82
In diesem Buch sind Flugblätter des ontologischen Anarchismus, sowie Kommuniqués der Association for Ontological Anarchy und der Essay »Die Tem- poräre Autonome Zone« dokumentiert. Was die KritikerInnen schrieben: »Ein Medium für sich allein.« JUTTA KOETHER »Ein Blakescher Angel auf schlechtem Acid« ROBERT ANTON WILSON »Faszinierend...« WILLIAM BURROUGHS »Kein Pespekt vor nichts.« FACTSHEET FIVE »Das Buch hat uns aufgescheucht.« CHURCH OF THE SUBGENIUS »Ein literarisches Meisterwerk...« FREEDOM (LONDON) »Dada/Surrealismus der harten Sorte« RUDY RUCKER »Ein linguistischer Parforce-Ritt...« COLIN WILSON »Exquisit...« ALLEN GINSBERG »Es ist einem, als hätte man nach Karten für Kick- Boxing gefragt und statt dessen Bazookas bekom- men.« NY NATIVE »Ein hervorragender Streich...« MOORISH SCIENCE MONITOR »Ein Fall für den Richter.« BOB BLACK »Deadcool.« KATHY ACKER »Zuviel Optimismus.« HEINER MÜLLER »Pflichtlektüre für alle Anarcho-Dandys.« DIEDRICH DIEDERICHSEN Hakim Bey T.A.Z. – Die Temporäre Autonome Zone ISBN: 3-89408-039-6 Edition ID-Archiv Edition ID-Archiv TAZ Hakim Bey Die Temporäre Autonome Zone

Die Temporäre Autonome Zone

  • Upload
    gimp87

  • View
    95

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

In diesem Buch sind Flugblätter des ontologischenAnarchismus, sowie Kommuniqués der Associationfor Ontological Anarchy und der Essay »Die Tem-poräre Autonome Zone« dokumentiert.

Was die KritikerInnen schrieben:

»Ein Medium für sich allein.« JUTTA KOETHER

»Ein Blakescher Angel auf schlechtem Acid«ROBERT ANTON WILSON

»Faszinierend...« WILLIAM BURROUGHS

»Kein Pespekt vor nichts.« FACTSHEET FIVE

»Das Buch hat uns aufgescheucht.«CHURCH OF THE SUBGENIUS

»Ein literarisches Meisterwerk...«FREEDOM (LONDON)

»Dada/Surrealismus der harten Sorte«RUDY RUCKER

»Ein linguistischer Parforce-Ritt...« COLIN WILSON

»Exquisit...« ALLEN GINSBERG

»Es ist einem, als hätte man nach Karten für Kick-Boxing gefragt und statt dessen Bazookas bekom-men.« NY NATIVE

»Ein hervorragender Streich...«MOORISH SCIENCE MONITOR

»Ein Fall für den Richter.« BOB BLACK

»Deadcool.« KATHY ACKER

»Zuviel Optimismus.« HEINER MÜLLER

»Pflichtlektüre für alle Anarcho-Dandys.«DIEDRICH DIEDERICHSEN

Hak

im B

eyT.

A.Z

. –

Die

Tem

porä

re A

uton

ome

Zon

e

ISB

N:

3-8

94

08

-03

9-6

Editi

on ID

-Arc

hiv

Ed

itio

n I

D-A

rch

iv

TAZ

Hakim Bey

Die Temporäre Autonome Zone

TAZ

Edition ID-Archiv

Berlin – Amsterdam

Hakim Bey

T.A.Z.Die Temporäre Autonome Zone

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schneider

Mit einem Vorwort der Agentur Bilwet

Edition ID-ArchivBerlin – Amsterdam

I NHALT

Laufe zu den düsteren Räumen über 7

Chaos: Die Grundlagen des ontologischen Anarchismus

Chaos 13 | Poetischer Terrorismus 15 | Amour Fou 16 |Wilde Kinder 18 | Paganismus 20 | Kunstsabotage 22 | DieAssassinen 23 | Pyrotechnik 25 | Chaos-Mythen 26 | Por-nographie 29 | Kriminalität 32 | Zauberei 33 | Werbung 35

Kommuniqués der Association For Ontological Anarchy

Kommuniqué # 1: I. Slogans & Vorschläge für U-Bahn-Graf-fitti & andere Zwecke 39 | II. Einige poetisch-terroristischeIdeen, die bedauernswerterweise noch im Reiche der »Kon-zept-Kunst« schmachten 40 | Kommuniqué # 2: Kallikak Me-morial Bolo & Chaos Ashram: Ein Vorschlag 42 | Kommuni-qué # 5: Intellektueller S/M ist der Faschismus der 80er Jahre –Die Avant-Garde frißt Scheiße und fühlt sich wohl dabei 44 |Kommuniqué # 6: I. Salon-Apokalypse: »Geheimes Theater«48 | II. Mord-Krieg-Hunger-Gier 49 | Kommuniqué # 7:Psychischer Paläolithismus & High Technologie: Ein Posi-tionspapier 52 | Kommuniqué # 8: Chaos-Theorie & dieKernfamilie 56 | Kommuniqué # 9: Double-Dip-Denunzia-tionen 58 | Kommuniqué # 10: Plenum veröffentlicht neueDenunziationen – Säuberungen erwartet 60 | Kommuniqué# 11: Ferienzeit-Extra-Essens-Schwulst-Schluß mit Lite! 62 |Halloween-Sonderkommuniqué: Schwarze Magie alsrevolutionäre Aktion 65 | Sonderkommuniqué: A.O.A. gibtSäuberungen in der Chaos-Bewegung bekannt 69 | Post-An-archismus-Anarchie 71 | Schwarze Krone & schwarze Rose:Anarcho-Monarchismus & Anarcho-Mystizismus 75 |

Hakim BeyT.A.Z.

Die Temporäre Autonome Zone

Edition ID-ArchivSchliemannstr. 23

10437 BerlinISBN: 3-89408-039-4

1. Auflage Juni 1994

Layout:seb, Hamburg

Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Arbeit von DAG, Berlin

Druck:Winddruck, Siegen

Buchhandelsauslieferungen:BRD: Rotation Vertrieb, Berlin

Schweiz: Pinkus Genossenschaft, ZürichÖsterreich: Herder-Auslieferung, Wien

Niederlande: Papieren Tijger, Breda

Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel T.A.Z. TheTemporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism beiAutonomedia, New York

Laufe zu den düsteren Räumen über

»Manchmal, eine Stunde, da bist du; der Rest ist das Geschehen.«Dr. Benn

H akim Bey verkündet die beiden Botschaften, daß die Re-volte in Reichweite eines jeden liegt und die Party jeden

Moment losbrechen kann. Aus dem Handbuch TAZ spricht einketzerisches Bewußtsein, dem die historische Erkenntnis zu-grunde liegt, daß alle linken und rechten Dogmen lediglich be-zwecken, den Drang zum Feiern in vorgeschriebene Bahnen,auf ein vorgefaßtes Ziel hin zu lenken, was ein Spitzenfestüberhaupt nicht nötig hat. Ohne Perspektive gibt es mehr zuerleben. Besetze ein Haus, sperre eine Autobahn, errichte einZeltlager neben einer Startbahn oder einem AKW, erobereeine Stadt, leg einen Strommasten um, feiere deinen Geburts-tag in der Oper, rauche einen Joint im Kinosaal, laß das Schul-fest in großartiger Weise außer Kontrolle geraten, entführe ei-nen Touristenbus und beschere den Insassen den aufregend-sten Tag ihres Lebens, baue eine Kirche zu einer öffentlichenToilette um, stell deine Wagenburg in der Einkaufspassageauf. Zwanzig Wachmänner treiben den Konsumterror in ab-surde Höhen, indem sie ungefragt das komplette Inventar des

7

Instruktionen für das Kali-Yuga 83 | Gegen die Reproduktiondes Todes 86 | Heftige Denunziation des Surrealismus 90 |Für einen Kongreß merkwürdiger Religionen 92 | Ausgehöhl-te Erde 96 | Nietzsche & die Derwische 99 | Resolution fürdie Neunziger Jahre: Boykottiert die Cop-Kultur!!! 102

Die Temporäre Autonome Zone

Piratenutopias 109 | Warten auf die Revolution 111 | DiePsychotopologie des Alltagslebens 114 | Das Netz und dasSpinnengewebe 120 | »Nach Croatan verschwunden« 129 |Musik als ein organisatorisches Prinzip 138 | Der Wille zurMacht als Verschwinden 143 | Rattenlöcher im Babylon derInformation 148 | Anhang A: Chaos-Linguistik 151 |Anhang B: Angewandter Hedonismus 153 | Anhang C: Zu-sätzliche Zitate 154

nen Sphäre der demokratischen Gemeinschaft. Die feine Naseder TAZler riecht den Dreck am Stecken und beginnt damit zuspielen, bis das Spiel zu Ende ist.¶Die kreative Konzentration hat keine Zeit für ihre Selbstdar-stellung. Die Methoden und Techniken der alternativen Öf-fentlichkeit scheinen erschöpft, ebenso parasitär geworden zusein wie die echten Medien. In den heutigen Medien werdendie temporären autonomen Zonen im besten Fall als temporä-re Entertainment-Zonen (TEZ) präsentiert. Die Unterbre-chung allzu bekannter Normalität durch eine fröhliche Notehat die Funktion, das Konsumentendasein erträglich zu halten.Der Pakistani mit seinen roten Rosen im Café, die Jongleure,lebenden Statuen und die Inkas in der Fußgängerzone, dielinksradikalen Spruchbänder, die das Straßenbild aufheitern,die Skandale auslösende Talkshow und das gut gestylte Elendder Welt auf dem Titelbild bilden ein Faktum, mit dem mandie Konfrontation suchen muß, will man Vergnügen und Auto-nomie auseinander halten können. Vergiften ist der Beginn je-den Glücks. Nimm ein Thema, das gerechtfertigte Entrüstungweckt, ersinne einen temporären allgemeinen Nenner (TAN),z.B. gegen Ausländerhaß (oder Ausländer ...) und mobilisiereMenschen an einem Ort, wo eine Zone entstehen kann – dasist die Aufgabe, die die Gegenmedien übernommen haben.Der Wille zur TAZ ist nicht ohne Risiko. Na und. Die TAZerscheint erst, wenn die Verbindungen mit jeder medialenVorprogrammierung gekappt sind, und die entstehenden Räu-me werden besetzt, um je nach Lust und Laune einen Streifzugentlang der Grenzen von Staat und Anstand zu unternehmen.Die TAZ ist unerlaubte freie Zeit.¶Alle sozialen Bewegungen kommen aus einer TAZ hervor,aber betrachten diese nicht als ihren Schöpfungsmythos. DieTAZ als Sammelsurium diverser Paradoxe und Widersprücheentspricht nicht den großen Ideen der visionären bzw. wissen-schaftlichen Gründer. Bewegungen zehren an der Energie derTAZ, müssen aber deren Existenz leugnen, um ihr Momentumzu bewahren. Die eigene Bewegungslehre muß poliert werden,um eine klare Perspektive zu haben. Schutthaufen, Streit undsexuelle Ausschweifungen, mutwillige Zerstörungen und ver-brannte Teddybären werden retouchiert. Was übrigbleibt, ist

9

Kaufhauses verteilen. Die temporäre autonome Zone kommtauf Sie zu!¶Der Slogan der political correctness lautet: ›Im Zweifelsfall nichtfeiern‹. Alle möglichen Handlungen könnten patriarchalischwirken, die Umwelt verwüsten, ausländische Mitmenschen un-terdrücken, Neonazis auf dumme Gedanken bringen, den Tri-kont zum Affen machen, kulturelle Eigenarten verletzen, einallzu europäisches Urgefühl heraufbeschwören und vor allem:der eigenen Mentalität schaden. Bleiben wir also besser in un-seren heiligen vier Wänden, schauen in die Glotze und bewe-gen uns nur hinaus, wenn wir zu 100% von der Unschuld dessorgfältig geplanten Zusammenseins überzeugt sind. Jedes Ob-jekt, jede Geste, jedes Wort kann falsch sein, so falsch es nurgeht, ohne daß wir uns dessen bewußt wären. Die Kollaborati-on lauert im kleinsten Winkel. Während endlos über die Fin-essen früherer Schnitzer debattiert wird, geht die Dekonstruk-tionswut so weit, daß überhaupt nichts mehr passiert. DochKetzer sind niemandem eine Antwort schuldig. Ihre ontologi-sche Anarchie und ihr poetischer Terrorismus des Alltagsscheißen auf alle guten und schlechten Absichten.¶Der Aktivismus der Straße ist reduziert auf die Medienfrage.Wie stelle ich mich dar, und erreichen die Zeichen, die ichaussende, das Bewußtsein der Zuschauer? Die Autonomie istsich selbst nicht genug, sondern sie muß produziert und, miteiner medialen Aura versehen, in einen kodierbaren Diskursplus zugehöriger Identität gestellt werden. Was radikal fremderscheint, ist per Definition suspekt, anstatt jauchzend entdecktzu werden. In der Erlebnisgesellschaft ist das Wilde eine exoti-sche Ware, die nur noch durch eine touristische Brille wahrge-nommen werden kann. Der Gedanke, die eigene Kultur verlas-sen zu können, verbreitet Horror und wird nicht als Einladungaufgefaßt. Aussteigen ist eine Beschäftigung des postmodernenLumpenproletariats geworden und wird als Sozialfall betrach-tet, dem Modernisierungsverlierer eigen, der man nicht gernist. Die dropout culture generiert nicht länger Lebensweishei-ten, sondern gehört zum Müllsystem. In diesem frischen Klimaist TAZ ein Jauchetank, der das Gesindel mit viel Vergnügenüber das Abendland versprüht. Das Recycling-Verfahren wirdumgedreht, und die Abwasserkanäle münden in der zufriede-

8

Chaos: Die Grundlagen desontologischen Anarchismus

(Ustad Mahmud Ali Abd al-Khabir gewidmet)

11

legitimer Protest. Zurecht, denn die TAZ dauert so lange, wiedie Ekstase anhält und verschwindet dann. Die TAZ ist nichtan Kontinuität interessiert, und das ist ein Rätsel, das den hi-storischen Menschen immer aufs neue und dauerhaft verdrießt.Wie ortsgebunden die temporären Zonen auch sein mögen,das Erstaunliche ist, daß sie jedesmal wieder in den Lauf derDinge einbrechen. Sie formen ein eigenes Netz ohne Gesetz-mäßigkeiten oder Rezept, worin transhistorische Gestalten ge-heime Verbindungen eingehen, so wie sie Hakim Bey in TAZoder Greil Marcus in Lipstick Traces beschreibt.¶Hakim Bey plündert die Geschichte. Es liegt an uns, HakimBey zu plündern. Wir haben hier nicht die Bibel der anti-me-dialen Bewegung in Händen oder ein Evangelium, das nachAuslegung schreit, sondern ein auf Praxis-Akkumulation ausge-richtetes Buch. TAZ ist ein Mixer von Auseinandersetzungen,der wieder Schwung in festgelaufenen Verhältnisse bringt, einChaos-Attraktor, der soviel Material ansaugt, daß ein schwar-zes Loch für den Zeit-Raum-Reisenden entsteht. Hört dieKorken knallen, das Fest hat bereits begonnen.¶

Agentur BilwetAmsterdam, Dezember 1993

10

13

Chaos

C haos ist nicht gestorben. Primordialer, unbehauenerBlock, einzig ehrenwertes Monster, schwerfällig & spon-

tan, ultravioletter als irgendeine Mythologie (wie die Schattenvor Babylon), die ursprüngliche Einheit des Seins strahlt klarwie die schwarzen Fahnen der Assassinnen, zufällig & fort-während berauscht.¶Chaos geht allen Prinzipien von Ordnung & Entropie voraus,ist weder ein Gott, noch eine Laune, seine widersinnigen Be-gierden umfassen und definieren jedmögliche Choreographie,alle bedeutungslosen Äther & Phlogistons: Seine Masken sindKristallisationen seiner eigenen Gesichtslosigkeit, Wolkengleich.¶Alles in der Natur ist absolut real, einschließlich des Bewußt-seins, zur Besorgnis gibt es nicht den geringsten Grund. DieFesseln des ›Gesetzes‹ sind nicht nur gesprengt worden, sie ha-ben nie existiert; Dämonen haben nie über die Sterne gewacht,das Imperium hat nie seinen Anfang genommen, Eros ist nieein Bart gewachsen.¶Nein, hör zu – was passierte, war dies: Sie haben dich belogen,dir Vorstellungen von Gut & Böse aufoktroyiert, dir auferlegt,deinem Körper zu mißtrauen & dich für dein Prophetentumdes Chaos zu schämen. Sie erfanden Worte der Abscheu fürdeine molekulare Liebe, mesmerisierten dich mit Nichtbeach-

Poetischer Terrorismus

Seltsame Tänze in den Tag und Nacht geöffneten Geldauto-maten-Schaltern. Nichtgenehmigte Feuerwerkerei. Land-Art,als bizarre Artefakte in öffentliche Parks gestreute Erdarbeiten.Einbruch in Häuser, aber statt etwas zu stehlen, poetisch-ter-roristische Objekte hinterlassen. Jemanden entführen & glück-lich machen.¶Greift euch wahllos irgendwelche Leute & überzeugt sie, daßsie ein enormes, nutzloses & erstaunliches Vermögen geerbthaben – etwa 5000 Quadratmeilen der Antarktis oder einengreisen Zirkuselefanten oder ein Waisenhaus in Bombay odereine Sammlung alchimistischer Manuskripte. Später werden siefeststellen, daß sie einen Moment lang an etwas Außerordentli-ches geglaubt haben & werden dadurch vielleicht bewegt, eineintensivere Existenzweise anzustreben.¶Bringt Messingtafeln an öffentlichen oder privaten Orten an,an denen ihr eine Erleuchtung oder ein besonders erfüllendessexuelles Erlebnis hattet usw.¶Zeigt euch zum Zeichen nackt.¶Organisiert einen Streik in eurer Schule oder an eurem Ar-beitsplatz mit der Begründung, ihr könntet dort euer Verlan-gen nach Trägheit und spiritueller Schönheit nicht befriedi-gen.¶Graffitti-Kunst ist eine Zierde für häßliche & öde Denkmäler –PT-Kunst kann auch für öffentliche Plätze geschaffen werden:in Gerichtstoiletten gekritzelte Gedichte, in Parks & Restau-rants zurückgelassene kleine Fetische, Copy-Kunst unterScheibenwischern geparkter Autos, Slogans in Großbuchsta-ben an Spielplatzmauern, anonyme Briefe an zufällig oder ge-zielt ausgesuchte Empfänger (Postschwindel), Radioprogram-me von Piratensendern, nasser Zement ... ¶Die Publikumsreaktion oder der durch PT hervorgerufeneSchock sollte mindestens so stark sein wie das Gefühl des Ter-rors, vehementer Abscheu, sexueller Erregung, abergläubigerEhrfurcht, plötzlichen intuitiven Durchblicks, dadaesker Angst– egal, ob PT einer Person oder Vielen gilt, egal, ob »signiert«oder anonym, wenn sich dadurch nicht irgendjemandes Lebenändert (außer dem des Künstlers), ist er mißlungen.¶

15

tung, langweilten dich mit Zivilisation & all ihren wucherndenEmotionen.¶Es gibt kein Werden, keine Revolution, keinen Kampf, keinenWeg; du bist bereits Monarch deiner eigenen Haut, deine un-verletzliche Freiheit wartet darauf, von der Liebe andererMonarchen vervollständigt zu werden: eine Politik des Trau-mes, eindringlich wie das Blau des Himmels.¶Um sich aller illusorischen Rechte & Unschlüssigkeiten derGeschichte zu entledigen, bedarf es der Ökonomie einiger le-gendärer Steinzeit-Schamanen und nicht der Priester, der Bar-den und nicht der Herren, der Jäger und nicht der Polizei, derSammler der paläolithischen Faulheit, sanft wie Blut, zum Zei-chen nackt oder bemalt wie Vögel, auf der Welle expliziterPräsenz ruhend, zeitloses Jetzt.¶Wird von ihrem Wollen, ihrem Fiebern nach lux et voluptasZeugnis abgelegt, werfen die Protagonisten des Chaos leiden-schaftliche Blicke auf alles oder jede und jeden. Mich interes-siert nur, was ich bis zum Punkt des Terrors glaube & begehre– alles andere ist lediglich Augenwischerei, alltägliche Anästhe-sie, hirnverbrannt, subreptilienartige Langeweile totalitärerRegime, banale Zensur & unnütze Pein.¶Offenbarer des Chaos handeln als Spione, Saboteure, Krimi-nelle des amour fou, weder selbstlos noch selbstsüchtig, zu-gänglich wie Kinder, gesittet wie Barbaren, voll rasender Ob-sessionen, arbeitslos, körperlich derangiert, Wolfsengel, Spie-gel der Kontemplation, Augen wie Blumen, Plünderer allerZeichen & Bedeutungen.¶Hier vertiefen wir die Risse in den Mauern von Kirche, Staat,Schule & Fabrik, all den paranoiden Monolithen. Durch wildeNostalgie vom Stamm abgeschnitten, graben wir nach verlore-nen Worten, imaginären Bomben.¶Die letztmögliche Tat ist die die Erkenntnis selbst betreffende,ein unsichtbares goldenes Band, das uns verbindet: illegalesTanzen in den Gerichtskorridoren. Würde ich dich hier küs-sen, sie würden es als einen terroristischen Akt bezeichnen –laßt uns also unsere Pistolen mit ins Bett nehmen & die Stadtum Mitternacht wie betrunken feiernde Banditen mit einerkrachenden Salve aus dem Schlaf schrecken – ein Vorge-schmack des Chaos.¶

14

stehenden Verschlungenheit unserer Körper, dem Ineinander-fließen unserer Säfte eine neue Kultur – die imaginären Ränderunseres Stadtstaates verschwimmen in unserem Schweiß.¶Der ontologische Anarchismus ist von seinem letzten Angeltripnie zurückgekehrt. So lange niemand dem FBI zuarbeitet,schert sich CHAOS nicht im geringsten um die Zukunft derZivilisation. Amour fou entsteht nur zufällig – sein primäresZiel ist die Verstopfung der Galaxie. Eine Konspiration derTransmutation.¶Sein einziges Interesse an der Familie liegt in der Möglichkeitdes Inzests (»Jeder Mensch ein Pharao!«) – oh, ihr ernsthaftenLeser, ihr, die ihr mir ähnlich seid, mein Bruder, meine Schwe-ster! – & in der Masturbation eines Kindes entdeckt amour fou(wie in einer japanischen Papierblumenfaltung) das Bild deszerfallenden Staates.¶Wörter gehören denen, die sie gebrauchen, nur solange, bisandere sie sich aneignen. Die Surrealisten entehrten sich selbst,indem sie amour fou an die Geister-Maschine der Abstraktionverkauften – sie suchten in ihrem Unbewußten nur Macht überandere & folgten darin de Sade (der »Freiheit« nur für den er-wachsenen weißen Mann wollte, um Frau und Kinder auszu-weiden).¶Amour fou ist von seiner eigenen Ästhetik erfüllt, durchdringtsich selbst bis an die Grenzen der Verlaufsbahnen seiner Ge-bärden, Engelsglocken inspirieren ihn, er ist untauglich fürKommissare & Ladenbesitzer. Sein Ego verschwindet in derVeränderlichkeit des Begehrens, sein Gemeinsinn erliegt demEgoismus der Obsession.¶Zum amour fou gehört eine nicht-gewöhnliche Sexualität wiezur Hexerei ein nicht-gewöhnliches Bewußtsein. Die angel-sächsische post-protestantische Welt kanalisiert all ihre unter-drückte Sinnlichkeit in Werbung & spaltet sich in widerstrei-tende Mobs: in hysterische, prüde Typen vs. promiskuitiveKlones & ehemalige Ex-Singles. AF möchte niemandes Armeebeitreten, er nimmt nicht teil an den Geschlechterkriegen, erist gelangweilt von gleichberechtigten Beschäftigungsmöglich-keiten (faktisch weigert er sich zu arbeiten, um den Lebensun-terhalt zu verdienen), er beschwert sich nicht, erklärt sichnicht, wählt nie & zahlt keine Steuern.¶

17

PT ist ein Akt in einem Theater der Grausamkeit, das keineBühne, keine Sitzreihen, keine Eintrittskarten hat & keineMauern kennt. Um überhaupt zu funktionieren, muß PT kate-gorisch von allen konventionellen Strukturen des Kunstkon-sums (Galerien, Publikationen, Medien) getrennt werden.Selbst die situationistischen Guerillataktiken des Straßenthea-ters sind vermutlich mittlerweile zu sehr bekannt & mit ihnenwird daher gerechnet.¶Eine tolle Verführung, die nicht nur der gegenseitigen Befrie-digung dient, sondern ein bewußter Akt eines angestrebtenwunderschönen Lebens ist – kann das Höchste des PT sein.¶Der PTerrorist verhält sich wie ein Bauernfänger, dessen Zielnicht Geld, sondern VERÄNDERUNG ist.¶Macht keinen PT für andere Künstler, macht ihn für Leute,die (zumindest ein paar Augenblicke lang) nicht realisierenwerden, daß das, was ihr getan habt, Kunst ist. Vermeidet er-kennbare Kunstkategorien, vermeidet Politik, hängt nicht her-um, um zu disputieren, seid nicht sentimal, seid unbarmherzig,sucht das Risiko, vandalisiert nur, was verunstaltet werdenmuß, tut etwas, woran sich Kinder ihr ganzes Leben lang erin-nern werden – aber seid nicht spontan, bevor die PT-Museeuch geküßt hat.¶Verkleidet euch. Benutzt Falschnamen. Seid eine Legende.Der beste PT ist gesetzeswidrig, laßt euch aber nicht erwi-schen. Kunst als Kriminalität, Kriminalität als Kunst.¶

Amour Fou

Amour Fou ist keine Sozialdemokratie, ist kein Parlament vonzweien. In den Minuten seiner Geheimtreffs geht es um Inhal-te, die zu enorm, aber auch zu präzise für Prosa sind. Nichtdies, nicht das – sein Buch der Embleme zittert in deinerHand. Er scheißt natürlich auf Schulleiter & Polizisten, aber erverhöhnt ebenso Liberationisten & Ideologen – er ist kein sau-berer, hellerleuchteter Raum. Ein topologischer Scharlatan hatseine Korridore & verlassenen Parks entworfen, sein Hinter-haltsdekor in luminösem Schwarz & flimmerndem, verrücktemRot.¶Jede(r) von uns verfügt über eine Hälfte der Karte – wie zweiRenaissancepotentaten definieren wir mit der unter Bannfluch

16

Kinder, deren klare Sinne sie zu einer brillanten Hexereischönster Freuden verleiten, repräsentieren etwas Wildes &Obszönes in der Natur der Realität selbst: natürliche ontologi-sche Anarchisten, Engel des Chaos – ihre Gebärden & Körper-gerüche bilden um sie einen Dschungel der Präsenz, ein Dik-kicht der Voraussicht, voll von Schlangen, Ninja-Waffen, Tur-tles, futuristischen Schamanen, unglaublichem Durcheinander,Pisse, Gespenstern, Sonnenlicht, Abdriften, Vogelnestern & -eiern – fröhliche Aggression gegen die Erwachsenen dieser nie-deren Ebenen, so machtlos, daß sie entweder destruktive Epip-hanien oder Schöpfungen in Form von Possen hervorbringen,zart, aber scharf genug, Mondlicht zu zerschneiden.¶Und dennoch glauben die Bewohner dieser niederen unbedeu-tenden Dimensionen tatsächlich, sie kontrollierten das Schick-sal Wilder Kinder – & hier unten bilden solche blöden Annah-men die Substanz der Ereignisse.¶Die einzigen, die wirklich das Schicksal dieser wilden Aus-reißer oder kleinen Guerillas teilen statt diktieren wollen, dieeinzigen, die verstehen, daß behüten & loslassen ein und dersel-be Akt ist – sind vor allem Künstler, Perverse, Häretiker, einesowohl voneinander wie auch von der Welt abgesonderteSchar, die sich aber andererseits in der Art Wilder Kinder zubegegnen weiß, Blicke über den Eßtisch schleudernd, währendErwachsene hinter ihren Masken brabbeln.¶Zu jung für Harley-Chopper – Drückeberger, Break-Dancer,kaum geschlechstreife Poeten fader heruntergekommener Ei-senbahnhaltepunkte – eine Million Funken sprühen aus denRaketen von Rimbaud und Mogli – lässige Terroristen, derengrelle Bomben voll polymorpher Liebe & kostbarer Scherbender Popular Culture sind – Punks, die vom Durchstechen ihrerOhren träumen, animistische Radfahrer, die im Schleifstaubdurch Wohlfahrtsstraßen zufälliger Blumen gleiten, abgedreh-te umherschweifende Taschendiebe, lächelnde Räuber von To-tems, Kleingeld & Leopardenmessern – wir vermuten sie über-all – wir veröffentlichen das Angebot, die Verdorbenheit unse-res lux et gaudium gegen ihre vollkommene sanfte Verderbniszu tauschen.¶Kapiert also: unsere Verwirklichung, unsere Befreiung hängtvon ihrer ab – nicht weil wir die Familie, die »Habgierigen der

19

AF würde gerne jeden Bastard (»Kind der Liebe«) zur Weltkommen sehen – AF fährt auf anti-entropische Erfindungen ab– AF liebt es, von Kindern geschändet zu werden – AF ist bes-ser als jedes Gebet, besser als jedes Sündenbabel – AF nimmtdie eigenen Palmen, den eigenen Mond mit, wohin er auchaufbricht. AF bewundert Tropicalismo, Sabotage, Breakdance,Layla & Majnun, den Geruch von Schießpulver & Sperma.¶AF ist immer illegal, ob in der Verkleidung einer Ehe oder ei-ner Pfadfindertruppe – immer trunken, ob vom Wein seinereigenen Sekrete oder dem Rauch seiner eigenen polymorphenVirtualitäten. AF ist nicht das Dérangement der Sinne, son-dern vielmehr deren Apotheose – nicht das Resultat von Frei-heit, sondern vielmehr deren Voraussetzung. Lux et voluptas.¶

Wilde Kinder

Der unergründliche Licht-Pfad des Vollmondes – MitternachtMitte Mai in einem Staat, der mit »ich« beginnt, so zweidimen-sional, daß schwerlich gesagt werden kann, er besitze überhaupteine Geographie – die Strahlen so eindringlich & greifbar, daßdu die Dunkelheit suchen mußt, um in Worten zu denken.¶Vom Schreiben an Wilde Kinder kann nicht die Rede sein. Siedenken in Bildern – Prosa ist für sie ein noch nicht vollständigverarbeiteter, erstarrter Code, wie sie für uns eine Sache ist,der nie ganz zu trauen war.¶Man kann über sie schreiben, so daß andere, die den silbernenFaden verloren haben, folgen können. Oder für sie schreiben,aus STORY & EMBLEM einen Prozeß der Verführung in dieeigene paläolithische Erinnerung machen, eine barbarischeLockung zur Freiheit (Chaos wie CHAOS es versteht).¶Für diese Spezies der Anderswelt oder dieses »dritte Ge-schlecht«, les enfants sauvages, sind Phantasie & Imaginationnoch immer zügelloses SPIEL: zu ein & derselben Zeit Ur-sprung unserer Kunst & des raresten Eros unserer Gattung.¶Um Aufruhr sowohl als Quelle von Stil & voluptuöse Schatz-kammer zu begreifen, als Grundlage unserer andersartigen &okkulten Zivilisation, unserer konspirativen Ästhetik, unsererausgeflippten Spionage – bedarf es (stellen wir uns dem) ent-weder der Aktion einer Art von Künstlern oder der Aktion vonZehn- oder Dreizehnjährigen.¶

