge­sehen wie nun. Jetzt war sie es, die am gan­zen Leib zitterte.

Ihre Nerven, dachte er. Und auch dafür werden die Magier sich zu rechtfertigen ha­ben!

»Leenia, ich … ich meine, es war nicht ernst gemeint«, stammelte er. »Ich wollte doch nur …«

»Mir einen Gefallen tun?« Das nicht gerade, dachte er, aber wenn

sie's schon so sah … »Sicher.« Sie drehte sich zu ihm um und legte ihm

eine Hand auf die Schulter. »Du kannst mir einen großen Gefallen

tun, Sator.« »Was?« Der Blick, den sie ihm zuwarf, versöhnte

ihn für vieles. Der Fahrtwind ließ ihr langes, kupferfarbenes Haar um ihr Gesicht flattern und machte sie noch schöner. Schon glaubte der wilde Mann aus Orxeya, sie hätte er­kannt, daß sie ihn völlig falsch einschätzte, als sie ganz ruhig sagte:

»Sei still, Sator Synk. Sei um Himmels willen still!«

2.

Etwa zur gleichen Zeit dachte ein anderer Pthorer intensiv an die Bewohner von Oth. Onte Derg blieb stehen, wartete, bis die Ber­serker und Mal zu ihm aufgeschlossen hat­ten, und deutete auf einen windgeschützten kleinen Kessel im Fels, direkt vor seinen Fü­ßen.

»Dort ist der richtige Ort für unsere Be­schwörung«, verkündete er. »Hier können wir es versuchen.«

Halyron, der Anführer der sechs Berser­ker, knurrte etwas Unverständliches und setzte den Korb mit Quorks ab, den er wäh­rend der letzten Stunde allein getragen hatte. Seine Männer hatten im wahrsten Sinn des Wortes alle Hände voll. Einer schleppte einen prall gefüllten Pelzbeutel mit Quorks, die anderen hatten die Knochen in ihre vom Körper gerissene Kleidung gewickelt und trugen sie vor sich her. Mals beide Körbe waren längst randvoll gefüllt. Der Zwerg setzte den, den er in seinen langfingrigen Händen hielt, gar nicht erst ab, als erwartete er nicht wirklich, daß Derg seine Ankündi­gung wahrmachte.

Der junge Pirat aber machte sich ohne zu zögern an den Abstieg. Der Kamm lag längst hinter ihnen. Die Schluchten waren überwunden. Dennoch erschien es ihm völ­lig unmöglich, die Quorks bis zur FE­STUNG zu bringen. Der Weg war nach wie vor gefährlich, und der lange Marsch den

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ganzen Tag über hatte an den Kräften ge­zehrt. Derg fühlte seine Beine kaum noch. Den Berserkern ging es nicht viel besser. Oft genug knickte einer dieser rauhen, kräftigen Taambergbewohner in den Knien ein. Doch die Quorks ließen sie nicht rasten. Sobald sie länger als zehn, fünfzehn Minuten ver­schnauften, spürten sie die Schmerzen im Kopf, die sie erbarmungslos vorantrieben. Derg hatte am eigenen Leib erfahren müs­sen, was es hieß, nicht auf diese Warnsigna­le zu achten.

Und er wußte, welches Risiko er nun ein­ging, als er über kleine Vorsprünge und Wurzeln in den Felskessel kletterte. Zehn Meter hohe Wände umgaben eine runde Flä­che von etwa fünf Meter Durchmesser. Derg atmete schwer, als er ebenen Boden unter den Füßen hatte, und wartete auf das Ziehen im Hinterkopf.

Er spürte nichts, suchte sich eine moosbe­wachsene Stelle und setzte sich. Während er die Berserker und Mal beim Abstieg beob­achtete, dachte er wieder daran, daß die Quorks seine Absicht möglicherweise längst erkannt haben konnten.

Aber noch meldeten sie sich nicht. Von allen Erklärungen, die er sich für das

zurechtgelegt hatte, was mit ihm, den Ber­serkern und dem Zwerg geschah, seitdem die Quorks aus dem Boden wuchsen und sie nicht mehr aus ihrem Bann entließen, erschi­en ihm noch immer die am einleuchtendsten, daß irgendwann einmal die Herren der FE­STUNG ihre Schätze hatten hierherbringen und mit einem magischen Bann sichern las­sen. So, sagte er sich, hatten sie dafür ge­sorgt, daß jener, der diese Schätze einmal fand, sie unverzüglich aufsammeln und di­rekt zu ihren Besitzern zurückbringen muß­te.

Denn die Quorks mußten zur FESTUNG. Derg hatte es von Anfang an gewußt. Daß die, die sie nach seiner Überzeugung in den Tälern des Taamberg-Massivs einmal ver­graben ließen, nicht mehr lebten, spielte da­bei keine Rolle.

Alle Versuche, sich dem magischen Bann

zu entziehen, waren gescheitert und hätten Onte Derg fast das Leben gekostet. Wenn aber dies nicht möglich war, dachte Derg, mußten er und die Berserker versuchen, den Bann zu brechen.

Mal, der rätselhafte Zwerg mit den viel zu langen Armen, setzte sich als letzter in den Kreis. Selten einmal hatte Derg ihn nicht grinsen gesehen. Auch jetzt schnitt er eine Grimasse.

Derg erschauerte, als er daran denken mußte, was ihm seinen Namen gegeben hat­te. Nur ihm hatte er einen Blick auf seine Brust gestattet.

Halyron gab seinen Männern ein Zeichen. Sie legten ihre Quorks neben sich, zöger­

ten einen Moment, als warteten sie auf die Schmerzen, und warfen dann die »magischen Steine« in die Mitte des Krei­ses, die Derg ihnen auf dem Weg gezeigt hatte.

Der ehemalige Flußpirat selbst hatte Feu­ersteine und trockenes Reisig in den Hän­den. Als genügend Zweige zwischen den Männern aufgeschichtet waren, schlug er die Steine gegeneinander. Funken sprühten durch die Nacht, bis endlich kleine Flämm­chen aus dem Reisig schlugen.

»Ich würde es an eurer Stelle nicht tun«, sagte Mal. »Ganz bestimmt nicht.«

»Ich schneide ihm die Kehle durch, bevor wir das hier hinter uns gebracht haben«, knurrte Halyron.

»Ich würde es an deiner Stelle nicht tun«, entgegnete der Zwerg ungerührt. Halyron griff nach seiner Axt, sprang auf und be­zwang sich im letzten Augenblick. Nur Derg sah, wie Mal sich an den Aufschlag seines Mantels griff.

»Setz dich hin!« fuhr er den Berserker an. »Und ihr anderen, breitet die Steine im Kreis vor euch aus. Dann reicht euch die Hände.«

Nur zögernd gehorchte der Berserker. Derg wußte, daß allein die Aussicht, den verhängnisvollen Bann zu brechen, sein und Mals Leben noch garantierte. Sollte er Er­folg haben, würden die Berserker sich auf sie stürzen. Spätestens aber bei Erreichen

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der FESTUNG würde es zum Kampf kom­men.

Darüber machte der junge Pirat sich noch nicht viel Gedanken.

Er lauschte wieder in sich hinein. Noch deutete nichts darauf hin, daß sich die Quorks gegen das zur Wehr setzen wollten, das er vorhatte.

Derg sah die Blicke der Berserker auf sich gerichtet, als sie seiner Aufforderung gefolgt waren. Das kleine Feuer zauberte gespensti­sche Schatten auf den Fels hinter ihnen und ließen ihre rauhen Gesichter wie die Fratzen von Dämonen wirken. Derg mußte sich zur Ruhe zwingen. So sehr er sich nach außen hin auch selbstsicher gab – in Wirklichkeit nagten die Zweifel über das Gelingen der Beschwörung an ihm. Alles, was er an »magischem« Rüstzeug besaß, war das, was er einem falschen Magier abgeschaut hatte, den die Piraten einmal gefangengenommen hatten. Aber immerhin – dieser angeblich aus Oth Verstoßene hatte Wind und Wetter beeinflussen und andere Gefahren bannen können.

Außerdem war die Beschwörung Dergs letzte Hoffnung. Entweder gelang sie, oder er brauchte nicht bis zur FESTUNG zu mar­schieren, um durch Halyrons Axt zu sterben. Die Strapazen des Marsches würden ihn lan­ge vorher umbringen.

»Nehmt euch bei den Händen und haltet euch gegenseitig fest«, sagte er, wobei er versuchte, soviel Überzeugungskraft wie möglich in seine Stimme zu legen. Die »magischen Steine« leuchteten im Schein des Feuers. Derg nickte, ignorierte Mals spöttische Blicke, und ließ den Berserker zu seiner rechten los, um die Gräser ins Feuer zu werfen, die er unterwegs gesammelt hat­te.

Beißender Rauch stieg in kleinen Wolken in den Himmel, der kein Himmel mehr war. Keine Sterne waren zu sehen, nur das Dun­kel des Wölbmantels. Halyron hustete und stieß wüste Flüche aus.

»Einatmen«, sagte Derg. »Wir müssen den Rauch einatmen, wenn wir Erfolg haben

wollen.« Nur zögernd gehorchten die Berserker.

Derg sog den beißenden Qualm tief in die Lungen, hustete selbst, atmete wieder ein und hielt so lange die Luft an, bis er glaube, die Lungen müßten ihm verbrennen.

Aber der Rauch der Gräser tat schon seine Wirkung. Derg sah die Umgebung plötzlich in bunten, unwirklichen Farben. Ihm wurde seltsam zumute. Er fühlte sich leicht wie noch nie in seinem Leben und vergaß fast völlig, warum er hier saß.

Auch die Augen der Berserker verklärten sich. Einige von ihnen stießen Laute des Entzückens aus und ließen ihre Nebenmän­ner los, um etwas in der Luft zu greifen, das gar nicht existierte. Derg sah, wie fliegende Funken sich in schillernde Schmetterlinge verwandelten. Das Knistern der trockenen Zweige wurde zu einer Musik, die seinen Verstand einlullte. Er wurde müde und hatte plötzlich nur noch den einen Wunsch, sich lang auszustrecken und zu träumen. Die Wärme, die sich in ihm ausbreitete, war nicht die des Feuers.

Halyron sprang auf und lachte schallend, riß wieder die Axt aus dem Gürtel und schmetterte sie gegen seinen eigenen Schat­ten auf dem Fels. Der Schaft brach in der Mitte durch. Halyron lachte noch lauter und begann, gegen seinen Schatten zu boxen, ein riesiges, dunkles Wesen, das aus dem Stein herauswuchs und unruhig hin und her zuck­te.

Plötzlich waren alle Berserker auf den Beinen, lachten, grölten und sprangen nach den fliegenden Funkentieren oder gingen auf ihre Schatten los. Daß sie sich beim Boxen blutige Hände und möglicherweise gebro­chene Finger holten, merkten sie nicht ein­mal.

Onte Derg sprang auf und begann, das Feuer zu umtanzen. Er wußte nicht mehr, warum er hier in diesem Kessel war, wo er überhaupt war. Welche Rolle spielte das auch? Er war der Nabel der Welt. Er war das Feuer. Er war eine Flamme, die zum Him­mel aufzuckte und tanzte, Feuer und Licht.

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Er winkte den Schatten und den Gestalten lachend zu, die mit ihm diesen unwirklichen, phantastischen Ort erfüllten. Die Stimmen, die in seinem Kopf flüsterten, waren die Stimmen des Lebens, des Universums selbst. Sie wurden lauter, immer lauter, und dann …

Mal stand vor ihm, als er sich schreiend die Hände gegen die Schläfen preßte. Einer der Berserker nach dem anderen sank win­selnd und stöhnend in die Knie. Nur der Zwerg stand aufrecht vor dem jungen Pira­ten, und er lachte nicht mehr.

»Ich sagte euch, daß ihr's nicht tun soll­tet«, sagte er vorwurfsvoll. »Warum hörtet ihr nicht auf mich?«

Die Stimmen! Diese schrecklichen Stim­men! Sie flüsterten nicht mehr, sie schrien in Onte Dergs Kopf, wollten ihn platzen lassen, wurden zu tausend glühenden Speeren, die sich in seinen Schädel bohrten.

Plötzlich verwandelten sie sich in Quorks. Derg taumelte und schlug hart auf den Fels. Für Augenblicke konnte er klar denken.

»Es sind die Quorks!« schrie er. »Sie grei­fen uns an! Wir müssen den Bann brechen, jetzt! Werft sie ins Feuer!«

Die Berserker hörten ihn gar nicht. Derg wollte aufspringen, doch seine Beine ge­horchten ihm nicht. Auf allen vieren ver­suchte er, den nächsten Korb zu erreichen. Er kam keinen Zentimeter voran.

Der Beutel! durchfuhr es ihn. Schon wa­ren seine Hände am Gürtel und rissen ihn auf. Derg bekam einen Quork zu fassen. Er verlor auch die Kraft über seine Arme. Doch in einem letzten gewaltigen Aufbäumen warf er den Quork in die Flammen.

»Verbrenne und gib uns frei!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Gebt uns frei!«

Etwas traf ihn mit der Wucht einer Axt. Doch die Berserker lagen am Boden und rührten kein Glied mehr. Derg wollte schrei­en. Kein Laut kam über seine Lippen. Er wußte, was jetzt geschehen würde. Die Quorks schlugen zurück. Sie brannten sein Gehirn aus, töteten ihn für seinen Frevel. Sie

… Das letzte, das er bei vollem Bewußtsein

sah, war Mal, wie er den Mantel über dem Oberkörper öffnete.

3.

Razamon hatte das gleiche Gefühl wie zu dieser Zeit alle Pthorer, die noch in der Lage waren, klar zu denken: das Gefühl, daß sich überall um ihn herum etwas zusammenbrau­te, das er nicht sehen, nicht hören, nicht gei­stig erfassen konnte.

Und doch geschah etwas, dem alle Betrof­fenen vollkommen hilflos gegenüberstan­den.

Für den ehemaligen Berserker bedeutete dies in erster Linie, daß er Atlan nicht aus dem Bann des Goldenen Vlieses befreien konnte. Die ersten Versuche waren kläglich gescheitert. Razamon mußte erkennen, daß er nur das Leben des Freundes aufs Spiel setzte. Wenn das Vlies wollte, daß Atlan das Parraxynt zusammenfügte, so würde es dies erreichen. Jeder Versuch, ihn daran zu hin­dern, mußte mit noch stärkerer Einflußnah­me auf den Arkoniden beantwortet werden.

Atlan hatte diesen Weg gewählt. Razamon redete sich dies ein, versuchte

sich klarzumachen, daß ein komplettes Par­raxynt auf einen Schlag alle Probleme der Pthorer lösen konnte – nur glauben konnte er nicht daran.

Atlan hatte inzwischen das metallene, ringförmige Gebilde von etwa zwei Meter Durchmesser zu drei Vierteln zusammenge­fügt. Er stand in der Mitte des Parraxynts und bewegte sich wie in Trance zwischen den noch am Boden liegenden grauen Bruchstücken. Dabei wurde mit jedem, das er aufhob und einfügen konnte, das Fehlen weiterer offenbar, die sich nicht in der FE­STUNG befanden. Es bestand also gar keine Chance, das Parraxynt zu komplettieren.

Doch erst dann, so hieß es, sollte sich das Geheimnis von Pthor lösen lassen.

Die Stunden vergingen. Razamon saß ent­weder mit versteinerter Miene da und beob­

12 Horst Hoffmann

achtete den Arkoniden, oder er wanderte un­ruhig im Raum auf und ab, blieb an dieser oder jener Stelle vor dem Ring stehen und versuchte, aus den eingravierten Symbolen etwas herauszulesen.

Natürlich hatte er keinen Erfolg. Razamon setzte sich wieder. Längst hatte

er es aufgegeben, nach Atlan zu rufen. Für den Arkoniden existierte die »Außenwelt« nur in Form des Parraxynts. Etwas anderes gab es für ihn nicht mehr. Seine Bewegun­gen, obwohl sie unsicher wirkten, zeugten von ungebrochener Kraft. Doch auch Val-schein hatte sich bis zur tödlichen Erschöp­fung verausgabt.

Das Warten wurde zur Qual. Razamon schwankte zwischen stiller Hoffnung und Zorn auf sich selbst, weil er Atlan nicht am Anlegen des Anzugs gehindert hatte. Er er­tappte sich einige Male dabei, daß er eben­falls nach passenden Bruchstücken zu su­chen begann, nicht um Atlan zu entlasten, sondern um die Vollendung des Ringes – so­weit möglich – zu beschleunigen. Dann mußte das Goldene Vlies Atlan freigeben.

Und wenn nicht? Es war sinnlos, und er wußte es. Nur den

Träger des Anzugs der Vernichtung ließ das Parraxynt an sich arbeiten. Jeder andere stand wie ein Blinder vor den Bruchstücken.

Eine Zeitlang leistete Bördo, Sigurds Sohn, dem Berserker Gesellschaft, nachdem er gekommen war, um weitere alarmierende Nachrichten zu bringen. Der ganze untere Teil der FESTUNG platzte fast vor Pthorern und Androiden, die Quorks brachten und in der Lagerhalle zu den schon vorhandenen legten. Schon trafen Bewohner der Wüste Fylln ein, Valjaren, Orxeyaner und weitere Dalazaaren. Die meisten von ihnen schafften es gerade noch, sich bis zu ihrem Ziel zu schleppen. Mit dem Zwang, der sie hierher­getrieben hatte, schwanden auch ihre Kräfte. Razamon schickte Bördo nach einer Weile wieder fort, um dafür zu sorgen, daß die Er­schöpften in entsprechende Quartiere ge­bracht und gepflegt wurden.

Gern hätte der Berserker sich selbst ein

Bild der Zustände bei den Lagerhallen ge­macht, doch sein Platz war hier, bei dem Mann, mit dem gemeinsam er den langen, gefahrvollen Weg beschritten hatte, der nun dort enden sollte, wo er begonnen hatte.

Und es sollte kein Ende werden, wie Raz­amon es sich gewünscht hätte.

Auch daß Atlan gleich zwei Bruchstücke triumphierend in die Höhe hielt und neben­einander ins Parraxynt einsetzte, änderte nichts an den düsteren Visionen des Ptho­rers.

Das Warten auf etwas, von dem er fast spüren konnte, wie es sich aufbaute, war das Schlimmste – schlimmer noch als das völli­ge Schweigen, das ihn umgab.

*

Sator Synk sagte nichts mehr, bis die große, erleuchtete Pyramide der FESTUNG vor den beiden Zugors auftauchte. Er schwieg beleidigt und blickte starr an Leenia vorbei.

»Sator, nun sei nicht albern«, sagte sie schließlich. »Auch ich hab's nicht so ge­meint.«

»So?« Synk verschränkte die Arme über der

Brust und tat so, als suchte er etwas in der Dunkelheit.

»Willst du, daß ich mich bei dir entschul­dige?« fragte Leenia. Sie seufzte. »Bitte, ich entschuldige mich und bedanke mich dafür, daß du mir wohl das Leben gerettet hast.«

»Und was war mit dem ›Verrosteten Ro­boter‹?«

»Erstens hast du selbst mir von diesem … Traum erzählt, und zweitens …«

»Ja?« Synk vergaß für einen Moment sei­ne selbstverordnete Strenge.

»Sator, du bist nicht der Mann, der seine Gedanken vor anderen verbergen kann.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wir spre­chen darüber, falls wir die kommenden Tage überleben. Versöhnt?«

Er schluckte und starrte sie an. »Du meinst, daß … daß du …?«

13 Die Stunde des Magiers

»Ich meine, daß wir erst einmal zu Raza­mon müssen.«

Synk wußte nicht recht, was er von ihren Eröffnungen zu halten hatte. Sollte sie tat­sächlich seinen ganzen Traum kennen?

»Tut mir leid, Leenia«, sagte er, um das Thema schnell zu wechseln. »Ich habe mich wohl wirklich albern benommen.«

Sie nickte nur und wurde wieder ernst. Kurz darauf landeten die beiden Zugors vor der FESTUNG. Leenia gab den Dellos An­weisungen, wohin sie die nach wie vor total verstörten Kelotten zu bringen hatten, und bedeutete dem Orxeyaner, ihr zu folgen.

Synk zögerte. »Geh du schon zu Razamon und Atlan«,

sagte er. »Ich glaube, ich habe eine … Erfri­schung nötig, bevor ich nachkomme.«

»Wirklich nur eine Erfrischung?« »Was glaubst du denn?« Ihre mißtrauischen Blicke bestätigten

ihm, daß sie genau das dachte, was sie den­ken sollte. Einige Bemerkungen ihrerseits hatten ihm klargemacht, daß sein geheimer Weinvorrat lange nicht mehr so geheim war, wie er sein sollte.

»Beeile dich, Sator«, bat sie. »Und komm dann direkt zu uns. Ich will dich nicht wie­der unten bei den Quorks suchen müssen.«

Unwillkürlich blickte der Orxeyaner sich um. Während des Fluges hatten sie nicht nur Kolonnen von Invasoren gesehen, sondern auch einzelne Pthorer, die zur FESTUNG unterwegs waren. Hier nun wimmelte es von erschöpften Gestalten, die Körbe oder Beu­tel mit Quorks heranschleppten und im Ein­gang der Pyramide verschwanden. Daß nie­mand sich ihnen in den Weg stellte, bedeute­te, daß Razamon noch abwarten wollte, wie sich die Dinge weiter entwickelten.

»Du kannst dich auf mich verlassen, Lee­nia«, versicherte Synk nicht sehr überzeu­gend.

Als die ehemalige Körperlose auf dem Weg zu Atlan und Razamon war, änderte der Orxeyaner seine Richtung. Statt zu sei­nem Quartier ging er schnurstracks zum nächsten Nebenkontrollraum, der über lei­

stungsfähige Funk- und Kommunikationsge­räte verfügte.

Zwei Dellos hielten von hier aus mit an­deren Kontakt, die sich auf Inspektionsflü­gen befanden. Synk konnte keine Gesell­schaft gebrauchen.