18

Theologie, Metaphysik oder Moralität – sondern einen univer-sellen Schamanismus, in dem niemand ohne eine Vision zuwirklicher Humanität gelangt.¶Essen Geld Sex Schlaf Sonne Sand & Dope – Liebe WahrheitFrieden Freizeit & Gerechtigkeit. Schönheit. Dionysos, dertrunkene Knabe auf einem Panther – stinkender Erwachsenen-schweiß – Pan Ziegenmann kämpft sich mühselig bis zur Tailledurch den festen Boden, als sei dieser das Meer, seine Hautüberzogen mit einer Kruste aus Moos & Flechten – Eros ver-vielfältigt sich selbst in ein Dutzend Iowa-Bauernlümmel mitmatschigen Füßen & Tümpelschlamm an den Schenkeln.¶Rabe, der Potlatch-Trickster, mal Knabe, mal alte Frau oderVogel, der/die den Mond stahl, Piniennadeln treiben auf demTeich, Totempfahl-Kopf, Chor von Krähen mit silbernen Au-gen, die auf dem Holzstoß tanzen – wie Semar, der buckligeAlbino, Hermaphrodite, Schatten-Hampel, Patron der javane-sischen Revolution.¶Yemaya, blauglänzende Meeresgöttin & Patronin der Homo-sexuellen – wie Tara, blaugrauer Aspekt von Kali, Halskranzaus Totenschädeln, auf Shiwas steifem Lingam tanzend undmit ihrer langen Zunge Monsunwolken leckend – wie Loro Ki-dul, jaspisgrüne javanesische Meeresgöttin, die Sultanen durchtantrischen Geschlechtsverkehr in magischen Türmen &Höhlen zur Unverwundbarkeit verhilft.¶In einer gewissen Weise ist der ontologische Anarchismus ex-trem nackt, aller Qualitäten & Besitztümer entkleidet, arm wiedas CHAOS selbst – aber dann wuchert er auch in aller Üppig-keit wie die Sex-Tempel von Katmandu oder ein Buch mit al-chimistischen Symbolen, rekelt sich auf seinem Diwan und ißtLoukum & gibt sich ketzerischen Gedanken hin, eine Hand inder weiten, ausgebeulten Hose.¶Die Rümpfe seiner Piratenschiffe sind schwarz lackiert, die La-teinsegel sind rot, die schwarzen Banner wie eine geflügelteSanduhr. Ein südchinesisches Meer des Geistes, vor einer Kü-ste mit Palmendickicht, zerfallenen Goldtempeln für unbe-kannte Götter, Insel nach Insel, die Windböe wie gelbe Seideauf nackter Haut, navigiert durch pantheistische Sterne,Hierophanie über Hierophanie, Licht über Licht gegen das lu-minöse & chaotische Dunkel.¶

21

Liebe«, die für eine banale Zukunft Geiseln halten, oder denStaat imitieren, der uns lehrt, unter den Ereignishorizont einerlangweiligen »Nützlichkeit« zu sinken – nein –, sondern weilwir & sie, die Wilden, Abbilder voneinander sind, verbunden &begrenzt durch jene Silberkette, die das Terrain der Sensua-lität, Transgression & Vision umreißt.¶Wir haben die gleichen Feinde, & unsere Mittel, uns trium-phierend aus dem Staub zu machen, sind ebenfalls die gleichen:ein wahnsinniges & obsessives Spiel, in Gang gehalten vomspektralen Glanz der Wölfe & ihrer Kinder.¶

Paganismus

Konstellationen, durch die das Seelenschiff gesteuert werdenkann.¶»Verstünde der Moslem den Islam, er würde Götzenanbeterwerden.« – Mahmud Shabestari¶Eleggua, häßlicher Öffner von Türen mit einem Haken amKopf & Kaurimuscheln als Augen, schwarze Santeria-Zigarre& ein Glas Rum – wie Ganesha, elefantenköpfiger, dickbäuchi-ger Junge der Anfänge, der eine Maus reitet.¶Das Organ, das die numinosen Atrophien mit den Sinnen er-faßt. Diejenigen, die Baraka nicht spüren können, wissen nichtsvom Schmeichel der Welt.¶Hermes Poimandres lehrte die Beseelung von Eidolons, diemagische Anwesenheit von Geistern in Ikonen, aber diejeni-gen, die dieses Ritual nicht an sich selbst & der ganzen Struk-tur des materiellen Seins vollziehen können, werden nur Jam-mer, Mist und Verfall hervorbringen.¶Der heidnische Körper wird ein Gericht von Engeln, die allediesen Ort – just diesen Hain – als Paradies empfinden(»Wenn es ein Paradies gibt, ist es gewiß hier!« – Inschrift aufeinem Gartentor in Mughal).¶Aber ontologischer Anarchismus ist zu paläolithisch für Escha-tologie – Dinge sind real, Zauberwerk, Busch-Geister eins mitder Imagination, Tod eine unangenehme Unbestimmtheit –die Handlung von Ovids Metamorphosen – ein Epos der Verän-derlichkeit. Das persönliche Mythengebilde.¶Der Paganismus hat bisher noch keine Gesetze – sondern le-diglich Tugenden – hervorgebracht. Keine Pfaffenlist, keine

20

gute Kunstsabotage gewesen. Sich TV-Übertragungsmöglich-keiten bemächtigen & ein paar Minuten aufrührerische Chao-tenkunst piratenmäßig ausstrahlen, wäre ein Bravourstück desPT – den Sendemasten einfach in die Luft jagen, wäre äußerstangemessene Kunstsabotage.¶Wenn gewisse Galerien & Museen dann und wann einen Zie-gelstein durch ihre Fenster verdient haben – keine Zerstörung,sondern ein Rütteln an deren Selbstgefälligkeit – wie sieht esdann mit BANKEN aus? Galerien verwandeln Schönheit ineine Ware, aber Banken transmutieren Imagination zu Fäkali-en und Schulden. Würde die Welt nicht mit jeder Bank, diezum Erzittern ... oder zu Fall gebracht werden könnte, anSchönheit gewinnen? Aber wie? Kunstsabotage sollte wahr-scheinlich die Finger von der Politik (die so kotzlangweilig ist)lassen – aber nicht von den Banken.¶Bildet keine Menschenketten – vandalisiert. Protestiert nicht –verunstaltet. Will man euch Häßlichkeit, mieses Design & blö-den Müll aufzwingen, werdet Ludditen, werft euren Schuh insRäderwerk, übt Vergeltung. Zerschlagt die Symbole des Impe-riums im Namen von nichts anderem als dem Herzenswunschnach Anmut.¶

Die Assassinen

Jenseits des Schimmerns der Wüste, in den polychromen Hü-geln, kahl & ocker, violett, dunkel & umber, am Ende einesausgetrockneten blauen Tales finden die Reisenden eine künst-liche Oase, eine Festung im sarazenischen Stil, die einen ver-borgenen Garten umschließt.¶Als Gäste des Alten Mannes vom Berge, Hassan-i Sabbah, stei-gen sie über die aus dem Fels gehauenen Stufen zur Burg hin-auf. Hier hat sich der Tag der Auferstehung bereits ereignet –diejenigen, die hier drinnen leben, sind außerhalb weltlicherZeit, die sie mit Dolchen & Giften in Schach halten.¶Hinter Zinnen & in Türmen mit Mauerschlitzen wachen Ge-lehrte & Fedajin in engen Einzelzellen. Sternenkarten, Astrola-bien, Destillationskolben & Retorten, Stapel aufgeschlagenerBücher in einem Strahl der Morgensonne – ein gezogenerKrummsäbel.¶Jeder von denen, die in das Reich des Imam-des-eigenen-Seins¶

23

Kunstsabotage

Kunstsabotage strebt danach, höchst exemplarisch zu sein, da-bei aber ein Element der Undurchsichtigkeit zu bewahren –keine Propaganda, sondern ästhetischer Schock – erschreckenddirekt, doch auch von subtiler Natur – Aktion als Metapher.¶Kunstsabotage ist die dunkle Seite des Poetischen Terrorismus– Schöpfung durch Zerstörung –, kann aber keiner Partei die-nen, noch irgendeinem Nihilismus und auch der Kunst selbstnicht. Wie die Vertreibung der Illusion die Erkenntnis vertieft,versüßt die Zerstörung ästhetischen Krampfes die Luft derWelt des Diskurses, des Anderen. Kunstsabotage dient nurdem Bewußtsein, der Aufnahmebereitschaft, der Wachheit.¶KS geht über Paranoia, über Dekonstruktion hinaus – ist ele-mentare Kritik – physischer Angriff auf beleidigende Kunst –ästhetischer Dschihad. Der leiseste Anflug von kleinlichemEgoismus oder gar persönlichem Geschmack verdirbt ihreReinheit und entkräftet sie. KS kann nie Macht anstreben –sondern sie nur freisetzen.¶Individuelle Kunstwerke (selbst die schlechtesten) sind weitge-hend irrelevant – KS strebt die Zerstörung von Institutionenan, die sich der Kunst bedienen, um das Bewußtsein zu trüben& von der Verblendung zu profitieren. Dieser oder jener Poetoder Maler kann wegen seines mangelnden Vorstellungsver-mögens nicht verdammt werden – wohl aber können schädli-che Ideen über die Artefakte, die sie hervorbringen, angegrif-fen werden. MUZAK dient der Hypnotisierung & Kontrolle –die MUZAK-Maschinerie kann zerstört werden.¶Öffentliche Bücherverbrennungen – warum sollten Bullen undZollbeamte diese Waffe monopolisieren? Romane über vonDämonen besessene Kinder; die Bestsellerliste der New YorkTimes; feministische Traktate gegen Pornographie; Schul-bücher (besonders Gesellschafts- und Staatsbürgerkunde, Ge-sundheit); Stapel der New York Post, Village Voice und andererSupermarktheftchen; den Elitequatsch Xtianischer Verleger.Ein paar Groschenromane – eine fröhliche Stimmung, Wein-flaschen & Joints kreisen an einem klaren Herbstnachmittag.¶Das Wegwerfen von Geld an der Börse war ganz passablerPoetischer Terrorismus – aber die Zerstörung des Geldes wäre

22

sessionen präsentiert die leuchtenden schwarzen Outlaw-Ban-ner der Assassinen ... alle sind Bewerber um den Thron einesimaginären Ägyptens, ein okkultes Raum/Licht-Kontinuum,erfüllt von noch ungeahnten Freiheiten.¶

Pyrotechnik

Von den Chinesen erfunden, aber nie für den Krieg entwickelt– ein feines Beispiel von Poetischem Terrorismus – eine Waf-fe, die nicht zum Töten dient, sondern zur Verursachung einesästhetischen Schocks – die Chinesen haßten Krieg & trugenTrauer, wenn Armeen aufgestellt wurden –, ist Schießpulvernützlicher, um böse Dämonen zu erschrecken, Kinder zu er-freuen, den Himmel mit einem nach Tapferkeit & Risiko rie-chenden Nebel anzufüllen.¶Donnerschläge der Klasse C aus Kwantung, Flaschenraketen,Schmetterlinge, M-80er, Sonnenblumen, »Ein Wald im Früh-ling«-Revolutionswetter – zünde deine Zigarette an der glim-menden Lunte eine haymarketschwarzen Bombe an – stell dirden Himmel vor, voll von Lamiae & Succubi, tyrannischenGespenstern, Polizei-Geistern.¶Nenn ein Kid mit einem brennenden Schwefel- oder Zündholz– Schamane/Apostel sommerlicher Schießpulver-Verschwö-rungen – erschüttere die Nacht mit Sternenfeuerwerk, Arsenik& Antimon, Natrium & Kalomel, einer Luftattacke aus Ma-gnesium & grellem Kaliumchlorat.¶Sprengfeuer (Lampenschwarz & Salpeter), Lunte & Eisenspä-ne – greift eure örtliche Bank oder die häßliche Kirche mitLeuchtkugelröhren & purpur-goldenen Leuchtraketen an,spontan & anonym (vielleicht von der Ladefläche eines Klein-tranporters aus).¶Schafft Feuerwerkssprüche auf den Dächern von Versiche-rungsgebäuden oder Schulen, schlängelnd wie eine Kundalini-Schlange oder ein Chaos-Drache in barium-grün vor demHintergrund eines Natriumoxalat-Gelb – TRAMPELTNICHT AUF MIR HERUM – oder kopulierende Monster,die Feuerwerkskörper auf ein Altersheim von Baptistenspucken.¶Wolkenskulptur, Rauchskulptur & Flaggen = Himmelskunst.Erd-Arbeiten. Springbrunnen = Wasserkunst. Und Feuerwerk.

25

eintreten, wird zum Sultan innerer Offenbarung, ein Monarchder Abrogation & Apostasie. In einem zentralen, von Lichteingefaßten und mit gewirkten Arabesken ausgestatteten Ge-mach ruhen sie auf Kissen & rauchen lange, mit Opium & Am-ber durchduftete Haschisch-Tschibuks.¶Für sie hat sich die Hierarchie des Seins zu einem dimensions-losen Punkt des Realen verdichtet – für sie sind die Ketten des›Gesetzes‹ zerbrochen, – sie beenden ihr Fasten mit Wein. Fürsie ist das Außen von allem dessen Innen, dessen wahres Ge-sicht direkt durchscheint. Aber die Gartentore sind durch Ter-rorismus, Spiegel, Gerüchte über Mord, trompe l’oeil, Legen-den abgeschirmt.¶Granatapfel, Maulbeere, Dattelpflaume, die erotische Melan-cholie von Zypressen, häutchenrosane Schiras-Rosen, Schalenaus Mekka-Aloen & Benzoeharz, pralle Stiele ottomanischerTulpen, wie Gärten aussehende Teppiche, die auf richtigemRasen ausgebreitet sind – ein Pavillon, geschmückt mit einemMosaik von Kalligrammen – eine Weide, ein Rinnsal mit Was-serkresse – ein Springbrunnen, dessen Boden von kristallenerGeometrie ist, der metaphysische Skandal badender Odalisken,naßbraune Mundschenke, die im Blattwerk Versteck spielen –»Wasser, Laub, anmutige Gesichter.«¶Nachts streckt sich Hassan-i Sabbah wie ein zivilisierter Wolfmit einem Turban auf einem Brustwehr über den Gärten aus& starrt in der unbekümmertenn, kühlen Wüstenluft in denHimmel, eifrig die Sternengruppen der Häresie studierend. Esist wahr, in dieser mythischen Welt mag einigen der angehen-den Jünger aufgetragen werden, sich über den Wall insSchwarze zu stürzen, genauso wahr ist aber, daß einige lernenwerden wie Zauberer zu fliegen.¶Das Emblem von Alamut bleibt im Kopf, ein Mandala odermagischer Kreis, der Geschichte ergeben, aber eingebettetoder eingeprägt ins Bewußtsein. Der Alte Mann huscht wie einGeist in Zelte von Königen & in Schlafgemächer von Theolo-gen, mit vergessenen Moslem/Ninja-Techniken vorbei an allenverriegelten Schlössern & Wachen. Er hinterläßt böse Träu-me, Stilette auf Kopfkissen, gewaltige Bestechungsgeschenke.¶Die Essenz seiner Propaganda sickert in die kriminellen Träu-me des ontologischen Anarchismus, die Heraldik unserer Ob-

24

gehren/Eros. Von diesen dreien gehen zwei Paare aus – Erebos& die alte Nacht, Aether & Tageslicht.¶

Weder Sein noch Nicht-Seinweder Luft noch Erde noch Raumwas war eingeschlossen? wo? unter wessen Schutz?Was war Wasser, tief, unergründlich?Weder Tod noch Unsterblichkeit, weder Tag noch

Nacht –aber EINES atmete selbst ohne Wind.Nichts sonst. Dunkelheit gewickelt in Dunkelheit,nichtmanifestes Wasser.

Das EINE, verborgen durch Leere,spürte die Erzeugung von Hitze, entstandals Begehren, erste Saat des Geistes ... Gab es ein Auf oder Nieder?Es gab Saatstreuer, es gab Mächte:Energie darunter, Impuls darüber.Aber wer weiß das schon sicher?

Rigveda

Tiamat, die Chaos-See, tröpfelt aus ihrem Schoß Schlick &Schleim, die Horizonte, Himmel und wäßrige Weisheit. DieseSprößlinge wachsen lärmend & anmaßend – sie denkt überihre Zerstörung nach.¶Aber Marduk, der Kriegsgott von Babylon, rebelliert gegen dieAlte Hexe & ihre Chaos-Monster, chthonische Totems –Wurm, Weibliches Ungeheuer, Großer Löwe, VerrückterHund, Scorpion-Mann, Heulender Sturm – Drachen, die ihrenStolz wie Götter tragen – & Tiamat selbst eine große See-Schlange.¶Marduk beschuldigt sie, die Söhne zur Rebellion gegen Väteranzustacheln – sie liebt Nebel & Wolke, Prinzipien der Un-ordnung. Marduk wird der erste sein, der herrschen, Regie-rung erfinden wird. In der Schlacht erschlägt er Tiamat &formt aus ihrem Körper das materielle Universum. Er inaugu-riert das Babylonische Reich – dann schafft er aus den Innerei-en & blutigen Eingeweiden von Tiamats inzestösem Sohn das

27

Tretet nicht mit Rockefeller-Stipendien & Polizeigenehmi-gungen vor einem Publikum von Kunstliebhabern auf. Ver-gängliche Hirnsprengsätze, gruselige Mandalas, die in selbst-gefälligen Vorstadtnächten aufflackern, seltsame grüne Don-nerschläge emotionaler Pest, gezündet durch orgonblaueVajra-Strahlen eines laserhaften feux d’artifice.¶Kometen, die mit dem Duft von Haschisch & radioaktiverHolzkohle explodieren – Sumpfghule & gespenstische Erschei-nungen, die öffentliche Parks unsicher machen – falsches St.-Elms-Feuer, das über der Architektur der Bourgeoisie flackert,Lady Fingers, die auf den Boden der Legislative fallen – Sala-mander-Elementargeister, die bekannte Sittenreformer angrei-fen.¶Brennender Schellack, Milchzucker, Strontium, Pech, Gum-milösung, Bestandteile von chinesischem Feuer – ein paar Mo-mente ist die Luft ozonscharf – dahintreibende opale Wolkestechenden Drachen/Phoenix-Rauches. Für einen Augenblickkollabiert das Imperium, seine Prinzen & Bosse fliehen inihren stygischen Dreck, Schwefelfahnen aus Elf-Flammenwer-fern versengen ihnen ihre zusammengekniffenen Ärsche,während sie den Rückzug antreten. Das Assassinen-Kind, Psy-che von Feuer, hat für eine kurze hundsternheiße Nacht dieMacht.¶

Chaos-Mythen

Unsichtbares Chaos (po-te-kitea)Unbesessen, unvergänglichChaos der vollkommenen Dunkelheitunberührt & unberührbar

Maori-Gesang

Chaos thront auf einem Himmelsberg: einem großen Vogel,einem gelben Beutel oder roten Feuerball gleich, mit sechsFüßen & vier Flügeln – hat kein Gesicht, aber tanzt & singt.¶Oder Chaos ist ein schwarzer, langhaariger Hund, blind &taub, ihm fehlen die fünf Eingeweide.¶Chaos, der Abgrund, kommt zuerst, dann Erde/Gaia, dann Be-

26

»Die Musik der Natur hat keine Existenz außerhalb der Dinge.Die verschiedenen Löcher, Pfeifen, Flöten, alle Lebewesen zu-sammen bilden die Natur. Das ›Ich‹ kann keine Dinge & dieDinge können kein ›Ich‹ produzieren, das selbst-existent ist.Dinge sind, was sie sind, spontan, nicht durch irgendetwas her-vorgerufen. Alles ist natürlich & weiß nicht, warum dem so ist.Die 10 000 Dinge sind von 10 000 verschiedenfachem Sein,alle in Bewegung, als gäbe es einen Wahren Herrn, der sie be-wegt – aber wenn wir nach einem Beweis für diesen Herrn su-chen, finden wir keinen.« (Kuo Hsiang)¶Jedes sich vergegenwärtigende Bewußtsein ist ein »Kaiser«,dessen einzige Form der Herrschaft darin besteht, nichts zuunternehmen, was die Spontaneität der Natur, das Tao stört.Der »Weise« ist nicht das Chaos selbst, sondern ein loyalesKind des Chaos – einer von P’an Kus Flöhen, ein Teil des Flei-sches von Tiamats monströsem Sohn. »Himmel und Erde«,sagt Tschuang-Tse, »wurden zur gleichen Zeit wie ich gebo-ren, & die 10 000 Dinge sind eins mit mir.«¶Ontologischer Anarchismus neigt dazu, nur mit dem totalenQuietismus der Taoisten nicht übereinzustimmen. In unsererWelt ist Chaos von jungen Göttern gestürzt worden, Morali-sten, Phallokraten, Banker-Priestern, Herren, geeignet, sichLeibeigene zu halten. Wenn sich die Rebellion als unmöglicherweist, sollte zumindest eine Art klandestiner spirituellerDschihad in Gang gesetzt werden. Möge er unter dem Kriegs-banner des anarchistischen schwarzen Drachens, Tiamat, HunTun, erfolgen.¶Chaos ist nie gestorben.¶

Pornographie

In Persien habe ich festgestellt, daß Poesie zu Musik vorgetra-gen & gesungen werden sollte – aus einem einzigen Grund –weil es funktioniert.¶Eine wichtige Kombination aus Metapher & Melodie versetztdie Zuhörerschaft in einen hal (etwas zwischen emotionalerästhetischer Stimmung & Trance des Hyperbewußtseins), Trä-nenausbrüche, Tanzeslust – erkennbare physische Reaktion aufKunst. Unserer Auffassung nach ist die Verbindung zwischenPoesie & Körper mit dem Ende der Barden-Ära gestorben –

29

Menschengeschlecht, um für immer den Göttern & ihren Ho-hepriestern & gesalbten Königen zu dienen.¶Vater Zeus & die Olympier führen Krieg gegen Mutter Gaia& die Titanen, diese Partisanen des Chaos, gegen die alten Ar-ten des Jagens & Sammelns, des ziellosen Streunens, gegenAndrogynie & die Freiheit der Tiere.¶

Amon-Ra (Sein) sitzt allein im uranfänglichen Chaos-Ozeanvon NUN, schafft all die anderen Götter durch Wegstoßen –aber Chaos manifestiert sich auch als der Drache Apophis, denRa (samt seines glorreichen Staates, seines Schattens & seinerMagie) zerstören muß, damit des Pharaos Herrschaft sicher ist– ein Sieg, der täglich aufs neue in den imperialen Tempeln er-rungen wird, um die Feinde des Staates, der kosmischen Ord-nung zu verwirren.¶Chaos ist Hun Tun, Kaiser des Zentrums. Eines Tages be-suchten die Südliche See, Kaiser Shu & die Nördliche See,Kaiser Hu (shu hu = Blitz) Hun Tun, der sie stets gut behandelthatte. Sie wollten seine Freundlichkeit erwidern und sagten:»Alle Lebewesen haben sieben Öffnungen zum Sehen, Hören,Essen, Scheißen etc. – aber der arme Hun Tun hat nicht eineeinzige! Laßt uns ihm also ein paar Öffnungen bohren!« Dastaten sie – ein Öffnung pro Tag – bis Chaos am siebten Tagstarb.¶Aber ... Chaos ist auch ein enormes Hühnerei. Darinnen wirdP’an Ku geboren & wächst 18 000 Jahre lang – schließlich öff-net sich das Ei, zerfällt in Himmel & Erde, Yang & Yin. UndP’an-Ku wird zu einer Säule, die das Universum trägt (Atem –Wind, Augen – Sonne & Mond, Blut & Launen – Flüsse &Seen, Haare & Wimpern – Sterne & Planeten, Sperma – Per-len, Knochenmark – Jade, seine Flöhe – Menschen etc.)¶Oder er wird der Mann/das Monster Gelber Kaiser. Oder aberer wird Lao Tse, Prophet des Tao. Tatsächlich ist der armealte Hun Tun das Tao selbst.¶

28

Amerika kennt die Freiheit der Rede, weil alle Wörter alsgleich leblos erachtet werden. Nur Bilder zählen – die Zenso-ren lieben Aufnahmen von Tod & Verstümmelung, wendensich allerdings entsetzt ab, wenn sie ein Kind masturbieren se-hen – offensichtlich erfahren sie dies als eine Infragestellungihrer Existenzberechtigung, ihrer Identifikation mit dem Impe-rium & seinen subtilsten Ausprägungen.¶Selbst der poetischste Porno würde zweifellos nie den gesichts-losen Leichnam wiedererwecken, zum Tanzen und Singenbringen (wie der chinesische Chaos-Vogel) – aber ... man stellesich ein Skript für einen Drei-Minuten-Film vor, der auf einergeheimnisvollen Insel von kleinen Ausreißern spielt, die in al-ten Burgruinen oder Totem-Hütten wohnen & Junk-Assem-blage-Nester bauen – eine Mischung aus Animation, Spezialef-fekten, Compugraphix & Farbgebung – geschnitten wie einWerbespot für Fastfood ... ¶... aber seltsam & nackt, Federn & Knochen, mit Kristallgenähte Zelten, schwarze Hunde, Taubenblut – Glanz vonbernsteinfarbenen, in Laken ineinander verschlungenen Glie-dern, Gesichter in Sternenmasken, die sanfte Hautfalten küs-sen – androgyne Piraten, gestrandete Kolombinen, schlafendauf knochenbleichen Blumen – üble abgeschmackte Wortwit-ze, zahme Eidechsen, die verschüttete Milch auflecken – nack-tes Break-Dancing – viktorianische Badewannen mit Gum-mientchen & rosa Füßchen – Alice auf Ganja ... ¶... atonaler Punk/Reggae, der für Gamelan gehalten wird, Syn-thesizer, Saxophone & Schlagzeuge – Electric-Boogie-Lyrik,gesungen von einem ätherischen Kinderchor – ontologisch-an-archistische Texte, eine Mixtur aus Hafis & Pancho, Li Po &Bakunin, Kabir & Tzara – mit dem Titel »CHAOS – dasRock-Video!«¶Nein, vermutlich nur ein Traum. Es wäre zu teuer, das Videozu produzieren & außerdem, wer würde es sich ansehen? DieKids, die damit verführt werden sollten, gewiß nicht. Piraten-TV ist eine überflüssige Phantasie, Rock lediglich eine weitereWare – vergessen wir also das glänzende Gesamtkunstwerk.Laßt uns aufrührerische, schmutzig-unterhaltsame Flugblätterauf Spielplätzen verteilen – Porno-Propaganda, sonderbarenSamisdat, um die Begierde von ihren Fesseln zu befreien.¶

31

wir lesen unter dem Einfluß eines kartesianischen anästhesie-renden Gases.¶In Nordindien ruft selbst eine nicht-musikalische RezitationUnruhe & Bewegung hervor, wird jedes gute Verspaar mitBeifall bedacht, »Wa! Wa!«, mit eleganten Handbewegungen,unter Werfen von Rupien – während wir der Poesie lauschenwie irgendein beleidigtes SciFi-Hirn – höchstens mit einemverzerrten In-sich-hinein-Grinsen oder einer Grimasse, erin-nernd an einen affenartigen Schlund – der übrige Körper weitweg auf einem anderen Planeten.¶Im Osten werden Poeten des öfteren in den Knast befördert –eine Art Kompliment, da dem Autor damit etwas ebenso Rea-les wie Diebstahl oder Vergewaltigung oder revolutionäre Ab-sichten unterstellt wird. Hier dürfen Poeten absolut alles veröf-fentlichen – eine Art Strafe, ein Gefängnis ohne Mauern, ohneWiderhall, ohne fühlbare Existenz. – Schattenreich des Druk-kes oder abstrakten Denkens – Welt ohne Risiko oder Eros.¶Poesie ist also wieder tot & selbst wenn ihre Mumie über eini-ge heilende Eigenschaften verfügen sollte, gehört die Fähigkeitzur selbstinitiierten Auferstehung nicht dazu.¶Wenn Herrschende Gedichte nicht als kriminell ansehenmöchten, muß irgendjemand kriminelle Taten begehen, diedie Funktion von Poesie haben, oder Texte in die Welt setzen,aus denen der Terrorismus widerhallt. Koste es, was es wolle –stellt die Verbindung Poesie/Körper wieder her. Keine krimi-nellen Akte gegen den Körper, sondern gegen Vorstellungen(& Verdinglichungen), die tödlich & erstickend sind. Keineblöde Libertinage, sondern exemplarische oder ästhetische kri-minelle Taten, Kriminalität für die Liebe.¶In England sind etliche pornographische Bücher noch immerverboten. Pornographie hat einen meßbaren Einfluß auf dieLeser. Wie Propaganda verändert sie manchmal das Leben, dasie wirkliche Begierden freilegt.¶Unsere Kultur produziert die meisten Pornos aus dem Körper-haß – aber erotische Kunst stellt an und für sich ein besseresVehikel zur Steigerung des Lebensgefühls/Bewußtseins/Glücksdar – etwa bestimmte orientalische Arbeiten. Eine Art Tantrik-Porno könnte helfen, den Leichnam wiederzubeleben, ihn inein wenig kriminellem Glamour erstrahlen lassen.¶

30

zur Armee der Anorexie oder Bulimie – handle, als seiest dubereits frei, berücksichtige alle Wahrscheinlichkeiten, steigaus, vergiß die Duellregeln nicht – rauche Pot/iß Hähnchen/trinke Tee. Jederman sein eigener Wein & Feigenbaum (CircleSeven Koran, Noble Drew Ali) – trage deinen maurischen Paßmit Stolz, paß auf, daß du nicht ins Kreuzfeuer gerätst, gehe inDeckung – aber nimm das Risiko auf dich, tanze, bevor du ver-kalkst.¶Das natürliche soziale Modell für ontologischen Anarchismusist die Kinder-Gang oder die Bankräuber-Bande. Geld ist eineLüge – dieses Abenteuer muß ohne Geld möglich sein – Beute& Raub sollten aufgebraucht sein, bevor sie sich in Staubzurückverwandeln. Heute ist der Tag der Wiederauferstehung– das für Schönheit ausgegebene Geld wird alchimistisch in einElixir verwandelt. Wie sagte doch mein Onkel Melvin: »Einegestohlene Wassermelone schmeckt süßer.«¶Die Welt ist bereits nach des Herzens Begehren wiederer-schaffen – aber der Zivilisation gehören all der Privatbesitz &die meisten der Gewehre. Unsere Erzengel fordern unserÜbertreten, denn sie manifestieren sich nur auf verbotenemTerrain. High Way Man. Das Yoga der Heimlichkeit, derblitzschnelle Überfall, der Genuß der Kostbarkeit.¶

Zauberei

Das Universum möchte spielen. Diejenigen, die sich aus nack-ter spiritueller Gier verweigern & sich der reinen Kontempla-tion hingeben, verwirken ihre Humanität – diejenigen, die sichaus dumpfer Angst verweigern, diejenigen, die zögern, verlie-ren ihre Aussicht auf Göttlichkeit – diejenigen, die sich selbstblinde Masken von Ideen formen & herumquatschen, um eineBestätigung ihrer eigenen Wahrhaftigkeit zu finden, enden, in-dem sie aus Totenaugen starren.¶Zauberei: die systematische Kultivierung von erweitertem Be-wußtsein oder ungewöhnlicher Bewußtheit & deren Entfaltungin die Welt der Taten & Objekte, um zu den gewünschten Re-sultaten zu gelangen.¶Die gesteigerte Öffnung der Pforten der Wahrnehmung führtzur allmählichen Vertreibung des falschen Selbst, unserer ka-kophonen Geister – die »schwarze Magie« des Neides & der

33

Kriminalität

Gerechtigkeit gibt es unter keinem Gesetz – eine spontane Ak-tion, eine Aktion, die gerecht ist, kann durch kein Dogma defi-niert werden. Die kriminellen Akte, die in diesen Flugschriftenbefürwortet werden, können nicht gegen das Selbst oder dasAndere begangen werden, sondern nur gegen die ätzende Kri-stallisation von Ideen in Strukturen widerlicher Throne &Herrschaft.¶Das heißt, keine kriminellen Akte gegen die Natur oderMenschlichkeit, sondern kriminelle Akte im Lichte der Lega-lität. Früher oder später verwandelt die Entdeckung & Enthül-lung des Selbst/der Natur Menschen in Brigantinnen und Bri-ganten – dies ist wie ein Eintreten in eine andere Welt, dieRückkehr in diese Welt, gefolgt von der Entdeckung, daß manzum Verräter, Häretiker, Exilanten erklärt wurde.¶Das Gesetz wartet auf dich und stößt dabei auf eine Existenz-weise, ein Wesen, das sich von dem von der Food and DrugAdministration genehmigten, purpur gestempelten toten Stan-dardfleisch unterscheidet – & sobald du in Übereinstimmungmit der Natur zu handeln beginnst, garottiert & stranguliertdich das Gesetz – spiele also nicht den verdammten liberalenMittelklassemärtyrer – akzeptiere das Faktum, daß du ein Kri-mineller bist, & sei darauf vorbereitet, wie ein solcher zu agie-ren.¶Paradox: das Chaos umarmen heißt, nicht in die Entropie glei-ten, sondern wie Sterne in eine Energie übergehen, ein Patternaugenblicklicher Schönheit – eine spontane organische Ord-nung, die sich gänzlich von den Aaspyramiden der Sultane,Muftis, Kadis & grinsenden Exekutoren unterscheidet.¶Nach Chaos kommt Eros – das dem Nichts des uneinge-schränkten Einen implizite Ordnungsprinzip. Liebe ist Struk-tur, System, der einzige von Sklaverei & Betäubung nichtberührte Code. Wir müssen Gauner & Betrüger werden, umihre spirituelle Schönheit in einem Schatzkästlein der Klan-destinität, einem verborgenen Garten der Spionage zu schüt-zen.¶Überlebe nicht einfach nur, während du auf jemandes Revolu-tion wartest, die dir den Kopf frei macht, verpflichte dich nicht