»Ihr beide!« sagte er streng. »Ihr sollt in die Krankenquartiere kommen und helfen, die Erschöpften zu behandeln. Ich überneh­me das hier.« Er deutete auf die Bildschir­me, die verschiedene Teile des Dimensions­fahrstuhls zeigten.

Die Dellos gehorchten, ohne Fragen zu stellen. Als Synk allein im Raum war, ver­riegelte er von innen die Tür und setzte sich vor die Schirme. Einen nach dem anderen schaltete er aus. Dann atmete er tief durch und stellte eine Verbindung nach Wolterha­ven her. Ein Symbol erschien auf dem Bild­schirm vor ihm. Synk fluchte unterdrückt und sagte:

»Den Herrn Soltzamen, aber schnell! Ich habe mit ihm zu reden!«

Aus den Lautsprechern drang ein leises Knacken, dann ein auf- und abschwellendes Rauschen. Synk beugte sich im Sessel vor und musterte das Symbol, als wollte er es hypnotisieren.

Natürlich wußte er nicht genau, ob Soltza­men die Vorgänge in Wolterhaven, die fast zum Bürgerkrieg auf Pthor geführt hatten, heil überstanden hatte. Noch viel weniger hatte er Klarheit über das Schicksal seiner Robotguerillas, nachdem diese ihn verlassen hatten. Bis zu diesem Augenblick hatte er al­les getan, um jeglichen Kontakt zur Stadt der Roboter zu vermeiden.

Jetzt aber brauchte er Diglfonk für seine Mission. Er war sogar bereit, ihm seinen Verrat zu verzeihen.

»Was ist los mit euch?« fragte er unbe­herrscht, als er keine Antwort erhielt. »Ich weiß, daß ihr mich hört! Habt ihr vergessen, daß ihr mir immer noch zu Dank verpflichtet seid? Oder muß ich euch an den Herrn Bedi­ennark erinnern, und was ich wegen ihm …«

»Wir hören dich, Sator Synk«, kam es aus den Lautsprechern. »Doch zu unserem Be­

14 Horst Hoffmann

dauern müssen wir dir mitteilen, daß der Herr Soltzamen zur Zeit nicht funktional ist. Kann ein anderer von uns etwas für dich tun?«

Synk ballte die Fäuste. Nicht funktional! Glaubten die Robotbürger, ihn durch solche Phrasen abwimmeln zu können?

»Mit wem spreche ich dann?« wollte er wissen.

»Mit dem Herrn Spymarak. Sage mir, was du von uns wünschst, Sator Synk!«

Spymarak? Synk konnte sich nicht erin­nern, diesen Namen jemals gehört zu haben.

»Ich wünsche …«, Synk stockte. Warum hielt er sich eigentlich mit diesem Namenlo­sen auf? »Ist es wohl möglich, mit einem eu­rer Diener namens Diglfonk zu reden, oder ist auch er nicht funktional?«

»So ist es, Sator Synk. Diglfonk ist zur Zeit nicht funktional.«

Der Orxeyaner sprang auf und schlug mit der Faust aufs Kontrollpult. Als die Wellen­linien vom Bildschirm verschwanden und das Symbol wieder erkennbar wurde, schrie er:

»Ich glaube euch kein Wort! Ich kenne eure Tricks, Symanyk!«

»Spymarak«, korrigierte der Robotbürger ihn.

Synks Backen begannen rot zu leuchten. Hatte er erwarten dürfen, mit irgendeinem dieser Kugelgebilde eine vernünftige Unter­haltung führen zu können? Er machte einen letzten Versuch, die Robotbürger durch schlagkräftige Argumente zu überzeugen. Wenn auch das nichts einbrachte, würde er eben allein nach Oth fliegen und ein offenes Wort mit den Magiern reden. Einen wunden Punkt hatten die Wolterhavener ja – ihr übersteigertes Schuldbewußtsein.

»Herr Spymarak«, knurrte der Orxeyaner, »du wirst dich daran erinnern, daß ihr mich vor nicht allzu langer Zeit nach Wolterhaven verschlepptet und an meinem Gehirn herum­experimentiertet.«

»Das ist mir bekannt«, entgegnete Spyma­rak.

»So! Aber nicht bekannt dürfte euch sein,

daß ich einen bleibenden Gehirnschaden durch eure Behandlung behalten habe. Ich bin krank und werde durch eure Schuld ster­ben, wenn nicht sofort Diglfonk und seine Kumpane hier erscheinen!«

»Spezifiziere deine Beschwerden«, for­derte Spymarak ihn auf.

Synk kreischte vor Wut. »Ich habe Kopfschmerzen. Ich fühle mich

wie ein Roboter. Ich trinke Öl anstatt Was­ser.

Ich …« »Du bist tot«, lautete Spymaraks schnelle

Diagnose. Synk ließ die Schultern sinken, schüttelte

stumm den Kopf und ließ sich verzweifelt wieder in den Sessel fallen.

»Spymarak, tust du mir einen Gefallen?« fragte er weinerlich.

»Verfüge über mich, Sator Synk!« Der Orxeyaner riß den Mund auf, starrte

das Symbol an und spürte, wie seine Nackenhaare sich aufrichteten.

Verfüge über mich,… Herr! So sprach nur einer von diesen verlogenen

Blechkerlen! Nur ein einziger. Aber das hieß …

Synk kam nicht mehr dazu, seine plötzli­che Erkenntnis ins Mikrophon zu schreien. Das Symbol verschwand vom Bildschirm. Statt dessen blickte ihm nun Leenia entge­gen.

»Das reicht, Sator, meinst du nicht auch?« fragte sie. »Komm jetzt zu den Lagerhallen. Es ist etwas geschehen, das …«

»Moment«, wehrte Synk ab. »Ich dachte, ich sollte nicht …«

»Ich sagte, es ist etwas geschehen, das ei­ne neue Situation geschaffen hat. Du brauchst nicht mehr zu den Magiern.«

»Dann hast du alles mitgehört?« »Allerdings, Sator. Ich wußte von Anfang

an, daß du nicht in dein Quartier wolltest.« »Ich werde also überwacht«, knurrte er.

Daß ausgerechnet Leenia es war, die ihm nachspionierte, traf ihn besonders hart. Ein Blick in ihre großen Augen genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß alles Argumentieren

15 Die Stunde des Magiers

sinnlos war. »Also schön, Leenia. Ich kom­me. Vorher aber muß ich über eines Klarheit haben.«

Sie seufzte. »Und das wäre?« »Gibt es einen Robotbürger namens Spy­

marak?« »Natürlich nicht.« »Danke. Das wollte ich nur wissen. Ich

komme. Es dauert nur noch einen Augen­blick.«

Leenia schüttelte den Kopf. »Die Robotbürger haben wirklich genug

anderes zu tun, als sich mit dir zu beschäfti­gen. Du weißt, daß sie Atlan versprachen, die Robotzivilisationen auf den anderen Di­mensionsfahrstühlen …«

»Weiß ich, weiß ich!« wehrte er ab. »Ich will ja auch keinen Robotbürger mehr belä­stigen.«

Leenia schaltete sich aus. Das Symbol stand wieder auf dem Bildschirm.

Synk holte tief Luft. Dann warf er Digl­fonk Dinge an den Kopf, die alles andere als druckreif waren.

*

Erst nachdem Sator Synk seinen Zorn halbwegs abreagiert hatte, fiel ihm ein, daß er Leenia gar nicht danach gefragt hatte, was nun eigentlich so Wichtiges vorgefallen sei. Was sollte das heißen, er brauchte nicht mehr zu den Magiern?

Es kostete ihn einige Mühe und brachte ihm blaue Flecken ein, sich bis zu den drei Lagerhallen durchzuboxen. Die unteren Stockwerke der FESTUNG waren von Ptho­rern erfüllt, die entweder darauf warteten, ihre Quorks abliefern zu können oder von den Hallen kamen, meist getragen von Del­los, die gerade nicht nach Quorks suchten.

Leenia erwartete ihn am Ende der Treppe, die auf den Korridor hinabführte, über den die Hallen zu erreichen waren. Sie zog ihn in eine relativ ruhige Ecke und bedeutete ihm, bei ihr zu bleiben.

Die Türen der beiden Hallen, in denen die

Juwelen, Rüstungen, Pokale und andere Schätze sich befanden, standen nach wie vor weit offen. Doch niemand versuchte, sich an diesen Kostbarkeiten zu vergreifen. Jeder hatte nur Augen für die Quorks.

»Was soll das, Leenia?« fragte Synk. »Hier unten hat sich nichts verändert. Der einzige Unterschied besteht darin, daß nun noch mehr Verrückte mit ihren Knochen kommen und der Quork-Berg die Halle bald platzen lassen wird.«

»Warte ab, Sator«, flüsterte sie. »Nur noch ein wenig Geduld.«

Er schüttelte verständnislos den Kopf. Warum sagte sie ihm nicht, was sie wußte? Es mußte etwas mit den Magiern zu tun ha­ben. Spannte sie ihn deshalb auf die Folter?

Synk fühlte sich nicht gerade wohl hier unten, weniger wegen seiner Erinnerungen an eine Nacht, die er, von sich selbst einge­sperrt, allein mit aus den Wänden wachsen­den Quorks und einigen gelähmten Pthorern in der Halle verbringen mußte, in die nun al­le strömten.

Vielmehr sah er erst jetzt, wie erschöpft die Pthorer waren. Einige konnten sich gera­de noch auf den Beinen halten. Andere kipp­ten einfach um und mußten durch »normale« Dellos davor gerettet werden, von anderen zertrampelt zu werden. Doch in ihren Augen stand jener seltsame Schimmer, der von ih­rer Besessenheit zeugte. Sie würden auf al­len vieren in die Halle kriechen, mehr tot als lebendig. Aber erst, wenn sie ihre Quorks abgeliefert hatten, entließ sie der unheimli­cher Bann. Für viele kam dann jede Hilfe zu spät.

Auch Leenia mußte um ihre Beherr­schung kämpfen. Was wollte sie dann hier?

Er sah es. Ein Wesen drängte sich zwischen den an­

deren Anstehenden die Treppe hinunter, das mit keinem anderen zu verwechseln war. Synk starrte fassungslos auf den haarlosen dünnen Mann mit den übergroßen Basaltau­gen und den sechs Armen.

»Aber das ist … Copasallior!« entfuhr es ihm. »Leenia, und du hast es die ganze Zeit

16 Horst Hoffmann

über gewußt, daß er kommen würde!« Sie nickte, ohne den Blick vom Welten­

magier zu wenden. »Er materialisierte im oberen Teil der FE­

STUNG. Daß er nicht gleich hier erschien, muß damit zusammenhängen, daß er nicht völlig Herr seiner Sinne ist. Darum verzich­tete er wohl auch auf einen weiteren Sprung und kam zu Fuß wie alle anderen.«

»Wie alle … anderen?« Natürlich ahnte der Orxeyaner längst, was

Copasalliors Erscheinen hier zu bedeuten hatte. Es warf all seine schönen Überlegun­gen über den Haufen. Dennoch wehrte er sich gegen die Wahrheit, bis er den Beutel in einer der sechs Hände des Magiers sah.

Er war randvoll mit Quorks gefüllt.

*

Copasallior drängte an ihnen vorbei, ohne sie auch nur einmal anzusehen. Sein Blick war verklärt, seine Bewegungen hatten et­was Feierliches an sich. Leenia hielt Synk zurück, als er ihm folgen wollte.

Copasallior verschwand in der Lagerhalle. Synk wagte kaum zu atmen. Die Minuten vergingen, und immer noch erschien der Magier nicht wieder.

»Du meinst, wenn er die Quorks abgelie­fert hat, ist er wieder ganz normal und kann uns sagen, was hier geschieht?« fragte er flüsternd. »Aber vielleicht versetzt er sich aus der Halle direkt wieder nach Oth!«

»Nicht, wenn ihm klar wird, was er getan hat – und wenn er sieht, was hier los ist«, gab die ehemalige Körperlose ebenso leise zurück.

Sie behielt recht. Nach weiteren Minuten erschien der Sechsarmige im Eingang der Halle und blickte sich bestürzt um. Wie alle anderen, die von dem rätselhaften Zwang befreit waren, wirkte er wie jemand, der aus einem tiefen Traum erwacht war.

Leenia rief nach ihm, und diesmal erkann­te der Weltenmagier sie. Er bahnte sich sei­nen Weg zu ihr und Synk und setzte zu einer Frage an. Leenia winkte ab.

»Bring uns schnell zu Atlan und Raza­mon«, sagte sie. »Ich erkläre dir dann alles!«

Copasallior nickte nur, ergriff ihre und Synks Hand und versetzte sich mit ihnen in den oberen Teil der FESTUNG – genau in jenen Raum, in dem das Parraxynt unvollen­det gestanden hatte, als Valschein noch dar­an arbeitete.

»Atlan hat es in einen anderen Raum schaffen lassen«, erklärte Leenia schnell. »Wir gehen zu Fuß hin. Dann habe ich Zeit für deine Fragen.«

Synk blieb schweigsam, während Leenia den Weltenmagier aufklärte. Die Bewohner von Oth schienen tatsächlich nichts mit dem unheimlichen Geschehen auf Pthor zu tun zu haben. Copasallior wartete, bis Leenia geen­det hatte, und sagte dann, daß er plötzlich Dutzende von Quorks am Hang eines Berges gefunden hatte und gleichzeitig dem unwi­derstehlichen Drang folgen mußte, sie zur FESTUNG zu bringen. Dadurch, daß er sich direkt und zeitlos von einem Ort zum ande­ren versetzen konnte, war er allen anderen Magiern, die wie er Quorks gefunden haben mochten, weit voraus.

»Copasallior«, sagte Synk erst dann. »Hältst du es für möglich, daß die Yuugh-Katze wiederersteht?«

Daß die Magier von Oth nun offenbar doch unschuldig waren, zerstörte das Bild, das Synk sich zurechtgelegt hatte, völlig. Wieder spürte er, wie sich etwas eiskalt um sein Herz legte.

Copasallior blieb kurz stehen, bedachte ihn mit seltsamen Blicken und schien sich die Frage selbst zu stellen. Daß er keine Antwort gab, sondern schweigend weiter­ging, ließ Synk nur allzu deutlich spüren, wie hilflos selbst der Weltenmagier den Er­eignissen der letzten Tage gegenüberstand.

Aber wer sollte der unbekannten Macht, die aus Pthorern Marionetten machte, dann überhaupt noch trotzen? Hatte Leenia damit recht, daß sie, Atlan, Razamon und einige wenige Gefährten nur deshalb von der Be­einflussung verschont blieben, weil sie die Gefahr eher als andere erkannten?

17 Die Stunde des Magiers

Oder trieb jemand ein noch makabereres Spiel mit ihnen, als Synk bisher angenom­men hatte?

»Ich muß das Parraxynt sehen«, sagte Co­pasallior, ohne Synk oder Leenia anzu­blicken.

Es sollte wohl die verspätete Antwort sein. Doch beim Herrn aller Welten! dachte der Orxeyaner. Was hat das Parraxynt mit den Quorks zu tun?

*

Atlans Zustand hatte sich nicht verändert, seitdem Leenia kurz bei ihm gewesen war und Razamon ihre Eindrücke von den Ver­hältnissen bei Aghmonth geschildert hatte. Nur die Zahl der noch am Boden liegenden Bruchteile hatte sich stark verringert. Sie schätzte, daß Atlan noch eine, höchstens zwei Stunden brauchen würde, um auch sie noch einzufügen, wenn er sein augenblickli­ches Arbeitstempo beibehielt.

Synk stieß leise die Luft aus. Copasallior nickte Razamon zu und trat ganz dicht an den grauen Ring aus Metall heran. Er ver­suchte erst gar nicht, Atlan anzurufen. Lee­nia hielt unwillkürlich den Atem an, als sie sah, wie sich der Gesichtsausdruck des Wel­tenmagiers innerhalb weniger Sekunden ver­änderte. Die Verschlossenheit wich einer ge­wissen Ehrfurcht, die sich zu verstärken schien, je länger der Sechsarmige die Gravu­ren studierte.

Das ringförmige Gebilde war nur noch an einer Stelle offen. Der Rest war vollkommen zusammengesetzt. Leenia verstand dies nicht. Es wäre normal gewesen, daß die in der FESTUNG vorhandenen Bruchstücke, alle zusammengefügt, einen Ring mit vielen Löchern darin ergeben hätten. Wozu diente die scharfe Abgrenzung?

Stellte jeder Meter Parraxynt eine Einheit für sich dar? Eine Information?

Niemand wagte, ein lautes Wort zu sagen. Atlan war der einzige, der sich bewegte. Razamons Augen waren zu schmalen schwarzen Schlitzen geworden. Synk stand

da wie zur Salzsäule erstarrt und sah den Magier an, als hätte er Angst vor dem, was dieser sagen würde, wenn er erst einmal wieder sein Schweigen brach.

Und Leenia fühlte sich, als müßte sie je­den Augenblick in sich aufnehmen, solange Copasallior noch dabei war, die Gravuren zu studieren. Danach würde nichts mehr so sein wie vorher.

Der Weltenmagier sah sie dann auch als erste an, als er den Blick hob und nach Um­rundung des Ringes vor die drei gespannt Wartenden hintrat.

»Du hast etwas … herauslesen können?« fragte Razamon tonlos.

Copasallior nickte zögernd. »Bevor du es uns sagst – was geschieht

mit Atlan? Ist er in Gefahr?« »Das Goldene Vlies wird ihn freigeben,

sobald er seine Aufgabe erfüllt hat«, antwor­tete der Magier ausweichend.

»Was hast du gesehen?« fragte Leenia flüsternd.

Noch einmal blickte der Weltenmagier sich zu Atlan um, als überlegte er, ob er mit einer Antwort nicht warten sollte, bis auch das letzte Bruchstück eingefügt war. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Leenia erschrak, als sie nun den Blick in seinen übergroßen Augen sah.

»Viel und doch zu wenig«, erklärte Copa­sallior endlich. »Der zusammengesetzte Teil des Parraxynts erzählt von jenem, der die Dimensionsfahrstühle schuf, von der Yu­ugh-Katze und vom Goldenen Vlies, von den Seelen der Dimensionsfahrstühle und vom Parraxynt selbst.« Fast war es, als scheute er sich, weiterzusprechen. »Den Na­men des Mächtigen gibt es noch nicht preis, ebensowenig wie …«

»Copasallior, wir wollen nicht wissen, was es nicht erzählt!« preßte Razamon her­vor.

»Du hast recht.« Copasallior wirkte wie ein alter Mann, der sich mit Gewalt in die Realität zurückversetzen mußte. Leenia er­schauerte und stellte sich die bange Frage, ob es gut für sie alle war, die Geheimnisse

18 Horst Hoffmann

zu erfahren, die der Magier entschlüsselt hatte.

»Vor allen Dingen muß um jeden Preis verhindert werden, daß alle Quorks an ei­nem Ort zusammengetragen werden«, sagte Copasallior. »Veranlaßt, daß niemand mit seinen Quorks mehr in die FESTUNG kommt.«

»Die Quorks werden alle töten, denen der Weg versperrt ist!« fuhr Leenia auf.

Copasallior blickte sie traurig an. »Vielleicht wird das geschehen. Wir müs­

sen das Risiko auf uns nehmen, wollen wir verhindern, daß etwas unvorstellbar Schreckliches eintritt. Sollten alle Quorks vereint werden, so wird etwas Gewaltigeres entstehen als die Yuugh-Katze, etwas, gegen das alles verblaßt, was je über Pthor gekom­men ist. Du magst recht haben, Leenia, und wir werden nicht verhindern können, daß die Quorks sich vereinen, weil die Macht hinter ihnen schon zu stark geworden ist. Uns kann nur eines bleiben …«

Wieder sah er sich unsicher nach Atlan um.

»Es wird ein Wettlauf mit der Zeit wer­den. Unser Schicksal und viel mehr wird da­von abhängen, wer schneller ist – die Quorks oder das Parraxynt.«

Razamon unterdrückte einen Fluch. Er packte den Magier an einem Arm und knurr­te:

»Genug der Rätsel, Weltenmagier. Wir werden nichts tun, bevor wir nicht wissen, was du aus den Gravuren herausgelesen hast.«

»Bist du sicher, daß du es wissen willst?« fragte Copasallior.

»Verdammt, ja! Und jetzt sofort!« »Dann hört mir zu …« Und während er zu reden begann, wäh­

rend er vor Leenia, Razamon und Synk Ge­heimnisse enthüllte, die ihr Vorstellungsver­mögen bei weitem übertrafen, kamen Ptho­rer aus allen Teilen des Landes, um ihre Quorks abzuliefern. Jeder weitere Knochen, der auf den riesigen Berg in der Lagerhalle wanderte, bedeutete einen kleinen Schritt

auf das Verhängnis zu – die Wiedergeburt einer Macht, die für undenkbare Zeiten ge­schlummert hatte …

4.

Onte Derg erwachte und wußte, daß der Alptraum noch nicht vorbei war.

Er richtete sich unter Schmerzen auf. Sein ganzer Körper schien nur noch aus Wunden, gebrochenen Knochen und verbranntem Fleisch zu bestehen. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Lippen aufgesprungen.

Mal stand vor ihm, den Mantel wieder über der Brust geschlossen. Derg sah die Berserker dort am Boden liegen, wo sie ge­gen die im Rausch geborenen Trugbilder ge­kämpft hatten. Keiner von ihnen rührte sich.

»Sind sie … tot?« fragte der junge Pirat. Jede Silbe ließ den furchtbaren Druck in sei­nem Schädel anschwellen.

Der Zwerg schüttelte den Kopf. Spürte er denn nichts? Schützte ihn das, was er unter dem Mantel verbarg, vor den Quorks?

Onte Derg dachte mit Schaudern an das, was er gesehen hatte, und rückte instinktiv ein Stück von Mal ab.