32

Weihrauch & Kristall, Dolch & Schwert, Zauberstab, Gewän-der, Rum, Zigarren, Kerzen, Kräuter wie getrocknete Träume– der unschuldige Knabe starrt in einen Becher mit Tinte –Wein und Ganja, Fleisch, Yantras & Gesten – Rituale derFreude, der Garten der Huris & Sakis – der Zauberer erklimmtdiese Schlangen & Leitern in einem Moment, der gänzlich vonseiner eigenen Farbe erfüllt ist, da Berge Berge & Bäume Bäu-me sind, da der Körper ganz Zeit wird, der Geliebte ganzRaum.¶Die Taktiken des ontologischen Anarchismus haben ihre Wur-zeln in dieser geheimen Kunst – die Ziele des ontologischenAnarchismus erscheinen in ihrem Blühen. Chaos verhext seineFeinde & belohnt seine Anhänger ... dieses seltsame vergilben-de Pamphlet, pseudonym & staubbedeckt, enthält alles ... abge-sandt für einen Sekundenbruchteil der Ewigkeit.¶

Werbung

Was du hier liest, ist keine Prosa. Es mag ans Brett geheftetwerden, aber es wird dennoch lebendig bleiben & sich dahin-schlängeln. Es will dich nicht verführen, es sei denn, du bist ex-trem jung & gutaussehend (bitte kürzlich aufgenommenesPhoto beilegen).¶Hakim Bey lebt in einem schäbigen chinesischen Hotel, indem der Besitzer über der Zeitung & zerkratzten TV-Auf-zeichnungen der Peking Oper einnickt. Der Deckenventilatordreht sich wie ein träger Derwisch – Schweiß tropft auf’s Pa-pier – der Kaftan des Poeten ist zerschlissen, seine Monologewirken wirr & etwas unheimlich – vor den mit Läden ver-schlossenen Fenstern verschwindet das Barrio unter Palmen-bäumen, im naiv-blauen Ozean, in der Philosophie des Tropi-calismo.¶Auf dem Highway irgendwo südlich von Baltimore passiertman eine Werbung am Himmel, und auf dem Rasen darunterbefindet sich ein großes Hinweisschild SPIRITUAL READ-INGS & eine plumpe schwarze Hand auf rotem Grund. ImLaden sieht man Traum-Bücher, Zahlen-Bücher, Pamphleteüber HooDoo und Santeria, staubige alte Nudistenmagazine,einen Stapel Boy’s Life, Abhandlungen über Kampfhähne ... &dieses Buch, Chaos. Wie Worte, gesprochen in einem Traum,

35

Vendetta mißlingt, da sich das Begehren nicht zwingen läßt.Wo unser Wissen von Schönheit mit dem ludus naturae harmo-nisiert, beginnt Zauberei.¶Nein, keine Löffelbiegerei oder ein Horoskop-Hokuspokus,keine Goldene Dämmerung und keinen angeblichen Schama-nismus, keine astrale Projektion, keine Satansmesse – wenn esPopanz ist, wird man die realen Sachen haben wollen, Banken,Politik, Sozialwissenschaften – nicht jenen blavatskyschenQuatsch.¶Zauberei schafft um sich einen psychischen/physischen Raumoder eine Öffnung in einem Raum des ungehinderten Aus-drucks – die Metamorphose eines gewöhnlichen Ortes in eineEngelssphäre. Dies beinhaltet die Manipulation von Symbolen(die auch Dinge sind) & von Leuten (die auch symbolisch sind)– die Archetypen liefern ein Vokabular für diesen Prozeß &werden daher behandelt, als seien sie zugleich wirklich & un-wirklich, wie Worte. Yoga der Phantasie. Der Zauberer istschlichtweg Realist: die Welt ist real – dann muß auch das Be-wußtsein real sein, da seine Inhalte so greifbar sind. Der Ein-faltspinsel findet selbst Wein fade, der Zauberer aber kanndurch den bloßen Anblick von Wasser berauscht sein.¶Die Qualität der Wahrnehmung bestimmt die Welt des Rau-sches – sie aber zu erhalten & zu erweitern, um andere einzube-ziehen, erfordert eine bestimmte Aktivität – Zauberei.¶Zauberei bricht kein Naturgesetz, denn es gibt kein Natürli-ches Gesetz, sondern lediglich die Spontaneität der natura na-turans, des Tao. Zauberei bricht Gesetze, die diesen Fluß fes-seln wollen – Priester, Könige, Oberpriester, Mystiker, Wis-senschaftler & Ladeninhaber, alle brandmarken den Zaubererals Feind, weil er die Macht ihrer Scharade, die Festigkeit ihresIllusionsgespinstes bedroht.¶Ein Gedicht kann als Zauberspruch fungieren & vice versa –aber Zauberei weigert sich, eine Metapher für bloße Literaturzu sein – sie insistiert darauf, daß Symbole Ereignisse wie auchprivate Epiphanien hervorbringen müssen. Sie ist keine Kritik,sondern ein Wieder-Erschaffen. Sie weist jegliche Eschatolo-gie & Metaphysik des Vergehens, trübe Nostalgie & schrillenFuturismo zugunsten eines Paroxysmus oder der Eroberungder Gegenwart zurück.¶

34

Kommuniqués derAssociation For Ontological

Anarchy

37

unheilvoll, dahinschwindend, sich in Duftstoffe, Vögel, Fra-ben, vergessene Musik verwandelnd.¶Dieses Buch schafft durch eine gewisse Gefühllosigkeit, ja fastGlätte, eine Distanz. Es wedelt nicht mit dem Schwanz &knurrt nicht, aber es beißt & rückt die Möbel. Es will dichnicht zum Jünger, könnte aber deine Kinder kidnappen.¶Dieses Buch ist stark wie Kaffee oder Malaria – es errichtet einNetzwerk von Auslassungen & Gewißheiten zwischen sich undseinen Lesern – aber es ist so ungeschminkt & nüchtern, daß essich praktisch verschlüsselt – es raucht sich in eine Benommen-heit.¶Eine Maske, eine Automythologie, eine Karte ohne Ortsnamen– starr wie ein ägyptisches Wandgemälde, gelingt es ihm den-noch, jemandes Gesicht zu liebkosen – & findet sich plötzlichauf der Straße wieder, in einem Körper, in Licht aufgegangen,gehend, wach, nahezu befriedigt.¶

NYC, 1.Mai – 4.Juli 1984

36

Kommuniqué #1 (Frühjahr 1986)I. Slogans & Motti für U-Bahn-Graffitti & AndereZwecke

ENTWURZELTER KOSMOPOLITANISMUS

POETISCHER TERRORISMUS

(zum Kritzeln oder Stempeln auf Werbeflächen:)DIES IST DEIN WIRKLICHES BEGEHREN

MARXISMUS-STIRNERISMUS

STREIKT FÜR TRÄGHEIT & SPIRITUELLE SCHÖNHEIT

KLEINE KINDER HABEN SCHÖNE FÜSSE

DIE KETTEN DES GESETZES SIND GESPRENGT

TANTRISCHE PORNOGRAPHIE

RADIKALER ARISTOKRATISMUS

KINDERBEFREIUNGSSTADTGUERILLA

IMAGINÄRE SCHIITISCHE FANATIKER

BOLO’BOLO

SCHWULER ZIONISMUS

(SODOM DEN SODOMITEN)

39

Ästhetik des Glücks, der Seligkeit oder Liebe, je nachdem, wasangemessen ist.¶5. Verwünscht auf fürchterliche Weise eine schädliche Institu-titon, wie etwa die New York Post oder die MUZAK Company.Ein von malaysischen Zauberern praktiziertes Verfahren:schickt dem Unternehmen eine verkorkte und mit Wachs ver-siegelte Flasche. Deren Inhalt: tote Insekten, Skorpione, Ei-dechsen oder ähnliches; ein Beutel mit Friedhofserde (»Gris-gris« in der amerikanischen HooDoo-Terminologie) und an-deren schadenspendenden Substanzen; ein Ei, gespickt mit Ei-sennägeln und Nadeln; und eine Schriftrolle, auf die ein Em-blem gezeichnet ist (s. S. 67).¶

Dieses yantra oder veve beschwört den Schwarzen Dschinn,den dunklen Schatten des Selbst. (Nähere Angaben sind beider A. O. A. erhältlich.) In einem Begleittext wird erklärt, daßder Fluch gegen die Institution & nicht gegen Individuen ge-richtet ist – aber wenn die Institution nicht aufhört, schädlich zusein, wird sich der Fluch (wie ein Spiegel) erfüllen und Unglücküber das Firmenglände kommen, ein Miasma der Negativität.Bereitet eine »Pressemitteilung« vor, in der ihr den Fluch er-klärt & im Namen der American Poetry Society die Verant-wortung übernehmt. Schickt Kopien dieses Textes an alle An-gestellten der Institution & an ausgewählte Medien. In derNacht, bevor die Briefe eintreffen, solltet ihr das Firmengebäu-de mit dem fotokopierten Emblem des Schwarzen Dschinn be-kleben, so daß es am Morgen von allen Angestellten gesehenwerden kann.¶

(Erneuten Dank an Abu Jehad & Dank an Sri Anamananda – denMaurischen Kastellan des Belvedere Wetterturms – & andere Ge-nossen der Autonomen Zone Central Park & Brooklyn TempleNummer 1.)¶

è

41

PIRATENUTOPIEN

CHAOS IST NIE GESTORBEN

E inige dieser Slogans sind »ernstgemeinte« Slogans derA. O. A. – andere dienen dazu, öffentliche Ablehnung &

Befürchtungen zu bewirken – wir sind uns aber nicht sicher,welche der Slogans zu welcher Kategorie gehört.¶(Dank an Stalin, Anon., Bob Black, Pir Hassan (Friede seiner Er-wähnung), F. Nietzsche, Hank Purcell Jr., P. M. & Bruder Abu Je-had al-Salah vom Moorish Temple von Dagon.)¶

II. Einige poetisch-terroristische Ideen, die leidernoch immer im Reiche der »Konzept-Kunst«schmachten

1. Geht, wenn großer Kundenandrang herrscht, in den Geld-schalter der Citi- oder Chembank, scheißt auf den Boden &verdrückt euch.¶2. Chicago, 1. Mai ’86: organisiert eine »religiöse« Prozessionfür die Haymarket-»Märtyrer« – riesige Banner mit sentimen-talen Porträts, Blumengirlanden & Glitter & Bändern, getra-gen von Pönitenten in schwarzen Kapuzengewändern im KK-Katholischen Stil – schändlich aufgetakelte TV-Akolythen be-sprenkeln mit Weihrauch & Weihwasser die Menge – Anar-chisten mit Aschgesichtern schlagen sich mit kleinen Flegeln &Peitschen – ein »Papst« im schwarzen Gewand segnet kleinesymbolische Särge, die ehrerbietig von weinenden Punks zumFriedhof getragen werden. An einem solchen Spektakel sollteeigentlich fast jeder Anstoß nehmen.¶3. Klebt Fotokopien an Häuserwände, die einen wunderschö-nen zwölfjährigen Jungen nackt und onanierend zeigen undden Titel tragen: DAS GESICHT GOTTES.¶4. Schickt kunstvolle & exquisite magische »Segnungen« ano-nym an Leute oder Gruppen, die ihr bewundert, z. B. wegenihrer Politik oder Spiritualität oder körperlichen Schönheitoder ihres kriminellen Erfolges usw. Verfahrt nach der unterPunkt 5 beschriebenen Prozedur, aber bedient euch einer

40

irgendwo träumen Knaben, daß Außerirdische kommen undsie vor ihren Familien retten und die Eltern dabei mit irgend-einem uns unbekannten Strahl zerstäuben werden. Oh ja. Ent-führungsverschwörung von Raumpiraten aufgedeckt – »Alien«als fanatischer schiitischer verrückter Poet enttarnt – UFOsüber den Pine Barrens gesichtet – »Verschwundene Knabenwerden Erde verlassen«, behauptet der sogenannte Prophetdes Chaos, Hakim Bey¶entlaufene Knaben, Durcheinander & Unordnung, Ekstase &Faulheit, Drückebergerei, Kindheit als permanente Insurrekti-on – ein Sammlung von Fröschen, Schnecken, Blättern – imMondlicht pissen – 11, 12, 13 – alt genug, die Kontrolle überdie eigene Geschichte nicht länger den Eltern, der Schule, demJugendamt, dem TV zu überlassen – kommt und lebt mit unsin den Barrens – wir werden eine lokale Spezies eines samenlo-sen Hanfes kultivieren, um unseren Luxus & die Kontemplati-on der Alchimie des Sommers zu finanzieren – & ansonstennichts produzieren außer Artefakten des Poetischen Terroris-mus & Mementos unserer Freuden¶zielloses Herumkutschieren im alten Pickup, angeln & sam-meln, im Schatten herumliegen, Comics lesen & Trauben es-sen – das ist unsere Wirtschaftsweise.¶Das Wesen der Dinge, wenn sie nicht mehr an das Gesetz ge-kettet sind, jedes Molekül eine Orchidee, jedes Atom eine Per-le für das wache Bewußtsein – das ist unser Kult. Die Him-melsgleiter sind mit persischen Teppichen ausgelegt, der Ra-sen strotzt vor sattem Unkraut¶das Baumhaus wird in der Nacktheit des Juli & zu Mitternachtzum hölzernen Raumschiff, halboffen zu den Sternen hin,warm von epikureischem Schweiß, bewegt & dann zum Still-stand gebracht vom Atmen der Kiefern.¶(Liebes Bolo Log: Du fragtest nach einem praktischen & mach-baren Utopia – hier ist es, keine bloße Post-Holocaust-Fanta-sie, keine Schlösser auf dem Mond des Jupiter – ein Projekt,mit dem wir morgen beginnen könnten – außer daß jeder sei-ner einzelnen Aspekte gesetzesbrecherisch ist, etwas vom abso-luten Tabu in der US-Gesellschaft verrät, deren Struktur be-droht etc., etc. Zu übel. Das ist unsere wirkliche Begierde, &zu deren Erfüllung müssen wir uns nicht nur einem Leben der

43

Kommuniqué #2Der Kallikak Memorial Bolo & Chaos Ashram: Ein Vorschlag

W ir hegen eine Vorliebe für Himmelsgleiter – diese klassi-schen lenkbaren Miniaturluftschiffe mit Rädern – & auch

für die Pine Barrens von New Jersey, riesige verlassene Land-flächen mit sandigen Flüßchen & Kiefern, Moosbeerwildwuchs& Geisterstädten, mit ungefähr 14 Einwohnern pro Quadrat-meile, Feldwegen, von Farn überwachsenen, eingestürztenHütten & vereinzelten rostigen Wohnwagen mit ausgebrann-ten Autos davor¶Land der mythischen Kallikaks – Piney-Familien, die in den20er Jahren Studienobjekte von Eugenikern waren, um dieSterilisierung armer Landbewohner zu rechtfertigen. EinigeKallikaks haben reich geheiratet, prosperierten & wurden dankder guten Gene bourgeois – andere jedoch hatten nie einerichtige Arbeit, sondern lebten von dem, was die Wälder her-gaben – Inzest, Sodomie, reichlich geistige Defizite – Photosretouchiert, damit sie ausdruckslos & grämlich aussehen – ab-stammend von vagabundierenden Indianern, hessischen Söld-nern, Rumschmugglern, Deserteuren – lovecraftianischen De-generierten¶denkt man darüber nach, so könnten die Kallikaks genauso gutheimlich Chaoten hervorgebracht haben, frühe Sex-Radikale,Propheten der Nichtarbeit. Wie andere monotone Landschaf-ten (Wüste, Meer, Sumpf) scheint den Barrens eine erotischeKraft eigen zu sein – nicht so sehr ein Vril oder Orgon, son-dern eine langweilige Unordnung, fast eine Schlampigkeit derNatur, als wären Boden & Wasser sexuelles Fleisch, Membra-nen, weiches Schwellgewebe. Wir möchten dort etwas beset-zen, vielleicht eine verlassene Fischer-/Jagdhütte mit altemHolzofen, die abgeschieden liegt – oder verfallende Ferien-häuschen an irgendeinem nicht mehr benutzten County Hig-hway – oder nur eine Waldparzelle, wo wir zwei oder dreiHimmelsgleiter unter den Kiefern nahe bei einem Fluß odereinem kleinen Badesee verstecken. Waren die Kallikaks auf ir-gendeinem Gebiet gut? Wir werden es herausfinden¶

42

vität, Thanatosis, Schadenfreude zu verfallen, sich an Nazi-Me-morabilia & Serienkillern hochzuziehen. Ontologische Anar-chie sammelt keine Snuff-Filme & ist zu Tränen gelangweiltvon Dominatrices, die Weisheiten der französischen Philoso-phie absondern. (»Alles ist hoffnungslos & ich wußte es vordir, Arschloch. Ätsch!«)¶Wilhelm Reich wurde fast in den Wahnsinn getrieben & vonAgenten der emotionalen Pest umgebracht; vielleicht verdan-ken wir die Hälfte seines Werkes der bloßen Paranoia (UFO-Verschwörungen; Homophobie, selbst seine Orgasmus-Theo-rie), ABER in einem Punkt sind wir vollkommen seiner An-sicht – Sexpol: Sexuelle Repression führt zu Todesobsession,was schlechte Politik zur Folge hat. Ein großer Teil der Avant-garde-Kunst ist voll von Tödlichen Orgon-Strahlen (TOS).Ontologische Anarchie strebt die Schaffung von ästhetischenWolken-Brechern (OS-Gewehren) an, um das Miasma von ze-rebralem Sado-Masochismus aufzulösen, das derzeit als schick,hip, neu, modisch gilt. Sich selbst verstümmelnde »Perfor-mance«-Künstler finden wir banal & dumm – ihre Kunstmacht alle nur noch unglücklicher. Was für eine korrupte, klün-gelhafte Pferdekacke ... welche kakerlakenhirnigen Kunstdep-pen haben diesen apokalyptischen Auflauf aufgekocht?¶Natürlich macht die Avantgarde einen »gescheiten« Eindruck– das taten Marinetti & die Futuristen, Pound & Céline auch.Aber einer solchen Intelligenz ziehen wir wirkliche Blödheitvor, bukolische, glückselige New-Age-Hohlheit – lieber sindwir Dummköpfe als todkomisch. Glücklicherweise müssen wirnicht in unserem Hirnkasten kramen, um unsere eigene komi-sche Art an Satori zu erfahren. Jegliche Wahrnehmung, alleSinne gehören uns als unser Eigentum – Herz & Kopf, Intel-lekt & Empfinden, Körper & Seele. Unsere Kunst ist keine derVerstümmelung, sondern eine des Exzesses, des Überflusses,der Überraschung.¶Die Vertreter des nichtssagenden Trübsinns sind die Todes-schwadrone der zeitgenössischen Ästhetik – & wir sind die»Verschwundenen«. Ihr heuchlerisches Getue mit okkultemNippes des Dritten Reiches & Kindermord zieht die Manipu-latoren des Spektakels an – Tod macht sich auf dem Bildschirmbesser als im wirklichen Leben – & wir Chaoten, die die Freu-

45

reinen Kunst hingeben, sondern auch der reinen Kriminalität,der reinen Insurrektion. Amen.)¶

(Dank an den Grimmigen Schnitter & andere Mitglieder des Si FanTemple of Providence für YALO, GANO, SILA & Ideen)¶

èKommuniqué # 5»Intellektueller S/M ist der Faschismus der 80er Jahre – Die Avantgarde frißt Scheiße und fühlt sichwohl dabei«

Genossen!

K ürzlich hat eine von gewissen revanchistischen Kreisenüber »Chaos« gestiftete Konfusion die A.O.A. verärgert,

was uns (die wir Polemik verabscheuen) schließlich zu einemPlenum zwang, das ex cathedra der Denunzitaion gewidmetwar, unheilverkündend wie die Hölle, unsere Gesichter ob derRhetorik feuerrot, Speichel von unseren Lippen tropfend, dieHalsschlagadern vor lauter Kanzelleidenschaft angeschwollen.Wir mußten schließlich auf wehende Fahnen mit zornigen Slo-gans (in Schrifttypen der 30er Jahre) zurückgreifen und er-klären, was ontologische Anarchie nicht ist.¶Erinnert euch, nur in der klassischen Physik hat Chaos etwasmit Entropie, Hitzetod oder Verfall zu tun. In unserer Physik(Chaos-Theorie) wird Chaos als mit Tao identisch betrachtet,jenseits von Yin-als-Entropie & Yang-als-Energie, mehr einPrinzip kontinuierlicher Schöpfung denn das eines nihil, leerim Sinne von potentia und nicht im Sinne von Versiegen (Cha-os als »Summe aller Ordnungen«).¶Aus dieser Alchimie leiten wir eine ästhetische Theorie ab.Chaos-Kunst mag erschreckend agieren, gar ein Grand Guignolsein, kann es sich aber niemals erlauben, in widerliche Negati-

44

Wir leben in einer Gesellschaft, die mit Bildern von Tod &Verstümmelung für ihre kostbaren Güter wirbt, sie mittels Al-phawellen produzierender krebserzeugender realitätsverzer-render Gerätschaften direkt in die Hirne der MillionenKriechtiere strahlt – während bestimmte Bilder des Lebens(wie unser Lieblingsbild, das eines masturbierenden Kindes)verboten sind & unglaublich harter Strafe unterliegen. Es er-fordert keinerlei Mut, ein Kunstsadist zu sein, ist doch der gei-le Tod zentrales Element unseres ästhetischen Konsenses.»Linke«, die sich gerne verkleiden und Polizei & Opfer spie-len, Leute, die auf Photos abfahren, die Grausamkeiten zeigen,Leute, die gerne über Splatter-Kunst & Hoffnungslosigkeit &Leichenschänderei & anderer Leute Elend sinnieren & intellek-tuell daher schwafeln – solche »Künstler« sind nichts anderesals Polizisten ohne Macht (was auch eine treffende Definitionvieler »Revolutionäre« ist). Wir haben einen Sprengsatz fürdiese Ästhetik-Faschisten – und dessen Explosion setzt Sperma& Knallfrösche frei, rauhe Gewänder & Piraterie, merkwürdi-ge schiitische Häresien & sprudelnde Paradies-Fontänen, kom-plexe Rhythmen, das Pulsieren des Lebens, alles wild durch-einander & heftig.¶Wach auf! Atme! Spüre den Atem der Welt auf deiner Haut!Erobere den Tag! Atme! Atme!¶

(Dank an J. Mander für seine Four Arguments for the Abolition ofTelevision (Vier Argumente für die Abschaffung des Fernsehens);Adam Exit; & den maurischen Kosmopoliten von Williamsburg)¶

è

47

de an der Insurrektion predigen, werden zum Schweigen ver-dammt.¶Es ist überflüssig zu betonen, daß wir gegen jegliche Zensurdurch Kirche & Staat sind, aber »nach der Revolution« werdenwir sehr wohl die individuelle & persönliche Verantwortungfür das Verbrennen des Snuff-Kunst-Quatsches der Todes-schwadrone übernehmen & sie fluchend aus der Stadt treiben.(In einem anarchistischen Kontext wird Kritik zur direkten Ak-tion.) In meinem Raum ist weder Platz für Jesus & seine Herrender Fliegen noch für Manson & seine literarischen Bewunde-rer. Ich will keine Polizei auf Erden – ich will auch keine kos-mischen Axt-Mörder, keine TV-Kettensägenmassaker, keineeinfühlsamen poststrukturalistischen Romane über Nekrophi-lie.¶Wie es nun einmal so geht, kann die A. O. A. kaum hoffen, dieerdrückenden Mechanismen des Staates & seiner gespensti-schen Maschinerie sabotieren zu können, aber es möchte sehrwohl sein, daß wir etwas gegen die schwächeren Manifestatio-nen der TOS-Pest wie die Corpse-Eaters der Lower East Side& andere Kunst-Kacke unternehmen können. Wir unterstüt-zen Künstler, die furchterregendes Material zu einem »höherenZweck« benutzen – die Liebes-/Sex-Material irgendeiner Artverwenden, wie schockierend oder illegal auch immer – dieihre Wut & ihre Abscheu & ihre wirklichen Begierden zurSelbstverwirklichung & zur Schönheit & des Abenteuers we-gen einsetzen. »Gesellschaftlicher Nilhilismus«, ja – aber nichtder tote Nihilismus gnostischen Selbstekels. Jeder mit einem –wenn auch nur rudimentären – Dritten Auge kann die Diffe-renzen zwischen revolutionärer Lebens- und reaktionärer To-des-Kunst sehen. TOS stinkt & die Chaoten-Nase riecht es –wie sie auch den Geruch spiritueller/sexueller Freuden kennt,wie überlagert oder verdeckt er auch von anderen schwererenDüften sein mag. Selbst die Radikale Rechte ist trotz des ihr ei-genen Horrors manchmal zur Wahrnehmung & Bewußtsein-serweiterung in der Lage – aber die Todesschwadrone liefernuns bei all ihrem Lippendienst an modische revolutionäre Ab-straktionen ungefähr soviel wahre libertäre Energie wie dasFBI, die Food and Drug Administration oder die Double-Dip-Baptisten.¶

46

Eines Tages kam ein früherer Offizierskollege ihn besuchen &beschuldigte ihn des Verrats, der Feigheit etc. Der Einsiedlersagte nichts, sondern blieb einfach sitzen – & der Offizier ge-riet in Rage, zog sein Schwert & schlug zu. Spontan entwaffne-te der unbewaffnete Meister den Offizier & gab ihm seinSchwert zurück. Wieder & wieder versuchte der Offizier zu tö-ten, setzte jedes zu seinem Repertoire gehörende kunstvollekata ein – aber dank seines klaren Kopfes entwickelte der Ere-mit jedes Mal eine neue Art, ihn zu entwaffnen.¶Der Offizier wurde natürlich sein erster Schüler. Später lern-ten sie, wie man Kugeln ausweicht.¶Wir könnten uns einer Art Metadrama widmen, das etwas vomGehalt dieser Performance bewahrt, die einer gänzlich neuenKunst den Weg bereitete, einer gänzlich gewaltfreienKampfart – Krieg ohne Mord, »das Schwert des Lebens« stattdes Todes.¶Eine Konspiration von Künstlern, anonym wie andere verrück-te Bombenwerfer, aber auf einen Akt der Generosität statt aufGewalt aus, auf das Millennium statt auf die Apokalypse – odervielmehr auf einen Moment der Präsenz eines ästhetischenSchocks im Dienste der Erkenntnisstiftung & Befreiung.¶Kunst erzählt großartige Lügen, die wahr werden.¶Ist es möglich, ein GEHEIMES THEATER zu schaffen, ausdem sowohl Künstler wie Publikum restlos verschwunden sind– nur um auf einer anderen Ebene wieder aufzutauchen, aufder Leben & Kunst ein und dasselbe, ein ausschließlichesÜberreichen von Geschenken geworden sind?¶

(Anmerkung: Die »Salon Apocalypse« wurde im Juli 1986 von Sha-ron Gannon organisiert.)¶

II.Mord-Krieg-Hunger-Gier

D ie Manichäer & Katharer glaubten, der Körper könnespiritualisiert werden – oder vielmehr, daß der Körper

lediglich den reinen Geist kontaminiert & völlig abgelehntwerden muß. Die gnostischen perfecti (radikale Dualisten) hun-

49

Kommuniqué #6I.Salon-Apokalypse: »Geheimes Theater«

S olange uns kein Stalin im Genick sitzt, warum nicht einwenig Kunst im Dienste ... einer Insurrektion machen?¶

Schert euch nicht drum, wenn dies »unmöglich« ist. Was kön-nen wir schon zu erreichen hoffen, wenn nicht das »Unmögli-che«? Sollen wir auf jemand anderen warten, uns unsere wirkli-chen Begierden zu enthüllen?¶Wenn Kunst gestorben oder das Publikum dahingewelkt ist,dann sind wir von zwei toten Lasten befreit. Potentiell ist nunjeder eine Art Künstler – & potentiell hat jedes Publikum seineUnschuld wiedererlangt, die Fähigkeit, die Kunst zu werden,die sie erlebt.¶Vorausgesetzt, wir können den Museen entkommen, die wir inuns mit uns herumschleppen, vorausgesetzt, wir können auf-hören, uns Eintrittskarten für die Galerien in unseren eigenenSchädeln zu verkaufen, wir können anfangen, eine Kunst zubetrachten, die das Ziel des Zauberers rekreiert: die Strukturder Realität durch die Bearbeitung lebendiger Symbole zu än-dern (in diesem Falle die Bilder, die uns von den Organisato-ren dieses Salons »gegeben« wurden – Mord, Krieg, Hunger& Gier).¶Wir könnten uns dann ästhetischen Aktionen hingeben, denenetwas von der Wirkung des Terrorismus (oder der »Grausam-keit« – wie Artaud sich ausdrückte) eigen ist und die auf dieZerstörung von Abstraktionen statt Personen, auf Befreiungstatt Macht, Freude statt Profit, Spaß statt Angst abzielen.»Poetischer Terrorismus.«¶Die Bilder, auf die unsere Wahl fiel, sind potentiell dunkel –aber alle Bilder sind Masken & hinter diesen Masken verber-gen sich Energien, die wir in Licht & Freude verwandeln kön-nen.¶So war beispielsweise der Mann, der Aikido erfunden hat, einSamurai, der zum Pazifisten wurde & sich weigerte, für den ja-panischen Imperialismus zu kämpfen. Er wurde zum Eremiten,lebte auf einem Berg und saß unter einem Baum.¶

48

bezwingbares Begehren, verrückte Liebe. Und dann sprichstatt Hunger, was eine Art Verstümmelung ist, von Ganzheit,Fülle, Überfluß, Großzügigkeit des Selbst, das sich spiralför-mig hinaus zum Anderen bewegt.¶Ohne diesen Tanz der Masken wird nichts geschaffen werden.In der ältesten Mythologie ist Eros der Erstgeborene des Cha-os. Eros, der Wilde, der bezähmt, ist die Tür, durch die derKünstler zum Chaos, dem Einen, zurückkehrt und wiederkehrtund eines der Zeichen der Schönheit trägt. Der Künstler, derJäger, der Krieger: einer, der gleichermaßen leidenschaftlichund ausgeglichen, gierig & altruistisch ist bis zum alleräußer-sten Extrem. Wir müssen von allen Erlösungen erlöst werden,die uns von uns selbst erlösen, von unserem Animalischen, dassowohl unsere Anima ist, unsere eigentliche Lebenskraft, wieauch unser Animus, unsere animierende Selbstermächtigung,die sich gar als Zorn & Gier manifestieren kann. BABYLONhat uns gelehrt, daß unser Fleisch Schmutz ist – mit diesemVermächtnis & dem Versprechen der Erlösung hat es uns ver-sklavt. Aber – wenn das Fleisch bereits »erlöst«, Licht ist –wenn gar das Bewußtsein selbst eine Art von Fleisch ist, einfühlbarer & simultan lebender Äther – dann brauchen wir kei-ne sich für uns verwendende Macht. Die Wildnis – wie Omarsagt – ist Paradies genug.¶Das Imperium verfügt über das wirkliche Eigentum am Mord,denn nur Freiheit bedeutet vollständiges Leben. Krieg ist eben-falls babylonisch – kein freier Mensch wird für eines anderenMachterweiterung sterben. Hunger existiert nur dank der Zivi-lisation der Erlöser, der Priester-Könige – war es nicht Joseph,der den Pharao lehrte, mit Getreide zu spekulieren? Gier –nach Land, nach symbolischem Reichtum, nach Macht zur De-formierung der Seelen & Körper anderer zwecks eigener Erlö-sung – Gier entsteht ebenfalls nicht aus der sich »natürlich ge-bärdenden Natur«, sondern aus der Eindämmung & Kanalisie-rung aller Energien zum Ruhme des Imperiums.¶Gegen all das verfügt der Künstler über den Tanz der Masken,die totale Radikalisierung der Sprache, die Schaffung eines»Poetischen Terrorismus«, der keine Lebewesen attackiert,sondern schädliche Ideen, Todeslasten auf den Sargdeckeln un-serer Begierden. Die Gebäude der Erdrosselung und Lähmung