»Nicht tot«, erklärte dieser. »Sie werden wie du erwachen. Ich sagte euch doch, an eurer Stelle würde ich's nicht versuchen.«

Es kostete Derg viel Überwindung, zu fra­gen:

»Mal, wer bist du wirklich?« Der Mißgestaltete kicherte. »Im Grunde unterscheide ich mich nicht

besonders von euch.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Jedenfalls war es einmal so.«

Offensichtlich war er nicht bereit, weiter über dieses Thema zu reden. Er deutete auf die Feuerstelle. Auf der Asche lag jener Knochen, den Derg in die Flammen gewor­fen hatte. Er war nur angerußt.

»Du wirst ihn aufheben und zu deinen an­deren zurückstecken«, sagte der Zwerg. »Glaube mir, an deiner Stelle würde ich …«

»Hör endlich auf damit!« schrie Derg und krümmte sich im nächsten Moment vor

19 Die Stunde des Magiers

Schmerzen. Aber der Zorn war stärker. »Wahrscheinlich hast du mir und den Ber­serkern das Leben gerettet! Ich weiß nicht, wie du das schafftest! Ich will's gar nicht wissen! Du hättest mich sterben lassen sol­len!« Er schnappte nach Luft und wartete, bis sich die Schleier verzogen, die sich vor seinen Blick gelegt hatten. »Ich sage dir, was ich jetzt tun werde! Ich nehme meine Quorks und marschiere allein weiter! Ich …«

»Du hoffst, unterwegs den Tod zu fin­den?« Wieder kicherte Mal. »Du täuschst dich, Onte Derg. Du wirst nicht sterben kön­nen, solange du die FESTUNG nicht er­reicht hast.«

»Was hast du mit mir gemacht?« knurrte der Pirat. Er zog das Messer aus dem Gürtel.

»Willst du es mir in die Brust stoßen?« fragte Mal belustigt.

Derg stand auf, ging zur Feuerstelle und nahm den Quork wieder an sich. Sofort schwand der Druck im Kopf, und auch die Schmerzen ließen nach. Neue Kraft durch­strömte seinen geschundenen Körper.

»Du könntest die Berserker jetzt töten«, sagte der Gnom. »Du weißt, daß sie dich umbringen werden, sobald sie die Quorks abgeliefert haben.«

»Ja«, knurrte Derg. »Und dich.« »Warum tötest du sie dann nicht?« Verunsichert blickte der junge Pirat die

Daliegenden an, dann Mal. »Du hättest sie sterben lassen können –

uns alle.« Mal zuckte nur die Schultern. Derg steck­

te das Messer mit einem Fluch in den Gürtel zurück, verschloß den Beutel und griff nach dem Korb, in dem er seine ersten Quorks transportiert hatte. Einmal hatte er es schon allein geschafft. Er würde es wieder schaf­fen, bis hin zur FESTUNG.

Mal schüttelte nur den Kopf. »Du kennst den Weg nicht, nur die Rich­

tung.« »Die Berserker ebensowenig«, knurrte der

junge Pirat. »Sie können mich nicht mehr führen. Die Quorks tun das.«

»Du wirst ihnen also keinen Widerstand mehr leisten?« fragte der Gnom lauernd.

Derg starrte ihn an, wütend und wieder unsicher. Er spürte, wie er sich besser fühlte, je mehr er sich auf das konzentrierte, was vor ihm lag, je größer sein Wunsch wurde, so schnell wie möglich zur FESTUNG zu kommen.

»Nein«, hörte er sich sagen. »Keinen Wi­derstand mehr. Sie sind stärker als wir alle. Ich hätte es wissen müssen. Der Bann ist nicht zu brechen.«

»Mit Rauschgräsern ganz bestimmt nicht.«

Derg sagte nichts darauf, nahm den Korb mit beiden Händen und schickte sich an, den Felskessel zu verlassen. Die Berserker rühr­ten sich noch nicht. Als er an Halyron vor­beikam, zögerte Derg. Er blickte Mal unsi­cher über die Schulter an, setzte den Korb noch einmal ab und legte die Hand auf die Brust des Berserkers.

»Sein Herz schlägt«, rief Mal belustigt. »Du glaubtest mir nicht?«

»Nein. Ich weiß jetzt, daß du ein Magier bist.«

»An deiner Stelle wäre ich mir nicht so si­cher.«

»Spar dir deine dummen Sprüche, Mal oder wie du in Wirklichkeit heißen magst. Als ich den Quorks ins Feuer warf, wollten die Knochen uns töten.«

Der Zwerg nickte. »Nicht sie, aber das, was uns lenkt.« »Dich lenkt gar nichts«, schrie Derg un­

beherrscht. Drohend schüttelte er Mal die Faust entgegen. »Du spielst uns etwas vor! Wenn wir sterben sollten, hast du uns geret­tet. Ich weiß nicht, warum, aber du bist kein Sklave der Quorks! Ich wette mit dir, du könntest auf der Stelle deine Knochen hier liegen lassen und verschwinden!«

Mals Gesicht verfinsterte sich. Derg er­schrak, als er glaubte, in der Tiefe seiner Augen nun versinken zu müssen. Etwas riß ihn in Abgründe von Leid, Qualen und eines unbeschreiblichen Grauens hinein, in ein Dunkel, dunkler als der Tod.

20 Horst Hoffmann

Er sah wieder das rote Wabern in Mals Brust, doch diesmal war es schwächer. Ohne daß der Gnom etwas sagte, wußte Derg plötzlich, daß es erlöschen würde, sobald Mal die FESTUNG erreichte.

»Du glaubst, etwas zu begreifen«, hörte er den Zwerg sagen. »Du bist noch weit davon entfernt, Onte Derg. Ich konnte euch einmal schützen. Was glaubst du, warum du noch hier stehen und mir Fragen stellen kannst? Warum kann ich noch darauf antworten, wo wir beide auf dem Weg sein sollten? Du hast ein Feuer gesehen, das langsam nieder­brennt, mein junger, glücklicher Freund. Dann wird es keinen Schutz mehr geben. Wir verlieren Zeit.«

»Wie alt bist du, Mal?« fragte der Pirat. »Alt.« Mal schulterte sich einen seiner beiden

Körbe und umfaßte den anderen mit den viel zu langen Armen. Wie in Trance packte Derg seinen eigenen Korb und folgte dem Mißgestalteten, als dieser an ihm vorbei aus dem Kessel kletterte.

Er stellte keine Fragen mehr. Er sah sich nicht mehr nach den Berserkern um. Er wollte nicht mehr denken.

Irgend etwas in ihm erlosch. Es war nun wieder alles wie vorher – bevor Mal etwas von dem auf ihn überfließen ließ, das ihn … am Leben erhielt?

Schweigend folgte Onte Derg dem Gno­men. Ein weiter Weg lag noch vor ihnen. Et­wa hundert Meter weiter bergab begann be­waldetes Gebiet. Derg machte sich keine Il­lusionen über das, was sie dort im Dunkel der Nacht erwarten mochte. Vielleicht er­reichten sie den Fuß des Goscholth bei Ta­gesanbruch. Am Abend konnten sie dann die FESTUNG erreicht haben – falls sie den Tag überlebten.

Als die ersten Bäume vor ihnen in den Himmel ragten, glaubte der ehemalige Fluß­pirat weniger daran als je zuvor.

»Was ist das, Mal?« fragte er tonlos und deutete scheu auf das violette Leuchten zwi­schen den Bäumen.

Der Zwerg wirkte zum erstenmal unsi­

cher. Er schüttelte den weißbehaarten Kopf. »Vor langer Zeit habe ich davon gelesen«,

murmelte er. »Es heißt, daß das Ende aller Dinge nahe sei, wenn das Land selbst zum Leben erwacht.«

»Leben?« fragte Derg fassungslos. Schon spürte er wieder das Ziehen im Hinterkopf. Sie mußten weiter.

»Du wirst alles vergessen müssen, was du für wirklich und für unwirklich gehalten hast, Onte Derg. Vor dem, was uns jetzt er­wartet, kann auch ich uns nicht mehr schüt­zen. Wir können diese Zone nicht umgehen. Wir müssen hindurch.«

Derg brauchte nicht zu fragen, warum. Die Quorks meldeten sich unbarmherzig. Es gab nur den geradesten Weg zur FESTUNG. Keinen Umweg, kein Rasten.

»Es wird sich ausbreiten«, murmelte Mal. »Immer weiter, solange ihm nicht Einhalt geboten wird. Komm jetzt und traue nicht dem, was du siehst. Marschiere hinter mir her immer geradeaus. Bleib nicht stehen, egal, was auch geschieht. Denn ein falscher Schritt bedeutet den Tod.«

Mal ging vor. Derg zögerte nur einen Au­genblick. Dann beeilte er sich, schnell zu ihm aufzuschließen.

Das violette Leuchten umfing sie. Und das Land gebar Leben.

Weiter oben, im Felskessel, kam Halyron zu sich.

5.

Nicht alle Pthorer waren gewillt, Atlans Appell zu folgen und den Invasoren von den anderen Dimensionsfahrstühlen bereitwillig das Feld zu räumen. Viele holten sich bluti­ge Köpfe bei dem Versuch, ihr Heim und ih­re Habe gegen die Kolonnen der Todge­weihten zu verteidigen.

In Orxeya schlugen sich die Bewohner der Händlerstadt selbst die Krüge über die Köpfe.

Es gab zwei Parteien in der Händlerstadt – von denjenigen abgesehen, die mit ihren Quorks zur FESTUNG aufgebrochen waren.

21 Die Stunde des Magiers

Nach außen hin glich die Stadt selbst einer Festung. Die Tore waren geschlossen, und auf den Mauern standen Männer und Frau­en, die Kessel mit heißem Wasser und sie­dendem Öl vor allen Fremden ausgossen, die zu nahe herankamen.

Hinter den Stadtmauern war von Einmü­tigkeit nicht viel zu bemerken.

Etwa die Hälfte der verbliebenen Bewoh­ner war bereit, Atlans Aufruf zu folgen, wo­bei die versprochenen Schätze eine beherr­schende Rolle für ihre Entschlossenheit spielten. Die zweite Gruppe unter der Füh­rung von Gandel Gars dachte nicht daran, den Fremden Nahrung und Wasser zur Ver­fügung zu stellen noch viel weniger wollten sie die Stadttore für sie öffnen, um sie durch Orxeya ziehen zu lassen.

Während hinter den Toren gekämpft wur­de, tagte im »Goldenen Yassel« Gandel Gars' Krisenstab. Ihr zur Seite saßen vor al­lem jene Orxeyaner, die schon einmal mit ihr für Streitereien gesorgt hatten, als sie sich aufmachten, um Sator Synk zurückzu­holen.

Um den Helden von Pthor ging es auch diesmal wieder. Gandel Gars, inzwischen selbsternanntes neues Gewicht von Orxeya, orderte eine weitere Runde schäumendes Bier für sich und ihre Spießgesellen. Das »Goldene Yassel« war zum Bersten gefüllt, und die Stimmung entsprach der Zahl der geleerten Krüge.

Der Marktplatz und die Straßen waren verlassen. Die Gegenpartei tagte gegenüber im »Lustigen Dalazaaren«, wo Braker Hoyt, Gandels »Gegengewicht«, das große Wort schwang. Wie Gandel war auch er nur des­halb nicht mit den reichen Händlern zur FE­STUNG unterwegs, weil ihnen ein Dieb alle Quorks gestohlen und sich damit schleunigst aus dem Staub gemacht hatte. Vor den Tü­ren beider Gasthäuser standen mit Knüppeln bewaffnete Wachen, um den erwarteten An­sturm der jeweils anderen Partei rechtzeitig zu melden und abzufangen.

»Ich wußte, daß wir Hoyt nicht trauen durften!« Gandel Gars zerschlug ihren Krug,

um sich Gehör zu verschaffen. Ihre Anhän­ger verstummten und blickten sie erwar­tungsvoll an. Das Zweizentnerweib nickte grimmig.

»Wir alle sind loyale Pthorer!« rief sie. »Wir haben immer unsere Abgaben geleistet und zum Wohl Pthors beigetragen, ohne uns groß zu beklagen. Wir erkennen Atlan als unseren König an. Aber wir sind nicht be­reit, die Freiheit unserer Stadt zu opfern!«

Donnernder Applaus antwortete ihr. Krü­ge trommelten auf die langen Holztische, und der Wirt mußte hinter dem Tresen Deckung suchen, als ein leeres Gefäß heran­flog und die nächste Bestellung signalisierte.

»Wenn es etwas gibt, das uns heilig ist, dann unsere Stadt!« ereiferte sich Gandel. »Wir sind mit den Scuddamoren fertig ge­worden und mit allen anderen, die uns ans Leder wollten! Wir werden auch mit den Kerlen da draußen fertig – und mit Hoyt und seinen Verrätern!«

»Worauf warten wir noch?« brüllte ein Bärtiger. »Laßt uns den Feiglingen zeigen, was ihnen blüht, falls sie noch einmal versu­chen, die Tore zu öffnen und unsere Vorräte herauszugeben!«

»Ja!« schrien drei andere zugleich. »Wir sind stark genug, um wieder für Ordnung in Orxeya zu sorgen!«

Gandel winkte heftig ab. »Genau das glauben die anderen auch.

Natürlich bin ich die letzte, die euch zurück­hält. Aber was haben wir davon, wenn wir uns alle gegenseitig die Köpfe einschlagen? Wir müssen die Dummköpfe überzeugen! Nur ein geeintes Orxeya kann dem Gegner trotzen!«

Das waren Worte, die von großer Weis­heit erfüllt waren. Gandel Gars erntete be­wundernde Blicke.

»Es lebe Orxeya!« erscholl es aus einem Dutzend Kehlen.

»Es lebe Orxeya!« antwortete Gandel und leerte den nächsten Krug. Dem Wirt gelang es, ihn im Flug aufzufangen.

»Was sollen wir also tun?« fragte Gandels Nebenmann. »Mit den Verrätern verhan­

22 Horst Hoffmann

deln?« Sie winkte verächtlich ab. »Ihr wißt, was bei dem Versuch herausge­

kommen ist. Sie sind stur. Aber das sind wir auch!«

»Also was tun wir? Oder sollen wir hier herumsitzen, bis wir schwarz werden?«

»Sator Synk«, sagte Gandel nur. Sofort verstummte das Gemurmel. Die

Orxeyaner sahen sie aus großen Augen an, obwohl sie erwartet hatten, daß sie mit die­sem Vorschlag kam. Immerhin wußte jeder in der Händlerstadt, wie sie zu Synk stand. Es grämte sie immer noch, daß er ihr vor langer Zeit einen Korb gegeben hatte.

»Synk, sagst du?« rief jemand vom hin­tersten Tisch.

Sie nickte ernst und nahm einen neuen Krug in Empfang. Nachdem sie sich den Schaum von den Lippen gewischt hatte, ver­kündete sie im Brustton der Überzeugung:

»Orxeya kann nur dann wieder geeint werden, wenn wir einen Kerl in unseren Rei­hen haben, der auch Hoyt in die Knie zwingt!

Niemals zuvor trug jemand den Ruhm un­serer großen Stadt so nachhaltig in alle Teile Pthors hinaus wie unser Sator! Er kämpft an der Seite Atlans! Er besiegte die Krolocs! Ich selbst sah, wie er einen Drachen tötete! Synk wird auch mit Hoyt und seinen Verrä­tern fertig!«

»Pah!« rief jemand. »Synk wurde nicht einmal mit seinen Robotern fertig!«

Als der Bewußtlose aus dem Gasthaus ge­tragen worden war, sah sich Gandel im Raum um. Doch niemand wagte, ihr noch einmal zu widersprechen.

»Wir werden noch einmal ausziehen, um Sator zurückzuholen! Sein Platz ist hier! Hat jemand etwas dagegen einzuwenden?«

»Ich!« brüllte ein Mann am Nachbartisch. Als seine Nebenleute mit ihm fertig waren, konnte er gerade noch stammeln: »Aber ich … wollte doch nur einen neuen … Krug ha­ben …«

»Gandel«, fragte ein anderer. »Wer garan­tiert uns dafür, daß Hoyts Bande deine Ab­

wesenheit nicht ausnutzt, um den Fremden die Tore zu öffnen?«

Sie blickte den Frager an, als wäre sie über die Befürchtung maßlos überrascht.

»Das ist ganz einfach, Lellel. Wir nehmen den Verräter mit.«

Ein Raunen ging durch den Raum. Dann sprangen die Männer und Frauen auf, stie­gen auf die Tische und schwangen die Krü­ge.

»Also geht's jetzt los! Wir räuchern den ›Lustigen Dalazaaren‹ aus und …«

»Ruhe!« brüllte Gandel. »Ich sagte, wir werden uns nicht sinnlos die Köpfe einschla­gen! Es genügt, wenn wir Braker entführen, ihn fesseln und in der Dunkelheit mit ihm die Stadt verlassen. Wenn er wieder zu sich kommt, wird er nichts mehr zu bestellen ha­ben.«

»Aber er steckt mitten unter seinen An­hängern!«

»Ich habe einen Plan«, verkündete Gan­del. »Wir wissen, daß er jede Stunde zum Westtor geht, um mit ein paar Männern zu versuchen, unsere Leute von dort zu vertrei­ben, damit er die Fremden hereinlassen kann. Das nützen wir aus. Ich brauche zehn Kerle, die mit mir gehen.«

Fünfzig Hände flogen hoch in die Luft.

*

Im »Lustigen Dalazaaren« sagte Braker Hoyt etwa zur gleichen Zeit:

»Nur einer kann die Verrückten im ›Goldenen Yassel‹ zur Vernunft bringen, ein Mann, der den Ruhm unserer Stadt mehrte wie kein anderer vor ihm! Wir brauchen Sa­tor Synk!«

Hoyt wartete ab, bis die Jubelrufe ver­stummt waren und die wenigen, die gegen seinen Vorschlag zu protestieren gewagt hatten, stöhnend am Boden lagen.

»Ich selbst werde mit einigen von euch im Schutz der Dunkelheit die Stadt verlassen, um Sator aus der FESTUNG zu holen. Viel­leicht können wir ein paar Dellos mitbrin­gen, die uns helfen, die Verrückten zum

23 Die Stunde des Magiers

Schweigen zu bringen.« »Dann stürmen wir das ›Yassel‹ end­

lich?« rief jemand. Hoyt schüttelte den Kopf und streckte ab­

wehrend beide Hände aus. »Ich denke nicht daran. Wenn die Ver­

rückten endlich wieder bei Vernunft sind, brauchen wir jede Hand, um den Fremden zu helfen. Ich habe einen besseren Plan. Ihr wißt, daß Gandel etwa jede Stunde nach ih­ren Leuten sieht, die unsere Männer und Frauen daran hindern, die Tore zu öffnen. Wir nehmen sie mit! Wir entführen sie ganz einfach. Wenn sie zu sich kommt, wird Or­xeya schon hinter uns liegen. Also, ich brau­che eine Handvoll entschlossener …«

Fünfzig Hände flogen in die Luft. »Und denkt daran: auch die Verrückten

sind Orxeyaner wie wir! Später werden sie einsehen, daß niemand sagen soll, Orxeya hätte sich gegen Atlan gestellt. Schlagt zu, aber nicht zu heftig. Vielleicht gelingt es uns auch, die Tore schon heute nacht zu öffnen, und wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Was tun wir?« Hoyt winkte ab. »Eine Redensart von Sator, und der hat

sie wohl von Atlan.«

*

Eine halbe Stunde später schlichen sich zwei Gruppen von bewaffneten Orxeyanern von zwei Seiten ans Westtor heran. Sie be­wegten sich im Schutz der Dunkelheit, mie­den die hier und da brennenden Feuer und nützten jede Deckung aus.

Der Kampflärm vom Tor war schon von weitem zu hören.

Gandel Gars blieb stehen, legte den Zei­gefinger auf den Mund und flüsterte:

»Ganz ruhig jetzt. Wir wollen sie ja über­raschen!«

Ihre Anhänger nickten grimmig, nicht wissend, daß Braker Hoyt auf der anderen Seite des Tores die gleiche Anweisung gab.

Sie schlichen an der Stadtmauer entlang,

die fest in Gandels Hand war. In eine Nische gedrängt, warteten sie darauf, daß Braker Hoyt zur Inspektion erschien. Nichts gesch­ah. Nur der Lärm der am Tor Kämpfenden war zu hören. Ansonsten herrschte Totenstil­le.

»Vielleicht ist er zu betrunken und kommt gar nicht«, flüsterte einer von Gandels Män­nern.

»Unsinn! Braker verträgt seine zwanzig Krüge am Abend. Ich denke eher, daß ihn jemand gewarnt hat.«

»Keiner von uns würde das tun!« entrüs­teten sich ihre Spießgesellen.

Doch nichts rührte sich. Die zum Stadttor führende Straße blieb leer.

Gandel Gars verlor zur gleichen Zeit die Geduld wie Braker Hoyt auf der anderen Seite, wo er ebenfalls in einer Mauernische darauf wartete, daß seine Rivalin die Straße hinunterkam.

»Er muß uns zuvorgekommen sein«, flü­sterte Gandel. »Wir sehen uns beim Tor um.«

»Sie muß uns zuvorgekommen sein«, knurrte Braker Hoyt. »Los, wir sehen uns beim Tor um!«

Gleichzeitig lösten sich beide Gruppen aus dem Schatten der Mauer und traten ins Licht der über dem Tor hängenden Öllampe.

»Da ist der Verräter!« brüllte Gandel Gars. »Packt und fesselt ihn! Ich kümmere mich um seine Kumpane!«

»Da ist die Verrückte!« schrie Braker Hoyt. »Ringt sie nieder und legt ihr die Rie­men an! Mit den anderen werde ich schon fertig!«

Alles andere ging im Gebrüll der Orxeya­ner unter. Knüppel wurden geschwungen und fuhren auf meist schutzlose Schädel hin­ab.

Gandel Gars trat nach allem, was ihr zu nahe kam. Die am Tor Kämpfenden griffen in die Rauferei ein, bis niemand mehr wuß­te, auf wen er eigentlich loszugehen hatte.