51

gerten sich zu Tode, um dem Körper zu entfliehen & in denHimmel reinen Lichts zurückzukehren.¶Also: Um den Übeln des Fleisches – Mord, Krieg, Hunger,Gier – zu entgehen, bleibt paradoxerweise nur ein Weg: Morddes eigenen Körpers, Krieg dem Fleisch, Hunger bis zumTode, Gier bis zur Erlösung.¶Die radikalen Monisten jedoch (Ismailis, Ranters, Antinomi-sten) glauben, daß Körper & Geist eins sind, daß derselbeGeist, der einen schwarzen Stein durchdringt, auch das Fleischmit seinem Licht durchtränkt, daß alles lebt & alles Leben ist.»Dinge sind, was sie sind, spontan ... alles ist natürlich ... allesin Bewegung, als gäbe es einen Wahren Herrn, der dies be-wirkt – suchen wir aber nach einem Beweis für diesen Herrn,so finden wir keinen.« (Kuo Hsiang)¶Paradoxerweise kann der monistische Pfad nicht begangenwerden ohne »Mord, Krieg, Hunger, Gier«: die Transformati-on von Tod in Leben (Nahrung, Negentropie) – Krieg gegendas Reich der Lügen – »Fasten der Seele« oder Renunziationder Lüge von allem, das nicht Leben ist – & Gier nach demLeben selber, die absolute Macht des Begehrens.¶Mehr noch: ohne Wissen um die Finsternis (»carnal know-ledge«) kann kein Wissen vom Licht existieren (»Gnosis«).Die beiden Wissen sind nicht bloß komplementär, sonderneher identisch, wie die gleiche Note, die in verschiedenen Okta-ven gespielt wird.¶Heraklit behauptet, daß Realität in einem Zustand des »Krie-ges« fortdauert. Nur kollidierende Töne können Harmoniehervorbringen. (»Chaos ist die Summe aller Ordnungen.«)¶Gib jedem dieser vier Termini eine andere Sprachmaske (dieFurien »Die Freundlichen« zu nennen, ist kein bloßer Euphe-mismus, sondern ein Weg, noch mehr Bedeutung freizulegen).Maskiert, ritualisiert, als Kunst aufgefaßt, nehmen diese Ter-mini ihre dunkle Schönheit an, ihr »Schwarzes Licht.«¶Statt Mord sage die Jagd, die paläolithische Existenzweise allerarchaischen und nicht-autoritären Stammesgesellschaften –»venery«, das Töten & Essen von Fleisch & das Venushafte,das Begehren. Statt Krieg sage Insurrektion, nicht die Revoluti-on von Klassen & Mächten, sondern des ewigen Rebellen, desdunklen, der Licht hervorbringt. Statt Gier sage Verlangen, un-

50

paradigmas – dies konstituiert die ideale Vision der Zukunftgemäß der Chaos-Theorie wie auch der »Futurologie« (imSinne von Robert Anton Wilson/T. Leary).¶Was die Gegenwart betrifft: Wir verweigern jegliche Kollabo-ration mit der Zivilisation der Anorexie & Bulimie, mit Leu-ten, die sich so sehr schämen, nie zu leiden, daß sie häreneHemden für sich & andere erfinden – oder mit denen, die sichohne Erbarmen vollfressen & dann ihre Kotze unterdrückterSchuld in großen masochistischen Runden des Joggings & Fa-stens ausspeien. All unser Genuß & all unsere Selbstdisziplingehören uns durch die Natur – wir verleugnen uns nie, wir ge-ben niemals etwas auf; aber einige Dinge haben uns aufgege-ben & uns verlassen, weil wir zu groß für sie sind. Ich bin so-wohl Höhlenbewohner & sternreisender Mutant als auchSchwindler & freier Prinz. Einst wurde ein Indianerhäuptlingins Weiße Haus zum Bankett eingeladen. Während die Speisengereicht wurden, häufte der Häuptling seinen Teller randvollund das nicht nur ein Mal, sondern drei Mal. Schließlich sagtedas Bleichgesicht, das neben ihm saß: »Häuptling, he, he, glau-ben Sie nicht, daß das ein bißchen viel ist?« »Ugh,« antworteteder Häuptling, »ein bißchen zuviel ist gerade richtig für einenHäuptling!«¶Dennoch bleiben gewisse Doktrinen der »Futurologie« pro-blematisch. Selbst wenn wir – zum Beispiel – das befreiendePotential von neuen Technologien wie TV, Computern, Ro-botern, Weltraumforschung etc. anerkennen, ist uns allerdingsdie Differenz zwischen Potential & Realität bewußt. Die Bana-lisierung des TV, die Yuppisierung von Computern & die Mi-litarisierung des Alls verweisen darauf, daß diese Technologienals solche keine »unbedingte« Garantie für ihre befreiende An-wendung bieten.¶Wenn wir auch gegen den Nuklearen Holocaust sind, der einspektakuläres Ablenkungsmanöver ist, damit wir unsere Auf-merksamkeit nicht auf reale Probleme richten, so müssen wirdoch zugeben, daß »Mutual Assured Destruction« & »Saube-rer Krieg« unseren Enthusiasmus für bestimmte Aspekte desHigh-Tech-Abenteuers dämpfen.¶Dem Ludismus als Taktik gilt immer noch die Zuneigung derOntologischen Anarchie: wenn eine gegebene Technologie –

53

werden nur durch die totale Zelebrierung von allem – selbstder Dunkelheit – gesprengt.¶

Sommersonnenwende, 1986

èKommuniqué #7Psychischer Paläolithismus & High Technology:Ein Positionspapier

G laubt nicht, wir beabsichtigten, uns selbst in die Steinzeitzurückzubomben, nur weil die A.O.A ständig von

»Paläolithismus« redet.¶Wir haben kein Interesse, »zurück auf’s Land« zu gehen, wenndas bedeutet, das langweilige Leben eines sich plagenden Bau-ern zu führen – wir wollen auch keinen »Tribalismus«, wennder mit Tabus, Fetischen & Unterernährung verbunden ist.Wir hadern nicht mit dem Konzept von Kultur – inklusiveTechnologie; für uns beginnt das Problem mit Zivilisation.¶Was wir am paläolithischen Leben mögen, wurde von der›Peoples-Without-Authority School of Anthropology‹ zusam-mengefaßt: die elegante Faulheit der Jäger/Sammler-Gesell-schaft, der 2-Stunden-Arbeitstag, das Besessensein von Kunst,Tanz, Poesie & Liebe, die »Demokratisierung des Schamanis-mus«, die Kultivierung der Wahrnehmung – kurz, Kultur.¶Was wir an Zivilisation nicht ausstehen können, läßt sich ausder folgenden Aneinanderreihung ableiten: die »AgrarischeRevolution«; das Enstehen der Kaste; die Stadt & ihr Kult hie-ratischer Kontrolle (»Babylon«); Sklaverei; Dogma; Imperialis-mus (»Rom«). Die Unterdrückung von Sexualität in der »Ar-beit« unter der Ägide von »Autorität«. »Das Imperium hat nieaufgehört.«¶Ein psychischer Paläolithismus, basierend auf High Tech – post-agrarisch, post-industriell, »Zerowork«, nomadisch (oder»wurzellos kosmopolitisch«) – eine Gesellschaft des Quanten-

52

lerischer Innovation & nicht-gewöhnlicher Sexualität statt inder Misere anderer. Die A.O.A. bewundert & ahmt ihre Faul-heit nach, ihre Abneigung gegenüber der Stupidität der Nor-malität, ihre Aneignung aristokratischer Empfindsamkeiten.Für uns harmonieren diese Qualitäten paradoxerweise mit je-nen der Steinzeit & ihrer überströmenden Gesundheit, Igno-ranz gegenüber Hierarchien, Kultivierung der virtù statt desGesetzes. Wir fordern Dekadenz ohne Krankheit & Gesundheitohne Langeweile!¶Daher unterstützt die A.O.A. bedingungslos alle indigenen undtribalen Völker in ihrem Kampf für vollständige Autonomie –& gleichzeitig die wildesten, abgedriftetsten Spekulationen &Forderungen der Futurologen. Der Paläolithismus der Zukunft(der für uns – als Mutanten – bereits existiert) wird auf breiterEbene nur durch eine massive Technologie der Imaginationund ein wissenschaftliches Paradigma erreicht werden, dasüber die Quantenmachanik hinausgeht und in die Gefilde derChaos-Theorie & die Halluzinationen spekulativer Fiktionvordringt.¶Als wurzellose Kosmopoliten erheben wir Anspruch auf alleSchönheiten der Vergangenheit, des Orients und tribaler Ge-sellschaften – all dies muß & kann unser sein. Selbst die Schät-ze des Imperiums können unser sein: unser, zur gerechten Auf-teilung unter uns. Und gleichzeitig fordern wir eine Technolo-gie, die Agrikultur, Industrie und selbst die Simultaneität derElektrizität transzendiert, eine Hardware, die sich mit derWetware des Bewußtseins kreuzt, die die Macht von Quarks,von Partikeln, die in der Zeit zurückreisen, von Quasaren &parallelen Universen umfaßt.¶Die zänkischen Ideologen des Anarchismus & Libertärianis-mus verweisen auf ein Utopia, das ihrer jeweiligen tunnel-visionentspricht, von der Landkommune bis zur L-5 Space City. Wirsagen, laßt tausend Blumen blühen – ohne einen Gärtner aller-dings, der das Unkraut jätet & gemäß irgendeines moralisie-renden oder eugenischen Hirngespinstes herumtändelt. Dereinzig wirkliche Konflikt ist der zwischen der Autorität des Ty-rannen & der Autorität des realisierten Selbst – alles andere istIllusion, psychologische Projektion, überflüssiger Wort-schwall.¶

55

wie bewunderswert sie in potentia (in Zukunft) auch sein mag –angewandt wird, mich hier & jetzt zu unterdrücken, dann mußich entweder die Waffe der Sabotage schmieden oder aber mirdie Produktionsmittel aneignen (oder – was vermutlich wichti-ger ist – die Mittel der Kommunikation). Es gibt keine Huma-nität ohne techne – aber es gibt keine techne, die mehr wert istals meine Humanität.¶Wir sind gegen einen reflexartigen Anti-Tech-Anarchismus –für uns zumindest (wie man so hört, gibt es ein paar Leute, de-nen die Landwirtschaft Spaß macht) –, und wir lehnen dasKonzept technologischer Fixierung ab. Für uns sind alle For-men des Determinismus gleich inhaltsleer – wir sind wederSklaven unserer Gene noch unserer Maschinen. »Natürlich«ist das, was wir imaginieren & kreieren. »Die Natur kennt keineGesetze – nur Gewohnheiten.«¶Das Leben gehört für uns weder der Vergangenheit – diesemLand berühmter Geister, die ihre verblichenen Grabbeigabenhüten – noch der Zukunft, deren mit Superhirnen ausgestatteteMutanten eifersüchtig über die Geheimnisse der Unsterblich-keit wachen, noch dem Flug, der schneller als das Licht ist,noch Designer-Genen & dem Verschwinden des Staates.¶Aut nunc aut nihil. Jeder Moment enthält eine Ewigkeit, die eszu durchdringen gilt – dennoch verlieren wir uns in Visionen,die wir mit Leichenaugen sehen, oder in der Nostalgie für un-geborene Perfektion.¶Die Errungenschaften meiner Vorfahren & Nachkommen sindmir nicht mehr als ein instruktives & unterhaltsames Ge-schichtchen – ich werde sie nie als höherstehend ansehen, auchnicht, um meine Winzigkeit zu entschudigen. Ich stelle mirselbst eine Lizenz aus, von ihnen zu stehlen, was immer ichbrauche – psychischen Paläolithismus oder High Tech – odergar den großartigen Detritus der Zivilisation selbst, Geheim-nisse der Weisen Meister, Freuden frivoler Erhabenheit & lavie bohème.¶La décadence spielt in der Ontologischen Anarchie eine so großeRolle wie Gesundheit – wir nehmen uns, was wir brauchen –von beiden. Dekadente Ästheten führen weder dumpf-blödeKriege, noch liefern sie ihr Bewußtsein engstirniger Habgier &elenden Ressentiments aus. Sie suchen ihr Abenteuer in künst-

54

entrückte Repräsentation: das Kind als Metapher für irgendet-was.¶Ich komme, während es dunkel wird, stoned von Pilzstaub,halb davon überzeugt, daß diese hundert Leuchtkäfer meinemeigenen Bewußtsein entspringen – wo waren sie all die Jahre?Warum plötzlich so viele? Ein jeder im Moment der Weißglutaufsteigend, schnelle Bögen zeichnend, die wie abstrakte Gra-phen der Energie im Sperma sind.¶»Familien! Habgierige der Liebe! Wie ich sie hasse!« Baseball-Bälle fliegen ziellos im Abendlicht, das Auffangen mißlingt,Stimmen mißmutiger Erschöpfung ertönen. Die Kinderspüren, daß sich der Sonnenuntergang über die letzten Stun-den des Almosens von Freiheit legt, aber die Väter bestehendarauf, das laue Postludium ihrer patriarchalen Hingabe biszum Abendessen auszudehnen, bis die Dunkelheit sich über dieWiese gelegt hat.¶Einer der Söhne dieser Gentry tauscht einen Moment langBlicke mit mir – telepathisch übermittle ich das Bild süßerFreiheit, den Duft von ZEIT, befreit von allen Zwängen derSchule, des Musikunterrichtes, der Zeltlager, der Familiena-bende vor der Glotze und der Sonntage im Park mit Papa –authentische Zeit, chaotische Zeit.¶Jetzt verläßt die Familie den Park, ein kleines Aufgebot derUnzufriedenheit. Aber dieser eine dreht sich um & lächelt michkomplizenhaft an – »Nachricht empfangen« – & tanzt hintereinem von meinem Begehren emporgetriebenen Leuchtkäferdavon. Der Vater bellt ein Mantra, das meine Macht verflüch-tigt.¶Der Moment vergeht. Der Junge wird vom Trott der Wocheaufgesogen – verschwindet wie ein barfüßiger Pirat oder India-ner, der von einem Missionar gefangen genommen wurde. DerPark weiß, wer ich bin, er regt sich unter mir wie ein riesigerJaguar, der im Begriff ist, sich nächtlicher Meditation hinzuge-ben. Noch hält ihn Traurigkeit zurück, aber im innersten We-sen bleibt er ungezähmt: ein exquisiter Störfaktor in derNacht, die über der Stadt liegt.¶

è57

In einem Sinne haben die Söhne & Töchter von Gaia dasPaläolithikum nie verlassen; in einem anderen Sinne sind alldie Perfektionen der Zukunft bereits unser. Nur Insurrektionwird dieses Paradox »lösen« – nur der Aufstand gegen falschesBewußtsein – bei uns & anderen – wird die Technologie derUnterdrückung & die Armseligkeit des Spektakels hinwegfe-gen. In dieser Schlacht kann sich eine bemalte Maske oderSchamanenrassel ebenso wirksam erweisen wie die Aneignungeines Kommunikationssatelliten oder das Eindringen in ein ge-heimes Computernetzwerk.¶Unser einziges Kriterium zur Beurteilung einer Waffe oder ei-nes Werkzeuges ist deren Schönheit. Die Mittel sind in gewis-ser Weise bereits der Endzweck; die Insurrektion ist bereitsunser Abenteuer; Werden IST Sein. Vergangenheit & Zukunftexistieren in uns & für uns, Alpha & Omega. Es gibt keine an-deren Götter vor oder nach uns. In der ZEIT sind wir frei –und wir werden auch im RAUM frei sein.¶

(Dank an Hagbard Celine the Sage of Howth & Environs)¶

èKommuniqué #8Chaos-Theorie & die Kernfamilie

S onntags im Riverside Park halten die Väter ihre Söhne inSchach, verfolgen ihre Schritte auf dem Rasen mit bösen

Blicken ängstlicher Fürsorge & zwingen sie, die Baseball-Bällestundenlang hin und her zu werfen. Die Knaben sehen beinaheaus wie kleine St. Sebastians, die von Pfeilen der Langeweiledurchbohrt sind.¶Die eingefahrenen Rituale des Familienspaßes verwandeln jedefeuchte Sommerwiese in einen Freizeitpark (Theme Park), jederSohn wird zu einer unfreiwilligen Personifikation des väterli-chen Wohlstandes, eine blasse, zwei- oder dreifach der Realität

56

Was nun die richtigen Xtianer, diese wiedergeborenen langwei-ligen, selbstlobotomisierten Frömmler, diese Mormonen-Ba-bykiller, diese Sternenkrieger der Sklavenmoral, televangeli-schen Braunhemden, Zombie-Truppen der Heiligen JungfrauMaria (die in einer rosa Wolke über der Bronx schwebt &Haß, Anathema, Rosen von Erbrochenem auf die Sexulität vonKindern, auf schwangere Teenager & Queers speit) ... ¶was die echten Anhänger von Todeskulten, rituellen Kanniba-len, Armageddon-Freaks – die Xtianische Rechte – betrifft, sokönnen wir nur beten, daß das ENTSETZEN SICH EREIG-NET & sie alle hinter den Lenkrädern ihrer Autos hervorge-rissen werden, aus ihren schalen TV-Spielshows & keuschenBetten. Ab in den Himmel mit ihnen & wir führen weiterhinein humanes Leben.¶

II. Abtreibungsbefürworter & -gegner

Hinterwäldler, die Abtreibungskliniken zerbomben, gehören indie gleiche groteske Kategorie dumpfer Stupidität wie Bischö-fe, die vom Frieden schwafeln & dennoch jegliche menschlicheSexualität verurteilen. Natur kennt keine Gesetze (»nur Ge-wohnheiten«), & jedes Gesetz ist unnatürlich. Alles gehört derSphäre persönlicher/imaginativer Moral an – selbst Mord.¶Der Chaos-Theorie gemäß folgt jedoch daraus nicht, daß wirverpflichtet sind, Mord – oder Abtreibung – zu mögen & zuzu-stimmen. Chaos würde es erfreuen, wenn jeder Bastard, jedesLiebes-Kind ausgetragen würde & zur Welt käme; Sperma &Ei allein sind bloß wunderschöne Sekrete, aber kombiniert alsDNS werden sie zu potentiellem Bewußtsein, Negentropie,Freude.¶Wenn »Fleisch Mord ist«, wie die Veganer gerne behaupten,was bitte ist dann Abtreibung? Jene Totemisten, die die Tiere,die sie jagten, umtanzten, die meditierten, um eins zu werdenmit ihrer lebenden Nahrung & ihr Schicksal zu teilen, zeigtenweit mehr humane Werte als die durchschnittliche Claque vonfeminoiden »pro-Choice«-Liberalen.¶Bei jeder einzelnen »Streitfrage«, die nach dem Musterbuchdes Spektakels für die »Debatte« aufbereitet wird, sind beideSeiten gleichermaßen voller Scheiße.¶Die »Abtreibungsfrage« ist keine Ausnahme.¶

59

Kommuniqué #9Double-Dip-Denunziationen

I.Xtianität

W ieder & wieder hoffen wir, daß dieser sich in Positurwerfende Korpus endlich seinen letzten bitteren Seufzer

von sich gegeben hat & in die finale Einfältigkeit entschwebtist. Wieder & wieder geben wir uns der Vorstellung vom Ver-schwinden dieses obszönen, geschundenen, todesbereiten, andie Wände all unserer Wartezimmer genagelten Gespensteshin, damit das Geheule ob unserer Sünden ein für allemal einEnde hat ... ¶aber wieder & wieder ersteht es auf & kommt zurückgekro-chen, um uns wie ein Bösewicht eines ganz billigen Snuff-Por-no-Splatter-Filmes heimzusuchen – das tausendste Remakevon Nacht der lebenden Toten – mit dem schleimigen Gejamme-re von Demütigung ... gerade wenn man denkt, es sei im Un-bewußten sicher ... JAULEN für JESUS. Aufgepaßt! HardcoreKettensägen-Täufer!¶und die Linken, nostalgisch bis zum Omega ihres dialektischenParadieses, begrüßen jede Wiederauferstehung des verwesen-den Glaubens mit einem Girren der Freude: Laßt uns mit allden marxistischen Bischöfen aus Lateinamerika Tango tanzen– eine Schmachtballade für die frommen polnischen Werftar-beiter anstimmen – Spirituals für die jüngste afro-methodisti-sche, Bibelhoffnungen verbreitende Präsidentenansprachesummen ... ¶

Die A.O.A. denunziert die Theologie der Befreiung als eineVerschwörung stalinistischer Nonnen – der Deal der Hure vonBabylons geheimem Purpur mit rotem Faschismus in den Tro-pen. Solidarnosc? Des Papstes eigene Arbeitergewerkschaft –unterstützt vom AFL/CIO, der Vatikan Bank, der Freimaurer-loge Propaganda Due und der Mafia. Und sollten wir jemalswählen, so verschwendeten wir diese leere Geste niemals für ir-gendeinen Xtianischen Hund, welcher Zucht oder Farbe erauch immer sein mag.¶

58

arg mangelt: (1) Ein Sinn für das Meta-Rationale (»Meta-noia«), Wege, lineares zugunsten eines sanften (oder nomadi-schen oder »chaotischen«) Denkens & Wahrnehmens zu über-winden; (2) eine zeitgemäße Definition eines selbstbestimmtenoder befreiten Bewußtseins, eine positive Beschreibung seinerStruktur & Methoden, über seine Schwelle zu treten; (3) einekohärente archetypische Auffassung von Epistemologie – dasheißt, ein Wissen (über Geschichte beispielsweise), das sichhermeneutischer Phänomenologie bedient, um Bedeutungsebe-nen freizulegen (so etwas wie die »Paranoia-Kritik« der Sur-realisten); (4) sexuelle Unterrichtung (nach »tantrischen«Aspekten verschiedener Pfade), die den Freuden statt derSelbstverleugnung Wert beimißt, nicht zum bloßen Selbst-zweck, sondern als Vehikel erweiterten Bewußtseins oder der»Befreiung«; (5) eine Einstellung zum Feiern, etwas, was manein Konzept eines »Freudenfestes« nennen könnte, die Aufhe-bung psychischer Schuld durch eine inhärente Generosität inder Realität selbst; (6) eine Sprache (einschließlich Gestus, Ritu-al, Intentionalität), mit der diese fünf Ebenen der Erkenntnisbelebt & kommuniziert werden können; und (7) ein Schwei-gen. ///// Es überrascht nicht, wenn man sieht, wie viele Anar-chisten Ex-Katholiken sind, Priester oder Nonnen, die ihr Ge-wand abgelegt haben, frühere Meßdiener, abtrünnige wieder-geborene Baptisten oder gar ex-schiitische Fanatiker. Anarchis-mus bietet eine schwarze (& rote) Messe, um alle von Gespen-stern besessenen Hirne zu deritualisieren – einen Säkularexor-zismus –, verrät sich dann aber selbst, indem er sich eineHochkirche zusammenschustert, durchzogen mit Spinnwebeneines ethischen Humanismus, Freien Denkens, vehementenAtheismus & einer kruden fundamentalistisch-kartesianischenLogik. ///// Vor zwei Jahrzehnten begannen wir mit dem Pro-jekt, entwurzelte Kosmopoliten zu werden, entschlossen, denSchutt aller Stämme, Kulturen und Zivilisationen nach lebens-fähigen Fragmenten zu sieben – & aus diesem Durcheinandervon Scherben ein eigenes Lebenssystem zu entwickeln – damitwir nicht (wie Blake warnte) irgendjemandes Sklaven werden.///// Wenn ein Magier auf Java oder ein Schamane der NativeAmericans über eines dieser kostbaren Fragmente verfügt, dasich für meinen eigenen »Zauberbeutel« benötige, soll ich die

61

Kommuniqué #10Plenum veröffentlicht neue Denunziationen –Säuberungen erwartet

U m ein schlechtes Karma aufzuwiegen, das durch unsereemphatisch vorgetragene kleine Predigt gegen Xtianer &

andere Ende-der-Welt-Kriecher (siehe letztes Kommuniqué)bedingt sein könnte & nur um die Dinge richtig zu stellen: dieA.O.A. denunziert auch alle wiedergeborenen, sich wie paw-lowsche Hunde gebärdenden Atheisten & ihr muffiges spätvik-torianisches Gepäck an wissenschaftlichem Vulgärmaterialis-mus. ///// Wir applaudieren natürlich jeglicher anti-Xtiani-schen Regung & allen Angriffen auf alle organisierten Religio-nen. Aber ... hört man einige Anarchisten reden, glaubt man,die Sixties hätte es nie gegeben und niemand habe jemals LSDeingeworfen. ///// Was die Wissenschaftler selbst betrifft, sohaben die alice-artigen Verrücktheiten der Quanten- & Chaos-Theorie die besten von ihnen zu Taoismus & Vedanta (Dadasoll unerwähnt bleiben) getrieben –, & wenn man The Matchoder Freedom liest, könnte man denken, die Wissenschaft seimit Prinz Kropotkin gesalbt – & »Religion« mit Bischof Us-sher. ///// Natürlich verachtet man die ›Aquarian Brownshirts‹,jene Gurus, die kürzlich in der New York Times wegen ihresBeitrags zum Big Business gepriesen wurden, die Privilegiengewährenden, Franchising praktizierenden Yuppie-Zombie-Kulte, die magere Metaphysik der New-Age-Banalität ... aberUNSERE Esoterik bleibt unbefleckt von diesen mittelmäßigenGeldwechslern & ihren gehirntoten Günstlingen. ///// DieHäretiker & die antinomistischen Mystiker des Orients & Ok-zidents haben auf innerer Befreiung basierende Systeme ent-wickelt. Einige dieser Systeme sind von religiösem Mystizis-mus geprägt & nachgerade gesellschaftlich reaktionär – anderescheinen eher radikal oder »psychologisch« zu sein, & anderemünden gar in revolutionäre Bewegungen (millenarische Le-veller, Assassinen, Yellow Turban Taoists etc.). WelcheSchwachpunkte sie auch immer kennzeichnen, sie verfügenüber gewisse magische Waffen, an denen es dem Anarchismus

60

Konsumenten bestimmt, die unter einem gelinden Zukunfts-schock & einem zarten Verlangen nach lauer Authentizität lei-den. Eine Nische wurde dir geschaffen, sanft erleuchtet durchdie Illusion von Einfachheit, Sauberkeit, Schlankheit, und ei-nen Schuß Askese & Selbstverleugnung. Natürlich kostet diesein bißchen mehr ... aber ›LITEness‹ wurde nicht für armehungrige Primitivos erfunden, die immmer noch der Ansichtsind, Speise diene der Ernährung statt des Dekors. Sie mußmehr kosten – sonst würdest du sie nicht kaufen.¶Die amerikanische Mittelklasse (keine Ausflüchte, du weißt,was ich meine) gliedert sich natürlicherweise in verschiedeneaber komplementäre Fraktionen: Die Armeen der Anorexie &Bulimie. Die klinischen Fälle dieser Erkrankungen sind ledig-lich die psychosomatische Spitze des Eisberges kulturellerKrankheit, schwer, weitverbreitet & weitgehend unbewußt.Die Freßsüchtigen gehören zu jener Yuppie-Sippschaft, diesich mit Margaritas & VCRs vollstopft, dann auf LITE-Food,Jogging oder (an)aerobisches Gehüpfe schwört. Die Anorexi-ker sind die »Lifestyle«-Rebellen, Ultra-Food-Liebhaber, Al-genesser, traurig, mutlos & blaß – aber blasiert in ihrem puri-tanischen Eifer & in ihren härenen Designer-Hemden. BilligesJunk-Food ist lediglich die Kehrseite des greulichen »HealthFood«: nichts schmeckt nach irgend etwas, bloß nach Holzspä-ne oder Zusatzstoffen – es ist entweder langweilig oderkrebserregend – oder beides, – & es ist alles unglaublichdumm.¶Nahrung, gekocht oder roh, kann dem Symbolismus nicht ent-kommen. Sie ist & repräsentiert zugleich das, was sie ist. Jegli-che Nahrung ist Soul Food, ein anderer Umgang damit führtzu chronischer & metaphysischer Verstopfung.¶Aber in der luftlosen Gruft unserer Zivilisation, wo nahezujede Erfahrung vermittelt ist, Realität durch das tödliche Netzder Konsensfindung gezwängt wird, verlieren wir das Gefühlfür Nahrung als Nahrungsmittel; wir fangen an, uns aufgrunddessen, was wir konsumieren, Persönlichkeiten zu konstru-ieren, Produkte werden zu Projektionen unseres Wunschesnach dem Authentischen.¶Die A.O.A. malt sich manchmal CHAOS als ein Füllhorn kon-tinuierlicher Schöpfung aus, als eine Art von Geysir kosmi-

63

Nase rümpfen & Bakunins Satz vom Aufknüpfen der Priestermit den Gedärmen von Bankiers zitieren? Oder soll ich michdaran erinnern, daß Anarchie kein Dogma kennt, daß Chaosnicht kartographiert werden kann & mir aneignen, was nichtniet- und nagelfest ist? ///// Die ältesten Definitionen von An-archie finden sich bei Tschuang-Tse & in anderen taoistischenTexten; »mystischer Anarchismus« weist einen älteren Stamm-baum auf als die graeko-rationalistische Version. Als Nietzschevon »Hyperboreern« sprach, wies er uns, die wir über den Todvon Gott – & die Wiedergeburt der Göttin hinausgegangensind, in ein Reich, in dem Geist & Materie eins sind. Jede Ma-nifestation dieser Hierogamie, jedes materielle Ding & jedesLeben, wird nicht nur in sich selbst »heilig«, sondern zumSymbol des eigenen »göttlichen Seins«. ///// Atheismus istnichts als Opium für die Massen (oder besser ihrer selbster-nannten Vorhut) – & keine sehr bunte oder sexy Droge. Wennwir Baudelaires Rat befolgen sollen, »immer berauscht zusein«, ist uns an etwas mehr gelegen als nur an Pilzen – Danke.Chaos ist die älteste der Gottheiten – & Chaos ist nie gestor-ben.¶

èKommuniqué #11Ferienzeit-Extra-Essens-Schwulst: Schluß mit Lite!

D ie Association for Ontological Anarchy ruft zum Boykottaller Produkte auf, die unter dem Schibboleth von LITE

vermarktet werden – Bier, Fleisch, Süßigkeiten, Kosmetika,Musik, abgepackte »Lifestyles«, was auch immer.¶Das Konzept von LITE (im Jargon der Situationisten) verweistauf eine Symbolik, mit der das Spektakel hofft, der Abscheugegen die Warenförmigkeit, die es der Begierde aufzwingt, be-gegnen zu können. »Natürliche«, »organische«, »gesunde«Produkte sind für einen Marktsektor von leicht unzufriedenen

62

nen Butterkuchen & erlangte Erleuchtung. Der Einfaltspinselsieht in feinem Champagner keinen eros; der Magier kann sichan einem Glas Wasser berauschen.¶Unsere Kultur, auf ihren eigenen Verschmutzern kauend, ruftwie Goethe nach »More LITE!« – als könnten diese vielfachungesättigten Ausflüsse unsere Misere irgendwie lindern, alskönnte ihre milde, gewichtslose, geschmacklose Charakterlo-sigkeit uns vor der hereinbrechenden Dunkelheit schützen.¶Nein! Diese letzte Illusion ist uns denn doch zu grausam. Wirsehen uns gezwungen, uns – entgegen unserer eigenen Nei-gung zur Trägheit – zu erheben & zu protestieren. Boykott!Boykott! SCHLUSS MIT LITE!¶

Anhang: Speisekarte für ein anarchistisches schwarzes Bankett(vegatarisch & nicht-vegetarisch)

Kaviar & Blinis; hundert Jahre alte Eier; in Tinte gekochterTintenfisch & Reis; in ihrer Schale und mit schwarz eingeleg-tem Knoblauch gekochte Auberginen; Wildreis mit schwarzenWalnüssen & schwarzen Pilzen; Trüffel in schwarzer Butter;Wild, mariniert in Portwein, auf Holzkohle gegrillt und ser-viert auf Pumpernickelscheiben & garniert mit gerösteten Ka-stanien. Black Russians; Guinness-&-Champagner, chinesi-scher schwarzer Tee; dunkle Mousse au Chocolat, türkischerKaffee, schwarze Trauben, Pflaumen, Kirschen etc.¶

èHalloween-Sonder-KommuniquéSchwarze Magie als Revolutionäre Aktion

S telle eine Tinte aus purem & echtem Safran, gemixt mitRosenwasser her, und gib, wenn möglich, etwas Blut von

einem schwarzen Hahn hinzu. Statte in einem ruhigen Raumeinen Altar mit einer Schüssel dieser Tinte, einem Federhalter

65

scher Generosität; deshalb enthalten wir uns jeglicher Verfech-tung irgendeiner spezifischen Ernährungsweise, um nicht dieHeilige Vielfältigkeit & Göttliche Subjektivität zu verletzen.Es ist uns nicht daran gelegen, dir ein weiteres New Age-Re-zept für die vollkommene Gesundheit anzudrehen (nur die To-ten sind absolut gesund), wir interessieren uns für das Leben,nicht für »Lifestyles«.¶Wirkliche Leichtigkeit bewundern wir & reiche Schwere er-freut uns zur rechten Zeit. Der Exzess ist uns hochgradig ange-nehm, Mäßigung gefällt uns, & wir haben gelernt, daß Hungerdas beste aller Gewürze sein kann. Alles ist leicht, & die üppig-sten Blumen wachsen rund um den Abtritt. Wir träumen vonPhalanstère-Tischen & Bolo’Bolo-Cafés, wo jedes fröhlicheKollektiv von Speisenden am individuellen Genius eines Bril-lat-Savarin (diesem Heiligen des Geschmacks) teilhaben wird.¶Scheich Abu Sa’id hat nie Geld gespart oder gar über Nachtbehalten – daher zelebrierten die Derwische stets ein Fein-schmeckerfest, wenn ein Gönner seiner Herberge eine großeGeldspende zukommen ließ, & an anderen Tagen litten alleHunger. Es ging darum, beide Zustände zu genießen, voll &leer ... ¶LITE parodiert spirituelle Leere & Erleuchtung, wie auch Mc-Donald’s die Vorstellung von Sattheit & Feier verzerrt. Dermenschliche Geist (ganz zu schweigen vom Hunger) kann alldiese Fetischismen überwinden & transzendieren – Freudekann auch bei Burger King ausbrechen, & selbst in LITE-Bierkann eine Dosis Dionysos verborgen sein. Aber warum solltenwir gegen diese Müllwelle von billigem Schnickschnack an-kämpfen, wenn wir den Wein des Paradieses hier und jetzt un-ter unserem eigenen Weinstock & Feigenbaum trinken kön-nen?¶Nahrung ist Teil des Alltags, der primären Arena für jeglicheaufständische Selbstermächtigung, jegliche spirituelle Selbster-höhung, jegliche Rückeroberung des Spaßes, jegliche Revoltegegen die universelle Arbeitsmaschinerie & ihre künstlichenBegierden. Das Dogmatisieren sei uns fern; der indianische Jä-ger kann sein Glück mit einem gegrillten Eichhörnchen stei-gern, der Anarcho-Taoist mit einer Handvoll Aprikosen. Mila-repa, der Tibetaner, aß nach zehn Jahren Brennesselsuppe ei-

64

Bismillah ar-Rahman ar-RahimO Erd-Dschinn, DreckgeistO Schwarzer Dschinn, der im Untergrund lebtHöre, Vampir des BodensIch trage Dir aufDen Körper & die Seele von …Zu markieren & zerstörenDenn kraft des SpruchesBin ich der wahre & einzige ZaubererLa illaha ill’allahMohammed ar-Rasul Allah

Wenn jedoch der Fluch einer Institution oder einem Unter-nehmen gilt, brauchst du folgendes: ein hartgekochtes Ei, ei-nen Eisennagel & drei Eisennadeln (Nagel & Nadeln in das Eistecken!); einen getrockneten Skorpion, eine getrocknete Ei-dechse &/oder Käfer; einen kleinen Lederbeutel, der Fried-hofsdreck, magnetisierte Eisenspäne, Asa foetida & Schwefelenthält & und mit einem roten Band zugeschnürt ist. Näheden Zauberspruch in gelbe Seide & versiegle ihn mit rotemWachs. All diese Dinge dann in eine Flasche mit breitem Halsstecken, verkorken & mit Wachs versiegeln.¶Die Flasche kann nun sorgfältig verpackt & an die Ziel-Institu-tion verschickt werden – zum Beispiel an eine Xtianische Tele-vangelisten-Show, an die New York Post, die MUZAK Com-pany, an eine Schule oder an ein College. Eine Kopie der fol-genden Erklärung wird beigepackt (weitere Kopien können an

67

mit eiserner Schreibfeder, sieben schwarzen Kerzen, einemRäuchergefäß & etwas Benzoeharz aus. Der Zauberspruchkann auf unbeschriebenes Papier oder Pergament geschriebenwerden. Zeichne das Diagramm an einem Mittwoch um 16Uhr, das Gesicht gen Norden gerichtet. Kopiere das sieben-köpfige Diagramm (siehe Illustration), ohne die Feder vom Pa-pier zu nehmen, in einem einzigen sanften Zug, halte die Luftan und presse deine Zunge an den Gaumen. Das ist das BarisanLaksamana oder der König des Dschinn. Zeichne dann das Sa-lomonssiegel (einen Stern, der einen fünfköpfigen Dschinnsymbolisiert) & die anderen Teile des Diagramms. Über dasSalomonssiegel schreibe den Name des Individuums oder derInstitution, das oder die verflucht werden soll. Halte dann dasPapier über den Benzoeharzrauch & beschwöre den weißen &schwarzen Dschinn in dir selbst:¶

Bismillah ar-Rahman ar-Rahimas-salaam alikum

Oh Weißer Dschinn, Glanz von MohammedKönig aller Geister in mirOh Schwarzer Dschinn, Schatten meiner selbstFORT, zerstöre meinen FeindUnd wenn Du es nicht tustSollst Du kraft dieses ZauberspuchsAls Verräter Allahs geltenLa illaha ill’AllahMohammed ar-Rasul Allah

Soll der Fluch einem einzelnen Unterdrücker gelten, kann eineWachspuppe hergestellt & der Zauberspruch hineingestecktwerden.¶Sieben Nadeln werden dann von oben nach unten ins Schädel-dach, in die linke & rechte Armbeuge, links & rechts in dieHüften, durch die Lippen oder Nasenflügel geführt. Wickeledie Puppe in ein weißes Grabtuch & begrabe sie an einer Stellein der Erde, von der du weißt, daß der Feind darüberlaufenwird, und wirb um die Hilfe der örtlichen Erdgeister:¶

66

d.h. schiitische Häretiker & Fanatiker, die ihre spirituelle Linieauf Hassan-i Sabbah durch Aladin Mohammed III, den »Ver-rückten«, siebter & letzter Pir von Alamut (& nicht die Linieder Aga Khans) zurückführen. Wir vertreten einen radikalenMonismus & reinen Antinomismus & sind – im Namen vonChaos – gegen alle Formen von Gesetz & Autorität.¶Gegenwärtig befürworten wir aus taktischen Gründen keineGewalt oder Zauberei gegen Individuen. Wir rufen zu Aktio-nen gegen Institutionen & Ideen auf – Kunst-Sabotage & klan-destine Propaganda (einschließlich zeremonieller Magie &»tantrischer Pornographie«) – und besonders gegen die schäd-lichen Medien des Imperiums der Lügen. Der Fluch desSchwarzen Dschinn ist nur ein erster Schritt in der Kampagnedes Poetischen Terrorismus, der – davon sind wir überzeugt –zu anderen weniger subtilen Formen der Insurrektion führenwird.¶

èSonderkommuniquéA.O.A. gibt Säuberungen in der Chaos-Bewegung bekannt

D ie Chaos-Theorie muß natürlich unrein fließen. »FaulerBauer pflügt eine krumme Furche.« Jeder Versuch, sich

eines Ideologie-Kristalls zu bedienen, würde in Rigiditäten,Versteinerungen, Panzerungen & Langeweile enden, auf diewir ebenso verzichten möchten wie auf jegliche »Reinheit«. Ja,Chaos schwelgt in einer gewissen Wüstenei der Formlosigkeit,die dem erotischen Umherschweifen derjenigen, die wir wegenihrer Zerstörung von Gewohnheiten & dem Aufzeigen vonVeränderungsmöglichkeiten lieben, nicht unähnlich ist. Dochbedeutet diese Lockerheit nicht, daß Chaos-Theorie jedenBlutegel akzpetieren muß, der versucht, sich an unseren heili-gen Membranen festzusaugen. Gewisse Definitionen oder De-

69

einzelne Angestellte verschickt werden &/oder heimlich anWände in der Umgebung des entsprechenden Gebäudes ge-klebt werden):¶

Malaiischer Fluch des Schwarzen Dschinn

Dieses Gebäude wurde per schwarzer Magie verflucht & der Fluchnach korrekten Ritualen aktiviert. Auf dieser Institution lastet einFluch, weil sie die Imagination unterdrückt & den Intellekt geschän-det hat, die Künste zur Abstumpfung, spirituellen Sklaverei und zurPropaganda für Staat & Kapital, puritanische Reaktion, ungerechteProfite, Lügen & ästhetischen Müll degradiert hat.¶Die Angestellten dieser Institution befinden sich nun in Gefahr. Eswurde kein Individuum verflucht, aber der Ort selbst ist von Pech &Unheil heimgesucht. Diejenigen, die nicht aufwachen & kündigenoder Sabotage am Arbeitsplatz betreiben, werden nach und nach die-sem Fluch unterliegen. Den Auslöser dieses Fluches beseitigen oderentfernen wird nichts helfen. Er ist an diesem Ort gesehen worden &der Ort ist verflucht. Beharrt auf eurer Humanität & revoltiert imNamen der Imagination – oder seid (im Spiegel dieses Zauberspru-ches) als Feind der Menschheit gebrandmarkt.¶

Wir schlagen vor, im Namen irgendeiner offensiven kulturel-len Institution wie etwa der American Poetry Society oder derWomen’s Anti-Porn Crusade (mit vollständiger Anschrift) »dieVerantwortung zu übernehmen«.¶Wir empfehlen außerdem, daß ihr eine magische Segnung an je-manden schickt, den ihr liebt &/oder bewundert, um die Anru-fung des persönlichen Schwarzen Dschinn aufzuwiegen. Tutdies anonym & überlegt euch ein wunderbares Geschenk. Esbedarf keines genauen Rituals, aber die Idee dafür sollte me-ditativ in intuitiver/spontaner Weise dem Bewußtsein entsprin-gen. Nehmt süßriechende Räucherstäbchen, harte Süßigkeiten,Wein, Blumen etc. Wenn möglich, sollten auch echtes Silber,Gold oder Juwelen Teil des Geschenkes sein.¶Dieses How-to-do-it-Manual über den Malaiischen Fluch desSchwarzen Dschinn ist nach authentischem & vollständigemRitual durch das Komitee für Kulturellen Terrorismus der In-neren Kammer der Eingeweihten des HMOCA (»Drittes Pa-radies«) erstellt worden. Wir sind Nizari-Ismaili-Esoteriker,

68

mente der Church of the SubGenius; der Sacred Jihad of OurLady of Perpetual Chaos; Journale wie Popular Reality; usw.Die Frontlinien sind gezogen. Chaos ist nicht Entropie, Chaosist nicht tot, Chaos ist keine Ware. Chaos ist kontinuierlicheSchöpfung. Chaos ist nie gestorben.¶

èPost-Anarchismus-Anarchie

D ie Association for Ontological Anarchy versammelt sichim Geheimen, gekleidet in schwarze Turbane & schim-

mernde Roben, ausgestreckt auf Schiras-Teppichen, bitterenKaffee schlürfend, lange Chibouk & Sibsi rauchend. FRAGE:Was ist unsere Position bezüglich all der jüngsten Abweichun-gen & des Abfalls vom Anarchismus (besonders in Kalifornien-Land): Verurteilen oder verzeihen? Die Abweichler verurteilenoder als Vorhut preisen? Gnostische Elite ... oder Verräter?¶Natürlich hegen wir eine Menge Sympathie für die Abtrünni-gen & ihre diversen Kritiken am AnarchISMUS. Wie Sindbad& der Schreckliche Alte Mann taumelt der Anarchismus umhermit dem Leichnam eines Märtyrers, der zauberhaft an denSchultern baumelt – geplagt vom Vermächtnis des Scheiterns& des revolutionären Masochismus – abgestandene Brühe ver-lorener Geschichte.¶Zwischen tragischer Vergangenheit & unmöglicher Zukunftscheint dem Anarchismus eine Gegenwart zu fehlen – als habeer Angst, sich hier & jetzt zu fragen: WAS SIND MEINEWIRKLICHEN BEGIERDEN? – & was kann ICH TUN,bevor es zu spät ist? ... Ja, stell dir vor, du bist mit einem Hexerkonfrontiert, der dich unheilvoll anstarrt & fragt: »Was sinddeine wirklichen Begierden?« Stotterst du herum, stammelstdu, suchst du Zuflucht in ideologischen Platitüden? Verfügstdu zugleich über Imagination & Willen, kannst du sowohlträumen & trotzen – oder bist du phantasielos?¶

71

formationen des Chaos müssen denunziert werden, & unsereHingabe an die göttliche Unordnung sollte uns nicht davonabhalten, die Verräter, abzockenden Künstler & psychischenVampire bloßzustellen, die von Chaos nur schwafeln, weil esgerade trendy ist. Es ist keine Inquisition im Namen unsererDefinitionen, die wir vorschlagen, sondern ein Duell, eineRauferei, ein Akt der Gewalt oder der emotionalen Abneigung,des Exorzismus. Wir wollen zunächst unsere Feinde bestim-men und sogar benennen. (1) All jene Todesköpfe & Verstüm-melungskünstler, die Chaos ausschließlich mit Schmerz, Nega-tivität & einer freudlosen Pseudo-Libertinage assoziieren –diejenigen, die glauben, »jenseits von Gut und Böse« bedeute,Böses tun – die S/M-Intellektuellen, Beschwörer der Apoka-lypse – die neuen gnostischen Dualisten, Welthasser & häßli-chen Nihilisten. (2) All jene Wissenschaftler, die Chaos entwe-der als Zerstörungsarsenal verkaufen (z. B. Neutronenwaffen)oder als Mechanismus, die Ordnung zu stärken, wie etwa dieAnwendung von Chaos-Mathematik in der statistischen Sozio-logie und bei der Bekämpfung von Unruhen. Es werden An-strengungen unternommen werden, diesbezüglich Namen undAnschriften zu ermitteln. (3) All jene, die sich Chaos im Na-men irgendwelchen New-Age-Quatsches aneignen wollen.Natürlich haben wir nichts dagegen, wenn ihr uns all euerGeld gebt, aber wir sagen euch gleich: wir werden davon Dopekaufen oder nach Marokko fliegen. Am Fluß kann man keinWasser verkaufen. Chaos ist jene materia, von der die Alchimi-sten sprachen und die Narren höher schätzen als Gold, wennsie auch auf jedem Misthaufen zu finden sein mag. Der Haupt-feind in dieser Kategorie ist Werner Erhardt, Gründer von est,der jetzt »Chaos« in Flaschen abfüllt & versucht, es Yuppiesanzudrehen. Zweitens werden wir einige unserer Freunde auf-listen, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welch unter-schiedlicher Trends in der Chaos-Theorie wir uns erfreuen:Chaotica, die von Feral Faun (alias Feral Ranter) entdeckteimaginäre autonome Zone; die Academy of Chaotic Arts ofTundra Wind; Joel Birnocos Magazin KAOS; Chaos Inc., einMitteilungsblatt, das sich mit der Arbeit des bekannten Chaos-Wissenschaftlers Ralph Abraham befaßt; die Church of Eris;Discordian Zen; die Moorish Orthodox Church; gewisse Ele-

70

Schwachpunkte & genau deshalb, weil er weder politisch nochein System ist) unserem Verständnis von Realität, Ontologie,der Natur des Seins am nähesten. Was die Abtrünnigen betrifft... wir teilen ihre Kritik, merken aber an, daß sie keine neuenkraftvollen Alternativen zu bieten scheinen. Wir konzentrierenuns daher derzeit auf die Veränderung des Anarchismus voninnen. Hier, Genossinnen und Genossen, ist unser Pro-gramm:¶1. Arbeit an der Erkenntnis, daß psychischer Rassismus die offeneDiskriminierung als einen der widerlichsten Aspekte unsererGesellschaft abgelöst hat. Phantasievolle Teilnahme an ande-ren Kulturen, besonders an solchen, mit denen wir leben.¶2. Aufgabe von jeglichem ideologischen Purismus. Sich desAnarchismus des »Typus-3« (um Bob Blacks pro-tem-Sloganzu verwenden) annehmen: weder kollektivistisch noch indivi-dualistisch. Den Tempel von überflüssigen Idolen reinigen,den Schrecklichen Alten Mann, die Relikte & Martyrologienloswerden.¶3. Anti-Arbeit oder »Zerowork« ist extrem wichtig, einschließ-lich eines radikalen & unter Umständen gewaltsamen Angriffsauf das Erziehungswesen & die Leibeigenschaft von Kindern.¶4. Ein amerikanisches Samisdat-Netzwerk entwickeln, veralte-te Veröffentlichungs-/Propagandataktiken ersetzen. Pornogra-phie & populäre Unterhaltung als Vehikel für radikale Reedu-kation.¶5. In der Musik muß Schluß sein mit der Hegemonie von 2/4& 4/4. Wir brauchen eine neue Musik, total verrückt, aber le-bensbejahend, rhythmisch subtil, aber kraftvoll, & wir brau-chen sie JETZT.¶6. Der Anarchismus muß sich vom evangelischen Materialis-mus & banalen zweidimensionalen Szientismus des 19. Jahr-hunderts abwenden. »Höhere Bewußtseinszustände« sindnicht nur bloß ein von bösen Priestern erfundener SPUK. DerOrient, das Okkulte, die tribalen Kulturen verfügen über Tech-niken, die wir uns in wirklich anarchistischer Weise angeignenkönnen. Ohne »höhere Bewußtseinszustände« verendet Anar-chismus & verkommt zu einem Trübsal, zu Gejammer. Wirbrauchen eine Art von praktischem »mystischen Anarchimus«,frei von aller New Age-Scheiße & unerbittlich häretisch & an-

73

Schau in den Spiegel & versuch es ... (denn hinter einer deinerMasken findet sich das Gesicht des Hexers wieder) ... ¶Die heutige anarchistische »Bewegung« kennt in ihren Reihenpraktisch keine Schwarzen, Hispanics, Native Americans oderKinder ... obwohl diese wirklich unterdrückten Gruppen vonjeglicher antiautoritären Revolte theoretisch das meiste zu er-warten haben. Könnte es sein, daß AnarchISMUS kein konkre-tes Programm zu bieten hat, mit dem die Erniedrigten und Be-leidigten ihre Bedürfnisse & Wünsche durchsetzen (oder zu-mindest realistisch für deren Durchsetzung kämpfen) kön-nen?¶Wenn ja, würde dieser Mangel nicht nur die fehlende Anzie-hungskraft des Anarchismus für Arme & Marginalisierte er-klären, sondern auch die Abneigung & Abtrünnigkeit aus deneigenen Reihen. Demos, Blockaden & Nachdrucke von Klassi-kern des 19. Jahrhunderts addieren sich nicht zu einer vitalen,herausfordernden Konspiration der Selbstbefreiung. Soll dieBewegung an Stärke gewinnen statt zu schrumpfen, gilt es,eine Menge Plunder über Bord zu werfen & zu versuchen, einpaar gewagte Ideen umzusetzen.¶Das Potential existiert. Jeden Tag realisiert eine große Zahlvon Amerikanern, daß ihnen eine Menge reaktionärer, lang-weiliger, hysterischer, mit synthetischen Geschmacksstoffenversetzter Müll verabreicht wird. Großer Chor des Stöhnens,Würgens & Erbrechens ... Wütende durchstreifen die Ein-kaufsstraßen, schmeißen Scheiben ein & plündern ... usw. usw.Die Schwarze Fahne könnte zu einem Fokus für die Wut wer-den & diese in eine Insurrektion der Imagination umwandeln.Wir könnten den Kampf dort wieder aufnehmen, wo ihn derSituationismus ‘68 & die Autonomia in den siebziger Jahrenaufgaben & ihn auf eine neue Stufe heben. Wir könnten dieRevolte in unserer Zeit haben –& in dem Prozeß viele unsererwirklichen Begierden realisieren, selbst wenn es nur für einpaar Monate wäre, ein kurzes Utopia der Freibeuter, eine ge-krümmte Frei-Zone im alten Raum/Zeit-Kontinuum.¶Wenn die A.O.A ihre Verbindungen zur »Bewegung« aufrech-terhält, dann nicht bloß (oder nicht gänzlich) aus einer roman-tischen Vorliebe für eine verlorene Sache. Von allen »politi-schen Systemen« kommt der Anarchismus (trotz seiner

72

Schwarze Krone & Schwarze RoseAnarcho-Monarchismus & Anarcho-Mystizismus

I m Schlaf träumen wir nur von zwei Regierungsformen –Anarchie & Monarchie. Primordiales Root-Bewußtsein

versteht keine Politik & spielt niemals fair. Ein demokratischerTraum? Ein sozialistischer Traum? Unmöglich.¶Ob meine REMs vertikal nahezu prophetische Visionen oderbloß wienerische Wunscherfüllung bringen, nur Könige & wil-de Menschen bevölkern meine Nacht. Monaden & Noma-den.¶Der bleiche Tag (wenn nichts durch eigenes Licht scheint)kommt zu früh, schmeichelt sich ein & suggeriert uns, wirkönnten uns mit einer traurigen & glanzlosen Realität abfin-den. Im Traum aber unterliegen wir keinerlei Herrschaft, son-dern nur der Liebe und Zauberei, den Fähigkeiten von Chao-ten & Sultanen.¶In einer Gesellschaft, die nicht schöpferisch tätig sein oderspielen, sondern nur arbeiten kann, bleibt Künstlern auch keineandere Wahl als Anarchie & Monarchie. Wie der Träumermüssen sie ihre eigene Wahrnehmung haben & haben sie, &dafür müssen sie das bloß Soziale einer »tyrannischen Muse«opfern.¶Kunst stirbt, sobald sie »gerecht« behandelt wird. Sie mußüber die Wildheit eines Höhlenbewohners verfügen oder abersich den Mund von irgendeinem Prinzen mit Gold füllen las-sen. Bürokraten & Verkaufspersonal vergiften sie, Professorenzerkauen sie, & Philosophen spucken sie aus. Kunst ist eine Artbyzantinische Barbarei, die nur für Adlige & Heiden gut ist.¶Würdest du die Süße des Lebens als Poet unter der Herrschafteines bestechlichen, korrupten, dekadenten, ineffektiven &lächerlichen Paschas oder Emirs, eines Quajar Schahs, einesKönig Faruk, einer Königin von Persien kennen, würdest duwissen, daß es das ist, wovon jeder Anarchist träumt. Wie sieGedichte & Gemälde liebten, diese toten Luxusnarren, wie siealle Rosen & kühlen Lüftchen, Tulpen & Lauten absorbier-ten!¶

75

tiklerikal; gierig nach neuen Bewußtseinstechnologien & Meta-noia – eine Demokratisierung des Schamanismus, berauscht &heiter.¶7. Sexualität wird von der Rechten und subtiler von der pseu-do-avantgardistischen »Postsexualität«-Bewegung attackiert &noch subtiler durch das Rekuperations-Spektakel in den Medi-en und der Werbung angegriffen. Zeit also für einen wichtigenSchritt voran zu mehr SexPol-Bewußtsein, zu einer explosivenReaffirmation des polymorphen eros – einer buchstäblichenGlorifizierung der Sinne, einer Doktrin des Ergötzens. Aufga-be allen Welt-Hasses & der Scham.¶8. Mit neuen Taktiken experimentieren, um von den Motten-kisten der Linken Abschied zu nehmen. Die praktischen, mate-riellen & persönlichen Vorteile des radikalen Networking ver-stärkt deutlich machen. Die Zeiten scheinen für Gewalt & Mi-litanz nicht günstig zu sein, aber gewiß ist ein wenig Sabotage& phantasievolle Zerrüttung niemals fehl am Platze. Schmie-det Komplotte & konspiriert, jammert nicht & klagt nicht. Be-sonders die Kunstwelt verdient eine Dosis »Poetischen Terro-rismus«.¶9. Die Despatialisierung der post-industriellen Gesellschaftbietet einige Vorzüge (z. B. Computer-Networking), kann sichaber auch unterdrückerisch manifestieren (Obdachlosigkeit,Gentrifizierung, architektonische Entpersönlichung, Ausradie-rung der Natur usw.). Die Kommunen der sechziger Jahre ver-suchten diese Faktoren zu umgehen, scheiterten aber. DieLandfrage bleibt aktuell. Wie können wir den Raum von denMechanismen der Kontrolle separieren? Die territorialen Gang-ster, die Nation(al)/Staaten, haben die gesamte Karte an sichgerissen. Wer kann für uns eine Kartographie der Autonomieersinnen, wer eine Karte zeichnen, die auch unsere Begierdenenthält?¶

AnarchISMUS impliziert schließlich Anarchie – & Anarchie istChaos. Chaos ist das Prinzip kontinuierlicher Schöpfung ... &Chaos ist nie gestorben.¶

A.O.A.-PlenumMärz ‘87, NYC

è74

menschliche Existenz nicht ohne Religion vorstellen kann,können radikale Begierden sich in der Sprache der Häresie ma-nifestieren.¶Der Taoismus lehnte die gesamte konfuzianische Bürokratieab, hielt aber am Bild vom Kaiser/Weisen fest, der schweigendauf seinem in eine günstige Richtung ausgerichteten Thronsitzt und absolut nichts tut.¶Im Islam nahmen die Ismailis die Vorstellung des Imam ausdem Hause des Propheten & verwandelten sie in die vomImam-des-eigenen-Seins, das perfekte Selbst, das jenseits allenGesetzes & jeglicher Herrschaft existiert, der mit dem Einen inEinklang steht. Und diese Doktrin führte sie zur Revolte gegenden Islam, zu Terror & Mord im Namen purer esoterischerSelbstbefreiung & totaler Verwirklichung.¶Der klassische Anarchimus des 19. Jahrhunderts definierte sichselbst im Kampf gegen Krone & Kirche & begriff sich infolge-dessen als egalitär & atheistisch. Diese Rhetorik lenkt natürlichvon dem ab, was wirklich geschieht: aus dem »König« wird der»Anarchist«, aus dem »Priester« ein »Häretiker«. Bei diesemseltsamen Duett der Veränderlichkeit können der Politiker,der Demokrat, der Sozialist, der rationale Ideologe nicht mit-spielen; sie sind taub für die Musik & lassen jeden Sinn fürRhythmus vermissen. Terrorist & Monarch sind Archetypen;die anderen sind lediglich Funktionäre.¶Einst gingen sich Anarch & König an die Gurgel & vollführteneinen Totentanz – eine prächtige Schlacht. Nun jedoch sindbeide auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet – es wareinmal ... Kuriositäten einer gemächlicheren & kultivierterenVergangenheit. Sie wirbelten so schnell herum, daß sie mitein-ander zu verschmelzen schienen ... können sie irgendwie zu ei-nem Ding geworden sein, siamesische Zwillinge, ein Janus,eine grotesk-monströse Einheit? »Der Schlaf der Vernunft ... «ah! begehrenswerte & begehrende Monster!¶Der ontologische Anarchismus erklärt geradeheraus, platt &fast hirnlos: ja, die beiden sind nunmehr eins. Der Anarch/Kö-nig ist jetzt als ein einziges Wesen wiedergeboren; jeder vonuns der Herrscher über das eigene Fleisch, die eigenen Schöp-fungen – und soviel von allem anderen, wie wir grabschen &festhalten können.¶

77

Ich hasse ihre Grausamkeit & Launenhaftigkeit, ja – aber siewaren wenigstens menschlich. Die Bürokraten jedoch, die denKopf mit geruchlosem Dreck verpesten – so gütig, so gemütlich[im Original deutsch; Anm. d. Ü.] – die den Atem erstarren las-sen – sie sind es nicht einmal wert, gehaßt zu werden. Jenseitsder blutleeren Ideen, die sie servieren, existieren sie kaum.¶Und außerdem: der Träumer, der Künstler, der Anarchist –teilen sie nicht einen Hauch roher Kapriolen mit den schänd-lichsten Mogulen? Kann wirkliches Leben sich ohne ein wenigTorheit, ohne Exzess, ohne ein paar Runden heraklitischen»Zwistes« ereignen? Wir herrschen nicht – aber wir könnenauch nicht herrschen & werden nicht beherrscht werden.¶In Rußland fälschten die Narodniki einen Ukas oder ein Mani-fest im Namen des Zaren. Darin beschwerte sich der Autokrat,gierige Grundbesitzer & herzlose Amtsinhaber hätten ihn inseinem Palast eingeschlossen & ihn von seinem geliebtenVolke abgeschnitten. Er erklärte das Ende der Leibeigenschaft& rief die Bauern & Arbeiter auf, sich in seinem Namen gegendie Regierung zu erheben.¶Manchmal funktionierte diese List sogar, eine Revolte zu ent-fachen. Warum? Weil der alleinige absolute Herrscher meta-phorisch als ein Spiegel der unikalen und vollendeten Absolut-heit des Selbst agiert. Jede Bäuerin, jeder Bauer schaute in die-se gläserne Legende & erblickte ihre/seine eigene Freiheit –eine Illusion, aber eine, die ihre Magie der Logik des Traumsentlehnte.¶Ein ähnlicher Mythos muß die Ranters & Antinomisten &Fifth Monarchy Men des 17.Jahrhunderts inspiriert haben, dievon jakobinischen Praktiken, den intelligenten Ränken & fin-steren Konspirationen angetan waren.¶Die radikalen Mystiker wurden zunächst von Cromwell &dann von der Restauration verraten – warum sich schließlichnicht den aufgeblasenen Kavalieren & geckenhaften Grafenanschließen, den Rosenkreuzern & Freimaurern des Schotti-schen Ritus (Scottish Rite Masons), um einen okkulten Messiasauf Albions Thron zu hieven?¶In einem Volk, das sich eine humane Gesellschaft nicht ohneMonarchen vorstellen kann, können die radikalen Begierdenmonarchisch ausgedrückt werden. In einem Volk, das sich eine

76

che« oder »animalische« Selbst – was ebenfalls dem Selbst-mord gleichkäme. Was Mystizismus wirklich zu überwindenversucht, sind falsches Bewußtsein, Täuschung, die Realität desKonsensus & all die Mängel des Selbst, die mit diesen Übelneinhergehen. Wahrer Mystizismus schafft ein »Selbst in Frie-den«, ein Selbst der Kraft. Die höchste Aufgabe der Metaphy-sik (erfüllt zum Beispiel durch Ibn Arabi, Boehme, RamanaMaharshi) ist in gewisser Hinsicht die Selbst-Destruktion, dasIdentifizieren des Metaphysischen & Physischen, des Trans-zendenten & Immanenten als EINS. Gewisse radikale Monistenhaben diese Lehre weit über bloßen Pantheismus oder religiö-sen Mystizismus hinausgetrieben. Der Auffassung von derimmanenten Einheit des Seins sind gewisse antinomistischeHäretiker (die Ranters, die Assassinen), in denen wir unsereAhnen sehen.¶Stirner selbst scheint den möglichen spirituellen Resonanzendes Individualismus gegenüber taub zu sein –, & darin gehörter dem 19.Jahrhundert an: geboren lange nach dem Nieder-gang des Christentums, aber lange vor der Entdeckung desOrients & der verborgenen illuminatorischen Tradition in derwestlichen Alchimie, revolutionären Häresie & dem okkultenAktivismus. Stirner verachtete richtigerweise das, was wir als»Mystizimus« kennen, eine bloß pietistische Sentimentalität,die auf Selbstverleugnung & Welthaß basiert. Nietzsche hatein paar Jahre später mit »Gott« abgerechnet. Wer aber hat esseitdem gewagt, davon zu sprechen, daß Individualimus & My-stizismus versöhnt & in Synthese gebracht werden können?¶Bei Stirner (Nietzsche ist näher dran) fehlt eine deutliche Vor-stellung von nichtgewöhnlichem Bewußtsein. Die Vergegenwärti-gung des einzigen Selbst (oder des Übermenschen) muß wieWellen oder Spiralen oder Musik widerhallen & expandieren,um die unmittelbare Erfahrung oder intuitive Wahrnehmungder Einzigartigkeit der Realität selbst zu erfassen. JeglicheDualität, Dichotomie & Dialektik werden so verschlungen &aufgelöst. Dieser Vergegenwärtigung ist ein intensives & wort-loses Wertbewußtsein eigen: sie »vergöttlicht« das Selbst.¶Sein/Bewußtsein/Seligkeit (Sat-Cit-Ananda) können nicht alsein weiterer Stirnerscher »Spuk« abgetan werden. Es wird keinexklusiv transzendentales Prinzip beschworen, dem die/der