Zu allem Überfluß kamen nun auch die Zecher in Scharen herbeigelaufen, die in den beiden Gasthäusern warten sollten.

24 Horst Hoffmann

»Es lebe Sator Synk!« schrien sie wie mit einer Stimme, während sie die ersten Hiebe untereinander austeilten.

Gandel Gars stand plötzlich vor Braker Hoyt. Beide hatten die Fäuste zum Schlag erhoben, aber ihre Hände sanken herab, als sie hörten, was die Anhänger der jeweils an­deren Partei brüllten.

»Synk?« fragte Gandel mit zusammenge­kniffenen Augen. »Ihr wollt Synk nach Or­xeya holen?«

»Ihr etwa auch?« Die beiden »Gewichte« standen sich für

Augenblicke gegenüber, starrten sich nur an, blickten dann um sich und sahen, wie einer ihrer Kämpfer nach dem anderen zu Boden ging.

Und vor den Toren drängten sich die Fremden, die die Stadt umschlossen wie die Flut eine Insel.

»Braker, ich glaube, wir sollten noch ein­mal miteinander reden«, sagte Gandel end­lich. »Wenn wir beide Synk holen wollen, warum tun wir uns nicht zusammen?«

Sie verschwieg tunlichst, wie sie sich die­ses Zusammentun noch vor kurzem vorge­stellt hatte.

»Wir könnten einen Waffenstillstand schließen, bis wir zurück sind«, überlegte Hoyt, während er einen Hieb abwehrte. »Wir lassen die Fremden durch die Stadt ziehen und geben ihnen Wasser und Nah­rung, bis Sator mit uns zurück ist und ent­scheidet, was wir tun sollen.«

»Das könnte dir so passen!« schrie Gan­del. »Wir sperren sie weiterhin aus, bis Sator …!«

Hoyt stürzte sich auf sie. Gandel fing den Sturz durch ihre Fettmassen auf und schlang ihre Arme um den Rivalen. Sie wälzten sich über den Boden, bis die Zweizentnerfrau Hoyt im Würgegriff hatte.

»Was werden wir tun, Braker?« brachte sie krächzend hervor.

Er gab einen gurgelnden Laut von sich. »Ich will es hören! Was werden wir tun?« Erst als er wild mit den Augen zu rollen

begann, ließ sie ihn los. Keuchend wälzte er

sich auf den Rücken und nickte schwach. »Wir werden Sator suchen …« »Und?« Gandels fleischige Hände näherten sich

wieder seiner Kehle. Entsetzt streckte er ihr die Hände von sich und rief:

»Und wir lassen sie nicht in die Stadt! Nicht, bevor Sator es uns sagt!«

»Das ist vernünftig«, lobte Gandel Gars. »Wirklich, Braker, ich habe mich wohl in dir getäuscht.«

Kurz darauf saßen zehn Orxeyaner und ei­ne Orxeyanerin auf Yassels und warteten darauf, daß ihnen das Westtor geöffnet wur­de. Oben auf der Mauer schütteten die Wa­chen siedendes Öl aus, um ein Eindringen der Fremden zu verhindern, sobald die elf hinausritten.

Das Öl richtete keinen großen Schaden an. Die Fremden, die von Wolterhaven kom­mend in Richtung Kalmlech marschierten, trugen gummiartige Schutzanzüge. Kein ein­ziger erlitt Verbrennungen. Nur der dem Öl beigemischte Geruchsstoff ließ sie einen weiten Bogen um die Lachen machen. We­nigstens darin, daß die Invasoren auf keinen Fall verletzt werden durften, waren sich die beiden rivalisierenden Parteien einig. Im stillen überlegte Gandel Gars sogar, wie man ihnen helfen konnte, ohne Orxeya wie­der zu einem Tummelfeld Fremder zu ma­chen.

Auch darauf würde Sator Synk eine Ant­wort wissen.

Gandel wäre kaum so zuversichtlich ge­wesen, hätte sie ihren Helden in diesen Mi­nuten sehen können.

An der Spitze »ihrer« kleinen Streitmacht ritt sie aus dem Tor. Ihre Anhänger sorgten dafür, daß es schnell wieder geschlossen wurde.

6.

Copasallior fuhr mit den Fingern dreier Hände über die feinen Gravuren des Parra­xynts. Noch einmal war es, als müßte er sich einen Ruck geben, um den anderen ebenfalls

25 Die Stunde des Magiers

das Wissen zu vermitteln, das für Abertau­sende von Jahren in den Bruchstücken ge­schlummert hatte, weit über Pthor verstreut. Dann begann er endlich:

»Das Parraxynt müßte vollständig sein. So sagt es uns nicht, wer jener Mächtige war, der kurz vor seinem Tod nach Pthor zu­rückkam. Er schuf die Dimensionsfahrstühle – oder Inseln, wie die eigentliche Bezeich­nung lautete. Er kam zurück und brachte das Parraxynt mit, die Knochen der Yuugh-Kat­ze und das Goldene Vlies, das er in jenem Gebiet deponierte, das man später die Dunkle Region nannte.«

Razamons und Synks Blicke richteten sich auf den Anzug, in dem Atlan nach wie vor steckte. Nur Leenia hielt die Augen ge­schlossen, als versuchte sie, sich jenes We­sen vorzustellen, von dem der Weltenmagier sprach.

»Der Mächtige zerschlug des Parraxynt, als er sein Ende nahen fühlte, und verstreute die Bruchstücke und die Knochen der Yu­ugh-Katze über ganz Pthor«, fuhr Copasalli­or fort. »Zuvor aber verschlüsselte er den unsterblichen Teil seines Bewußtseins mit diesen Gegenständen. Wenn irgendwann in der Zukunft die Existenz der Dimensions­fahrstühle nicht mehr nötig sein sollte, so sollte das Parraxynt zusammengesetzt wer­den und gewissermaßen als Katalysator die­nen. Dann nämlich, so heißt es, würde der Geist des Mächtigen wiedererstehen, der bis zu diesem Zeitpunkt in zersplitterter Form in Gestalt der ›Seelen‹ der Inseln existierte.«

»Moment«, unterbrach ihn Razamon. »Das heißt, daß dieser Zeitpunkt jetzt ge­kommen ist? Daß Atlan in diesen Augen­blicken dabei ist, den Geist dieses … We­sens wiedererstehen zu lassen?«

»Des Schöpfers der Dimensionsfahrstüh­le«, flüsterte Leenia ergriffen.

Copasallior nickte bedächtig. »So steht es hier geschrieben. Aber hört

weiter. Gleichzeitig nämlich sollte die Re­konstruktion des Parraxynts dafür sorgen, daß alle Dimensionsfahrstühle sich an einem Ort sammelten. Dann würde der Mächtige

die Inseln aus seinem Dienst entlassen, und sie sollten aufhören, durch Raum und Zeit zu reisen. Sollte aber eine Gefahr drohen, die zu groß war, als daß die Bewohner der Inseln allein damit fertig werden könnten, so genügte es schon, den ›Schlüssel‹ zusam­menzusetzen und diesen in die Nähe des Gegners zu bringen – oder aber die Quorks zu sammeln.«

»Auch das hat Atlan getan«, sagte Raza­mon. »Er brachte den Schlüssel aus den sie­ben Parraxynt-Teilen zum schwarzen Kern von Pthor.« Der Berserker blickte Copasalli­or fragend an, nachdem er Atlan mit zuneh­mender Besorgnis beobachtet hatte. Der Ar­konide hörte offenbar nicht, was Copasallior enthüllte, und fuhr in seinem Werk fort, das die anderen Anwesenden nun in einem neu­en Licht zu sehen begannen. »Dann war der Dunkle Oheim die nicht vorauszusehende Gefahr, auf Pthor repräsentiert durch den schwarzen Kern. Aber die Gefahr durch den Dunklen Oheim bestand schon lange! Wa­rum wurde die Seele von Pthor nicht aktiv, um einen anderen den ›Schlüssel‹ zusam­mensetzen zu lassen, als der Oheim die Di­mensionsfahrstühle übernahm und für seine Zwecke zu mißbrauchen begann?«

»Ich sagte, daß wir noch zu wenig wis­sen«, entgegnete der Magier.

»Und jede Antwort beschert uns ein Viel­faches von neuen Fragen«, murmelte Lee­nia. »Vielleicht wurde die Gefahr, die der Dunkle Oheim darstellte, unterschätzt. Viel­leicht konnten die Seelen erst aktiv werden, nachdem die Inseln versammelt waren – mit Ausnahme jener, die verschollen blieben.«

»Was ist mit der Yuugh-Katze?« wollte Sator Synk wissen. »Sie existierte also nie auf Pthor?«

»Ebensowenig wie die FESTUNG und al­les das, was der Dunkle Oheim nach Pthor bringen ließ, nachdem er die Inseln über­nahm«, antwortete der Weltenmagier.

»Wozu dienten sie dann vorher?« fragte Leenia flüsternd. »Was war ihre eigentliche Bestimmung?«

Für eine Weile herrschte völliges Schwei­

26 Horst Hoffmann

gen im Raum. Copasallior machte eine Ge­ste, die deutlich machen sollte, daß auch er keine Antwort auf die Fragen wußte.

Und wie ein Phantom bewegte sich Atlan zwischen den immer weniger werdenden Bruchstücken. Immer deutlicher wurde, daß er etwas tat, dessen Konsequenzen sich nicht abschätzen ließen – und daß er einem frem­den Willen gehorchte. Copasallior folgte sei­nen Bewegungen mit den Augen, begab sich dorthin, wo neue Bruchstücke eingefügt wurden, und versuchte, durch sie weitere Aufschlüsse zu erhalten – vergeblich.

»Du sagtest, daß eine Gefahr für Pthor durch die Quorks gebannt werden könnte«, sagte Razamon in die Stille hinein. Seine Hände waren kalt. Alles in ihm schrie nach einer Antwort. Irgend etwas ging vor – und noch immer wußte niemand, was es war.

»Nicht die Quorks«, sagte Copasallior. »Aber das, was aus ihnen entsteht, sobald sie alle an einem Ort versammelt sind. Es wird nicht die Yuugh-Katze sein.« Der Ma­gier blickte Synk nachdenklich an, als müßte er sich jedes weitere Wort sorgsam überle­gen.

»Was dann?« fragte der Orxeyaner, indem er einen schnellen Blick mit Leenia wechsel­te. Es war ihm anzusehen, mit welcher Mü­he er um seine Beherrschung kämpfte. »Was dann, Copasallior?«

Das Gesicht des Weltenmagiers verlor je­den Ausdruck.

»Wenn alle Quorks an einem Ort versam­melt sind«, sagte er gedehnt, »wird es zu ei­ner Konzentration der negativen Bewußt­seinskomponente des Schöpfers der Dimen­sionsfahrstühle kommen. Dies ist die Macht, die in der Lage sein soll, einen jeden Gegner zu besiegen, der zur Gefahr für die Inseln wird.«

Wieder brauchten Leenia, Razamon und Synk eine Weile, um das Gehörte zu verdau­en. Wieder warfen sie Atlan scheue Blicke zu. Razamon machte plötzlich zwei Schritte auf den Arkoniden zu und streckte die Hand aus, um ihn aus dem Parraxynt zu holen.

»Nicht!« sagte Copasallior heftig. »Willst

du uns die letzte Hoffnung nehmen, die wir vielleicht noch haben?«

Der Berserker fuhr herum und starrte den Magier an.

Copasallior nickte schwer. »Auch der Mächtige, dessen Namen wir

nicht kennen, konnte nicht vorhersehen, wel­cher Gegner ihm einmal erwachsen sollte. In diesen Augenblicken werden die Quorks zu­sammengetragen, und ich zweifle nicht mehr daran, daß sich bald alle, die über Pthor ver­streut waren, in der FESTUNG befinden werden. Die negative Bewußtseinskompo­nente des Mächtigen wird erwachen – und einer Wesenheit gegenüberstehen, die wie sie selbst aus negativer Energie besteht. Ver­steht ihr nun?«

Razamon zog die Hand zurück, als hätte er einen elektrisch geladenen Zaun berührt.

*

Copasalliors Worte hallten in Leenias Be­wußtsein nach. Sollte der Magier etwa an­deuten wollen, daß der Dunkle Oheim und die negative Bewußtseinskomponente des Mächtigen sich zusammentun könnten – ge­gen Pthor, gegen alle Dimensionsfahrstühle?

Und welche Hoffnung sollte das Parra­xynt darstellen?

Sollte nach seiner Vollendung die positive Bewußtseinskomponente des Mächtigen er­wachen und den Kampf gegen das Negative aufnehmen? Aber bedeutete das nicht, daß es dann zu einem Kampf von solchen Aus­maßen kommen mußte, daß die Dimensions­fahrstühle und alles, was auf ihnen lebte, zwischen den entfesselten, unvorstellbaren Gewalten regelrecht zermahlen würden?

Es mußte einen Weg geben, dies zu ver­hindern! Alles in Leenia drängte plötzlich darauf, die FESTUNG zu versiegeln, wie Copasallior es schon vorgeschlagen hatte. Aber war das überhaupt noch möglich?

Sie spürte, daß der Magier noch immer nicht alles preisgegeben hatte, was er wußte. Und als hätte Copasallior ihre Gedanken ge­lesen, brach er erneut das Schweigen.

27 Die Stunde des Magiers

»Es scheint so«, sagte er, »als hätte der Zusammenschluß der Dimensionsfahrstühle durch den Dunklen Oheim dazu geführt, daß die Seelen der Inseln über das sonst übliche Maß hinaus aktiviert wurden.«

»Was ganz im Sinn des Unbekannten lag«, warf Razamon ein.

Copasallior nickte. »Vielleicht. Allerdings dürfte die Seele

von Pthor die Gefahr zwar erkannt, aber nicht ganz richtig eingeschätzt haben. Wir alle wissen, daß sie Atlan dazu animierte, den ›Schlüssel‹ zum schwarzen Kern zu bringen, womit sie die Vereinigung der Quorks und die Entstehung des negativen Geisteswesens herausforderte. Sicher gesch­ah dies in bester Absicht, aber nun ist es of­fensichtlich, daß sich die Gefahr für die Di­mensionsfahrstühle und letztlich auch für die Milchstraße noch um ein Vielfaches ver­größern wird. Das negative Wesen wird den Kampf gegen den Dunklen Oheim zweifel­los aufnehmen.«

»Falls die Affinität zwischen beiden nicht so groß ist, daß sie sich zueinander hingezo­gen fühlen«, sprach Leenia ihre Befürchtung aus.

Copasallior schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß dies der Fall sein

wird. Immerhin ist das negative Wesen nach wie vor ein Teil des Mächtigen, der die In­seln schuf. Als solcher wird es alles daran­setzen, sie zu verteidigen. Dennoch konnte der Mächtige nicht mit einem Gegner wie dem Dunklen Oheim rechnen. Die Chancen, daß das aus den Quorks geborene Wesen den Oheim besiegt, dürften gleich groß sein wie die, daß es ihm unterliegt. Sollte es aber in die Gewalt des Oheims geraten, so wird das eintreten, was du befürchtest, Leenia. Es würde ihm ergehen wie dem Sprößling des Dunklen Oheims. Es würde darüber hinaus nicht nur den schwarzen Ring stärken, son­dern ihm wahrscheinlich sogar dazu verhel­fen, direkten Einfluß auf die Inseln zu ge­winnen, während er bisher darauf angewie­sen war, die Seelen mit Hilfe seiner Diener zu manipulieren.«

»Dann darf es nie geboren werden«, knurrte Razamon.

»Wiedergeboren«, korrigierte Copasallior. »Aber wenn diese Macht noch schlum­

mert«, fragte Leenia, »was beeinflußt dann die Pthorer? Was bringt sie dazu, die Quorks zusammenzutragen – und was läßt Quorks aus dem Boden wachsen?«

»Wir können es nur vermuten«, sagte der Weltenmagier. »Ich glaube, daß diese Kraft aus dem schwarzen Kern kommt – vielmehr aus dem, was aus ihm geworden ist. Dieser wiederum bezieht sie von den Dienern des Dunklen Oheims, die er zu sich ruft und in sich aufnimmt. Ihre Lebensenergie wandelt er für seine Zwecke um.«

»Ich hätte ihn aushungern sollen«, mur­melte Razamon. »Ich hätte nicht auf Atlan hören und mit den neuen Horden der Nacht beim Krater bleiben sollen.«

Niemand antwortete darauf. Eines jedoch wurde allen vieren klar. Solange der schwarze Kern seinen

»Nachschub« erhielt, solange die unheimli­che Völkerwanderung nicht aufhörte, wirkte die Kraft auf die Pthorer und ließ sie selbst den letzten Quork zur FESTUNG schaffen.

»Wir haben nicht die Möglichkeiten, die Fremden zurückzudrängen«, sagte Copasal­lior. »Wir können nur versuchen, die Quorks zu neutralisieren. Sollte uns das gelingen und der schwarze Kern erkennen, daß er das negative Geisteswesen nicht erschaffen kann, so werden auch die Völkerwanderung und das Massensterben aufhören.«

»Bist du sicher?« fragte Leenia. »Wie kannst du davon überzeugt sein, daß der schwarze Kern darauf verzichten wird, sei­nen einmal entstandenen Hunger zu stillen?«

»Solange das Parraxynt nicht völlig zu­sammengesetzt ist, können wir in keiner Hinsicht sicher sein«, antwortete der Magier ausweichend.

»Aber es fehlen Stücke!« »Vielleicht genügen uns jene, die wir

noch haben.« »Die Quorks neutralisieren«, murmelte

Razamon. Er blickte Copasallior herausfor­

28 Horst Hoffmann

dernd an. »Wie stellst du dir das vor?« Der Magier gab keine Antwort. Leenia erschien all das, was sie gehört

hatte, ohne rechten Sinn. Sie hatte das Ge­fühl, daß Copasallior versuchte, das Problem vom falschen Ende anzugehen. Der schwar­ze Kern war die Ursache des Übels.

Aber es war unmöglich, den Kern zu ver­nichten? Selbst wenn es gelänge, den Krater zu verschütten, würden die Diener des Oheims auf seinen Ruf hören und ihm fol­gen. Sie sah einen Berg von unzähligen to­ten Wesen vor ihrem geistigen Auge, der die ganze Ebene von Kalmlech bedeckte.

Leenia hatte ihre Gefühle nicht länger un­ter Kontrolle. Mit einem heiseren Schrei stürmte sie aus dem Raum und rannte über die verlassenen Korridore, ziellos, nur fort von allem!

Sie stolperte, fiel hin und blieb schwer at­mend auf dem harten Boden liegen.

Neben ihr entstand ein Riß. Ein Quork schob sich daraus hervor.

*

Razamon ließ Copasallior bei Atlan zu­rück, nachdem der Magier ihm versichert hatte, daß Atlan vom Goldenen Vlies keine Gefahr drohte. Obwohl Copasallior dies nicht genauer begründen konnte, glaubte der Berserker ihm.

»Sollte es gelingen, das Parraxynt soweit zusammenzusetzen, daß wir Aufschluß über die Entstehung und Aufgabe der Dimensi­onsfahrstühle erhalten«, sagte der Welten­magier, »vor allem aber über die Natur des unbekannten Mächtigen, so können wir dar­auf hoffen, daß sich die Entwicklung doch noch zum Positiven hinwendet.«

Razamon blieb skeptisch. Nichts sprach dafür, daß die fehlenden Bruchstücke nicht ausgerechnet jene sein sollten, die diese In­formationen enthielten. Und niemand wußte, wo sie zu finden waren. Atlan hatte noch et­wa ein Dutzend zur Verfügung.

Razamon rief Bördo zu sich und wies ei­nige Dellos an, nach Leenia zu suchen. Ob­

wohl er in Gedanken weiterhin bei Atlan war, fühlte er sich nun, nachdem er den Raum mit dem Parraxynt verlassen hatte, befreit.

Sator Synk blieb ihm dicht auf den Fersen und löcherte ihn so mit Fragen, daß der Ber­serker ihm schließlich ein paar unschöne Worte sagte.

Razamon war entschlossen, das unmög­lich Erscheinende zu versuchen. Es mochte Opfer kosten – die Leben vieler Pthorer.

»Befiehl den Robotbürgern, uns ihre Die­ner zu schicken«, schlug Synk ihm vor, während sie sich in die unteren Stockwerke der Pyramide begaben. Jeder von ihnen trug nun eine Waggu und einen Beutestrahler. »Roboter sind nicht beeinflußbar wie wir.«

»Es ist zu spät dazu«, knurrte der Berser­ker.

Drei der fünf Dellos, die nach Leenia su­chen sollten, tauchten mit der ehemaligen Körperlosen auf. Leenia zitterte am ganzen Körper. Der Glanz ihrer Augen war weitge­hend erloschen. Dunkle Ringe zeichneten sich darunter ab.

»Wir fanden sie, als sie einen Quork zer­strahlen wollte«, berichtete einer der Spezia­landroiden.

Er brauchte nicht zu sagen, was die Folge gewesen war. Nur zu deutlich war es zu se­hen. Razamon brauchte auch nicht zu fra­gen, wo die anderen beiden Dellos des Such­trupps abgeblieben waren.

Zumindest Synk hatte mit dem Gedanken gespielt, die Lagerhalle mit den Quorks zu verschließen und die Knochen zu verbren­nen. Auch diese Hoffnung schwand dahin. Alles erschien ihm plötzlich aussichtslos.

Sie alle waren nichts als Staubkörner, Würmer unter dem Stiefel eines Riesen, die nur darauf warteten, zertreten zu werden.

Wäre er nur in Orxeya geblieben! Er beeilte sich, zu Razamon und Bördo

aufzuschließen, die Leenia gemeinsam stütz­ten, bis sie wieder allein gehen konnte.

»Sie sind unangreifbar«, flüsterte sie. »Nichts kann sie vernichten …«

»Dann werden wir sehen, ob sie sich auch

29 Die Stunde des Magiers

durch nichts aufhalten lassen«, knurrte Raz­amon.