79

Unser Aktionen werden durch Fiat gerechtfertigt & unsere Be-ziehungen durch Verträge mit anderen Autarken geformt. Wirschaffen das Recht für unsere eigene Domäne –& die Kettendes ›Gesetzes‹ sind gesprengt. Im Moment überleben wir viel-leicht als bloße Prätenden – aber dennoch können wir der Rea-lität ein paar Augenblicke, ein paar Quadratzentimeter abrin-gen, denen wir unseren absoluten Willen auferlegen, unserroyaume. L’etat, c’est moi.¶Sind wir irgendeiner Ethik oder Moral verpflichtet, muß eseine sein, die wir uns imaginiert haben, erhabener & befreien-der als das »moralische Gift« der Puritaner & Humanisten.»Ihr seid wie Götter«. – »Du bist es.«¶Die Wörter Monarchismus & Mystizismus werden hier teilweisenur verwendet, um sich über diese egalitär-atheistischen Anar-chos lustig zu machen, die mit pflichtgetreuer Abscheu auf jedeErwähnung von Pomp oder superstitiösem Treiben reagieren.Für die gibt es keine Champagner-Revolution!¶Unser Antiautoritarismus beruht auf einem barocken Paradox;er zieht die Pracht von Bewußtsein, Emotion & Ästhetik allenversteinerten Ideologien & Dogmen vor. Er befürwortet Viel-falt & findet Gefallen an Widersprüchen. Ontologische Anar-chie ist ein Kobold für GROSSE Geister.¶Die englische Übersetzung des Titels (& Schlüsselbegriffs) vonMax Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum in TheEgo & Its Own hat zu gehörigen Fehlinterprationen des »Indi-vidualismus« geführt. Das englisch-lateinische Wort egoschleppt Freudsche und protestantische Konnotationen mitsich. Eine sorgfältige Lektüre von Stirner ergäbe, daß TheUnique & His Own-ness seinen Absichten besser gerecht würde,definiert er doch das Ego niemals als Gegensatz zu Libido oderEs, oder als Gegensatz zu »Seele« oder »Geist«. ›The Unique‹kann einfach als das individuelle Selbst begriffen werden.¶Stirner liefert keine Metaphysik, verleiht aber dem Einzigeneine gewisse Absolutheit. In welcher Weise differiert dann die-ser Einzige von dem Selbst des Advaita Vedanta? Tat tvam asi:Du (individuelles Selbst) bist Das (absolute Selbst).¶Viele glauben, daß Mystizismus »das Ego auflöst«. Unsinn.Nur der Tod tut dies (das zumindest ist unsere sadduzäischeAnnahme). Auch zerstört der Mystizimus nicht das »fleischli-

78

Der Spracherwerb fällt unter das Zeichen des Eros – jeglicheKommunikation ist dem Wesen nach erotisch, alle Beziehun-gen sind erotischer Natur. Avicenna & Dante behaupteten,Liebe bewege die Sterne & Planeten in ihren Bahnen – lautRigveda & Hesiods Theogonie ist Liebe der erste nach Chaosgeborene Gott. Gefühle, Affinitäten, ästhetische Wahrneh-mungen, schöne Schöpfungen, Konvivialität – die kostbarstenBesitztümer des Einzigen entspringen der Vereinigung vonSelbst & Anderem in der Konstellation der Begierde.¶Hier kann das vom Individualismus begonnene Projekt erneutentfaltet & durch eine Veredelung mit Mystizimus, besondersTantra, wiederbelebt werden. Als eine esoterische, vom ortho-doxen Hinduismus geschiedene Technik bietet Tantra einensymbolischen Rahmen (»Netz von Juwelen«) für die Bezeich-nung von sexuellen Freuden & nicht-gewöhnlichem Bewußt-sein. Allen antinomistischen Sekten war ein gewisser »tantri-scher« Aspekt eigen, von den Familien der Liebe & FreienBrüdern & Adamiten Europas über die päderastischen Sufisvon Persien bis zu den taoistischen Alchimisten Chinas. Selbstder klassische Anarchismus hatte seine tantrischen Momente:Fouriers Phalanstères; der »mystische Anarchimus« von G.Ivanov & anderen russischen Symbolisten des Fin-de-Siècle;der inszestuöse Erotismus von Arzibashaevs Sanine; die seltsa-me Kombination von Nihilismus & Kali-Verehrung, welchedie Bengali Terrorist Party inspirierte (der anzugehören meintantrischer Guru Sri Kamanaransan Biswas die Ehre hatte) ... ¶Wir jedoch schlagen einen sehr viel tiefgreifenderen Synkretis-mus von Anarchie & Tantra vor als sie. Demnach mögenfortan Individueller Anarchimus & Radikaler Monismus als einund dieselbe Bewegung betrachtet werden.¶Dieser Hybrid ist »spiritueller Materialismus« genannt wor-den, ein Terminus, der jegliche Metaphysik im Feuer des Eins-seins von Geist & Materie verbrennt. Wir mögen auch die Be-zeichnung »Ontologische Anarchie«, weil dadurch angedeutetwird, daß sich das Sein selbst in einem Zustand des »göttlichenChaos«, aller Potentialitäten, kontinuierlicher Schöpfung be-findet.¶In diesem Fluß ist nur der Jivan-Mukta, oder das »befreite In-dividuum«, selbstverwirklicht und daher Monarch oder Ei-

81

Einzige ihr/sein Selbst-Sein zu opfern habe. Es wird lediglichkonstatiert, daß ausgeprägte Bewußtheit von der Existenzselbst in »Seligkeit« resultiert – oder in weniger emphatischerSprache, in »vertieftem Bewußtsein«. Das Ziel des Einzigen istes schließlich, alles zu besitzen; der radikale Monist erreicht diesdurch die Ineinssetzung von Selbst und Wahrnehmung, demchinesischen Kalligraphen gleich, der »zur Bambusfeder wird«,die sich »selbst malt«.¶Trotz mysteriöser Andeutungen, die Stirner über eine »Unionder Einzigen« macht & trotz Nietzsches ewigem »Ja« & seinerLebensverzückung scheint ihr Individualismus von einer ge-wissen Kälte gegenüber dem anderen geprägt zu sein. Zum Teilkultivierten sie eine erfrischende, befreiende Kühle gegen diewarme Stickluft der Sentimentalität & des Altruismus des19.Jahrhunderts; zum Teil verachteten sie das, was jemand(Mencken?) den »Homo Boobensis« [boob = Narr, Tor; Anm.d. Ü.] genannt hat.¶Und dennoch entdecken wir beim Lesen hinter & unter derEisschicht Spuren einer leidenschaftlichen Doktrin – GastonBachelard hätte vielleicht von »einer Poetik des Anderen« ge-sprochen. Die Beziehung des Einzigen zum Anderen kanndurch keine Institution oder Idee definiert oder limitiert wer-den. Und dennoch ist die Vollkommenheit des Einzigen – wieparadox es auch klingen mag – vom Anderen abhängig & kann& wird nicht in bitterer Isolation verwirklicht werden.¶Die Beispiele der »Wolfskinder« oder enfants sauvages scheinendarauf hinzuweisen, daß ein zu lange menschlicher Gemein-schaft beraubtes Kind niemals bewußte Humanität erlangenwird. Das Wilde Kind bietet vielleicht eine poetische Meta-pher für die/den Einzigen – und markiert dabei gleichzeitigden Punkt, an dem Einzige(r) & Andere(r) sich treffen, ver-schmelzen, vereinigen müssen – oder aber scheitern werden, alldas zu erreichen & zu besitzen, dessen sie fähig sind.¶Der Andere spiegelt das Selbst – der Andere ist unser Zeuge.Der Andere vervollkommnet das Selbst – der Andere ist derSchlüssel zur Wahrnehmung des Einsseins. Wenn wir vonSein & Bewußtsein sprechen, verweisen wir auf das Selbst;wenn wir von Glückseligkeit sprechen, impliziert dies den An-deren.¶

80

Instruktionen für das Kali-Yuga

D as Kali-Yuga hat noch 200 000 Jahre oder so zu agieren –eine gute Nachricht für Befürworter & Avatare des

CHAOS, eine schlechte für Brahmanen, Jahvisten, Bürokra-ten-Götter & ihre Kettenhunde.¶Ich wußte, Darjeeling verbirgt etwas für mich, als ich den Na-men hörte – dorje ling – Stadt von Blitz und Donner. 1969 kamich just vor Beginn der Monsunzeit an. Alte britische Bergstati-on, Sommerhauptquartier der bengalischen Regierung –Straßen in der Form hölzerner Wendeltreppen, die Promena-denstraße mit Blick auf Sikkim & Kangchendzönga – tibetani-sche Tempel & Flüchtlinge – wunderschöne gelb-zarte Men-schen namens Lepchas (die wirklichen Aborigines) – Hindus,Moslems, Nepalesen & Bhutaner, Buddhisten & altersschwa-che Brits, die ‘47 nicht nach Hause gefunden hatten & immernoch muffige Banken und Teeläden betrieben.¶Ich traf Ganesh Baba, einen fetten weißbärtigen Sadhu mitüberkorrektem Oxford-Akzent. Ich habe nie jemanden so vielGanja rauchen sehen, ein volles Schillum nach dem anderen.Dann schlenderten wir durch die Straßen, während er mitschreienden Kids Ball spielte oder im Basar Streit suchte, er-schreckte Verkäufer mit seinem Schirm jagte und dann vor La-chen brüllte.¶Er machte mich mit Sri Kamanaransan Biswas bekannt, einemkleinen Angestellten der bengalischen Regierung mittleren Al-ters in einem schäbigen Anzug, der mir anbot, mich Tantra zulehren. Herr Biswas lebte in einem kleinen Bungalow, der aufeinem steilen, pinienbewachsenen, nebligen Berg stand. Ichbesuchte ihn dort täglich mit billigem Brandy zur Puja & zumBechern – er ermunterte mich zu rauchen, während wir spra-chen, ist Ganja doch Kali ebenfalls heilig.¶Herr Biswas war in seiner wilden Jugend Mitglied der BengaliTerrorist Party. Zu dieser Partei gehörten sowohl Kali-Vereh-rer & häretische moslemische Mystiker wie auch Anarchisten& Linksradikale. Ganesh Baba schien zu dieser geheimen Ver-gangenheit zu stehen, als sei diese ein Zeichen von Herrn Bis-

83

gentümer seiner Wahrnehmungen und Beziehungen. In die-sem unaufhörlichen Fließen bietet nur das Begehren ein Prin-zip der Ordnung, und daher ist die einzig mögliche Gesell-schaft (wie Fourier wußte) die von Liebenden.¶

Anarchismus ist tot, lang lebe die Anarchie! Wir brauchen dieBagage des revolutionären Masochismus oder der idealisti-schen Selbstaufopferung nicht länger – und auch nicht die Käl-te des Individualimus mit seiner Verachtung der Konvivialität,des Zusammenlebens – oder den vulgären Aberglauben desAtheismus, Szientimus und Progressismus des 19.Jahrhunderts.All diese tote Last! Muffige proletarische Taschen, schwerebourgeoise Überseekoffer, langweilige philosophische Leder-koffer – weg damit!¶Wir wollen von diesen Systemen nur ihre Vitalität, ihre Le-bensenergien, ihre Kühnheit, ihre Unnachgiebigkeit, ihrenZorn, ihre Unbedachtheit – ihre Macht, ihre sakti. Bevor wirden Müll und die Reisesäcke über Bord werfen, durchsuchenwir das Gepäck nach Brieftaschen, Revolvern, Juwelen, Drogenund anderen nützlichen Dingen, behalten, was wir mögen, undentsorgen den Rest. Warum nicht? Sind wir denn Priester ei-nes Kults, Reliquien zu beschwören und unsere Märtyrologienzu murmeln?¶Auch der Monarchismus hat etwas, was wir wollen – Anmut,Leichtigkeit, Stolz, Überfluß. Wir nehmen uns all dies & wer-fen die Übel von Autorität & Folter auf den Müllhaufen derGeschichte. Der Mystizismus hat etwas, das wir brauchen –»Selbst-Überwindung«, ausgeprägte Bewußtheit, Reservoirspsychischer Stärke. Diese werden wir im Namen unserer In-surrektion expropriieren – und das Elend von Moralität & Re-ligion verwesen & sich zersetzen lassen.¶Wie sagten doch die Ranters, wenn sie ein »Mitlebewesen« –vom König bis zum Taschendieb – begrüßten: »Freut Euch!Alles ist Euer!«¶

è82

wahnsinnig komplex. Wir trinken, wir rauchen.¶Allein auf dem Friedhof, neben einem halbverbrannten Leich-nam, meine Initiation in das Tara-Tantra. Am nächsten Tag –fiebrig & spaced-out – sage ich Lebewohl & breche gen Assamauf, zum großen Tempel von Saktis Yoni in Gauhati, geraderechtzeitig zum jährlich stattfindenden Festival. Assam ist ver-botenes Territorium, & ich habe keine Genehmigung. UmMitternacht schleiche ich mich in Gauhati aus dem Zug, wateim Stockfinsteren durch Regen & kniehohen Matsch die Pfadeentlang & stolpere schließlich in die Stadt & finde ein ver-wanztes Hotel. Ich fühle mich hundserbärmlich. Kein Schlaf.¶Am Morgen mit dem Bus einen nahegelegenen Hügel zumTempel hinauf. Riesige Türme, massenhaft Gottheiten, Innen-höfe, Nebengebäude – Hunderttausende von Pilgern – seltsa-me auf Tigerfellen kauernde & singende Sadhus. Schafe &Tauben werden zu Tausenden geschlachtet, eine wirkliche He-katombe – (kein weiterer weißer Sahib in Sicht) – die Rinnstei-ne zentimeterhoch voll Blut – Kali-Säbel mit gekrümmterKlinge, zack, zack, zack, abgeschlagene Köpfe fallen auf dieglitschigen Pflastersteine.¶Als Schiwa Sakti in 53 Teile zerstückelte & sie über das ganzeLand verstreute, ist ihr Geschlechtsorgan hier niedergefallen.Einige freundliche Priester sprechen englisch & helfen mir, dieHöhle zu finden, in der die Yoni ausgestellt ist. Zu diesemZeitpunkt ist mir klar, daß ich schwer krank bin, bin aber ent-schlossen, das Ritual durchzustehen. Eine Masse von Pilgern(alle mindestens einen Kopf kleiner als ich) reißt mich wie derSog am Strand nieder & schleudert mich eine stickige Wendel-treppe hinab in eine enge Höhle, in der ich – von Übelkeit ge-plagt & halluzinierend – auf einen unförmig wirkenden koni-schen Meteoriten zusteuere, der jahrhundertelang mit Ghee &Ocker eingerieben wurde. Die Menschenmenge macht mirPlatz, so daß ich einen Jasminkranz über die Yoni werfenkann.¶Eine Woche später betrete ich in Katmandu das deutsche Mis-sionskrankenhaus, in dem ich einen Monat lang bleiben muß,um meine Hepatitis zu kurieren. Ein geringer Preis, der für alldas Wissen zu zahlen ist – die Leber irgendeines pensioniertenOberst aus einer Kiplingschen Geschichte! – aber ich kenne sie,

85

was verborgener tantrischer Stärke, trotz seiner schäbigen,sanften Erscheinung.¶Wir diskutierten jeden Nachmittag meine Lektüre von SirJohn Woodruffe (»Arthur Avalon«); ich ging durch kalte Som-mernebel; tibetanische Geister-Fallen, die in der feuchten Bri-se flatterten, ragten undeutlich aus dem Nebel & zwischen denZedern hervor. Wir gaben uns dem Tara-Mantra und Tara-Mudra (oder Yoni-Mudra) hin und studierten zu magischenZwecken das Tara-Yantra-Diagramm. Einmal besuchten wireinen dem Hindu Mars (wie der unsrige sowohl Planet &Kriegs-Gott) geweihten Tempel, wo er einen aus einem eiser-nen Hufnagel gefertigten Fingerring kaufte & ihn mir schenk-te. Mehr Brandy & Ganja.¶Tara: eine der Formen von Kali mit sehr ähnlichen Attributen:zwergenhaft, nackt, vierarmig und bewaffnet, auf dem totenSchiwa tanzend, Halskette aus Knochen oder abgeschlagenenKöpfen, Zunge, aus der Blut tropft, die Haut von einem inten-siven Blaugrau, von der gleichen Farbe wie die Monsun-Wol-ken. Jeden Tag mehr Regen, die Straßen blockierendeSchlammbrocken. Mein Grenzregionsvisum läuft ab. Herr Bis-was & ich fahren mit dem Jeep die glattnassen Himalaya-Bergehinunter & mit dem Zug in die Stadt seiner Vorfahren, Siligu-ri, die in der bengalischen Ebene liegt, in der der Ganges sichin ein feuchtgrünes Delta verzweigt.¶Wir besuchen seine Frau im Hospital. Im Jahr zuvor waren dieStadt Siliguri überflutet und mehrere zehntausend Menschengetötet worden. Cholera war ausgebrochen. Die Stadt ist eineeinzige Ruine, Algen überall, die Flure des Krankenhausesnoch immer mit Schleim, Blut und Erbrochenem, den Flüssig-keiten des Todes, überzogen. Die Frau sitzt ruhig auf dem Bettund harrt regungslos ihrem furchtbaren Schicksal. Dunkle Sei-te der Göttin. Er gibt mir eine Farblithographie von Tara, diewundersamerweise auf dem Wasser trieb & herausgefischtwerden konnte.¶In dieser Nacht nehmen wir an einer Zeremonie im örtlichenKali-Tempel teil, einem bescheidenen halbverfallenen kleinenSchrein am Straßenrand – Fackelschein die einzige Beleuch-tung – Gesänge & Getrommel von seltsamer, fast afrikanischerSynkopierung, vollkommen unklassisch, primordial & dennoch

84

scharfsichtig erachten, vor der sie uns warnen. Ich rede vonLeuten, die ich sehr gut kenne – von denjenigen der »spirituel-len Rechten« (wie etwa den Neo-Guènoniern mit ihrer Obses-sion für Zeichen der Dekadenz) – & denjenigen der postphilo-sophischen Linken, den Essayisten des Todes, den Kennernder Künste der Verstümmelung.¶Beide dieser Gruppen handeln alle denkbaren Aktionen in derWelt auf demselben Level ab – alle werden für gleich bedeu-tungslos erklärt. Für den Traditionalisten zählt nichts außerder Vorbereitung der Seele auf den Tod (nicht nur auf den ei-genen, sondern den der ganzen Welt). Für den »Kulturkriti-ker« zählt nichts außer dem Spiel, eine weitere Begründung fürHoffnungslosigkeit zu liefern, sie zu analysieren und in denKatalog aufzunehmen.¶Derzeit ist das Ende der Welt eine Abstraktion, weil es sich nieereignet hat. Es existiert in der Realität nicht. Es wird nur auf-hören, eine Abstraktion zu sein, wenn es sich ereignet – falls essich ereignet. (Ich behaupte weder, »Gottes Absicht« zu die-sem Thema zu kennen, noch über wissenschaftliche Kenntnis-se über eine noch nicht existierende Zukunft zu verfügen.) Ichhabe nur eine geistige Vorstellung & sehe deren emotionaleVerästelungen; als solche identifiziere ich sie als eine Art Gei-stervirus, einen Spuk in mir, der vertrieben, statt hypochon-drisch gehätschelt & gepflegt werden sollte. Ich lehne das Ge-rede vom »Ende der Welt« ab, weil ich darin eine ideologischeIkone von Religion, Staat & kulturellem Milieu gleichermaßensehe, die man mir vorhält, um das Nichthandeln zu begründen.¶Ich verstehe, warum die religiösen & politischen »Mächte«möchten, daß ich mit den Knien schlottere. Da doch nur sie essind, die überhaupt eine Chance bieten können, der Ragnarökzu entgehen (durch Beten, durch Demokratie, durch Kommu-nismus etc.), werde ich wie ein Schaf ihrem Diktat folgen &mir keine eigenen Gedanken machen. Der Fall der aufgeklär-ten Intellektuellen scheint jedoch zunächst verwirrender zusein. Welche Macht beziehen sie aus diesem Beten des Rosen-kranzes der Angst & Düsternis, des Sadismus & Hasses?¶Das Wesentliche ist, daß sie als klug erachtet werden. JederAngriff auf sie muß als dumm gelten, da doch nur sie alleinklarsichtig genug sind, die Wahrheit zu erkennen, nur sie allein

87

ich kenne Kali. Archetypisch an sich für all diese Schrecken.Dennoch wird sie für diejenigen, die wissen, zur großzügigenMutter. Später meditierte ich in einer Höhle im Dschungel beiRishikish mehrere Tage über Tara (mit Mantra, Yantra, Mu-dra, Räucherwerk & Blumen) & kehrte in die Heiterkeit vonDarjeeling, zu seinen wohltätigen Visionen zurück.¶Ihr Zeitalter muß von Schrecken gekennzeichnet sein, denndie meisten von uns können sie weder verstehen, noch über ihrKnochenhalsband hinaus zum Jasminkranz gelangen, noch wis-sen, in welchem Sinne sie eins sind. Durch CHAOS gehen, eswie einen Tiger reiten, es umarmen (selbst sexuell) & etwasvon seinem Sakti, seinem Lebenssaft aufsaugen – dies ist derPfad des Kali-Yuga. Kreativer Nihilismus. Denjenigen, die ihngehen, verspricht sie Erleuchtung & sogar Reichtum, Teilhabean ihrer Macht der Zeit.¶Sexualität & Gewalt dienen als Metaphern in einem Gedicht,das durch Bildlichkeit direkt auf das Bewußtsein wirkt – oderkönnen sonst in den richtigen Umständen entfaltet & genossenwerden, erfüllt von einem Gefühl für die Heiligkeit von allem,von Ekstase & Wein bis zu Abfall & Leichnamen.¶Diejenigen, die sie ignorieren oder sie außerhalb ihrer selbstsehen, riskieren Vernichtung. Diejenigen, die sie als Ista-De-vata, oder das göttliche Selbst, verehren, erleben ihr Zeitalterdes Eisens, als wäre es Gold, wissen um die Alchimie ihrer Prä-senz.¶

èGegen die Reproduktion des Todes

E ines der Zeichen jener Endzeit, die so viele zu antizipie-ren scheinen, würde in einer Begeisterung für die nega-

tivsten & hassenswertesten Erscheinungen dieser Zeit beste-hen, eine Begeisterung bei genau jener Kaste von Denkern, diesich selbst in Hinblick auf die sogenannte Apokalypse als

86

Das Sein selbst mag als ein Abgrund ohne Bedeutung gesehenwerden. Ich lese dies nicht als eine pessimistische Aussage. Wennsie wahr ist, kann ich darin nichts anderes sehen als eine Auto-nomieerklärung für meine Imagination & meinen Willen – &für den wunderschönsten Akt, den sie hervorbringen und derdem Sein Bedeutung verleiht.¶Warum sollte ich diese Freiheit mit einem Akt, wie etwa Mord(wie die Existentialisten), oder irgendeiner der abscheulichenModen der achtziger Jahre versinnbildlichen? Der Tod kannmich nur einmal ereilen – bis dahin habe ich die Freiheit, mirein Leben vorzustellen und (so intensiv ich kann) zu leben &eine Lebenskunst, die auf selbstbezogenen »Erfahrungshöhe-punkten« wie auf »Konvivialität« (mit dem ihr eigenen Wert)basiert.¶Das obsessive Festhalten an Todesbildern (& deren Reproduk-tion oder sogar Vermarktung) steht diesem Projekt so obstruk-tiv im Wege wie Zensur oder Medienhirnwäsche. Es führt zunegativen Feedback-Schwingungen – es ist übler Juju. Nie-mandem wird so die Angst vor dem Tod genommen, sondernlediglich eine morbide Angst anstelle gesunder Angst erzeugt,die alle sensiblen Wesen angesichts der Ahnung ihrer eigenenSterblichkeit überkommt.¶Dies soll nicht dazu dienen, die Welt von ihrer Häßlichkeitfreizusprechen oder zu leugnen, daß wirklich furchtbare Dingeexistieren. Einige dieser Dinge können gewiß abgeschafft wer-den – unter der Bedingung, daß wir uns einer Ästhetik der Ab-schaffung statt einer der Angst bedienen.¶Ich habe kürzlich eine Schwulen-Tanz/Lyrik-Performance be-sucht, die äußerst hip war: der einzige schwarze Tänzer derTruppe hatte so zu tun, als ficke er ein totes Schaf.¶Teil meiner selbstverschuldeten Dummheit, so gestehe ich, istes zu glauben (& sogar zu spüren), daß Kunst mich & andereändern kann. Darum schreibe ich pornographische und propa-gandistische Texte – um Veränderung zu bewirken. Kunst kannniemals soviel Bedeutung erlangen wie vielleicht eine Liebesaf-färe oder eine Insurrektion. Aber sie zeigt ... bis zu einem ge-wissen Grad ... ihre Wirkung.¶Selbst wenn ich keine Hoffnung mehr in Kunst setzte, jede Er-wartung auf Verzückung aufgegeben hätte, würde ich mich

89

tapfer genug, sie darzulegen, ungeachtet roher Zensoren & libe-raler Heinis. Greife ich sie als Teil genau des Problems an, dassie sachlich zu diskutieren behaupten, werde ich als Hinter-wäldler, Puritaner, blinder Optimist beschimpft. Wenn ichsage, daß ich die Artefakte ihrer Wahrnehmung (Bücher,Kunstwerke, Performances) hasse, werde ich als überempfind-lich (& so natürlich auch als psychologisch unterdrückt) abge-tan, oder aber es wird mir zumindest mangelnde Ernsthaftig-keit bescheinigt.¶Viele Leute gehen davon aus, daß ich, weil ich mich manchmalals anarchistischer Boy-Lover bezeichne, auch an anderen ul-tra-postmodernen Ideen wie Massenmördern von Kindern, fa-schistischer Ideologie oder den Photographien von Joel P.Witkin interessiert sei. Sie vermuten, eine Sache habe nur zweiSeiten, eine gute und eine schlechte. Ein Marxist, der diesenganzen Todeskult als anti-progressiv kritisierte, würde für ge-nauso närrisch erachtet wie ein Xtianischer Fundamentalist,der ihn als unmoralisch bezeichnet.¶Ich bestehe darauf, daß diese Angelegenheit (wie gewöhnlich)mehr als zwei Seiten hat. Zweiseitige Angelegenheiten (Schöp-fertum vs. Darwinismus; »choice« vs. »pro-life« etc.) sind ohnejede Ausnahme Delusionen, spektakuläre Lügen.¶Meine Position ist diese: Ich bin mir der »Intelligenz«, die Ak-tion verhindert, nur zu bewußt. Ich selbst verfüge im Überflußdarüber. Hin und wieder habe ich es jedoch geschafft, mich sozu verhalten, als sei ich blöd genug zu versuchen, mein Lebenzu ändern. Manchmal habe ich mich gefährlicher Betäubungs-mittel wie Religion, Marihuana, Chaos, Knabenliebe bedient.Einige Male war ich in gewisser Weise erfolgreich – & ich sagedies nicht, um zu prahlen, sondern um Zeugnis abzulegen.Durch die Beseitigung der inneren Ikonen des Weltendes &der Sinnlosigkeit aller irdischen Anstrengung habe ich (manch-mal) einen Zustand erreicht, der (im Vergleich zu allem, wasich kannte) einer der Gesundheit zu sein schien.¶Die Vorstellungen von Tod & Verstümmelung, die unsereKünstler & Intellektuellen faszinieren, scheinen mir – im Lich-te der Erinnerung an diese Erfahrungen – dem wirklichen Po-tential des Seins & des Diskurses über Sein tragisch unangemes-sen.¶

88

schichte.) Das Paläolithikum entspricht der Zeit vor der Arbeit(»ursprüngliche Freizeitgesellschaft«). Post-Arbeit (Zerowork/Nichtarbeit) entspricht »Psychischem Paläolithismus«.¶Alle Projekte für die »Befreiung der Begierde« (Surrealismus),die in der Matrix von Arbeit befangen bleiben, können nur zueiner Vermarktung der Begierden führen. Das Neolithikumbeginnt mit dem Verlangen nach Gütern (landwirtschaftlichemSurplus), geht über zur Produktion von Begierden (Industrie)& endet mit der Implosion der Begierde (Werbung). Die sur-realistische Befreiung der Begierde ist trotz all ihrer ästheti-schen Errungenschaften nicht mehr als eine Unterabteilungder Produktion – daher der Engroshandel des Surrealismus mitder Kommunistischen Partei & ihrer Arbeits-Ideologie (ganzzu schweigen von der daraus folgenden Misogynie & Homo-phobie). Die moderne Freizeit andererseits ist lediglich eineUnterabteilung der Arbeit (daher ihre Vermarktung) – es istalso kein Zufall, daß die einzigen Ausverkaufskunden Werbe-manager waren, als der Surrealismus seinen Laden dicht mach-te.¶Werbung zur Erzeugung von Begierden unter Verwendung derKolonisierung des Unbewußten durch den Surrealismus führtzu dessen endgültiger Implosion. Es handelt sich nicht bloßum eine »verdammte Schande«, nicht nur um eine Inbesitz-nahme. Surrealismus wurde für die Werbung, zur Vermark-tung gemacht. Surrealismus ist faktisch ein Verrat an der Be-gierde.¶Und dennoch regt sich aus diesem Abgrund der Bedeutungweiterhin die Begierde, unschuldig wie ein neuausgebrüteterPhoenix. Das Berlin-Dada der frühen Jahre (das die Rückkehrdes Kunst-Objektes ablehnte) ist trotz all seiner Unzulänglich-keiten ein besseres Modell, sich mit der Implosion des Sozialenzu befassen, als es der Surrealismus je sein könnte – ein anar-chistisches Modell oder vielleicht (im Anthro-Jargon) einnicht-autoritäres Modell, eine Zerstörung jeglicher Ideologie,ein Sprengen aller Ketten des ›Gesetzes‹.¶Während die Struktur Arbeit/Freizeit hohlläuft, alle Formender Kontrolle in der Auflösung der Bedeutung verschwinden,scheint das Neolithikum bestimmt zu sein, ebenfalls zu ver-schwinden & mit ihm all seine Tempel & Kornspeicher & Po-

91

dennoch weigern, mich mit einer Kunst abzugeben, die ledig-lich mein Elend verschlimmert oder sich der Schadenfreude [imOriginal deutsch; Anm. d. Ü.] hingibt, der »Freude am Elendanderer.« Ich wende mich von bestimmter Kunst ab wie derHund sich heulend vom Leichnam seines Hundegefährten ab-wendet. Ich möchte auf Sophisterei verzichten, die es mir er-lauben würde, sie mit gespielter Neugier als ein weiteres Bei-spiel postindustrieller Dekomposition zu beriechen.¶Nur die Toten sind wirklich smart, wirklich cool. Nichtsberührt sie. Während ich lebe, bin ich auf der Seite des un-scheinbaren, leidvollen, geknechteten Lebens, mit Wut stattmit Gelangweiltsein, mit süßer Lust, mit Verlangen & Aus-schweifung ... gegen die eisige Avant-Guard & ihre modischenGrabesbeschwörungen.¶

èHeftige Denunziation des Surrealismus(Für Harry Smith)