Von einem Nebenkontrollraum aus ließ er die Tore der FESTUNG verschließen. Dann rief er alle Dellos zu sich, die bei klarem Verstand waren.

»Ihr riegelt die Stockwerke ab, in denen sich Pthorer mit Quorks befinden«, befahl er ihnen. »Wenn ihr bemerkt, daß einer von euch unter den fremden Zwang gerät, so pa­ralysiert ihn. Laßt die Pthorer ziehen, die ih­re Quorks bereits abgeliefert haben. Alle an­deren paralysiert ihr ebenfalls.«

»Und wenn sie dadurch sterben?« fragte Leenia.

Razamon verzog keine Miene, doch sie kannte ihn gut genug, um den inneren Kampf zu spüren, der in diesen Augen­blicken in ihm tobte.

»Wir begeben uns vor die FESTUNG«, sagte er hart. »Wir können die Pthorer nicht ewig lähmen. Alles, was wir auf diese Weise erreichen können, ist ein Aufschub – und Zeit für Atlan.«

Die Dellos rückten ab. Jeder von ihnen hatte seine Waggu in der Hand.

Als Razamon, Leenia, Bördo und Synk das Haupttor der FESTUNG erreichten und auf einem Bildschirm sahen, was draußen vorging, begriffen sie erst, worauf sie sich einließen.

»Es sind immer noch Hunderte«, flüsterte Leenia. »Sobald wir das Tor öffnen, werden sie über uns herfallen. Wir können sie nicht alle auf einmal lähmen.«

»Wir müssen es!« sagte der Berserker. Er drückte auf einen Knopf. Das Tor fuhr

auf.

7.

Der Boden lebte! Onte Derg setzte einen Fuß auf violett

schimmerndes Moos und glaubte, gewichts­los zu sein. Er fand keinen Halt. Sein Stiefel schien in diesem Leuchten zu versinken, im­mer tiefer, bis zum Knöchel, dann weiter die Wade herauf …

Traue nicht dem, was du siehst! Das violette Wabern kroch am Bein em­

por, erreichte das Knie … »Mal!« schrie der junge Pirat in höchstem

Entsetzen. Irgend jemand – oder irgend etwas – ant­

wortete ihm. Doch das war nicht die Stimme eines Menschen. Sie kam von weit, weit her.

Traue nicht dem, was du siehst! Onte Derg fühlte, wie die Panik nach seinem Ver­stand griff. Um ihn herum drehte sich der Wald. Der Boden hob und senkte sich. Und das Wabern erreichte seine Hüften.

»Mal! Hilf mir!« Marschiere hinter mir her immer gerade­

aus! Bleib nicht stehen, egal was geschieht! Denn ein falscher Schritt bedeutet den Tod!

Mit einem Aufschrei riß Derg das Bein zurück, und es gehorchte ihm. Er sah seinen Stiefel wieder. Das Leuchten und Wabern löste sich in Nichts auf. Dort, wo Derg hin­getreten hatte, züngelten kleine blaue Flämmchen aus dem Moos.

Derg machte einen weiteren Schritt in die Richtung, in der er Mal hatte verschwinden sehen. Wieder hatte er das Gefühl, im Moos versinken zu müssen. Mit aller Willenskraft, deren er noch fähig war, zwang er sich, wei­terzugehen. Das zweite Bein wurde vom violetten Wabern umhüllt, das andere freige­geben, als er es nachzog. So machte der Pthorer einen Schritt nach dem anderen, und jedesmal packte ihn das gleiche Grauen, wenn er seine Beine in Feuer gehüllt sah.

»Illusion!« flüsterte er. »Es ist alles nur Einbildung!«

Er begann zu laufen. Wo er hintrat, zün­gelten blaue Flämmchen an ihm empor. Er spürte nicht, daß er festen Boden berührte. Aber er versank auch nicht. Derg zwang sich dazu, geradeaus zu rennen, einfach nicht nach unten zu blicken.

»Mal! Verdammt, wo bist du?« Er sah den Gnomen nicht. Für einige

schreckliche Augenblicke glaubte er, allein in diesem unwirklichen Leuchten zu sein. Die Stämme der Nadelbäume schienen sich ihm zuzuneigen, Astlöcher ihn anzugrinsen.

30 Horst Hoffmann

Derg preßte beide Hände gegen die Schläfen und kämpfte gegen den plötzlichen Wunsch an, sich nicht länger zu quälen und hinzule­gen, zu schlafen – tief und für immer.

Die Quorks rissen ihn aus diesem Zu­stand. Sie waren es, die ihn trieben. Derg fühlte, wie sie ihn lenkten, und diesmal wehrte er sich nicht dagegen. Auf gerade­stem Weg zur FESTUNG! So wie Mal!

Er rannte, stolperte und richtete sich auf, bevor das Wabern sein Gesicht erreichte. Der Waldboden schien unter ihm Wellen zu werfen. Derg schloß die Augen und lief wie ein Blinder weiter. Augenblicklich spürte er wieder festen Boden unter den Füßen.

Fast schrie er vor Erleichterung. Er hielt die Augen geschlossen, rannte weiter, schnappte nach Luft. Irgendwann mußte die­se Zone des Wahnsinns zu Ende sein. Mal hatte es gesagt. Sie breitete sich erst aus!

Onte Derg glaubte schon, die Schritte des Zwerges zu hören. Er wurde leichtsinnig, wollte auf die Quelle der Geräusche zulau­fen und prallte gegen etwas Hartes.

Der Schlag gegen die Stirn drohte ihm das Bewußtsein zu rauben. Derg riß die Augen auf und sah den Baum. Brennender Schmerz breitete sich in seinem Schädel aus. Doch noch als der Pirat sich mit einer Hand über die Platzwunde strich, erblickte er die kleine Gestalt nur wenige Meter vor sich.

»Mal!« Er ignorierte die Schmerzen und lief auf

den Zwerg zu. Mal drehte sich nicht um. Als Onte Derg endlich an seine Seite kam, sah er, wie Mals Blick in unbekannte Fernen ge­richtet war. Plötzlich war er davon über­zeugt, daß der Gnom das Leuchten besser kannte, als er zugeben wollte. Er wußte, wie er ihm zu begegnen hatte.

Aber er hätte ihn hier sterben lassen! Derg packte ihn an der Schulter. Wenn

Mal wußte, wie er aus dieser Hölle heraus­fand, so würde er ihn führen.

Eine Zeitlang ging das gut. Derg klam­merte sich um Gnomen fest, blickte nur ein­mal auf seine scheinbar versinkenden Füße und triumphierte schon fast.

Dann sah er das Wesen. Es war violett wie das Leuchten, und sein

Körper schien ganz aus Flammen zu beste­hen. Derg schrie auf und ließ Mals Schulter los.

Im nächsten Augenblick war der Zwerg verschwunden.

Derg stand vor dem Feuerwesen, unfähig, einen Atemzug zu tun. Das Wesen schob sich langsam näher und veränderte sich stän­dig. Flammen züngelten an ihm empor und gaben ihm eine Höhe von drei Metern. Im nächsten Moment fiel es in sich zusammen und wuchs in die Breite, bildete feurige Ar­me aus, die Derg umfassen wollten. Schon spürte der Pirat die Hitze, die von ihm aus­ging.

Traue nicht dem, was du siehst! Bleib nicht stehen!

Etwas schien in Dergs Kopf zu explodie­ren. Etwas stieß ihn voran, in das Feuerwe­sen hinein. Etwas gab ihm die Kraft, der furchtbaren Hitze zu widerstehen.

Derg rannte weiter, dem Wahnsinn näher als während der bitteren Stunden des Auf­stiegs. Er hörte sich nach Mal rufen, und sei­ne Stimme wurde dutzendfach wie von un­sichtbaren Wänden zurückgeworfen. Weite­re Feuerwesen wuchsen vor ihm direkt aus dem Boden. Derg schlug nach den Flam­men, die auf ihn zuschossen, und hatte das Gefühl, seine Hände müßten verbrennen. Doch nicht einmal seine Haare wurden ver­sengt.

»Es ist nicht … wahr!« schrie er. »Es ist nur Einbildung!«

Das Ziehen im Hinterkopf signalisierte ihm, daß er in die falsche Richtung lief. Wieder ließ er sich von den Quorks lenken, bis er, völlig außer Atem, eine Stelle des Waldes erreichte, an der der Boden braun und dunkel war – eine Lichtung inmitten des violetten Glühens.

Kraftlos ließ der ehemalige Flußpirat sich fallen. Er lag auf dem Rücken und atmete schwer. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Flammensäulen rings um die freie Stelle von etwa zehn Metern Durchmesser in

31 Die Stunde des Magiers

die Höhe schossen, Gestalt annahmen und ihre Arme nach ihm ausstreckten.

Derg lachte. Er warf sich herum und streckte den Flammen seine Hände entge­gen. Er lachte wie ein Irrsinniger, wälzte sich auf dem Boden und begann, die Spuk­gestalten zu necken. Er fragte sich nicht, wa­rum der Boden unter ihm nicht ebenso leuchtete wie das Land ringsum.

Als er den Grund erkannte, war es zu spät. Diesmal fiel er wirklich, als sich das

Moos teilte und die Erde sich auftat wie das Maul eines riesigen Ungeheuers.

*

Mal blieb stehen. Wie Onte Derg sah er, daß seine Füße

langsam versanken. Im Gegensatz zum Pira­ten allerdings blieb er ruhig und besonnen. Solange er wußte, daß alles nur Illusion war, befand er sich nicht in Gefahr.

Daß das Ende der Zone noch nicht er­reicht war, bedeutete aber, daß sich die Mu­tationswelle schneller ausbreitete, als er be­fürchtet hatte. Noch war die Zone relativ klein, und kein Pthorer außer ihm, dem jun­gen Piraten und einigen weiteren hierher Versprengten mochte überhaupt von dem wissen, was das Land bedrohte.

Schon einmal, so hieß es in der uralten Schrift, die Mal während seiner langen Wanderung gefunden hatte, waren Teile von Pthor in dieses Leuchten gehüllt worden, das selbst niederste Organismen mit einer grau­samen Art von Intelligenz erfüllte. Niemand wußte, wie es zu dieser Erscheinung kam, aber es schien, als stünde auch sie mit dem Dunklen Oheim in Verbindung.

Auch hiervon wußte nur Mal. Er hatte nie sein Wissen an andere weitergegeben. Nun aber konnte sich dies als verhängnisvoll er­weisen.

Nein, dachte der Gnom. Selbst wenn die Pthorer gewarnt wären, könnten sie nichts gegen das ausrichten, das auf sie zukam.

Mal drehte sich um und suchte nach Onte Derg. Er spürte, wie die Quorks ihn zum

Weitergehen drängten, doch da war noch et­was anderes in ihm, etwas, daß diesem Drang entgegenwirkte.

Onte Derg war in eine der Fallen gelau­fen. Mit ihm waren seine Quorks in Gefahr.

Mal spürte den Schmerz in seiner Brust. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Der Tod hatte schon längst seine Schrecken für ihn verlo­ren. Zu oft war er ihm begegnet. Doch der Gedanke daran, daß sein Leben nun bald er­löschen würde, berührte den Zwerg seltsam.

Er hatte zu oft von anderen genommen. Nun mußte er geben, um rein ins jenseitige Leben einzugehen.

Mal widerstand dem Drang, den Marsch zur FESTUNG fortzusetzen. Er beobachtete die Wellenbewegungen des Bodens, bis er zu wissen glaubte, wo er den Piraten zu su­chen hatte.

*

Onte Derg schrie, doch seine Schreie wur­den vom Leuchten verschluckt. Er krallte die Finger ins Erdreich, um nicht noch wei­ter abzurutschen. Unter ihm klaffte der Spalt, viele Meter tief. Und überall um ihn herum schoben sich tastend hauchdünne Wurzeln aus dem Boden. Sie kamen näher wie Nadeln mit tödlichen Spitzen.

Er fand keinen Halt, verlor jedes Gefühl aus den Fingern. Sie waren taub, wie abge­storben, und langsam schwand alle Kraft aus seinem Körper. Etwas saugte sie auf. Derg glitt in die Tiefe, wobei die feinen Wurzel­spitzen seine Kleidung und Haut ritzten.

Als er am Boden des Spaltes lag, sammel­te er die Quorks auf, die er aus seinem Korb verloren hatte. Seine Hände wurden nicht von ihm gesteuert. Derg kam auf die Beine, als auch der letzte Knochen wieder im Korb lag, und sah, wie sich die Wurzeln zu einem feinen Netz über ihm schlossen. Sie schoben sich übereinander und bildeten ein undurch­dringliches Geflecht.

Der junge Pirat heulte vor Zorn und ver­suchte, wieder in die Höhe zu klettern. Er hatte nicht einmal die Kraft, die Finger ins

32 Horst Hoffmann

Erdreich zu graben. Er fiel und blieb liegen. Der Lebenswille

verließ ihn. Onte Derg wartete auf sein En­de, das ihm nun wie eine Erlösung erschien. Warum hatte er sich dagegen aufgebäumt, nachdem Mal ihn gerettet hatte?

Doch die erhoffte Erlösung sollte ihm auch diesmal verwehrt bleiben.

Wieder fühlte er, wie neue Kraft seinen Körper durchströmte. Er wehrte sich instink­tiv dagegen, wollte nicht noch einmal die Qualen erleiden, die kein Sterblicher ertra­gen konnte.

Doch etwas, das stärker war als er, ließ ihn sich aufrichten. Er kroch in die Höhe, bis er das Geflecht erreichte – und durchstieß es mit einer Faust. Etwas packte sein Handge­lenk. Im nächsten Moment sah der Pirat Mals Gesicht über sich. Der Mantel des Zwerges war über der Brust geöffnet, doch das rote Wabern dort, wo sich Haut, Mus­keln und Rippen befinden sollten, war schwächer geworden, noch schwächer als oben im Felskessel.

Mal schloß den Mantel erst wieder, als Onte Derg neben ihm stand. Fassungslos sah der Pirat, wie sich der Boden wieder schloß.

»Von jetzt an bleibst du bei mir«, sagte der Gnom, als wäre nicht das geringste vor­gefallen. »Hier, binde dich damit an mich.«

Er reichte Derg einen Lederriemen, des­sen Ende er um sein Handgelenk geknotet hatte. Das andere schlang Derg um den eige­nen Arm. Er war müde und tat, was von ihm verlangt wurde, ohne zu widersprechen.

An Mals Seite trottete er durch das violet­te Leuchten. Dann und wann kamen sie an weiteren dunklen Inseln vorbei. Derg sah zum erstenmal die Skelette von großen Tie­ren am Rand einer dieser Flächen.

Über den Wipfeln der Bäume wurde es allmählich hell. Mit dem anbrechenden Tag verlor auch das Leuchten an Intensität. Es entstanden keine Trugbilder mehr. Derg fühlte sich von einem Druck befreit, doch diesmal schöpfte er keine neue Hoffnung.

Dies war keine Welt mehr, in der er leben wollte. Er hatte nur noch den Wunsch, zur

FESTUNG zu gelangen – und spürte, daß er sich beeilen mußte.

Die Quorks trieben ihn an, obwohl er nicht rastete. Das Ziehen im Hinterkopf wurde stärker. Auch Mal beschleunigte sei­ne Schritte.

»Wir werden bald die Berserker wiederse­hen«, prophezeite der Gnom. »Wir sind die letzten, die ihre Quorks zur FESTUNG brin­gen.«

Derg stellte keine Fragen. Doch Mal sprach weiter, als ob er es plötzlich sehr ei­lig hatte, sich eine Last von der Seele zu re­den.

»Ich weiß nicht, ob wir die FESTUNG noch erreichen. Vielleicht ist es besser, wenn wir es nicht schaffen. Du fragst dich, was mir die Macht über Leben und Tod gibt, Onte Derg. Diese Macht besitze ich nicht. Ich kann nur Lebenskraft nehmen und ge­ben.« Er schwieg eine Weile. »Ich konnte sie nehmen. Dazu wurde ich geschaffen. Die Herren der FESTUNG liebten es, Experi­mente mit Pthorern durchzuführen. Die mei­sten endeten mit dem Tod der Betroffenen. Ich überlebte und sollte fortan einflußrei­chen Pthorern die Lebensenergie nehmen, so daß sie auf die Herren und mich angewiesen waren, denn nur ich konnte ihnen das zu­rückgeben, was ich ihnen genommen hatte. So wurden viele Wesen ihnen hörig, bis mir die Flucht aus der FESTUNG gelang.«

Wieder marschierten sie für Minuten schweigend weiter. Der Wölbmantel wurde heller, doch kein Leben regte sich zwischen den Bäumen. Das Moos glomm wie erlö­schendes Feuer. Erste Laubbäume mischten sich unter die Tannen und Fichten. Es ging steil bergab.

»Ich floh und wußte, daß ich dadurch die von mir Abhängigen zum Tode verurteilte, aber im Grunde waren sie längst schon tot, Onte Derg. Was ich in meiner Brust trage, ist ein Teil von ihnen. Aber diese Kraft geht zur Neige. Nach der Beschwörung und vor­hin gab ich dir etwas davon ab. Nun reicht es gerade noch, um mich für Stunden am Leben zu erhalten. Du wirst vergessen, was

33 Die Stunde des Magiers

du gehört hast, mein junger Freund, und mein Geheimnis wird für immer gewahrt bleiben.«

»Warum sagst du mir dann das alles?« fragte Derg.

»Weil ein Teil von mir in dir weiterleben wird«, antwortete Mal.

»Ich werde nicht leben, nachdem ich …« »Du wirst«, entgegnete Mal. »Und du

wirst vergessen müssen. Glaube mir, es ist besser so.«

»Ich begreife dich nicht.« »An deiner Stelle würde ich das ebenso­

wenig, Onte Derg. Aber jemand, der so lan­ge lebte wie ich und nun den Tod vor Augen sieht, verändert sich. Er wird … nenne es seltsam.«

Damit konnte der Pirat noch viel weniger anfangen. Was beabsichtigte Mal wirklich mit seinen Eröffnungen? Wollte er ihm noch einmal neuen Lebensmut geben?

Es gab noch etwas, daß der Zwerg ihm nicht sagen wollte – oder konnte. Derg spür­te es.

8.

Für Copasallior war das, was in diesen Stunden auf Pthor geschah, ein Kopf-an­Kopf-Rennen zwischen Atlan mit dem Gol­denen Vlies einerseits und dem schwarzen Kern mit den Quorks andererseits.

Ein Kräftemessen, das von vorneherein nur einen Sieger kennen konnte.

Copasallior erhielt diese Gewißheit, als er Atlan das letzte Parraxynt-Bruchstück in den metallenen Ring einsetzen sah, das sich in der FESTUNG befand. Bis zu diesem Au­genblick hatte er immer noch gehofft, daß die hier vorhandenen Bruchstücke jene letz­ten Geheimnisse enthielten, die ihm die viel­leicht entscheidenden Aufschlüsse über die wahre Natur des Mächtigen und die ur­sprüngliche Aufgabe der Dimensionsfahr­stühle geben sollten.

Es war nicht der Fall. Die unvollständigen Gravuren sagten ihm nichts Neues mehr. Je­ne Teile, die die wichtigen Informationen

enthielten, befanden sich nicht in greifbarer Nähe – vielleicht nicht einmal auf Pthor.

Atlan, der die letzten Stunden über stän­dig in Bewegung gewesen war, blieb stehen. Der Weltenmagier machte unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu, um ihm nötigenfalls beizustehen. Nach wie vor glaubte er nicht daran, daß er durch das Goldene Vlies Scha­den erleiden konnte, doch er war nicht völlig sicher.

Atlan stand inmitten des an einer Stelle offenen Ringes und starrte für Sekunden ins Leere. Dann blickte er sich um, als suchte er nach weiteren Bruchstücken. »Atlan«, sagte Copasallior leise. Der Arkonide hob den Kopf. Unsicher sah er zu Copasallior her­über.

»Atlan, es ist vorbei. Es gibt keine Bruch­stücke mehr – nicht hier.«

Zögernd nickte der Mann im Goldenen Vlies. Dann endlich klärte sich sein Blick. Atlans Brust hob und senkte sich unter kräf­tigen Atemzügen.

Der Anzug der Vernichtung entließ ihn aus seinem Bann. Atlan taumelte auf den Weltenmagier zu, der ihn auffing und stütz­te. Die offene Stelle im Parraxynt war gera­de noch breit genug, um ihn sich hindurch­zwängen zu lassen. Copasallior führte ihn zu einem Stuhl.

Atlan setzte sich, streckte die Beine aus und schloß die Augen.

Copasallior wartete geduldig, bis er vollends wieder zu sich kam. Einen Augen­blick lang spielte er mit dem Gedanken, Razamon zu holen, wo immer dieser sich nun aufhielt.

»Es war alles umsonst, nicht wahr?« frag­te der Arkonide.

Copasallior blickte ihn erstaunt an. »Dann … weißt du Bescheid? Du hast ge­

hört, was ich den anderen sagte?« »Alles gehört und gesehen«, bestätigte

Atlan. Er lächelte schwach. »Ich hätte mich gerne selbst gesehen. Ein Teil von mir war … in einer anderen Welt?« Er zuckte die Schultern. »Aber ich hörte jedes Wort, Co­pasallior. Um mich brauchtet ihr euch keine

34 Horst Hoffmann

Sorgen zu machen. Nicht um mich. Aber was wird nun?«

»Du meinst die Quorks?« fragte der Wel­tenmagier gedehnt.

»Die Quorks, das aus dem negativen Be­wußtseinsanteil des Mächtigen entstehende Geisteswesen, der Dunkle Oheim – wo kön­nen wir noch einen Trennungsstrich zie­hen?«

Copasallior wußte keine Antwort zu ge­ben. In Atlans Worten hörte er seine eigene Hilflosigkeit.