W ährend der surrealistischen Filmshow fragte jemand StanBrakhage nach dem Gebrauch surrealistischer Techni-

ken durch die Medien (MTV etc.). Er antwortete, es sei eine»verdammte Schande«. Nun, vielleicht ist dem so & vielleichtauch nicht (mangelt es populärer Kultur ipso facto an jeglicherInspiration?) – aber sollen wir denn über die Konstatierung, essei eine Schande, daß sich die Medien auf gewisse Weise denSurrealismus aneignen, glauben, es sei da nichts im Surrealis-mus, das diesen Diebstahl ermögliche?¶Die Rückkehr des Unterdrückten bedeutet die Rückkehr desPaläolithischen – keine Rückkehr in das Steinzeitalter, sondernein spiralförmiges Kreisen auf einem neuen Level. (Übrigens,99,9999% der menschlichen Erfahrung bestehen imJagen/Sammeln; Landwirtschaft & Industrie bilden nur einenÖlfilm auf dem Wasser des tiefen Brunnens von Nicht-Ge-

90

Slogan betrifft – daß eine der Wurzeln seiner Dialektik in derdadaistischen & surrealistischen Vorstellung des »Wunderba-ren« zu finden ist, das aus dem Leben hervor- oder in ein Le-ben hineinbricht, das vom Banalen, vom Elend der Abstraktion& Entfremdung erdrückt zu werden scheint. Ich definiere mei-ne Begriffe eher vage, um genau die Orthodoxie von Budhis-mus & Situationismus zu vermeiden, ihren ideologisch-seman-tischen Fallen zu entgehen – diesen kaputten Sprachmaschi-nen! Stattdessen schlage ich vor, Teile davon in einem Akt kul-tureller Bricolage zu plündern. »Revolution« bedeutet eineweitere Umdrehung der Kurbel – während religiöse Orthodo-xie irgendeiner Art logischerweise zu einer wahren Regierungvon Knallköpfen führt. Laßt uns Satori nicht dadurch erhöhen,indem wir es zum Monopol mystischer Mönche stilisieren oderzum Beitrag zu irgendeinem Moralkodex; & statt die 68erLinkspolitik zum Fetisch zu erheben, ziehen wir Stirners Ter-minus »Insurrektion« oder »Aufstand« vor. Er entgeht der Im-plikation der bloßen Veränderung der Autorität.¶Diese Konstellation von Konzepten beinhaltet den »Regel-bruch« mit der angeordneten Wahrnehmung, um bei der un-mittelbaren Erfahrung anzukommen, was in etwa dem Prozeßanalog ist, durch den Chaos sich spontan in fraktale, nichtli-neare Ordnungen wandelt, oder der Art, wie »wilde«, kreativeEnergie sich in Spiel & poesis auflöst. »Spontane Ordnung« ausdem »Chaos« ruft andererseits den anarchistischen Taoismusdes Tschuang-Tse hervor. Zen mag beschuldigt werden, sichnicht der »revolutionären« Implikationen des Satori bewußt zusein, während die Situationisten dafür kritisiert werden kön-nen, die der Selbstverwirklichung & Konvivialität (die ihre Sa-che fordert) inhärente gewisse »Spiritualität« zu ignorieren.Durch die Gleichsetzung von Satori mit der RdA vollziehenwir so etwas wie eine Mußheirat, die so bemerkenswert ist wiedas berühmte surrealistische Kopulieren von Regenschirm &Nähmaschine oder was immer das war.¶Ich bin geneigt, darzulegen zu versuchen, in welcher Weise Sa-tori wie die RdA »ist« – aber ich kann es nicht. Oder um es an-ders zu formulieren: fast alles, was ich schreibe, kreist um die-ses Thema. Ich müßte nahezu alles wiederholen, um diesen ei-nen Punkt zu erläutern. Statt dessen biete ich – als Anhang –

93

lizeien, um durch eine Wiederkehr des Jagens/Sammelns aufpsychischer Ebene ersetzt zu werden, durch eine Re-Nomadi-sierung. Alles implodiert & verschwindet – die ödipale Familie,Erziehung, selbst das Unbewußte selbst (wie André Codrescusagt). Verwechseln wir dies nicht mit dem Armageddon (wider-setzen wir uns der Verführung der Apokalypse, dem eschatolo-gischen Betrug) – nicht die Welt ist am Ende, sondern nur dieleeren Hülsen des Sozialen, sie fangen Feuer & vergehen.¶Surrealismus muß mit all dem anderen Bric-à-Brac agrikultu-reller Pfaffenlist & dumpfer Kontrollsysteme zum alten Eisengeworfen werden. Niemand weiß, was da kommen wird, welchElend, welcher Geist der Wildheit, welche Freude – aber dasAllerletzte, das wir auf unserer Reise benötigen, ist eine weitereGruppe von Kommissaren – Päpsten unserer Träume – Vä-tern. Nieder mit dem Surrealismus ... ¶

Naropa, 9.Juli 1988

èFür einen Kongreß merkwürdigerReligionen

W ir haben gelernt, dem Verb sein, dem Wort ist zu miß-trauen – sagen wir lieber: seht die auffallende Ähnlichkeit

zwischen dem Konzept SATORI & dem Konzept REVOLU-TIONIERUNG DES ALLTAGSLEBENS (RdA) – in beidenFällen: eine Wahrnehmung des »Gewöhnlichen« mit außerge-wöhnlichen Konsequenzen für Bewußtsein & Aktion. Wir kön-nen nicht sagen »ist wie«, da beide Konzepte (wie alle Konzep-te, was das betrifft: alle Wörter) zu sehr beladen sind – ein je-des mit der Last psycho-kulturellen Gepäcks, wie Gäste, dieauffällig gut ausgerüstet zum Wochenendbesuch auftauchen.¶Erlaubt mir den altmodischen Beat/Zen-Gebrauch von Satoriund die gleichzeitige Betonung – was den situationistischen

92

Konzept »Schrein« durch das Konzept »Maximalerfahrung«ersetzt (oder esoterisiert) wurde.¶Ich versuche hier (wie immer), eine solide Grundlage zu liefern– eine merkwürdige Philosophie, wenn man so will – für das,was ich Freie Religionen nenne, einschließlich der psychedeli-schen & diskordanten Strömungen, des nicht-hierarchischenNeo-Paganismus, antinomischer Häresien, Chaos & Kaos-Ma-gik, revolutionärem HooDoo, »exkommunizierter« & anarchi-stischer Christen, magischen Judentums, der Moorish Ortho-dox Church, der Church of the SubGenius, den Feeries, radi-kalen Taoisten, Biermystikern, Kräuterfreaks etc. pp.¶Im Gegensatz zu den Erwartungen der Radikalen des 19. Jahr-hunderts ist Religion nicht verschwunden – vielleicht ginge esuns besser ohne sie –, sondern hat an Macht gewonnen. DerMachtzuwachs ist offensichtlich der Expansion im Bereich derTechnologie & Kontrolle proportional.¶Sowohl der Fundamentalismus wie die New-Age-Bewegungverdanken ihre Stärke tiefer & weitverbreiteter Unzufrieden-heit mit dem System, das gegen jegliche Wahrnehmung desWunderbaren arbeitet – ihr könnt es Babylon oder Spektakel,Kapital oder Imperium, Gesellschaft der Simulation oder desseelenlosen Mechanismus nennen – wie ihr wollt. Aber diesebeiden religiösen Kräfte machen aus dem Wunsch nach demAuthentischen erdrückende & unterdrückerische Abstraktio-nen (Moral im Falle des Fundamentalismus, Vermarktung imFalle von New Age) & können aus diesem Grund zurecht als»reaktionär« bezeichnet werden.¶Kulturradikale werden versuchen, die populären Medien zu in-filtrieren & zu unterwandern, & politische Radikale werdenversuchen, ähnliche Funktionen in den Bereichen Arbeit, Fa-milie & anderen gesellschaftlichen Sektoren zu erfüllen. Diegleiche Notwendigkeit besteht für Radikale, in die Institutionder Religion selbst vorzudringen, statt lediglich die Platitüdenaus dem 19. Jahrhundert über atheistischen Materialismus zuwiederholen. Es passiert ohnehin – da ist es besser, dies be-wußt, mit Würde & Stil zu tun.¶Da ich einmal in der Nähe des Hauptquartiers des Weltkir-chenrates gewohnt habe, mag ich die Möglichkeit der ParodieFreier Kirchen – Parodie als eine unserer Hauptstrategien

95

ein weiteres merkwürdiges Zusammentreffen oder Interpene-tration zweier Begriffe, der eine wiederum aus dem Situationis-mus & der andere dieses Mal aus dem Sufismus.¶Dériver oder »Streunen« wurde begriffen als eine Übung zurbewußten Revolutionierung des Alltagslebens – eine Art ziello-ses Flanieren durch die Straßen der Stadt, ein visionärer urba-ner Nomadismus, offen für die »Kultur als Natur« (wenn iches richtig verstehe) – wodurch sich bei den Streunenden überdessen bloße Dauer eine Empfänglichkeit zur Erfahrung desWunderbaren einstellt; nicht immer in der erfreulichen Formvielleicht, aber hoffentlich von produktiver Einsicht, – obdurch Architektur, Erotik, Abenteuer, Trinken & Drogen, Ge-fahr, Inspiration, was auch immer – in die Intensität der nicht-mediatisierten Wahrnehmung & Erfahrung.¶Der entsprechende Terminus des Sufismus wäre »Reisen zuden entfernten Horizonten« oder einfach »Reisen«, eine spiri-tuelle Übung unter Zusammenfassung der urbanen & nomadi-schen Energien des Islam zu einem einzigen Pfad, was manch-mal »die Karawane des Sommers« genannt wird. Der Der-wisch verspricht, in einer gewissen Geschwindigkeit zu reisen,wobei er vielleicht nicht mehr als sieben oder vierzig Nächte ineiner Stadt verbringt, annimmt, was da kommt, zieht, wohinihn Zeichen & Zufälle oder einfach Launen führen mögen, ei-nen Kraftpunkt nach dem anderen ansteuernd, sich der »heili-gen Geographie« bewußt, der Reiseroute als Sinn, der Topolo-gie als Symbolik.¶Hier ist eine weitere Konstellation: Ibn Khaldun, On the Road(von Jack Kerouac & Jack London), die Form des Abenteuer-romans im allgemeinen, Baron Münchhausen, Marco Polo,Knaben in einem sommerlichen Vorstadtwald, Artus-Ritter aufder Suche nach Streit, Queers, die Knaben anmachen wollen,eine Sauftour mit Melville, Poe, Baudelaire – oder eine Kanu-fahrt mit Thoreau in Maine ... Reisen als Anthithese zu Tou-rismus, Raum statt Zeit. Kunstprojekt: die Erstellung einer»Karte« des zu explorierenden Territoriums im Maßstab 1:1.Politisches Projekt: die Schaffung von beweglichen »autono-men Zonen« innerhalb eines unsichtbaren nomadischen Netz-werkes (wie die Rainbow Gatherings). Spirituelles Projekt: Er-schaffung oder Entdeckung von Pilgerreisen, bei denen das

94

unergründlicher Weite ... Wer höhlte die Erde unter dem Eisaus, was von Poe, von gewissen paranoiden deutschen Okkulti-sten, von shaverianischen UFO-Freaks vorausgesehen wurde?War die Erde einst in der Zeit von Gondwana oder MU vonälteren Lebewesen kolonisiert? Deren Reptilienskelette viel-leicht noch immer in den fernsten geheimen Labyrinthen desHöhlensystems modern? In träge fließenden Wassern, blindenKanälen, stehenden Tümpeln weitab von den Zentren der Zi-vilisation wie Little America, Transport City oder Nan ChiHan, in dunklen Räumen und den Tiefen antarktischerHöhlen, zwischen Fungus & weißblättrigem Farn. Wir vermu-ten in ihnen Mutationen mit Schwimmhäuten zwischen denFingern und Zehen und degeneriertem Habitus – Kallikaks derausgehöhlten Erde, Lovecraftianische Renegaten, Einsiedler,umherstreunende inzestuöse Schmuggler, Kriminelle auf derFlucht, Anarchisten, die nach den Entropischen Kriegen ge-zwungen waren, sich zu verstecken, dem genetischen Puritanis-mus Entkommene, dissidente chinesische Geheimbündler &Gelbturbanfanatiker, laskarische Höhlenpiraten, blasse, hilflosearme Weiße aus den Käfigen der industriellen Kathedralenentlang Thwait’s Tongue & der Walgreen Coast & Edsel-Ford-Land – die Trogs haben mehr als 200 Jahre lang die Er-innerung an die Autonome Zone bewahrt, am Mythos festge-halten, daß es sie eines Tages wieder geben wird ... Taoismus,Freidenkerphilosophie, indonesische Zauberkunst, Kult derHöhlenmutter(-mütter), der von einigen Gelehrten mit der ja-vanesischen Meeres/Mond-Göttin Loro Kidul in Verbindunggebracht wird, von anderen hingegen mit einer kleineren Gott-heit der South Pole Star Sect, der »Jade-Göttin« ... ¶Manuskripte (geschrieben in Bahasa Ingliss, dem Pidgindialektder tiefen Höhlen) enthalten verstümmelte Zitate von Nietz-sche und Tschuang-Tse ... Es wird gelegentlich Handel getrie-ben mit kostbaren Gemmen und weißem Mohn, Fungus, übereinem Dutzend verschiedenen Arten halluzinogener Pilze ...Der seichte Lake Erebus, 5 Meilen im Durchmesser, besetztmit Stalagmiteninselchen, die mit Farn & Kudzu & schwarzenZwergkiefern überzogen sind, eingebettet in eine Höhle, die soriesig ist, daß sie manchmal ihr eigenes Wetter macht ... DieStadt gehört offiziell zu Little America, aber die meisten Ein-

97

(oder nennt es détournement oder Dekonstruktion oder kreativeDestruktion) – eine Art loses Network (ich mag das Wortnicht; laßt es uns lieber »Webwork« nennen) seltsamer Kulte& von Individuen, die an Konversation & gegenseitiger Hilfeinteressiert sind, woraus ein Trend oder eine Tendenz oder»Strömung« (um den magischen Ausdruck zu verwenden) ent-stehen könnte, stark genug, etwas psychische Verwüstung un-ter den Fundis und New Agern oder gar unter den Ajatollahs& dem Papsttum anzurichten, konvivial genug, damit wir un-tereinander nicht übereinstimmen müssen & dennoch spitzen-mäßige Parties organisieren können – oder Konklaven, oderökumenische Räte, oder Weltkongresse – die wir mit Lust an-tizipieren.¶Die Freien Religionen bieten vielleicht ein paar der einzigmöglichen spirituellen Alternativen zu den televangelischenSturmtruppen & den dummköpfigen Kristall-Channellers (vonden etablierten Religionen ganz zu schweigen) & werden daherwichtiger & wichtiger, vitaler & vitaler in einer Zukunft, in derdie Forderung nach der Eruption des Wunderbaren in das Ge-wohnte zur lautesten, schärfsten & tumultuösesten aller politi-schen Forderungen werden wird – eine Zukunft, die (einenMoment, ich muß einen Blick auf meine Uhr werfen) ... 7, 6, 5,4, 3, 2, 1 ... JETZT beginnt.¶

èAusgehöhlte Erde

U nterirdische Regionen des Kontinents, zyklopisch unter-höhlt, kathedralengroße fraktale Netzwerke, labyrinthi-

sche Riesenschächte, langsame schwarze Untergrundflüsse, ru-hige stygische Seen, rein & leicht lichterzeugend, kleine Was-serfälle, die über weichen Fels hinabplätschern, versteinerteWälder von Stalaktiten & Stalagmiten umspielen, so komplexwie die den Höhlenforscher erstaunenden Höhlenfische & von

96

ausbreitender Virus in höchst exuberanter klandestiner Form.Weiße Blätterpilze wachsen an den Stellen, wo Trog-Knabenallein in der Dunkelheit onaniert haben ... ¶

èNietzsche & die Derwische

R endan, »die Cleveren«. Die Sufis benutzen den techni-schen Begriff rend (Adj. rendi; Pl. rendan), um denjenigen

zu bezeichnen, der »clever genug ist, heimlich Wein zu trin-ken, ohne sich dabei erwischen zu lassen«: die Version derDerwische von »erlaubter Verheimlichung« (taqiyya, wodurches Schiiten erlaubt ist, ihre Religionszugehörigkeit zu leugnen,um Verfolgung zu entgehen, wie auch ihre Propaganda voran-zubringen).¶Auf der Ebene des »Pfades« verbirgt der rend seinen spirituel-len Zustand (hal), um ihn zu bewahren, alchimistisch daran zuarbeiten, ihn zu verstärken. Diese »Cleverness« erklärt viel vonder Heimlichkeit des Ordens, obwohl es wahr ist, daß vieleDerwische die Regeln des Islam (schariah) verletzen, die Tradi-tion (sunnah) mißachten und die Sitten ihrer Gesellschaft ver-spotten – all dies gibt ihnen mehr Grund für wirkliche Heim-lichkeit.¶Ignorieren wir den Fall des »Kriminellen«, der Sufismus alseine Maske gebraucht – oder vielmehr nicht Sufismus per se,sondern Derwisch-ismus, was in Persien beinahe ein Synonymfür gemächliche Sitten &, in Erweiterung, eine gesellschaftli-che Laxheit ist, ein Stil genialer und armer, aber eleganterAmoralität – so kann die obige Definition sowohl in wörtli-chem wie in metaphorischem Sinne gelten. Das heißt: einigeSufis brechen das Gesetz, während sie weiterhin zulassen, daß das Gesetz existiert & weiter existieren wird; & sie tun esaus spirituellen Motiven heraus, als eine Willensübung (him-mah).¶

99

wohner sind Trogs, die von Almosen leben – ihr Stammesge-biet liegt jenseits des Sees. Pöbel, Künstler, Drogenabhängige,Zauberer, Schmuggler, Müßiggänger & Perverse leben in zer-fallenden Basalt- & Plastik-Hotels, die halb von blassen Wein-reben überzogen sind; entlang dem Seeufer eine Straße mitschmuddeligen Cafés, von bewaffneten Ninjas bewachtenEdelsteingeschäften, chinesischen Nudel-Shops, der kristallenglitzernden Halle für Gamelantänzer, Jungen, die sich an trä-gen dunkelblauen Nachmittagen zum dahinfließenden Soundvon Synthgongs und Metallophonen ihren Mudras hingeben ...& unterm Pier finden sich vielleicht ein paar vereinzelte Ba-dende am schwarzen Strand, und echte Low-Budget-Touristenbegaffen den Schrein hinter dem Basar, wo bleiche alte Trog-Pamongs im Pilzrausch die Augen rollen & sich an den schwe-ren Düften von Weihrauch ergötzen, und alles scheint plötz-lich von bedrohlicher Leuchtkraft zu sein, vor Bedeutung zusprühen ... ein paar Fälle von Gestalten mit Schwimmhäutenzwischen den Fingern, die Gerüchte von ritueller Promiskuitätsind wahr. Ich habe in einem Fischerdorf der Trogs am Seejenseits von Erebus gewohnt, in einem angemieteten Zimmerüber dem Anglerbedarfsladen ... ländliche Trägheit & aber-gläubische Riten extensiver körperlicher Hingabe, die larvalen& gefährlichen Geheimlehren der chthonischen, mit Füßengetretenen Trogs, den faulen trägen nichtzählenden Bauern ...Little America, so christlich & frei von Mutation, »rassen«-hy-gienisch & ordentlich, wo jeder im fleischlosen Reich alterSoftware & Handschriften gefangen ist, so euklidisch, newto-nisch, sauber & patriotisch – L.A. wird diesen unschuldigenSpuk nie verstehen, diesen »spirituellen Materialismus«, dieseAbhängigkeit von den vulkanischen Begierden geheimer Gangsvon Höhlenknaben, strahlenden Blumen gleich, die wie pralleErektionen emporschießen, pulsierend wie das reine Leben,straff gespannt wie ein Bogen & der Geruch von Wasser,Schlamm, nachts blühenden weißen Blumen, Jasmin & Datura,Urin, feuchtem Kinderhaar, Sperma & Schmutz ... besessenvon Höhlengeistern, Geistern vielleicht uralter Aliens, die nunals Dämonen umherwandern und versuchen, sich erneut längstverlorenen Fleischeslüsten hinzugeben. Sonst ist die Zone be-reits wiedergeboren, bereits ein Nexus von Autonomie, ein sich

98

wunden hätte, und sei es auch nur, weil sein Gesetz nie mitdem Gesetz der Massen, des Staates & der Gesellschaft über-einstimmen könnte. Sein Verlangen nach »Krieg« (ob wörtlichoder metaphorisch) könnte ihn gar dazu bringen, an der Revol-te teilzunehmen, ob diese nun die Form der Insurrektion odernur eines stolzen Bohèmewesens annähme.¶Für ihn mag eine »gesetzlose Gesellschaft« nur so lange vonWert sein, so lange sie ihre eigene Freiheit an der Abhängig-keit anderer messen kann, an ihrer Eifersucht & ihrem Haß.Die gesetzlosen & kurzlebigen »Piratenutopias« von Madagas-kar & der Karibik, D’Annunzios Republik von Fiume, dieUkraine oder Barcelona – diese würden ihn reizen, versprachensie doch den Tumult des Werdens & selbst des »Scheiterns«statt der idyllischen Somnolenz einer »vollendeten« (& dahertoten) anarchistischen Gesellschaft.¶Wenn sich solche Gelegenheiten nicht bieten, wird der freieGeist nicht im geringsten daran denken, seine Zeit für Agitati-on, für Reform, für Protest, für visionäre Träume, für jeglicheArt »revolutionären Märtyrertums« zu verschwenden – kurz:für die Mehrzahl der gegenwärtigen anarchistischen Unter-nehmungen. Rendi sein, Wein trinken & sich nicht erwischenlassen, die Regeln akzeptieren, um sie zu brechen & die spiri-tuelle Erhebung oder den Energieschub der Gefahr & desAbenteuers erfahren, die private Epiphanie der Überwindungjeglicher innerer Polizei bei Überlistung der äußeren Autorität– dies könnte ein Ziel sein, das eines solchen Geistes würdigwäre, & es könnte dies seine Definition von Kriminalität sein.¶(Nebenbei bemerkt, ich glaube, diese Lesart hilft, NietzschesBeharren auf der MASKE, auf der verborgenen Natur des Pro-to-Übermenschen zu erklären, was selbst intelligente, aber et-was liberale Kommentatoren wie Kaufman beunruhigt. Künst-ler werden von Nietzsche, trotz all seiner Liebe zu ihnen, kriti-siert, weil sie Geheimnisse preisgeben. Vielleicht hat er einfachnicht bedacht – um A. Ginsberg zu paraphrasieren –, daß diesunser Weg ist, »groß« zu werden; und auch, daß – Yeats para-phrasierend – selbst die wahresten Geheimnisse zu einer weite-ren Maske werden.)¶Was die heutige anarchistische Bewegung betrifft: wollen wirnicht wenigstens ein einziges Mal den Boden unter den Füßen

101

Nietzsche sagt irgendwo, daß der freie Geist nicht dafür ein-treten wird, daß die Gesetze fallengelassen oder gar reformiertwerden, da er nur durch den Gesetzesbruch seinen Willen zurMacht durchsetzt. Man muß (wenn nicht anderen, dann sichselbst) die Fähigkeit beweisen, den Herdentrieb zu überwin-den, sich sein eigenes Recht zu schaffen & dennoch kein Opferdes Grolls & der Ressentiments der inferioren Seelen zu wer-den, die in JEDER Gesellschaft Recht & Gesetz definieren.Man braucht im wesentlichen ein individuelles Äquivalent zuKrieg, um ein freier Geist werden zu können – man muß übereine gewisse Lahm- und Stumpfheit verfügen, an denen sicheigene Bewegung & Intelligenz messen lassen.¶Anarchisten entwerfen manchmal eine ideale Gesellschaft ohneGesetz. Die wenigen anarchistischen Experimente, die kurzzei-tig erfolgreich waren (Machno, Katalonien), überstanden dieKriegsbedingungen nicht, denen sie ihre Existenz zunächst zuverdanken hatten – wir wissen also empirisch überhaupt nicht,ob ein solches Experiment in Friedenszeiten fortdauern könn-te. Einige Anarchisten jedoch, wie unser einstiger italienischerFreund Stirnerscher Prägung, nahmen an allen möglichen Auf-ständen und Revolutionen teil, sogar an kommunistischen undsozialistischen, da sie im Moment der Insurrektion selbst dieFreiheit fanden, die sie suchten.¶Während also der Utopismus bislang immer scheiterte, warenindividualistische oder existentialistische Anarchisten insofernerfolgreich, als sie sich ihres Willens zur Macht im Krieg be-wußt wurden.¶Nietzsches Kritik an »Anarchisten« zielt stets auf den egalitär-kommunistischen Typus der Narodniki-Märtyrer, in derenIdealimus er ein Fortleben des post-Xtianischen Moralismussieht – obwohl er sie manchmal auch für deren Mut preist, ge-gen die Autorität der Mehrheit zu revoltieren. Er erwähnt Stir-ner nie; ich glaube aber, er würde den individualistischen Re-bellen als eine Art besseren »Kriminellen« klassifiziert haben,der für ihn (wie für Dostojewski) ein der Herde überlegenerMensch war, wenn er auch tragischerweise von Obsessionenund versteckten Rachegelüsten geleitet war.¶Existierte Nietzsches Übermensch, er hätte an dieser »Krimi-nalität« teil, selbst wenn er alle Obsessionen und Zwänge über-

100

weißt du, barsch & durchtrieben, aber dennoch mit einem wei-chen Kern – Hill Street Blues –, die übelste TV-Show aller Zei-ten. Neunmalkluge schwarze Cops, die mit geistreichen rassi-stischen Bemerkungen gegen tölpelhafte weiße Cops zu Feldeziehen, & schließlich lieben sie sich doch – Eddie Murphy,Klassenverräter. Für den masochistischen Thrill haben wir nie-derträchtige Cops, die drohen, unsere behagliche, auf Konsensbasierende Realität von innen her zu untergraben, wie von Gi-ger entworfene Bandwürmer, die aber in letzter Minute vomletzten aufrechten Cop weggeblasen werden, von Robocop,dem idealen Amalgam aus Prothese und Sentimentalität.¶Wir waren von Anfang an besessen von Cops – aber die Kerlevon ehedem mimten wichtigtuerische Deppen, Keystone Cops,Car 54 Where Are You, einfältige Bobbies, geschaffen für FattyArbuckle oder Buster Keaton, damit die sie mundtot und kleinund häßlich machen konnten. Aber im idealen Drama derachtziger Jahre hat der »kleine Mann«, der die Cops oder›Blauen‹ einst zu hunderten mit seiner anarchistischen Bombedas Fürchten lehrte, die er ganz unschuldig zum Zigarettenan-zünden verwendete, der Tramp, das Opfer mit der plötzlichenMacht des reinen Gewissens, keinen Platz mehr in der Darstel-lung. Einst waren »wir« dieser Tramp, der Hobo, jener quasi-surrealistische, chaotische Held, der durch wu-wei über dielächerlichen Diener einer verachteten & irrelevanten Ordnungsiegt. Nun aber sind »wir« auf den Status von Opfern ohneMacht reduziert, oder aber Kriminelle. »Wir« spielen diesezentrale Rolle nicht mehr; nicht länger die Helden unserer ei-genen Geschichten, wurden wir von dem Anderen marginali-siert & ersetzt, dem Cop.¶Die Cop-Show hat nur drei Darsteller – Opfer, Kriminellerund Polizist – aber die ersten beiden sind nicht ganz mensch-lich – nur das Schwein ist real. Seltsamerweise schien die Ge-sellschaft in den achtziger Jahren manchmal nur aus denselbendrei Clichés/Archetypen zu bestehen. Zunächst aus den Op-fern, den jammernden Minderheiten, die irgendwelche »Rech-te« einklagten – und wer bitte gehörte in den achtziger Jahrennicht zu einer »Minorität«? Scheiße, selbst Cops beschwertensich wegen der Mißachtung ihrer »Rechte«. Dann die Krimi-nellen: größtenteils nicht-weiß (trotz der obligatorischen &

103

haben, wo die Gesetze abgeschafft sind & der letzte Priester anden Eingeweiden des letzten Bürokraten aufgeknüpft ist? Klardoch. Aber das ist längst nicht alles. Es gibt gewisse Sachen, dieman nicht gerne aufgibt, und sei es nur wegen der bloßen Fad-heit ihrer Gegner. Oscar Wilde könnte gesagt haben, mankann kein Gentleman sein, ohne nicht auch etwas von einemAnarchisten zu haben – ein notwendiges Paradox, dem »radi-kalen Aristokratismus« Nietzsches ähnlich.¶Dies ist nicht nur spiritueller Dandyismus, sondern auch exi-stentielles Streben nach einer ihm zu Grunde liegenden Spon-taneität, nach einem philosophischen »Tao«. Trotz all seinerEnergieverschwendung, ist der Anarchismus wegen seinerFormlosigkeit unter all den ISMEN der einzige, der dem Typusvon Form nahekommt, der einzig uns heute noch interessierenkann, dieser seltsame Attraktor, die Gestalt des Chaos – die man(ein letztes Zitat) in sich selbst haben muß, wenn man einentanzenden Stern gebären möchte.¶

Spring Equinox, 1989

èResolution für die 90er Jahre:Boykottiert die Cop-Kultur!!!