»Draußen geschehen Dinge, die unvor­stellbar sind«, murmelte Atlan. »Und wir sit­zen hier und tun nichts.«

»Razamon ist mit Synk, Bördo und Lee­nia unterwegs, um …«

»Ich weiß«, sagte Atlan. »Und wir beide wissen, daß sie keinen Erfolg haben werden. Sie müßten die Pthorer, die die Quorks brin­gen, erschießen, um sie daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen. Und das werden sie nicht tun. Sie werden auch nicht so dumm sein, ihnen die Quorks abzunehmen zu versuchen, denn dann geraten sie in ihren Bann. Ich kenne Synks und Leenias Theorie, daß wir geschützt sind, weil wir die Gefahr erken­nen. Sie ist falsch. Wir mögen nicht ganz so schnell dem Zwang unterliegen, doch wenn einer von uns genug Quorks in den Händen hat, wird er sich in die Reihe der Wartenden begeben und erst wieder zu sich kommen, wenn er die verdammten Knochen zu den anderen gebracht hat.« Atlan murmelte eine Verwünschung. »Es ist sinnlos, Copasallior. Wir kommen ihnen nicht bei. Wann werden die letzten Pthorer mit ihren Quorks hier eintreffen?«

Der Weltenmagier machte eine Geste der Ratlosigkeit.

»Bald«, sagte er nur. »Wenn auch nur ein Quork fehlt, wird das

negative Geisteswesen nicht geboren oder wiedergeboren werden können?«

»Vielleicht ist es so.« »Aber es wird keiner fehlen.« »Nein. Es würde mich nicht mehr wun­

dern, wenn plötzlich selbst Vögel mit

Quorks in den Schnäbeln über der FE­STUNG erschienen.«

Atlan stand auf, wandte dem Weltenma­gier für Augenblicke den Rücken zu und schien mit sich zu ringen.

»Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit, Copasallior«, sagte er.

»Auch ich habe daran gedacht.« Atlan drehte sich um, kam auf den Magier

zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich kann es nicht von dir verlangen.

Wenn du wirklich weißt, was ich meine, dann weißt du auch, daß du dabei sterben kannst.«

»Sterben …« Copasallior betonte die Sil­ben eigenartig.

Atlan zog die Hand zurück und winkte ab. »Noch wäre es nicht soweit. Und dann

müßte die Entscheidung von dir kommen. Noch haben wir Zeit, uns nach Razamon und den anderen umzusehen. Wenn sie das tun, was ich vermute, stecken sie in Schwie­rigkeiten.«

»Geh allein«, bat der Magier ihn. »Ich möchte …«

»Ich verstehe dich«, sagte der Arkonide. »Ich verstehe dich nur zu gut.«

Und das tat er. Denn sie waren beide das, was jene, die

sie kannten, gemeinhin »Unsterbliche« nannten.

*

»Wir haben Synk verloren!« rief Leenia. Razamons Antwort war ein Schuß aus sei­

ner Waggu. Die Gefährten hockten auf zwei Treppen, die direkt hinter dem Tor aufwärts führten. Der zwischen ihnen liegende Haupt­korridor war erfüllt von sich vorwärts schie­benden Pthorern aus allen Teilen des Di­mensionsfahrstuhls. Bördo befand sich bei der ehemaligen Körperlosen, Razamon auf der gegenüberliegenden Treppe, von der die Eindringlinge keine Notiz nahmen.

Im letzten Moment hatten sie sich vor der Flut retten können, die durch das Tor ge­quollen war. An ein Herauskommen aus der

35 Die Stunde des Magiers

FESTUNG war immer noch nicht zu den­ken. Razamon hatte manchmal den Ein­druck, die gleichen Wesen wieder herein­strömen zu sehen wie vor Minuten. Alles, was Beine zum Laufen hatte, war von dem schwarzen Kern mobilisiert worden. Der Strom riß nicht ab.

»Ich hatte nicht gewußt, daß es so viele Pthorer gibt!« rief der Berserker mit einem Anflug von Galgenhumor. Er schoß wieder. Von der anderen Seite lähmte Bördo die Hereinströmenden, doch die Lawine war da­durch nicht aufzuhalten. Viel zu schnell kletterten die Besessenen über die Paraly­sierten, die ihrerseits viel eher wieder auf die Beine kamen, als es normal gewesen wäre. Was ihnen die Kraft gab, von der Eisküste, aus dem Blutdschungel oder gar aus der Dunklen Region zu Fuß und ohne Rast zur FESTUNG zu rennen, neutralisierte auch die Paralyse.

Razamon hatte keine Ahnung, wie es jetzt unten bei den Lagerhallen aussah und was die Dellos auszurichten vermochten. Er gab sich keinen großen Hoffnungen mehr hin.

»Synk ist fort, Razamon!« rief Leenia wieder.

»Ich habe es gehört! Entweder ist er jetzt ebenfalls mit ein paar Quorks unterwegs, oder er hat es tatsächlich geschafft, aus der FESTUNG zu kommen!«

»Dann schaffen wir es auch!« schrie Bör­do.

»Es ist sinnlos geworden! Wir hätten das Tor niemals wieder öffnen dürfen. Wir kön­nen es nicht einmal mehr schließen, ohne Dutzende dieser Narren zu zerquetschen!«

Sie hatten es vielleicht schon getan, als sie die Tore vom Nebenkontrollraum aus schlie­ßen ließen. Razamon machte sich heftige Vorwürfe. Daß hier weder Leichen noch Verletzte zu sehen waren, bedeutete keinen Trost für ihn.

Etwas anderes ging ihm durch den Sinn. Von überallher wälzten sich die Kolonnen

der Todgeweihten auf den Krater in der Ebe­ne von Kalmlech zu. Viele Pthorer, die zur FESTUNG unterwegs waren, mochten von

ihnen regelrecht niedergewalzt worden sein. Tod und Verderben überzogen Pthor. Und alles strebte einem furchtbaren, grauenvol­len Höhepunkt zu.

Leenia litt besonders unter dem, was sie mitansehen mußte. Sie hatte noch keinen einzigen Schuß aus ihrer Waggu abgegeben, nachdem sie sich in Sicherheit gebracht hat­te. Aber jedesmal zuckte sie zusammen, wenn Pthorer, die ihre Quorks abgeliefert hatten, versuchten, aus der FESTUNG zu­rück zu ihren Dörfern zu gelangen. Jene, die es bis hierhin schafften, brachen kraftlos zu­sammen und wurden von den Anstürmenden einfach niedergetrampelt.

Plötzlich sah Razamon überall Dellos. Sie drängten sich zwischen den Besessenen hin­durch und hoben die Erschöpften und Be­wußtlosen auf, luden sie sich auf die Schul­tern und verschwanden mit ihnen oder ka­men auf die Treppen zu. Razamon ließ drei, vier von ihnen an sich vorbei.

Aber er hatte ihnen keinen entsprechen­den Befehl gegeben. Und es mußten jene Dellos sein, die er hinuntergeschickt hatte, um die unteren Stockwerke abzuriegeln!

Leenia mischte sich unter die Pthorer und half den Spezialandroiden dabei, die Hilflo­sen vor dem Niedergetrampeltwerden zu ret­ten.

Als der nächste Dello an ihm vorbeiwoll­te, hielt der Berserker ihn fest.

»Wer hat euch das befohlen?« fragte er, obwohl er glaubte, die Antwort zu kennen.

»Atlan«, erwiderte der Androide knapp und setzte seinen Weg nach oben fort.

Nur Augenblicke später kam der Arkoni­de die Treppe herunter.

»Aber …!« entfuhr es Razamon. Er starr­te den Freund an wie ein Phantom. Atlan trug noch das Goldene Vlies, aber sein Blick war klar. Bevor der Berserker Fragen stellen konnte, winkte er barsch ab und bedeutete ihm und auf der anderen Seite des Korridors Leenia und Bördo, den Beschuß einzustel­len.

»Wo ist Copasallior?« »Beim Parraxynt«, erwiderte Atlan. »Wer

36 Horst Hoffmann

von euch ist für diesen Unfug verantwort­lich? Mit den Waggus haltet ihr sie nicht auf. Ihr riskiert nur, daß die Gelähmten er­drückt werden. Komm mit mir.« Zu Leenia und Bördo rief er hinüber: »Lauft nach oben! Wir treffen uns beim Parraxynt!«

»Hast du … habt ihr es weiter entschlüs­seln können?« fragte Razamon, während er sich bemühte, mit Atlan Schritt zu halten. »Weißt du überhaupt, was …?«

»Alles, Razamon. Nein, die wichtigen Teile fehlen uns. Aber es gibt eine Möglich­keit, die Gefahr zu bannen – vielleicht.«

»Welche?« »Warte, bis wir oben sind. Es hängt nicht

nur von mir ab.« Wenige Minuten später standen sie wie­

der vor dem grauen Ring. Copasallior erwar­tete sie. Er machte einen gefaßten Eindruck. Nur Synk fehlte.

Razamon blickte verständnislos von Atlan zum Weltenmagier und wieder zurück. Die beiden ungleichen Männer standen sich schweigend gegenüber. Beider Gesichter waren wie versteinert, undurchdringliche Masken.

Die Gefährten hielten den Atem an. Kni­sternde Spannung erfüllte den Raum.

»Nun?« fragte Atlan endlich. Ein Ruck ging durch den Körper des Ma­

giers. Copasallior zwang sich zu einem Lä­cheln. Bevor er antwortete, hob Atlan die Hand und sagte:

»Du weißt, was ich wünsche, Copasallior. Noch einmal: Ich kann und werde es nie­mals von dir fordern.«

»Du müßtest es tun, sollte ich mich wei­gern. Du müßtest mich dazu zwingen, denn du trägst die Verantwortung für Pthor.«

»Kann mir einer sagen, wovon ihr redet?« platzte Razamon heraus.

Der Weltenmagier wandte sich um und blickte den Berserker durchdringend an.

»Ich werde versuchen, die Quorks in eine Welt jenseits der Wirklichkeit zu schleu­dern«, verkündete Copasallior.

»Aber das ist …!« entfuhr es Leenia. »Es kann dein Tod sein! Die Quorks werden ver­

suchen, dich zu zwingen, sie zurückzubrin­gen, wo immer du mit ihnen landen wirst! Allein mit dir, werden sie dich unter ihren Bann zwingen wie …«

»All dies habe ich bedacht«, sagte der Magier ruhig. »Ich werde mich mit ihnen in einen Raum versetzen, in dem es keinen Be­zug mehr zu dieser Welt gibt. Wenn einmal der Einfluß des schwarzen Kerns auf sie er­loschen ist, wenn es keine Verbindung mehr zwischen ihnen und ihm gibt, werden sie nur wieder Knochen sein.«

Atlan sagte nichts darauf. Nur seine Blicke verrieten seine Zweifel.

»Versucht nicht, mich davon abzubringen. Es ist allein meine Entscheidung. War es nicht so, Atlan?«

»Du bringst dich unnötig in Gefahr«, pro­phezeite Leenia düster. »Die Quorks werden dich zur Rückkehr zwingen, von wo auch immer. Sie werden es mit der Kraft tun, die schon in ihnen ist.«

*

Sator Synk befand sich nicht unter denen, die es zu den Lagerhallen zog. Dem Orxeya­ner war es in der allgemeinen Verwirrung nach Öffnen des Tores gelungen, eine Lücke zwischen den eindringenden Pthorern zu fin­den und aus der Pyramide ins Freie zu hu­schen. Eine Zeitlang schoß er wild mit der Waggu um sich, im Bewußtsein, nur das be­ste für die Besessenen zu tun – bis er merk­te, daß er allein mit ihnen war.

Er zog sich hinter die umgestürzten Wa­gen einiger Händler zurück und wartete dar­auf, daß Razamon, Leenia und Bördo eben­falls erschienen. Nach einer Viertelstunde wußte er, daß sie nicht mehr kommen wür­den.

Um so besser für mich! dachte er. Hier konnte er nicht viel ausrichten. Auch er merkte bald, daß die Paralyse bei den Beses­senen nicht lange vorhielt. Von vorneherein hatte er Razamons Plan – soweit man über­haupt von einem solchen reden konnte – kei­ne großen Chancen eingeräumt.

37 Die Stunde des Magiers

»Nur Roboter können hier helfen«, mur­melte er, während er die Scharen der Herbei­eilenden beobachtete. Täuschte er sich, oder wurden es schon weniger?

Nach einer weiteren Viertelstunde hatte er Gewißheit. Es kamen weniger Pthorer mit ihren Quorks. Das konnte nur bedeuten, daß nun bald alle Knochen der Yuugh-Katze in der FESTUNG waren.

Als Sator Synk sich auf die Suche nach einem Zugor machte, tat er es in der Gewiß­heit, wieder einmal läge das Schicksal von Pthor allein in seinen Händen. Er versuchte, nicht an das zu denken, was er durch Copa­sallior erfahren hatte. Vor allen Dingen mußte er jetzt einen klaren Kopf bewahren.

Synk hatte die FESTUNG halb umrundet, als er die Flugschale sah, die gerade zur Landung ansetzte. Die von einem Inspekti­onsflug zurückkehrenden Dellos schickte er in die Pyramide, wo Atlan angeblich mit ei­nem Spezialauftrag auf sie wartete.

Wenige Augenblicke später war er in der Luft.

Je weiter er sich von der FESTUNG ent­fernte, desto wohler wurde ihm. Die frische Luft tat ihm gut. Der Fahrtwind, der seine Haare wild flattern ließ, hatte etwas Befrei­endes. Synk fühlte sich wieder in seinem Element. Natürlich redete er sich ein, daß er nicht etwa geflohen war. Ein Mann wie er brauchte nun einmal seine Bewegungsfrei­heit, um Großes zu vollbringen. So war es schließlich immer gewesen. Die Tage, die er zur Untätigkeit verurteilt in der FESTUNG verbracht hatte, schienen nun bereits weit zurückzuliegen.

Der alte Kampfgeist erwachte in ihm. Erst einmal in Wolterhaven, würde er sich nicht wieder von den Robotern narren lassen. Mit einer neuen Guerilla-Truppe würde er zu­rückkehren und dafür sorgen, daß der letzte Quork die anderen niemals erreichen würde.

Der gerade Weg nach Wolterhaven führte über die Ebene von Kalmlech. Schon weit vor ihr sah der Orxeyaner die Kolonnen der Invasoren am Horizont nach Südwesten zie­hen. Wenn er sich beeilte und die Robotbür­

ger sich einsichtig zeigten, sollte er auch ih­nen ihr grausames Schicksal ersparen kön­nen.

Und dann? Würde Pthor endlich zur Ruhe kommen, auf daß er sich endgültig nach Or­xeya zurückziehen und seinen Traum von ei­ner eigenen Kneipe verwirklichen konnte?

Die Helligkeit des neuen Tages konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die ver­einten Dimensionsfahrstühle vom Dunklen Oheim und der schwarzen Masse umschlos­sen waren und durch die Dimensionskorri­dore auf ihr Ziel zujagten, das nicht mehr allzu fern sein konnte. Dort, in Atlans Hei­mat, sollte erst die Entscheidung fallen. Aber darüber konnten sich andere den Kopf zerbrechen. Synks Aufgabe war es, die Ent­stehung des negativen Geisteswesens aus den Quorks zu verhindern. Danach konnte man sich dem Oheim widmen.

Synk überflog Donkmoon und steuerte den Zugor nach Süden, um dann entlang der Straße der Mächtigen weiterzufliegen. Er sehnte sich nicht danach, den Krater aus der Nähe zu sehen.

Der Zugor war schnell, aber nicht schnell genug für ihn.

»Lahmes Ding!« fluchte der Held von Pthor. »Was haben diese Androiden mit dir angestellt? Ich verstehe zwar nicht viel von Technik, aber es wäre gelacht, wenn ich dich nicht etwas flotter machen könnte!«

Er begann, Stücke der Verkleidung von der Steuersäule abzumontieren, während die Flugschale ihn zur Straße der Mächtigen trug.

*

Unterdessen hatten Gandel Gars und ihre zehn männlichen Begleiter etwa die Hälfte des Weges zur FESTUNG zurückgelegt. Die Yassels schnauften und waren schweißbe­deckt – vor allem das, auf dem die Zwei­zentnerfrau ritt.

»Meinst du nicht, daß wir eine Pause ein­legen sollten, Gandel?« fragte Braker Hoyt. »Was haben wir davon, wenn die Tiere zu­

38 Horst Hoffmann

sammenbrechen?« »Keine Pause, Braker!« entgegnete Gan­

del. »Denk daran, daß unsere Stadt bedroht ist! Wenn ich mir vorstelle, daß deine Verrä­ter durch irgendwelche faulen Tricks meine Leute überwältigen und den Fremden die Tore öffnen, wünsche ich, ich hätte Flügel.«

»Dein Yassel mag sich das auch wün­schen«, konterte Hoyt. »Außerdem müßten das schon sehr große Flügel sein.«

»Was man hat, das hat man«, überging die Orxeyanerin die Anspielung auf ihr Ge­wicht sehr sanft.

»Außerdem muß ich … muß ich mir die Beine vertreten. Dort vorne sind Büsche. Reite du ruhig schon voraus. Wir anderen kommen nach.«

Gandel brachte ihr Yassel zum Stehen und drehte sich schwer im Sattel um. Das Tier ging in die Knie.

»Oh, nein, Braker! Das hast du dir viel­leicht fein ausgedacht. Ich reite weiter, und du kehrst mit deinen Verrätern um, um die Fremden in die Stadt zu lassen. Wir machen eine Pause, aber nur kurz!«

»Gandel, das ist eine verdammt gute Idee von dir!«

»Und du solltest unterwegs nicht soviel saufen, dann brauchtest du auch nicht an je­der Ecke …«

Ein heranfliegender Proviantbeutel brach­te sie zum Schweigen. Gandel stieg ab und setzte sich mit finsterer Miene auf einen Stein, während Hoyt und vier weitere Män­ner sich in die Büsche schlugen.

Die Yassels, seit dem Aufbruch ununter­brochen angetrieben, knickten in den Beinen ein und ließen sich auf die Seite fallen.

»So erreichen wir nie die FESTUNG, Gandel«, sagte einer ihrer Getreuen. »Wir reiten die Tiere wirklich zu Tode. Wir brau­chen entweder frische Yassels …«

»Und woher sollen wir die hier nehmen, du Schlauberger?«

»… oder einen Zugor, besser noch zwei.« »Und woher sollen wir den hier nehmen?

Siehst du etwa einen?« »Ich glaube … ja.«

Der Orxeyaner streckte den Arm aus und deutete in den Himmel.

»Und er kommt genau auf uns zu.« Gandel sprang auf. »Er stürzt ab, du Schwachkopf! Rennt um

euer Leben!« Die Dicke stolperte, als sie versuchte, ihre

Fettmassen auf schnellstem Wege aus der Gefahrenzone zu bringen, raffte sich schimpfend auf und humpelte weiter, bis ein Mann Erbarmen hatte und sie stützte.

»Was ist eigentlich los?« kam es aus den Büschen.

*

Der Zugor »landete« ein gutes Stück nördlich der Straße der Mächtigen. Eine grelle Stichflamme schoß in die Luft, ein Knall folgte, dann war alles ruhig.

Braker Hoyt schob sich vorsichtig aus dem Gebüsch und sah gerade noch alle elf Yassels in panischer Angst davongaloppie­ren. Gandel und die anderen lagen etwa hun­dert Meter weiter weg flach auf dem Bauch, die Hände schützend über den Hinterkopf gelegt.

»Was war denn?« fragte ein Orxeyaner, der vorsichtshalber noch im Schutz der Sträucher geblieben war. »Was war das für ein Knall? Ist Gandel geplatzt?«

»Unsinn!« knurrte Hoyt. »Da ist irgend etwas heruntergekommen.«

Kurz darauf, nachdem Gandel ihren Schrecken überwunden hatte und zurückge­kehrt war, wußten sie mehr.

»Ein Zugor«, erklärte sie. »Den muß ein Verrückter geflogen haben. Wir sehen nach. Vielleicht können wir ihn noch gebrau­chen.«

Langsam schlichen sich die elf an die Flugschale heran, die sich mit der Spitze in den weichen Boden gebohrt hatte. Von Pas­sagieren war nichts zu sehen. Das Fahrzeug selbst schien den Absturz besser überstan­den zu haben, als zunächst befürchtet. Trotz der Stichflamme war es nicht explodiert.

»Den kriegen wir nicht mehr hin«, pro­

39 Die Stunde des Magiers

phezeite Hoyt. »Wir sind Händler und keine Monteure.«

»Vielleicht haben ihn Dellos geflogen und sind noch am Leben. Sie werden das für uns tun.«

Hoyt blickte Gandel zweifelnd von der Seite an, schwieg aber. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß jemand den Absturz überlebt hatte. Nichts rührte sich unter oder neben der Maschine.

»Vielleicht war sie auch ferngesteuert«, vermutete einer von Gandels Männern.

Gandel blieb stehen, als sie bis auf ein Dutzend Meter heran waren, und breitete die Arme weit aus, um die anderen zurückzuhal­ten.

»Seht«, flüsterte sie. »Da liegt einer unter dem Ding.«

Sie sahen nur die Stiefel, die ihnen entge­gengestreckt waren, und zwei Hände, die sich an der Unterseite des mit dem Heck schräg in den Himmel ragenden Zugors zu schaffen machten.

»Das ist kein Dello«, flüsterte Gandel. »Eher ein Handlanger aus der FESTUNG. Jedenfalls ist er ein Idiot, sonst hätte er kei­nen Absturz verursacht. Er scheint allein zu sein. Und er hat uns noch nicht bemerkt.«

»Was machen wir dann mit ihm?« fragte Hoyt ebenso leise. »Freiwillig überläßt er uns den Zugor bestimmt nicht.«

»Dann betäuben wir ihn und nehmen ihn mit. Hier liegenlassen können wir ihn ja nicht.«

Ausnahmsweise stimmte Hoyt der Rivalin diesmal zu.

»Wir schleichen uns an und packen ihn, bevor er merkt, was überhaupt mit ihm pas­siert. Achtung, jetzt dreht er sich auf den Bauch und kramt in einem Kasten. Er sucht … Werkzeuge.«

»Also auf ihn!« kreischte Gandel. Der Fremde hörte das Kampfgeschrei und

kam mit einem Satz unter dem Zugor her­vor. Er sprang auf und lief genau in Gandels Faustschlag. Schwer am Kinn getroffen, ging er zu Boden und schlug die Augen nicht mehr auf.

Dafür wurden die der Orxeyaner um so größer, als sie sahen, wen Gandel da nieder­gestreckt hatte.

»Aber das ist …!« Ihr versagte die Stim­me.

Entsetzt taumelte sie zurück und riß dabei Braker Hoyt zu Boden.

*

Sator Synk kam zu sich. Im ersten Augen­blick wußte er nicht, ob das Dröhnen in sei­nem Schädel von ihm selbst kam oder von den Maschinen der Flugschale.

Aber es roch nicht nach Schmieröl und angeschmorten Leitungen, sondern nach … verschwitzten Yassels! Den Geruch kannte er nur zu gut. Und was da unter ihm schwankte, war weder ein Zugor noch der Boden, sondern …

Synk riß die Augen auf, sah in ein bärti­ges Gesicht und dann …

Er schloß die Augen schnell wieder. Das mußte ein Traum sein, aber ein Alptraum! Natürlich träumte er! Aber auch die Stim­men?

»Er ist aufgewacht!« »Ich sagte ja, er hat eine gute Konstituti­

on. Wenn du den Schlag einem anderen ver­paßt hättest, Gandel …«

Gandel Gars! »Nein!« schrie Synk und bäumte sich auf.

Die Hände, die ihn hielten, ließen ihn los, und er rutschte vom Rücken des Yassels, über dem er quer gelegen hatte. Instinktiv fing er den Sturz mit den Ellbogen auf.

»Kein Zweifel, Gandel«, sagte Hoyt. »Er hat dich an der Stimme erkannt. Die Freude war zuviel für ihn.«

Gandel Gars ging nicht auf die Anzüg­lichkeit ein. Sie brachte ihr Yassel zum Ste­hen und saß ab. Auch ihre Begleiter stiegen von den wieder eingefangenen Tieren.

Synk lag auf dem Rücken und zitterte. Die Augen waren fest geschlossen, die Hän­de zu Fäusten geballt.

Gandel beugte sich über ihn. »Sator«, sagte sie. »Sator, hörst du mich?

40 Horst Hoffmann

Nun stell dich nicht so an. Deine Abenteuer fern der Heimat sind fürs erste vorbei. Wir brauchen dich.«

»Ihr … braucht mich!« krächzte Synk. »In Orxeya! Zu Hause, Sator. Dieser Ver­

räter Braker will unsere schöne, stolze Stadt den Fremden öffnen, die von den anderen Dimensionsfahrstühlen kommen.«

»Soll er!« schrie Synk. »Soll er doch!« »Sator!« entrüstete sich Gandel. »Siehst du!« schrie Hoyt schadenfroh. »Er

ist vernünftig! Er …« »Laßt mich in Ruhe!« Synk schlug die

Augen auf, kam mit einem Satz in die Höhe und hatte seine Waggu in der Hand. »Zurück mit euch! Ich muß nach Wolterhaven, um Pthor zu retten! Macht euren Streit unter euch aus! Wo ist mein Zugor?«

Gandel Gars und Braker Hoyt sahen sich bestürzt an.

»Er ist noch nicht ganz klar im Kopf«, flüsterte Hoyt. »Besser, wir lassen ihn noch ein wenig schlafen. Wenn er erst in Orxeya ist, wird er schon vernünftig werden.«

Mit einemmal war aller Streit vergessen. Einmütig näherten sich die elf Orxeyaner ih­rem Idol.

»Zurück!« schrie Synk. »Ich schieße, wenn ihr nicht …! Verdammt, seht ihr denn nicht, daß ich's ernst meine? Ich muß zu den Robotbürgern, um Hilfe zu holen. Ich …!«

»Natürlich, Sator, natürlich«, sagte Gan­del. »Und weißt du was? Wir bringen dich hin. Mit dem Zugor, der dort hinten steht.«

Synk war nur für eine Sekunde unvorsich­tig und drehte sich um.

Als Gandel Gars und einer ihrer Anhänger ihn wieder auf das Yassel gelegt und dies­mal gut festgebunden hatten, stieß die Zwei­zentnerfrau einen Seufzer aus.

»Die Umstellung wird ihm nicht leichtfal­len, Braker«, sagte sie. »Aber es muß nun einmal sein. Sein Leben mit diesen Robotern hat doch ernstere Schäden hinterlassen, als ich dachte. Wenn er erst einmal wieder weiß, was ein richtiges Zuhause ist, wird er sie bald vergessen.«

»Wir werden gut auf ihn zu achten haben,

damit er uns nicht gleich wieder entwischt«, pflichtete Hoyt ihr bei.

Gandel reichte ihm die Hand. Er schüttel­te sie.

»Laß uns den Streit begraben, Braker. Nur einer hat das Zeug dazu, unser Gewicht zu sein. Sator soll diese Würde tragen. Ein paar Krüge von unserem besten Bier werden ihn schnell gesund machen.«

»Ja«, sagte Hoyt. Er machte ein zweifeln­des Gesicht. »Doch ob wir ihn wirklich auf Dauer werden halten können?«

»Ich kann es«, versicherte sie ihm. »Glaube mir, ich kann's. Er wird mir für die nächsten paar Jahre nicht mehr aus der Stadt kommen. Einmal müssen Atlan, die Odins­söhne und ihre Gefährten lernen, allein zu­rechtzukommen. Sator hat ihnen jetzt oft ge­nug aus der Patsche geholfen.«

Stürmischer Applaus antwortete auf diese wahrhaft schicksalsträchtigen Worte der Or­xeyanerin. Dann setzte der kleine Zug sich in Bewegung. In Richtung Orxeya ritten sie die Straße der Mächtigen entlang.

Und damit endete die Geschichte des Kro­loc-Bezwingers, Drachentöters und Roboter­freundes Sator Synk. In der FESTUNG konnte noch niemand ahnen, daß man einen Verbündeten verloren hatte, wie man ihn heutzutage nur noch selten fand. Sator Synks Abenteuer sollten von jenen, die ihn erleben durften, noch ihren Enkeln und Ur­enkeln erzählt werden – außerhalb der Stadt­mauern Orxeyas.

Welche Taten der Held in Orxeya noch vollbringen würde, das war eine andere Ge­schichte.

Falls er noch die Gelegenheit dazu be­kam.

9.

Der Dunkle Oheim spürte die Nähe der im Wachsen begriffenen negativen Macht, und er begriff die Zusammenhänge. Nach al­lem, was ihm durch Pthor widerfahren war, schien sich diese Insel nun zu einem stabili­sierenden Faktor seiner Macht zu ent­

41 Die Stunde des Magiers

wickeln. Zwar leitete der schwarze Kern die beim

Tod der Diener freiwerdenden Energien nicht an ihn weiter, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis er bekam, was ihm zu­stand.

Längst war der Dunkle Oheim nicht mehr von Ängsten geplagt. Nein, der außer Kon­trolle geratene schwarze Kern arbeitete trotz allem für ihn.

Noch war die neue negative Kraft nicht zum Leben erwacht. Wenn es soweit war, würde der Oheim zuschlagen und sie an sich reißen. Und damit gewann er ein viel größe­res Maß an Energie als durch die direkte Übernahme der Diener.

So war es gewesen, als er den Sprößling besiegte und integrierte.

Seine Gegner, durch einige lächerliche Erfolge blind gemacht, hatten ihn unter­schätzt.

Er brauchte nur zu warten.

10.

Nur Atlan und Razamon begleiteten den Weltenmagier hinab in die Stockwerke der FESTUNG, wo sich die drei »Schatzkammern« befanden, die Lagerhal­len, deren einziger Schatz nun aus Millionen von Quorks bestand. Waren sie zunächst überrascht darüber, daß sie bei weitem nicht mehr auf so viele Pthorer trafen, wie sie er­warten mußten, so ahnten sie bald, daß das Versiegen des Ansturms nur einen Grund haben konnte.

Es fehlten nicht mehr viele Quorks. Dies war um so beunruhigender, als Atlan inzwi­schen nicht mehr so fest davon überzeugt war, daß wirklich alle 30 Millionen Kno­chen beisammen sein mußten, um das nega­tive Geisteswesen erstehen zu lassen.

Relativ unbehindert gelangten die drei zu den Hallen. Überall auf ihrem Weg sahen sie reglos am Boden liegende Pthorer aus allen Teilen des Landes. Atlan hatte nicht die Zeit, sich jetzt um sie zu kümmern. Überall aber waren Dellos und wieder »normal« ge­

wordene pthorische Helfer dabei, die Be­wußtlosen in Notunterkünfte zu schaffen. Die in der FESTUNG selbst zur Verfügung stehenden Quartiere waren hoffnungslos überfüllt. Auf Atlans Befehl wurden vor der Pyramide wieder riesige Zelte errichtet.

Atlan hatte im Lauf seines langen Lebens viel Not und Elend gesehen – zuviel. Den­noch mußte er sich nun zum Weitergehen zwingen.

Copasallior blieb im Korridor vor den Hallen stehen.

»Kehrt jetzt um«, sagte er. »Was jetzt zu tun ist, muß ich allein tun.«

Atlan wollte etwas entgegnen, aber was sollte er noch sagen?

Er blickte dem Magier in die Augen und streckte ihm die Hand entgegen. Copasallior ergriff und drückte sie fest.

»Wir werden uns vielleicht nicht wieder­sehen«, sagte Atlan. »Sollte es so sein, dann laß mich dir jetzt schon Danke sagen, Copa­sallior, ganz gleich, was du erreichst.«

Der Weltenmagier lachte humorlos. »Haltet keine Grabreden auf einen Leben­

den!« rief er aus und zog seine Hand zurück. »Ich komme zurück.«

»Viel Glück, Copasallior«, sagte Raza­mon.

Der Magier nickte ihm und Atlan zu und ging.

»Er kommt nicht wieder«, flüsterte Raza­mon, als Copasallior in einer der Hallen ver­schwunden war. Er sah Atlans abwesenden Blick und nahm den Arm des Freundes. »Komm jetzt. Oben gibt's für uns genug zu tun, während wir warten. Du brauchst dir nichts vorzuwerfen.«

»Wirklich nicht?« Nur zögernd folgte der Arkonide ihm.

»Manchmal frage ich mich, wie ein Mann mit deinen Skrupeln zehntausend Jahre überleben konnte«, knurrte der Berserker.

»Vielleicht gerade wegen dieser ›Skrupel‹.«

Sie stiegen über am Boden liegende Ptho­rer die Treppen hinauf.

»Selbst falls er Erfolg hat«, murmelte der

42 Horst Hoffmann

Arkonide. »Was kommt danach, Razamon?« »Frage dich lieber, wann wir die Sterne

der Milchstraße am Himmel sehen werden – und was wir dann tun wollen.«

»Kämpfen«, flüsterte Atlan. »Kämpfen bis zum letzten Tropfen Blut.«

»So gefällst du mir schon wieder besser«, lobte der Berserker. Doch nun glaubte er zu wissen, was den Gefährten beschäftigte.

Atlan wußte, daß er überleben würde, ganz gleich, was die unmittelbare Zukunft bringen würde. An der Auskunft des Terra­ners Kennon konnte kein Zweifel bestehen.

Atlan würde leben – aber alle anderen …?

*

Copasallior machte sich keine allzu großen Illusionen über die zu bewältigende Aufgabe. All die Quorks, die nun in der FE­STUNG lagerten, auf einen Schlag an einen anderen Ort zu versetzen – das war etwas, von dem er nicht wußte, ob seine Fähigkei­ten dazu ausreichten. Denn es waren keine toten Gegenstände. Der schlummernde ne­gative Bewußtseinsanteil des Mächtigen er­füllte sie, eine noch nicht geborene Macht – und doch eine ernstzunehmende Kraft.

Der Weltenmagier konzentrierte sich. Bald nahm er die Pthorer, die immer noch mit neuen Knochen kamen, nicht mehr be­wußt wahr. Sie waren nicht gefährdet. Sein magischer Griff umfaßte nur die Quorks.

Und diese erkannten die Gefahr. Sie – oder das, was in ihnen war, was sie beseelte – mochten ahnen, was mit ihnen geschehen sollte. Sie wehrten sich.

Copasallior wußte, daß er einen magi­schen Kraftakt zu vollbringen hatte, wie er beispiellos war. Er baute Kräfte auf, die da­zu angetan waren, eine kleine Welt aus den Angeln zu heben.

Und doch verpufften sie wirkungslos beim ersten Versuch, sich selbst mit den Quorks ins Nichts zu versetzen.

Copasallior taumelte zurück und blieb schwer atmend mit dem Rücken an eine Wand gelehnt stehen.

Er war auf einen mentalen Angriff der Quorks gefaßt und überrascht, als dieser ausblieb.

Hatte er sie doch geschwächt? Hatte er et­was von der in ihnen schlummernden Macht doch in die Räume jenseits der Wirklichkeit schleudern können, ohne es zu merken?

Es gab keine Möglichkeit, dies festzustel­len – und keine andere Möglichkeit für ihn, als den Versuch zu wiederholen.

Und es mußte schnell geschehen, wenn er mit seiner Vermutung recht hatte. Schnell, bevor die unheimliche Kraft sich erneut sta­bilisiert hatte …

11.

Onte Derg hatte bei jedem Atemzug das Gefühl, die Lungen müßten ihm platzen. Aber er rannte weiter. Er mußte es. Er durfte nicht mehr stehenbleiben, nicht einmal für ein, zwei Minuten.

Wie gehetzt sah er sich nach Mal um, der ihm in wenigen Metern Abstand folgte. Es erschien dem jungen Piraten schier unmög­lich, daß der Zwerg sich noch auf den kurz­en Beinen halten konnte. Aber er fiel nicht zurück. Der Mantel stand über der Brust weit offen. Nur schwach noch war das Wa­bern in Mals Oberkörper zu erkennen.

Er zehrt sich aus, dachte Derg. Er lebt von seinen letzten Reserven, von geborgtem Leben. Eigentlich sollte er ihn für das, was er einst getan hatte, verabscheuen. Doch er konnte ihn nicht als Ungeheuer sehen. Mal hatte nicht freiwillig Leben genommen.

Der Taamberg lag nun schon ein gutes Stück hinter den beiden. Dann und wann versuchte Derg, am Hang etwas von den Berserkern zu erkennen, die bald ebenfalls erscheinen mußten – falls sie nicht in den leuchtenden Feldern umgekommen waren. Vom Leuchten selbst war aus dieser Entfer­nung nichts mehr zu sehen.

Dafür erblickte der Pirat etwas anderes. Es waren unzählige fremdartig aussehen­

de Wesen, die sich, von Osten her kom­mend, in langen Kolonnen über das Land

43 Die Stunde des Magiers

wälzten. Es sah nicht so aus, als trügen sie Quorks zur FESTUNG. Sie marschierten ja in die entgegengesetzte Richtung. Aber wer waren sie dann, wenn alle Pthorer auf dem Weg zur Pyramide sein sollten?

Diese und andere Fragen berührten Derg nur oberflächlich. Er war keiner Gefühle und keines wirklichen Interesses mehr fähig – ausgenommen vielleicht des Mitleids, das er seit dem Abstieg für Mal schwach emp­fand. Derg war nicht viel mehr als das In­strument einer fremden Macht, das nur ein Ziel kannte.

Die Fremden waren für ihn nur ein weite­res Hindernis, das es zu überwinden galt. Immer noch verstärkte sich der Druck, den die Quorks auf ihn ausübten. Fast schien es ihm, als würden sie in Panik geraten. Er wunderte sich über nichts mehr. Nichts war mehr unmöglich. Er versuchte nicht mehr, noch irgend etwas zu verstehen.

Nur eines wußte er mit Sicherheit: Er leb­te nur noch, weil Mal ihn ununterbrochen mit Lebenskraft versorgte.

Warum ließ er ihn nicht endlich sterben! Er lief weiter, biß die Zähne aufeinander

und wischte sich den Schweiß aus der Stirn, der ihm beißend in die Augen lief. Seine Beine gehorchten nicht seinem Willen. Wann endlich fiel er tot um?

Onte Derg erreichte den Zug der Fremden und blickte in blaue, flache Gesichter, aus denen jeweils zwei wie aufgesetzt wirkende Facettenaugen schwarz herausstachen. Das ganze Gesicht war das eines Insekts, wohin­gegen alles andere an den Fremden an Tech­nos erinnerte – vor allem die Bekleidung aus Leder.

Die Wesen waren gut zwei Meter groß. Eines schob sich hinter dem anderen her. In wie vielen Reihen sie nebeneinander her marschierten, konnte Derg nicht auf Anhieb erkennen. Er wußte nur, daß es für ihn und Mal hier kein Durchkommen gab. Die Frem­den waren in tiefer Trance. Sie würden sie niedertrampeln, bevor sie auch nur …

Derg war stehengeblieben und hörte, wie Mal zu ihm aufschloß. Er beachtete den

Zwerg gar nicht. Ein einziger Gedanke be­herrschte ihn.

Niedertrampeln! Sie würden ihn zu Boden treten und töten …

Der junge Pirat nahm die von den Quorks hervorgerufenen Schmerzen kaum mehr wahr. Im Lauf der letzten Stunden war er dagegen abgestumpft. Auch jetzt, als sie sei­ne Absicht zu durchschauen schienen und ihn mit aller Gewalt zurückzuhalten ver­suchten, konnte er sie besser ertragen als auf dem Weg über den Goscholth.

Onte Derg packte den Korb ganz fest und atmete tief ein. Er schloß die Augen, spannte alle Muskeln an. Zwei, drei Schritte, und er war zwischen den Fremden. Er erschauerte, als er sich der völligen Stille bewußt wurde. Diese Wesen verbreiteten eine Tragik, die sich auf sein abgestumpftes Gemüt zu legen, ihn mitzureißen drohte. Fast feierlich mar­schierten sie ihrem unbekannten Ziel entge­gen, während in der Ferne immer weitere nachrückten. Derg spürte es: Sie wollten in den Tod.

Wie er. »Ich würde es an deiner Stelle nicht tun«,

sagte Mal sehr leise. »Kümmere dich jetzt um deine Angele­

genheiten«, knurrte Derg abweisend. Was ließ ihn noch zögern? Ein Satz zwischen die vorwärtsdrängenden Leiber …

»Ich würde es nicht tun«, wiederholte der Gnom. »Du wirst leben, Onte Derg.«

»Nein!« Derg schrie es heraus und wollte sich zwi­

schen die Fremden werfen. Seine Beine ge­horchten ihm nicht. Sie gaben nach. Derg sank dort zu Boden, wo er gestanden hatte.

Mal beugte sich über ihn. Der Zwerg deu­tete auf eine Gruppe von Büschen, an denen sie eben vorbeigekommen waren, etwa hun­dert Meter von der Kolonne entfernt.

»Wir gehen dorthin, Onte Derg«, sagte Mal. Seine Stimme hatte sich verändert. Sie war hart geworden, duldete keinen Wider­spruch mehr.

Aber der Pirat sträubte sich. Er biß die Zähne aufeinander, ballte die Fäuste in ohn­

44 Horst Hoffmann

mächtigem Zorn und schüttelte den Kopf. »Gib mir die Kraft … zu sterben!« flehte

er. Mal hatte kein Einsehen. »Ich sagte, du wirst leben. Nun steh auf

und geh zurück, zu den Büschen.« Warum gerade dorthin? Zur FESTUNG! »Die Quorks werden uns keinen Schritt

zurück machen lassen!« »Sie werden. Steh auf und geh jetzt. Ich

habe keine Zeit mehr.« Mal zog den Mantel über der Brust weit

auseinander. Derg sah direkt in das Loch in ihr, in das blaßrote Wabern, aus dessen un­ergründlicher Tiefe ein unwirkliches Feuer heraufbrannte. Es geschah in Sekunden-schnelle, blendete den ehemaligen Flußpira­ten, ließ ihn zur willenlosen Marionette wer­den.

Onte Derg nahm erst wieder etwas um sich herum wahr, als er zwischen den Bü­schen lag, auf dem Rücken, den Blick ängst­lich auf Mal gerichtet, der über ihm kniete.

Unwillkürlich tastete er nach dem Korb. Erst als er den Kopf unter Schmerzen hob, sah er ihn neben den beiden stehen, die Mal getragen hatte. Die Quorks waren ausge­schüttet und lagen auf einem Haufen.

Das war ungeheuerlich! Sie hatten es ge­schehen lassen!

Und doch wußte Derg, daß es jetzt bedeu­tungslos geworden war. Es gab nur noch ihn und Mal.

»Warum … tust du das?« brachte der jun­ge Pirat hervor.

»Weil du leben sollst. Und ich mit dir.« Derg fiel wieder ein, was der Zwerg ihm

über sich erzählt hatte. Plötzlich glaubte er zu begreifen.

»Du hast Angst!« stieß er hervor. »Große Angst, Mal. Du magst tausend Jahre gelebt und tausend Jahre Angst vor diesem Augen­blick gehabt haben. Aber selbst du kannst nicht … Du hast keine Macht über Leben und Tod!«

»Nein«, sagte Mal. »Du wirst sterben, wenn deine Zeit gekommen ist. Bis dahin aber lebe ich in dir.«

»Du wirst niemals ich sein!« »Ich bin es schon zum Teil. Keine Angst,

mein junger Freund. Du wirst vergessen und niemals wissen, daß es so ist.«

Dergs Gedanken überschlugen sich. Ver­zweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, dieser Situation zu entfliehen. Hinter ihm zogen die Fremden lautlos dahin, wie eine Geisterprozession. Überall auf Pthor waren Männer und Frauen unterwegs mit ihren Quorks. Und er lag hier, hilflos einem Ge­schöpf ausgeliefert, das ihm immer unbe­greiflicher wurde. Das Mitleid war der Ab­lehnung gewichen.

»Ich werde jetzt tun, was getan werden muß, Onte Derg«, erklärte Mal unheimlich ruhig. »Ich weiß nicht, welche Gefahr Pthor durch die Quorks droht. Ich weiß nur, daß diese«, er deutete auf die ausgeschütteten Knochen, »niemals die FESTUNG erreichen dürfen.«

Derg fragte sich, ob Mal wirklich noch soviel Macht hatte, um dem Zwang zu trot­zen.

Aber warum hatte er es dann nicht vorher getan?

»Du hättest dich uns nicht anzuschließen brauchen«, flüsterte er. »Du hättest die Quorks nicht tragen müssen. Warum hast du es getan?«

»Bevor ich euch traf, wußte ich nicht, wie groß die Gefahr ist, Onte Derg. Dann konnte ich dich nicht allein weiterziehen lassen. Du warst schon ein Teil von mir – oder umge­kehrt. Es spielt keine Rolle. Ich wußte, daß ich diese Quorks vernichten mußte – und da­bei sterben würde. Daher mußte ich mein Leben auf dich übertragen können. Das war am Taamberg nicht möglich. Du wirst leben, wenn die Macht mich straft, die hinter den Quorks steht. In den Schluchten und auf den Hängen des Goscholth wärst du hilflos ge­wesen. Du wirst es auch hier sein, wenig­stens für die ersten Tage. Doch hier ist die Möglichkeit ungleich größer, daß du gefun­den und gerettet wirst. Ich werde nun meine Lebenskraft auf dich übertragen, mein jun­ger Freund. Alles, was mir noch verblieben

45 Die Stunde des Magiers

ist – mit Ausnahme jener Kraft, die ich zur Vernichtung der Knochen brauche.«

»Nein!« schrie Derg. »Tu, was du willst, aber laß mich …«

»Du würdest in dem Moment sterben, in dem ich mich vor dir verschließen würde.«

»Dann laß mich doch sterben! Gib mir endlich meinen Frieden!«

Derg spürte es. Etwas floß aus dem Loch in Mals Brust auf ihn über. Es war nicht sichtbar, aber er fühlte es, wie jemand fühlt, daß er aus einem tiefen Schlaf erwacht.

Noch einmal loderte das unwirkliche Feu­er in der Brust des Zwerges, um dann fast ganz zu versiegen.

»Deinen Frieden«, flüsterte Mal, »sollst du haben.«

Sein Gesicht verschwamm vor Dergs Au­gen. Der junge Pirat kämpfte verzweifelt ge­gen die Bewußtlosigkeit an. Doch er konnte die Augen nicht mehr offenhalten. Schwärze umfing ihn und schaltete jede Empfindung aus. Etwas schrie lautlos in ihm, um dann auch zu verstummen.

Mal erhob sich. Der Gnom blickte den Bewußtlosen für

Sekunden traurig an. Dann drehte er sich um und konzentrierte sich ganz auf die Quorks.

»Wir werden beide unseren Frieden ha­ben«, murmelte er. »Und mögen die Götter geben, daß ich das Richtige tue.«

Ein letztesmal wallte die Glut in seiner Brust, sog die letzte Lebensenergie aus dem Körper und Geist des Zwerges – und sprang über auf die Quorks.

Mal starb mit ihnen. Eine Stichflamme schoß hoch in den

Himmel und ließ nichts zurück als einen Haufen verkohlter Knochen und Asche dort, wo Mal gestanden hatte.

Vielleicht war es ein unglaublicher Zufall, vielleicht eine Vorherbestimmung, daß im gleichen Augenblick Copasallior Erfolg hat­te.

Niemand sollte es je erfahren. Onte Derg lag wie tot im Gebüsch.

12.

Atlan fand keine Ruhe. Es hatte ihn zu­rück in den Raum gezogen, in dem das un­vollendete Parraxynt stand, als erwartete er sich von diesem eine Antwort auf das, was ihn bewegte.

Zu lange war der Weltenmagier schon un­ten bei den Quorks, ohne daß etwas geschah. Aber was sollte sich ereignen? Hatte sich die negative Macht in den Quorks schon so weit etabliert, daß jeder Versuch, sie von Pthor fortzuschaffen, zu unvorstellbaren Katastro­phen führen mußte?

Atlan hatte schreckliche Visionen, in de­nen der Wölbmantel aufriß, sich die Schwär­ze, die zwischen dem Pseudoplaneten und dem Dunklen Oheim lag, über die Dimensi­onsfahrstühle legte und alles Leben auf ih­nen erstickte. Dann wieder sah er das Raum­Zeit-Gefüge aufreißen und die Welt, die er kannte, in einem Inferno aus entfesselten, übergeordneten Gewalten vergehen.

Aber er würde nicht sterben. Nicht hier auf Pthor. Er würde leben, um nach zweijäh­riger Abwesenheit wieder auf Terra zu er­scheinen, wie Kennon es ihm anvertraut hat­te.

Pthor würde nicht untergehen, solange er sich auf dem Dimensionsfahrstuhl befand.

Aber was kam danach? Atlan wurde aus seinen finsteren Gedan­

ken gerissen, als Bördo in den Raum stürzte und außer Atem berichtete, daß plötzlich al­le Pthorer und Dellos, die noch Quorks her­anschleppten, wie vom Blitz getroffen über­all dort erstarrten, wo sie sich gerade befan­den.

»Sie versuchen nicht mehr, sie zu den an­deren zu bringen?« fragte Razamon.

»Nein, sie …« »Es gibt keine anderen Quorks mehr in

der FESTUNG«, schnitt Atlan ihm das Wort ab. Seine Miene war wie versteinert, als er den Raum verließ.

»Und keinen Copasallior mehr«, flüsterte Leenia.

Razamon sah sie kurz an. Dann folgte er Atlan in die unteren Stockwerke der Pyrami­de.

46 Horst Hoffmann

Die Lagerhallen waren leer – mit Ausnah­me der Schätze, die von niemandem beach­tet worden waren, solange jeder nur Augen für die Quorks hatte.

Es war nicht nur Leere. Es war mehr. Ein Vakuum, hinterlassen von jemand oder et­was, das zurückkehren konnte – zurück­schlagen, jeden Augenblick …

Niemand sprach ein Wort. Niemand rann­te davon, um vor dieser geisterhaften Leere zu fliehen. Atlan erkannte jetzt, daß er nie mit einem Erfolg Copasalliors gerechnet hatte. Es fiel ihm schwer, selbst jetzt daran zu glauben.

Etwas würde noch geschehen. Etwas wür­de zurückkehren, von wo auch immer. Aber sollte es der Magier sein – oder das andere?

*

Copasallior hielt die Quorks in seinem magischen Griff. Um ihn herum war das ab­solute Nichts, ein Raum, in dem niemals ein Urknall stattgefunden hatte, leer und unbe­seelt. Kein noch so fernes Licht beschien die Millionen Knochen, die mit dem Weltenma­gier die einzige Materie in diesem Nichts darstellten.

Doch Copasallior spürte, daß sie da wa­ren. Seine magischen Sinne tauchten aus dem Dunkel hervor, in das sie jener schreck­liche geistige Schrei einer sterbenden We­senheit getaucht hatte, die noch nicht einmal geboren war.

Und er spürte noch mehr. Die Verbindung zwischen den Quorks und ihrer Energiequel­le auf Pthor war endgültig abgerissen. Sie waren wieder leblose Knochen, nicht mehr und nicht weniger – bis sie einen Weg zu­rück nach Pthor fanden.

Es lag allein an Copasallior, dies zu ver­hindern.

Er entließ sie aus seinem Griff und ver­setzte sich zurück. Irgendwo in jenem Raum zwischen den Daseinsebenen trieben die Quorks und würden dort bleiben, solange kein magisch begabtes Wesen ihnen die Rückkehr ermöglichte. Sie existierten, aber

sie konnten keinen Schaden mehr anrichten – nicht von dort aus.

Copasalliors Kräfte reichten nicht mehr aus, um ihn direkt in der FESTUNG mate­rialisieren zu lassen. Er fand sich zwischen hohen Gräsern auf einer weiten Ebene wie­der, ohne seinen Standort auf Anhieb be­stimmen zu können. Dies mochte Kalmlech sein oder das Land zwischen dem Taamberg und der FESTUNG. Es gab viele weitere Regionen auf Pthor, die in Frage kamen. Nur eines wußte der Magier mit Sicherheit: Er war auf keinem anderen Dimensionsfahr­stuhl.

Er wußte es, als er in etwa einem halben Kilometer Entfernung die Kolonne der Inva­soren sah, die sich nicht länger bewegte.

Der Magier brach völlig erschöpft zusam­men und blieb auf dem Rücken liegen, den Blick auf den Wölbmantel gerichtet, hinter dem er den Dunklen Oheim wußte.

Copasalliors Gesicht war von den über­standenen Strapazen gezeichnet. Dennoch lächelte es.

Er hatte recht gehabt. Der Bann war gebrochen. Die Invasoren

marschierten nicht weiter. Zwar sah Copa­sallior keine Pthorer mit Quorks, doch war er sicher, daß auch die Beeinflußten in die­sen Augenblicken frei wurden.

Mit diesem Wissen sank er in einen tiefen Schlaf. Er wehrte sich nicht mehr dagegen.

*

Atlan wartete. Die Minuten zogen sich endlos lang hin. Jeder Augenblick, in dem nichts geschah, verstärkte die quälende Un­sicherheit.

»Es hat keinen Sinn mehr«, knurrte Raza­mon. »Falls sich etwas geändert hat, so se­hen wir hier am allerwenigsten davon.«

»Geht«, sagte Atlan tonlos. »Geht und verschafft euch einen Überblick über das, was draußen auf Pthor vorgeht. Ich warte hier.«

Razamon fluchte. »Atlan, falls Copasallior zurückkehrt,

47 Die Stunde des Magiers

wird er uns auch finden, wenn wir …« Der Berserker winkte ab, als er sah, wie

seine Worte wirkungslos verpufften. Er nickte Bördo und Leenia zu und ging auf die Treppe zu.

Bördo folgte ihm zögernd. Leenia schüt­telte den Kopf.

»Ich bleibe auch hier«, verkündete sie. Dabei war es offensichtlich, daß sie sich mehr Sorgen um Atlan als um den Magier machte.

Razamon sagte nichts mehr und machte sich auf den Weg zum nächsten Nebenkon­trollraum. Bördo hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Zum erstenmal sah der Berserker ihn, den jungen Heißsporn, unsi­cher.

Am Ende der Treppe angekommen, sahen sie weitere Pthorer, deren Quorks nun auf dem Boden lagen. Die Männer und Frauen blickten mit ausdruckslosen Augen starr vor sich hin und reagierten überhaupt nicht, als Razamon einige von ihnen leicht anstieß.

»Unsere Dellos werden eine Menge zu tun bekommen«, murmelte der Berserker. »Natürlich hat sich etwas geändert. Der schwarze Kern hat durch die Quorks keine Macht mehr über uns. Aber ist das alles?«

»Woran denkst du?« fragte Bördo. »Daß es nicht viel zu bedeuten haben

mag, daß die Quorks fort sind. Daß der schwarze Kern noch immer aktiv sein kann, auf eine Weise, von der wir nichts ahnen. Daß er immer noch Wesen verschlingen und deren Lebensenergien für neue Teufeleien nutzen kann.«

Kurz darauf standen die beiden vor den Bildschirmen, die ihnen ins Stocken gekom­mene Invasorenkolonnen zeigten.

»Da siehst du es selbst«, sagte Bördo. »Sie folgen nicht mehr dem Ruf zum Krater. Sie werden bald bei sich sein und dorthin zurückkehren, von wo sie kamen.«

»Bist du sicher?« Es war keine Frage, die eine Antwort ver­

langte. »Ich begreife dich nicht, Razamon«, sagte

Bördo. »Du … machst mir Angst.«

Der Berserker lachte humorlos. »Kann man das?« Kurz blitzte es in den Augen des Knaben

auf. Dann fuhr er auf dem Absatz herum und verließ den Kontrollraum.

»Und wohin gehst du jetzt?« fragte Raza­mon.

Bördo blieb im Eingang stehen und sagte, ohne sich umzudrehen:

»Widme du dich nur deinen Zweifeln. Ich will Gewißheit haben. Ich nehme mir einen Zugor und fliege zum Krater.«

»Das wirst du nicht tun! Nicht allein!« »Ich brauche keinen Aufpasser mehr!« Razamon stieß eine Reihe von Flüchen

aus und war bei Bördo, ehe dieser davonlau­fen konnte. Fest packte er ihn am Arm.

»Wir sehen beide nach! Aber erst …« Er zog Bördo mit sich zu den Bildschir­

men. Razamon nahm eine Reihe von Schal­tungen vor, bis er sah, daß auch außerhalb der FESTUNG Pthorer hilflos neben ihren Quorks standen oder bewußtlos am Boden lagen. Erst als er allen verfügbaren Dellos befohlen hatte, sich um sie zu kümmern, nickte er dem Knaben grimmig zu.

»Viele werden Schwierigkeiten haben, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Ich weiß nicht, wie viele die Erschöpfung und den Schock überleben. Später werden die Genesenen ihnen ebenfalls helfen. Nun komm.«

Sie mußten lange suchen, bis sie einen Zugor fanden. Zwar waren alle Dellos, die sich auf Inspektionsflügen befanden, zur FE­STUNG zurückbeordert worden, doch es würde seine Zeit brauchen, bis sie eintrafen und sich nützlich machen konnten. Zu allem Überfluß erwies sich das Fahrzeug als viel zu langsam. Wie so vieles andere, hatten auch die Wartungsarbeiten in den letzten Ta­gen zurückgestellt werden müssen.

Als Razamon und Bördo sahen, wie sich die von Aghmonth gekommenen Diener des Dunklen Oheims wieder in Richtung der »Landbrücke« in Bewegung setzten, war Razamon nahe daran zu glauben, daß die drohende Katastrophe tatsächlich abgewen­

48 Horst Hoffmann

det war. Zumindest schien von den Invaso­ren keine Gefahr mehr zu drohen. Der schwarze Kern würde in ihnen keine neue Nahrung mehr finden.

Doch zu oft schon hatten sich Hoffnungen als verfrüht erwiesen.

Kalmlech und der Krater waren noch weit.

*

Copasalliors Schlaf war nicht von langer Dauer. Eine innere Unruhe weckte den Wel­tenmagier. Er fuhr in die Höhe und wußte für einige Augenblicke nicht, was geschehen war.

Dann erinnerte er sich. Er stand auf und suchte vergeblich nach den Dienern des Oheims, die er vorhin noch in der Ferne ge­sehen hatte.

Er unterdrückte den Impuls, sich an ande­re Orte Pthors zu versetzen, um sich Gewiß­heit darüber zu verschaffen, daß sie tatsäch­lich abzogen. Atlan wartete in der FE­STUNG.

Der Magier fühlte, daß seine Kräfte weit­gehend zurückgekehrt waren. Er konzen­trierte sich und stand kurz darauf wieder dort, von wo aus er sich mit den Quorks in den Raum jenseits der Wirklichkeit versetzt hatte. Für Momente starrte er auf den leeren Boden, als würde ihm erst jetzt klar, was er getan hatte.

Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Als er sich umdrehte, sah er in At­lans Gesicht. Leenia stand hinter dem Arko­niden und hatte Tränen in den Augen. Auch Atlan schien Mühe zu haben, die richtigen Worte zu finden.

»Es ist vorbei«, kam der Weltenmagier ihm zuvor. »Die Quorks bedeuten keine Ge­fahr mehr für uns. Die negative Bewußt­seinskomponente des Mächtigen mag für immer in ihnen ruhen, wo sie jetzt sind. Ich denke, daß die Fremden zu ihren Dimensi­onsfahrstühlen zurückkehren. Wir müssen ihnen noch mehr Nahrung und Wasser zur Verfügung stellen als bisher, wenn sie le­

bend …« Atlan lachte! Fassungslos starrte der Magier ihn an.

Leenia machte unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Schon gut, schon gut!« sagte Atlan und wurde schlagartig wieder ernst. »Aber eins nach dem anderen, Copasallior. Du bist un­versehrt zurückgekehrt, und das ist schon mehr, als wir erwarten durften.«

»Ja, aber …« »Natürlich hast du recht. Doch bevor wir

irgend etwas anderes unternehmen, will ich zum Krater mit dem schwarzen Kern. Kannst du uns …?«

»Du meinst, ob ich erholt genug bin, um mich mit dir dorthin zu versetzen? Ich glau­be schon.«

Atlan nickte Leenia zu. »Versuche, Razamon zu finden und infor­

miere ihn. Dann sorge bitte dafür, daß alles zur Versorgung der Fremden getan wird, bis sie Pthor verlassen haben.«

»Wir … wir haben nicht einmal genug Dellos, um die Pthorer zu pflegen!«

»Versuche es, Copasallior!« Leenia sah, wie der Magier Atlans ausge­

streckte Hand ergriff und mit ihm ver­schwand.

Kopfschüttelnd machte sie sich auf den Weg.

Sie suchte vergeblich nach Razamon.

*

Dort, wo sich die Todgeweihten gedrängt hatten, wo einer nach dem anderen in den Krater gestiegen war, den Ruf einer unheim­lichen Macht folgend, war von den Fremden nichts mehr zu sehen.

Atlan stand vor Copasallior. Die Blicke der beiden ungleichen Männer verschmolzen fast miteinander. Was zu sagen war, hatte der Arkonide in einem einzigen Satz ausge­drückt:

»Der schwarze Kern existiert nicht mehr.« Die Gefahr, die Pthor durch die Erstehung

des negativen Geisteswesens gedroht hatte,

49 Die Stunde des Magiers

war damit ebenso ein für allemal abgewen­det wie die drohende Katastrophe durch den nicht abreißenden Strom der Invasoren, die nun in Scharen zurück in ihre Heimat zogen.

Wieder einmal, so schien es, war Pthor mit dem Schrecken davongekommen. Es war kein Trost für jene, die in den letzten Tagen den Tod gefunden hatten – und kein Grund für Atlan, nun in Euphorie zu verfal­len.

Im Gegenteil konnte er sich des beklem­menden Gefühls nicht erwehren, nur einen winzigen Aufschub erhalten zu haben. Der Dunkle Oheim jagte der Milchstraße entge­gen, mit ihm der Pseudoplanet und jene schwarze Masse aus negativer Energie, die den Keim dafür in sich trug, aus der Heimat­galaxis der Menschen und des Arkoniden ei­ne zweite Schwarze Galaxis zu machen.

Mit jedem Atemzug kam das Verhängnis der Milchstraße näher. Unwillkürlich blickte Atlan zum sich allmählich wieder verfin­sternden Wölbmantel auf. Wann sah er die Sterne am Himmel?

Und was hatte er den Plänen des Dunklen Oheims entgegenzusetzen?

Gab es eine Möglichkeit, Perry Rhodan und die galaktischen Völker früh genug vor dem zu warnen, was auf sie zukam?

Ich war zwei Jahre fort! sagte sich Atlan. Und ich kam zurück. Kennon, der Mann aus der Zukunft, hatte nichts von einer verhee­renden Katastrophe zu berichten gewußt, die mit dem Dunklen Oheim in Verbindung zu bringen gewesen wäre.

Aber konnte er sicher sein? Der Tod hatte viele Gesichter. Und der

Dunkle Oheim war es gewohnt, über Zeiträume hinweg zu planen, die selbst für einen Zehntausendjährigen unvorstellbar waren. Kam das Verhängnis erst lange, nachdem Kennon auf seine Reise gegangen war?

Atlan mußte sich zwingen, diese Gedan­ken beiseite zu schieben. Sie waren fruchtlos und nur dazu angetan, ihn zu lähmen. Er mußte sich auf das Jetzt konzentrieren. Er spürte es überdeutlich, daß die endgültige Entscheidung unmittelbar bevorstand.

Copasallior deutete schweigend in den Himmel. Ein Zugor erschien, senkte sich herab und landete wenige Meter neben den beiden Männern. Erleichtert erkannte Atlan Razamon und Bördo, die aus der Flugschale sprangen und ihn mit Fragen bestürmten. Geduldig gab er alle Antworten.

Er sah, daß Razamon seine Skepsis teilte. Nur Bördo wirkte siegesgewiß.

»Es wird Zeit, zur FESTUNG zurückzu­kehren«, sagte der Arkonide schließlich. »Es gibt viel zu tun, während wir …«

Während wir darauf warten, die Sterne der Milchstraße am Himmel erscheinen zu sehen!

»Wir nehmen den Zugor. Copasallior …?«

Der Magier lächelte schwach. »Ich denke, für mich wird es Zeit, mich

wieder in Oth blicken zu lassen«, sagte der Weltenmagier. Im nächsten Moment war er verschwunden.

Schweigend stiegen Atlan, Razamon und Bördo in den Zugor und nahmen Kurs auf die FESTUNG.

Wenige Stunden später luden zwei Dellos in der Nähe des Taambergs einen jungen, verstört wirkenden Mann in ihre Flugschale und legten ihn zu den anderen Pthorern, die sie aufgelesen hatten. Einer der Spezialand­roiden blickte verwundert auf den Haufen Asche neben den verkohlten Quorks.

Sie flogen nicht direkt zurück zur FE­STUNG und den dort errichteten Zelten, sondern suchten die Hänge des Taambergs nach weiteren Pthorern ab.

Die einzigen, die sie sahen, waren sieben Berserker, die sich jedoch schnell in dichten Wald flüchteten, als sie den Zugor erblick­ten.

Der Boden des Waldes leuchtete nicht mehr. Auch das Leuchten war mit dem schwarzen Kern erloschen.

Pthor hatte noch einmal einen Aufschub erhalten.

50 Horst Hoffmann

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Das magische Erbe von H. G. Francis