W enn von einer fiktiven Figur gesagt werden kann, siehabe den Popkult der achtziger Jahre dominiert, dann

war es der Cop. Womit du dich auch beschäftigt hast, dieScheißbullen waren überall. Schlimmer als im wirklichen Le-ben. Zum Kotzen langweilig.¶Machtvolle Cops, die die Erniedrigten und Beleidigten be-schützen und sich um ein halbes Dutzend oder mehr Artikelder Bill of Rights nicht scheren – »Dirty Harry«. Nette, huma-ne Cops, die mit menschlicher Perversität zurechtkommenmüssen, mal auf die sanfte, mal auf die harte Tour kommen,

102

an der Rache, stellvertretender Verrat, der kranke Thrill derGeschwätzigen. Amerika kann nicht haben, wonach es sucht,stattdessen gibt es America’s Most Wanted. Eine Nation vonkleinen Arschkriechern, die sich anschicken, zur Elite der Ty-rannen zu gehören.¶Natürlich leidet das Programm noch unter ein paar seltsamenRealitätsverzerrungen: So werden zum Beispiel die dramati-sierten Abschnitte à la cinema verité von Schauspielern gespielt;einige Zuschauer sind blöde genug zu glauben, die Filmszenenzeigten tatsächliche Verbrechen. Daher kriegen die Schauspie-ler ständig Ärger & werden gar selbst festgenommen, neben(oder statt) der wirklichen Kriminellen, deren Konterfeis nachjedem gezeigten Fall eingeblendet werden. Kurios, was? Nie-mand macht irgendeine wirkliche Erfahrung – alle sind auf denStatus von Geistern reduziert – Medienbilder kappen jeglichenKontakt mit dem Alltagsleben & entfernen sich von diesem –Telefonsex – Cybersex. Finale Transzendenz des Körpers: Cy-bergnosis.¶Wie televangelische Vorläufer bereiten uns die Mediencops aufdas Kommen des Weltengerichtes oder die Begeisterung fürden Polizeistaat vor: die »Kriege« gegen Sex und Drogen; to-tale Kontrolle, jeglichen Inhalts beraubt; eine Karte ohne Ko-ordinaten in irgendeinem bekannten Raum; mehr als bloßesSpektakel; die schiere Ekstase (»außerhalb-des-Körpers-ste-hen«); obszönes Simulakrum; bedeutungslose gewalttätige,zum letzten Prinzip der Herrschaft erhobene Zuckungen. Im-age eines Landes, das von seinen Images des Selbsthasses, demKrieg zwischen den schizoiden Hälften einer gespaltenen Per-sönlichkeit aufgezehrt wird, Super-Ego gegen Id-Kid imKampf um die Schwergewichtsweltmeisterschaft einer verlasse-nen Landschaft, ausgebrannt, verschmutzt, leer, trostlos, un-wirklich.¶Wie das Rätsel um den Mord stets eine Übung in Sadismus ist,so beinhaltet die Cop-Fiction immer auch die Frage der Kon-trolle. Das Bild vom Inspektor oder Detektiv sagt etwas ausüber »unsere« mangelnde autonome Substanz, über unsereTransparenz angesichts des starren Blicks der Autorität. Unse-re Perversität, unsere Hilflosigkeit. Ob wir sie nun als »gut«oder«böse« erachten, unsere obsessive Beschwörung der Eido-

105

eingebildeten »Integration« seitens der Medien), größtenteilsals pervers dargestellt (d.h. die verbotene Widerspiegelung»unserer« Begierden). Ich habe gehört, daß einer von vier us-amerikanischen Haushalten einmal pro Jahr beraubt wird & je-des Jahr fast eine halbe Million von uns wegen Kiffens festge-nommen werden. Angesichts solcher Statistiken (selbst wennwir annehmen, daß sie »verdammte Lügen« sind) wundert eseinen, wer in unserem polizeistaatlichen Bewußtsein NICHTentweder Opfer oder Krimineller ist.¶America’s Most Wanted – die erfolgreichste TV-Game-Showder achtziger Jahre – eröffnete uns allen die Möglichkeit, dieRolle des Amateurcops zu spielen. Bislang war dies nur eineMedienphantasie von Ressentiment & Rache für die Mittel-klassen. Natürlich haßt der Cop des wirklichen Lebens nie-manden so sehr wie den Vigilanten – seht euch nur an, was denarmen &/oder nicht-weißen Selbschutzgruppen der Neigh-bourhoods wie etwa den Black Muslims widerfuhr, als sie ver-suchten, den Crack-Handel in Brooklyn zu unterbinden: dieCops griffen sich die Muslims, die Pusher laufen frei herum.Wirkliche Vigilanten bedrohen das staatliche Gewaltmonopol,lèse-majesté, was schlimmer ist als Inzest oder Mord. Aber me-diale Vigilanten funktionieren innerhalb des Cop-Staates per-fekt; es wäre richtiger, in ihnen unbezahlte Spitzel zu sehen:telemetrische Petzen, Elektro-Schnüffler, Eintagsdenunzian-ten.¶Was ist es, was »Amerika am meisten sucht«? Bezieht sich die-se Redewendung auf Kriminelle – oder auf Verbrechen, aufObjekte des Begehrens in realer Präsenz, nicht-repräsentiert,nicht-mediatisiert, im wahrsten Sinne des Wortes gestohlen &angeeignet? Amerika sucht am meisten ... ein Ende der be-schissen Arbeit, ein Ende der Ehe, sucht den Drogenkonsum(weil es dir nur mit Drogen so gut geht, wie die Leute in derTV-Werbung zu sein scheinen), Sex mit einem heiratsfähigenKnacki, Sodomie, Einbruchsdiebstahl, ja, verdammt. WelcheVergnügungen jenseits der Medien sind denn NICHT illegal?Selbst das Barbecue im Freien verstößt heutzutage gegenRauchverordnungen. Die simpelsten Freuden bringen uns inKonflikt mit dem Gesetz; letztendlich ist Vergnügen einfachzu stressig, und es bleibt nur noch die Glotze – und der Spaß

104

Die Temporäre Autonome Zone

107

lons von den Cops enthüllt das Ausmaß, in dem wir uns diemanichäische Weltsicht zu eigen gemacht haben, die sie sym-bolisieren. Millionen kleiner Cops tummeln sich überall, wieversteckte hungrige Geister – sie füllen die Leinwand, wie inKeatons berühmtem Two-Reeler, den Vordergrund überwälti-gend, eine Antarktis, wo sich nichts bewegt, außer Horden un-heilvoller blauer Pinguine.¶Wir schlagen eine esoterisch hermeneutische Exegese des sur-realistischen Slogans »Mort aux vaches!« vor. Wir beziehen unsdabei nicht auf den Tod einzelner Cops (»Kühe« im Argot derdamaligen Zeit) – bloße linke Rachephantasien – engstirnigerumgekehrter Sadismus –, sondern vielmehr auf den Tod desBildes vom flic, der inneren Kontrolle & ihrer unzähligen Wi-derspiegelungen im ›NoPlace Place‹ der Medien – dem »grau-en Raum«, wie Burroughs ihn nennt. Selbstzensur, Angst vorden eigenen Begierden, »Gewissen« als interiorisierte Stimmeder Autorität des Konsenses. Diese »Sicherheitskräfte« umzu-bringen, würde in der Tat Fluten an libidinöser Energie frei-setzen, nicht aber zu dem in den Theorien von Law and Orderprophezeiten gewalttätigen Amoklauf führen. Die Nietzschea-nische »Selbstüberwindung« bietet das Prinzip für die Organi-sation des freien Geistes (wie auch der anarchistischen Gesell-schaft, zumindest in der Theorie). In der Polizeistaats-Persön-lichkeit ist libidinöse Energie verdammt & auf Selbstunter-drückung gerichtet; jegliche Bedrohung der Kontrolle führt zuGewaltausbrüchen. In der Persönlichkeit des freien Geistesfließt Energie ungehindert & daher aufrührerisch, aber sanft –ihr Chaos findet ihren seltsamen Attraktor, wodurch neuespontane Ordnungen entstehen können.¶In diesem Sinne rufen wir also zum Boykott des Bildes vomCop auf & zu einem Moratorium seiner Produktion in derKunst. In diesem Sinne ... ¶

MORT AUX VACHES!

106

» ... dieses Mal jedoch komme ich als der siegreiche Dionysos,der die Welt in einen Feiertag verwandeln wird ... Nichtdaß ich viel Zeit habe ... «

Nietzsche (aus seinem letzten »kranken« Brief an Cosima Wagner)

Piratenutopias

D ie Seeräuber und Korsare des 18.Jahrhunderts schufen ein»Informationsnetzwerk«, das den Globus umspannte: pri-

mitiv und primär dem harten Business gewidmet, funktioniertedas Netz dennoch auf bewundernswerte Weise. Das Netz be-stand aus versprengten Inseln, entlegenen Verstecken, woSchiffe vor Anker gehen und mit Proviant beladen, Raubgutund Beute gegen Luxusgüter und Notwendigkeiten getauschtwerden konnten. Einige dieser Inseln unterstützten ›intentiona-le Gemeinschaften‹, ganze Mini-Gesellschaften, die bewußtaußerhalb des Gesetzes lebten und entschlossen waren durchzu-halten, und sei es auch nur für eine kurze aber glückliche Zeit.¶Vor einigen Jahren schaute ich die Sekundärliteratur zum Pira-tentum durch in der Hoffnung, eine Studie über diese Enklavenzu finden – aber bislang scheint kein Historiker dies einer Ana-lyse für wert befunden zu haben. (William Burroughs und derverstorbene britische Anarchist Larry Law haben die Enklavenerwähnt.) Ich griff auf Primärquellen zurück und schuf meineeigene Theorie. Einige Aspekte davon stelle ich in diesem Essayzur Diskussion. Ich nenne die Siedlungen »Piratenutopias«.¶Kürzlich veröffentlichte Bruce Sterling, einer der führendenExponenten von Cyberpunk-Science-Fiction, einen Zukunfts-roman, der auf der Annahme basiert, daß der Zerfall politi-scher Systeme zu einer Zunahme von dezentralisierten Le-bensexperimenten führen wird: riesigen Unternehmen in Pro-duzentenhand, unabhängige Enklaven, die sich der »Datenpi-raterie« widmen, anarchistische befreite Zonen usw. Die Infor-mationsökonomie, die diese Vielfalt trägt, wird das Netz ge-nannt; die Enklaven sind Islands in the Net (wie auch der Buch-titel lautet).1¶

109

1 Deutsch: Inseln im Netz. – München: Heyne, 1990 (Anm. d. Ü.)

und wann von schwärmerischem Enthusiasmus geprägt sein, soversuche ich doch nicht, ein politisches Dogma aufzustellen.Ich habe es vielmehr bewußt vermieden, eine Definition derTAZ zu liefern – ich umkreise das Thema, feuere Erklärungs-strahlen ab. Letztendlich erklärt sich die TAZ fast von selbst.Würde der Terminus gebräuchlich werden, würde er ohneSchwierigkeiten verstanden ... begriffen in der Aktion.¶

Warten auf die Revolution

Wie kommt es, daß die »umgewälzte Welt« sich immer wiederins Rechte zu setzen vermag? Warum folgt der Revolution stetsReaktion – wie die Jahreszeiten in der Hölle?¶Aufstand oder Insurrektion sind Wörter, mit denen Historikergescheiterte Revolutionen oder Bewegungen bezeichnen, dienicht dem erwarteten Schema folgen, der konsentierten Abfol-ge: Revolution, Reaktion, Verrat, Gründung eines stärkerenund noch repressiveren Staates – das Räderwerk, die stetigeWiederholung der Geschichte in ihrer niedrigsten Form: fürimmer den Stiefel im Gesicht der Menschlichkeit.¶Durch das Scheitern, diesem Schema zu folgen, verweist derAufstand auf die Möglichkeit einer Bewegung außerhalb undjenseits der hegelianischen Spirale des »Fortschritts«, die ei-gentlich nichts anderes als ein circulus vitiosus ist. Der Slogan»Revolution!« ist von einem Signal zu einem Gift mutiert, ei-ner malignen pseudo-gnostischen Schicksalsfalle, einem Alp-traum, wobei – wie immer wir auch kämpfen – wir diesem fin-steren Äon, diesem Inkubus Staat, einem Staat nach dem ande-ren niemals entkommen und jeder »Himmel« von einem wei-teren noch schlimmeren Engel regiert wird.¶Wenn Geschichte »Zeit« IST, was sie zu sein beansprucht,dann ist der Aufstand ein Moment, der in die Zeit hinein- undaus ihr herausbricht, den »Lauf« der Geschichte unterbricht.Wenn der Staat Geschichte IST, was zu sein er beansprucht,dann ist die Insurrektion der verbotene Augenblick, eine un-verzeihliche Leugnung der Dialektik – ein verrückter Tanz,der Zauber eines Schamanen an einer »unmöglichen Stelle«im Universum.¶Geschichte lehrt, daß die Revolution »permanent«, zumindestaber von Dauer ist, während der Aufstand sich »temporär« er-

111

Die Assassinen des Mittelalters gründeten einen »Staat«, deraus einem Netzwerk abgelegener Bergtäler und Festungen be-stand, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt,nicht einnehmbar und über die Informationsweitergabe durchGeheimagenten miteinander verbunden waren. Sie befandensich im Kriegszustand mit allen Regierungen, und es ging ih-nen ausschließlich um Erkenntnis. Die moderne Technologie,kulminierend in Spionagesatelliten, läßt diese Art von Autono-mie zu einem romantischen Traum werden. Es gibt keine Pira-teninseln mehr! Zukünftig könnte die gleiche Technologie –befreit von jeglicher politischen Kontrolle – eine Welt von au-tonomen Zonen möglich machen. Einstweilen bleibt ein solchesKonzept allerdings Science Fiction – pure Spekulation.¶Werden wir, die wir in der Gegenwart leben, denn niemals Au-tonomie erleben, niemals einen Moment lang auf einemStückchen Land stehen können, das nur von Freiheit regiertist? Sind wir denn auf die Verklärung von Vergangenheit undZukunft reduziert? Müssen wir warten, bis die ganze Welt vonpolitischer Kontrolle befreit ist, bevor nur ein einziger von unsbehaupten kann zu wissen, was Freiheit bedeutet. Logik undEmotion verbinden sich, um eine solche Annahme zu verwer-fen. Die Vernunft behauptet, man könne nicht für etwas kämp-fen, das man nicht kennt. Und das Herz empört sich über einUniversum, das grausamerweise einzig unserer Generation sol-che Ungerechtigkeiten widerfahren läßt.¶Zu sagen »Ich werde nicht frei sein, bis alle Menschen (oderalle fühlenden Wesen) frei sind«, heißt, sich in einen Nirwana-Stupor zurückziehen, Menschlichkeit zu verneinen. Wir defi-nieren uns so als Verlierer.¶Ich glaube hingegen, daß sich aus Zukunftsvisionen und demWissen um die Vergangenheit der »Inseln im Netz« Beweisezusammentragen lassen, die deutlich machen, daß gewisse»freie Enklaven« heutzutage nicht nur möglich, sondern auchexistent sind. Meine Studien und Spekulationen kristallisierensich in dem Konzept der TEMPORÄREN AUTONOMENZONE (in der Folge abgekürzt: TAZ). Doch trotz der synthe-tisierenden Kraft für mein eigenes Denken möchte ich dieTAZ mehr als einen Essay (»Versuch«), als Vorschlag, als poe-tische Spielerei verstanden wissen. Sollte meine Sprache dann

110

wird, eigen ist, ohne notwendigerweise zu Gewalt und Märty-rertum zu führen.¶Die TAZ ist wie ein Aufstand, der nicht zur direkten Konfron-tation mit dem Staat führt, wie eine Operation einer Guerilla,die ein Gebiet (Land, Zeit, Imagination) befreit und sich dannauflöst, um sich irgendwo/irgendwann zu re-formieren, bevorder Staat sie zerschlagen kann. Da dem Staat primär an Simu-lation denn an Substanz gelegen ist, kann die TAZ diese Ge-biete klandestin »besetzen« und eine ganze Weile in Ruheihren freudigen Zwecken nachgehen. Bestimmte kleine TAZenhaben ewig existiert, da sie unbemerkt blieben, wie etwa Hill-billy-Enklaven – da sie sich nie mit dem Spektakel kreuzten,niemals jenseits jenes realen Lebens erschienen, das den Agen-ten der Simulation unsichtbar ist.¶Babylon hält seine Abstraktionen für Realitäten; genau in die-sem Bereich des Irrtums kann die TAZ existent werden. DieTAZ lebendig werden lassen, kann Taktiken der Gewalt undVerteidigung beinhalten, ihre größte Stärke aber ist ihre Un-sichtbarkeit – der Staat kann sie nicht wahrnehmen, da die Ge-schichte keine Definition davon kennt. Sobald die TAZ be-nannt (repräsentiert, mediatisiert) ist, muß sie verschwinden,wird sie verschwinden und ein leere Hülse zurücklassen, nurum anderswo wieder zu enstehen, erneut unsichtbar, weil inBegriffen des Spektakels nicht faßbar. Die TAZ ist daher eineperfekte Taktik in einer Zeit, da der Staat omnipräsent und all-mächtig ist und dennoch zugleich Risse und Leerstellen zeigt.Und da die TAZ ein Mikrokosmos dieses »anarchistischenTraumes« einer freien Kultur ist, kann ich mir keine bessereTaktik vorstellen, mit der auf dieses Ziel hingearbeitet werdenkönnte, während gleichzeitig einiger ihrer Vorzüge schon hierund jetzt erfahrbar sind.¶Zusammengefaßt: Der Realismus verlangt nicht nur, daß wirdas Warten auf »die Revolution« aufgeben, sondern auch auf-hören, sie zu wollen. »Aufstand«, ja – so oft wie möglich undselbst unter dem Risiko der Gewalt. Das Zucken des Simulier-ten Staates wird »spektakulär« sein, aber in den meisten Fällenwird die beste und radikalste Taktik sein, sich spektakulärerGewalt zu verweigern, sich aus dem Feld der Simulationzurückzuziehen, zu verschwinden.¶

113

eignet. In diesem Sinne ist ein Aufstand wie ein »Erlebnis-höhepunkt« – im Gegensatz zu »gewöhnlichem« Bewußtseinund Erleben. Aufstände können nicht wie Festivals jeden Tagstattfinden – sonst wären sie nicht »ungewöhnlich«. SolcheMomente aber geben der Gesamtheit des Lebens Gestalt undBedeutung. Der Schamane kehrt zurück – aber es haben Ver-änderungen stattgefunden, ein Unterschied ist gemacht.¶Du wirst sagen, dies sei ein Rat der Verzweiflung. Was ist mitdem anarchistischen Traum, dem staatenlosen Zustand, derCommune, der autonomen Zone von Dauer, einer freien Ge-sellschaft, einer freien Kultur? Müssen wir diese Hoffnung fürirgendeinen existentialistischen acte gratuit aufgeben? Du wirstsagen, es geht nicht um die Veränderung des Bewußtseins,sondern um die Veränderung der Welt.¶Ich akzeptiere dies als berechtigte Kritik. Ich erlaube mir aller-dings zwei Einwürfe. Erstens: Durch Revolution ist dieserTraum nie verwirklicht worden. Die Vision entsteht im Mo-ment des Aufstandes – aber sobald »die Revolution« trium-phiert und der Staat wiederersteht, sind Traum und Ideal be-reits verraten. Ich habe weder die Hoffnung auf oder gar dieErwartung von Veränderung aufgegeben – aber ich mißtrauedem Wort Revolution. Zweitens: Selbst wenn wir statt des revo-lutionären Vorgehens ein Konzept der spontan in anarchistischeKultur übergehenden Insurrektion verfolgten, so ist doch unserehistorische Situation für ein solches Unterfangen nicht beson-ders günstig. Nichts als ein sinnloses Märtyrertum wärewomöglich die Folge einer direkten Konfrontation mit dem Si-cherheitsstaat, dem Informationsstaat der Megakonzerne, demImperium des Spektakels und der Simulation. Seine Gewehresind sämtlich auf uns gerichtet, während unsere bescheidenenWaffen kein Ziel finden außer Hysterese, einer Leere, einemGespenst, das in einem Ektoplasma der Information jedenFunken zum Erlöschen bringen kann, einer Gesellschaft derKapitulation, die dem Bild des Cop und dem verschlingendenTV-Schirm unterliegt.¶Kurz, wir preisen die TAZ nicht als exklusiven Selbstzweck,wodurch alle anderen Formen der Organisation, Taktiken undZiele ersetzt werden könnten. Wir empfehlen sie, weil ihr dievorwärtstreibende Intensität, die mit dem Aufstand assoziert

112

über alle möglichen Institutionen durchgesetzt, bis für die mei-sten von uns die Karte zum nationalstaatlichen Territoriumwird – aus »Turtle Island« »die USA« werden. Da jedoch dieKarte eine Abstraktion ist, kann sie die Erde nicht im überein-stimmenden Maßstab bedecken. Innerhalb der fraktalen Ver-flechtungen aktueller Geographie kann die Karte nur dimen-sionale Gitternetze erfassen. Versteckte Unermeßlichkeitenentgehen der Meßrute. Die Karte ist nicht genau; die Kartekann nicht genau sein.¶Also – die Revolution ist zuende, der Aufstand allerdings mög-lich. Wir konzentrieren unsere Kraft auf temporäre »Macht-wellen« und vermeiden jegliche Verwicklung in »permanenteLösungen«.¶Und – die Karte ist vollendet, die temporäre Zone eine offeneMöglichkeit. Bildlich gesprochen, entsteht sie innerhalb derfraktalen Dimensionen, die der Kartographie der Kontrolleunsichtbar sind. Und hier sollten wir das Konzept der Psycho-topologie (und -topographie) als eine alternative »Wissen-schaft« zur Vermessung und Kartenerstellung durch den Staatund dem »psychischen Imperialismus« vorstellen. Nur die Psy-chotopographie kann Karten im Maßstab von 1:1 zeichnen, danur der menschliche Geist über genügend Komplexität ver-fügt, das Reale zu modellieren. Aber eine Karte im Maßstabvon 1:1 kann ihr Territorium nicht »erfassen«, da sie im Grun-de genommen mit ihrem Territorium identisch ist. Sie dientnur dazu, auf bestimmte Merkmale hinzuweisen. Wir suchennach »Räumen« (geographischen, sozialen, kulturellen, ima-ginären), die potentiell als autonome Zonen erblühen können –und wir suchen nach »Zeiten«, in denen diese Räume relativoffen sind, entweder wegen der Nachlässigkeit seitens des Staa-tes, oder weil sie den Kartographen – aus welchen Gründenauch immer – entgangen sind. Psychotopologie ist die Kunst,potentielle TAZen aufzuspüren.¶Die Revolution ist be-, die Karte vollendet. Dies sind jedochnur die negativen Quellen der TAZ. Es bleibt einiges über diepositiven Inspirationen zu sagen. Reaktion allein kann nicht dieEnergie freisetzen, die benötigt wird, eine TAZ zu »manife-stieren«. Ein Aufstand kann nicht nur gegen, sondern mußauch für etwas sein.¶

115

Die TAZ ist der Ort von Guerillaontologen: zuschlagen undabhauen. Haltet den ganzen Stamm in Bewegung, selbst wenner nur im Spinnengewebe existiert. Die TAZ muß zur Vertei-digung in der Lage sein; aber sowohl der »Angriff« wie auchdie »Verteidigung« sollten, wenn möglich, der Gewalt desStaates ausweichen, die längst bedeutungslos ist. Die Attacke giltden Strukturen der Kontrolle, im wesentlichen den Ideologien.Die Verteidigung ist »Unsichtbarkeit«, eine Kampfsportart, und»Unverwundbarkeit« – eine »okkulte« Kunst innerhalb derKampfsportarten. Die »nomadische Kriegsmaschinerie« er-obert, ohne bemerkt zu werden, und zieht weiter, bevor dieKarten neu gezeichnet sind. Was die Zukunft betrifft – nurAutonome können Autonomie denken, sie organisieren, schaf-fen. Der erste Schritt ist Satori ähnlich – die Realisierung, daßdie TAZ mit einem einfachen Akt des Realisierens beginnt.¶

(Anmerkung: Siehe Anhang C, Zitat von Renzo Novatore)

Die Psychotopologie des Alltagslebens

Das Konzept der TAZ ensteht zunächst aus einer Kritik vonRevolution und einer Würdigung der Insurrektion. Letztere istlaut Revolution zum Scheitern verurteilt. Aber für uns stelltder Aufstand – aus dem Blickwinkel der Psychologie der Befrei-ung – eine weitaus interessantere Möglichkeit dar als all die»erfolgreichen« Revolutionen von Bourgeoisie, Kommunisten,Faschisten usw.¶Die zweite Triebkraft der TAZ entspringt der historischenEntwicklung, die ich als »Vollenden der Karte« bezeichne. Dasletzte Stückchen Erde, auf das noch kein Nationalstaat An-spruch erhoben hatte, wurde 1899 verschlungen. Unser Jahr-hundert ist das erste ohne terra incognita, ohne unerschlossenesGebiet. Nationalität ist das höchste Prinzip der Weltbeherr-schung – nicht ein Felspartikel in der Südsee kann offen gelas-sen werden, nicht ein abgelegenes Tal, nicht einmal der Mondund die Planeten. Das ist die Apotheose des »territorialenGangstertums«. Nicht ein Quadratzentimeter der Erde ohnePolizei oder ohne Steuer ... so die Theorie.¶Die »Karte« ist ein politisch abstraktes Gitternetz, ein giganti-scher Schwindel, vom »Experten« Staat per Konditionierung

114

neurotische, geheime Implosion gespaltener Atome – und dieoffensichtliche Gegenstrategie entsteht spontan in der fast un-bewußten Wiederentdeckung der archaischeren und dennocheher post-industriellen Möglichkeit der Horde.¶2. Die TAZ als Festival. Stephen Pearl Andrews hat einmal alsBild für die anarchistische Gesellschaft die Dinner Party ge-wählt, bei der jegliche Autoritätsstruktur sich in Konvivialitätund Zelebration auflöst (siehe Anhang C). Wir könnten hierauch Fourier und seine Auffassung von den Sinnen als Basisdes gesellschaftlichen Werdens beschwören – »touch-rut« und»Gastrosophie« – und sein Päan auf die vernachlässigten Im-plikationen von Geruch und Geschmack. Die alten Vorstellun-gen von Jubelfesten und Saturnalien haben ihren Ursprung inder Intuition, daß gewisse Dinge sich jenseits »profaner Zeit«ereignen, jenseits des Zeitmaßes von Staat und Geschichte.Diese Feiertage haben buchstäblich Leerstellen im Kalenderokkupiert – interkalare Intervalle. Im Mittelalter waren fast einDrittel aller Tage Feiertage.¶Die Auseinandersetzungen anläßlich der Kalenderreform hat-ten vielleicht ihren Ursprung nicht so sehr in den »verlorenenelf Tagen«, sondern vielmehr in der Ahnung, daß die imperialeWissenschaft sich anschickte, die Lücken im Kalender zuschließen, in denen sich der Leute Freiheit akkumuliert hatte –ein Coup d’Etat, ein Kartographieren des Jahres, eine Erobe-rung von Zeit, wodurch der organische Kosmos in ein Univer-sum des Uhrwerks verwandelt wurde. Damit starb das Festi-val.¶Die Aufständischen wissen stets um den Festcharakter der In-surrektion, selbst mitten im bewaffneten Kampf, bei Gefahrund Risiko. Der Aufstand gleicht Saturnalien, die sich von deninterkalaren Intervallen gelöst haben (oder zu verschwindengezwungen waren) und nun die Freiheit haben, sich irgendwound jederzeit zu ereignen. Zeitlich und räumlich frei, hat ernichtsdestotrotz einen Riecher dafür, ob die Situation reif ist,und ist dem genius loci verwandt. Die Wissenschaft der Psycho-topologie markiert »Kraftströme« und »Energiepunkte« (umes in okkulten Begriffen auszudrücken), wodurch die TAZraumzeitlich lokalisierbar wird und ihre Beziehung zu Augen-blick und Schauplatz besser definiert werden kann.¶

117

1. Erstens können wir von einer natürlichen Anthropologie derTAZ sprechen. Die Kernfamilie ist die Basiseinheit der Gesell-schaft, sie fußt auf diesem Konsens, nicht aber die TAZ. (»Fa-milien! – wie ich sie hasse! Die Armseligen der Liebe!« – Gide)Die Kernfamilie mit dem dazugehörigen »ödipalen Elend«scheint eine neolithische Erfindung zu sein, eine Reaktion aufdie »agrarische Revolution« mit ihrem auferlegten Mangel undder aufoktroyierten Hierarchie. Das paläolithische Modell istsowohl ursprünglicher wie auch radikaler: die Horde. Die typi-sche Jäger/Sammler-, nomadische oder semi-nomadische Hor-de besteht aus ungefähr 50 Leuten. Innerhalb größerer tribalerGesellschaften wird die Horden-Struktur von Clans innerhalbdes Stammes erfüllt, oder durch Sodalitäten wie initiatischeoder Geheim-, Jagd- oder Kriegsgesellschaften, Gendergesell-schaften, »Kinderrepubliken« und so weiter. Wird die Kernfa-milie durch Mangel produziert (und führt zu Geiz), wird dieHorde durch Überfluß produziert (und resultiert in Ver-schwendung). Die Familie ist geschlossen, durch Genetik, durchdes Mannes Besitz von Frauen und Kindern, durch die hierar-chische Totalität der agrarischen/industriellen Gesellschaft.Die Horde ist offen – nicht für jede(n) natürlich, aber für dieverwandte Gruppe, die auf Solidarität und Liebe Eingeschwo-renen. Die Horde ist nicht Teil einer umfassenderen Hierar-chie, sondern vielmehr Teil einer horizontalen Struktur vonSitten, erweiterter Verwandtschaft, von Vertrag und Allianz,spirituellen Ähnlichkeiten usw. (Amerikanische indianischeGesellschaften haben gewisse Aspekte dieser Struktur bis zumheutigen Tag bewahrt.)¶In unserer eigenen post-spektakulären Gesellschaft der Simula-tion arbeiten viele Kräfte – weitgehend unsichtbar – daran, derKernfamilie ein Ende zu bereiten und zur Horde zurückzukeh-ren. Veränderungen in der Arbeitsstruktur erschüttern die»Stabilität« des Einzel-Heimes und der Einzel-Familie. Zur ei-genen »Horde« gehören heutzutage Freundinnen/Freunde,Ex-Gattinnen/-gatten und Ex-Liebhaberinnen/-Liebhaber,Leute, denen man in verschiedenen Jobs und auf politischenVersammlungen, in Interessengruppen, Netzwerken, Mailnet-works etc. begegnet ist. Die Kernfamilie wird ganz augenfälligmehr und mehr zur Falle, ein kulturelles Schlundloch, eine

116

mopolitanismus«, wie wir es spaßeshalber nennen). Aspektedieses Phänomens wurden von Deleuze und Guattari in Noma-dology and the War Machine, von Lyotard in Driftworks und vonverschiedenen anderen Autoren in der »Oasos«-Ausgabe vonSemiotext(e) diskutiert. Wir gebrauchen hier den Terminus»psychischer Nomadismus« statt »urbaner Nomadismus«,»Nomadologie«, »Driftwork« usw., um all diese Konzepte ineinem losen Komplex zusammenzufassen, der im Lichte derentstehenden TAZ zu studieren wäre.¶»Der Tod Gottes«, in gewisser Weise eine De-Zentrierungdes gesamten »Europäischen Projektes«, eröffnete eine viel-schichtige post-ideologische Weltsicht, die »wurzellos« vonPhilosophie zu Stammesmythen, von Naturwissenschaft zumTaoismus wandern kann – fähig ist, erstmals mit den Augen ei-nes goldenen Insektes zu sehen, wobei jede Facette den Blickauf eine gänzlich neue Welt eröffnet.¶Aber der Preis für diese Vision war das Leben in einer Epoche,in der Geschwindigkleit und »Warenfetischismus« eine tyran-nische falsche Einheit gebildet haben, die dazu tendiert, kultu-relle Vielfalt und Individualität zu verwischen, so daß »ein Ortso gut wie der andere ist«. Dieses Paradox produziert »Zigeu-ner«, psychisch Reisende, die von Begierden und Neugier ge-trieben werden, Wanderer mit schwachen Loyalitäten (disloyalgegenüber dem »Europäischen Projekt«, das all seine Anzie-hungskraft und Vitalität verloren hat), die nicht an Ort undeine Zeit gebunden und auf der Suche nach Vielfalt und Aben-teuer sind ... Diese Beschreibung trifft nicht nur auf x-klassigeKünstler und Intellektuelle zu, sondern auch auf Arbeitsmi-granten, Flüchtlinge, die »Obdachlosen«, Touristen, dieWohnmobilkultur – auch Leute, die via Netz »reisen«, ihre ei-genen Zimmer aber nie verlassen (oder diejenigen – wie Tho-reau –, die »viel gereist sind – in Konkordia«); und schließlichtrifft sie auf »jede(n)« zu, auf uns alle, die wir mit unseren Au-tomobilen, unseren Ferien, unseren TVs, Büchern, Filmen,Telefonen, Jobwechseln, wechselnden »Lifestyles«, Religio-nen, Diäten etc. etc. leben.¶Psychischer Nomadismus als Taktik, Deleuze & Guattari spre-chen metaphorisch von »der Kriegsmaschine«, verschiebt dasParadox von einem passiven zu einem aktiven und vielleicht so-

119

Die Medien fordern »Kommt und genießt Euer Leben« undvereinen doch nur Ware und Spektakel, das bekannte Nicht-Ereignis purer Repräsentation. Gegen solche Obszönität verfü-gen wir über ein ganzes Spektrum an Verweigerungshaltungen(wie sie von den Situationisten, von John Zerzan, Bob Black etal. überliefert wurden) – und über eine Festkultur, die der Auf-merksamkeit der Möchtegernmanager unserer Muse entzogenund verborgen bleibt. »Fight for the right to party« ist in derTat keine Parodie auf den radikalen Kampf, sondern eine neueManifestation dessen. Angemessen einer Zeit, die TVs undTelephone als Möglichkeiten offeriert, anderere Menschen»zu erreichen und zu berühren«. »Sei da!«.¶Pearl Andrews hatte recht: die Dinner Party ist bereits »die Saatder neuen Gesellschaft, die in der Hülse der alten Gestalt an-nimmt« (IWW-Präambel). Die »Stammeszusammenkünfte«der sechziger Jahre, die Waldkonklaven von Öko-Saboteuren,das idyllische keltische Maifest Beltane der Neo-Heiden, anar-chistische Konferenzen, schwule Märchenzirkel ... HarlemRent Parties der zwanziger Jahre, Nachtclubs, Bankette, liber-täre Picknicks der alten Zeit – wir sollten verstehen, daß all die-se in gewisser Weise bereits »befreite Zonen« waren, zumin-dest potentielle TAZen sind. Ob nun offen für ein paar Freun-de, wie im Falle einer Dinner Party, oder für tausende von Fei-ernden, wie bei einem Be-In, die Party ist immer »offen«; siemag geplant sein, wenn sie sich aber nicht »ereignet«, ist sie einFehlschlag. Das Element der Spontaneität ist entscheidend.¶Das Wesentliche der Party: von Angesicht-zu-Angesicht, eineGruppe von Menschen agiert synergetisch, um die Wünscheder Einzelnen zu befriedigen, entweder die nach gutem Essenoder Spaß, Tanz, Konversation, Lebenskunst, vielleicht sogardie nach erotischem Vergnügen oder nach Vollendung einesgemeinsamen Kunstwerkes oder nach Seligkeit, kurz, eine»Union von Egoisten« (laut Stirner) in ihrer einfachsten Formoder aber, in Kropotkinschem Sinne, eine grundlegendeTriebkraft in Richtung »gegenseitiger Hilfe«. (Wir sollten hierauch Batailles »Ökonomie der Verschwendung« und seineTheorie der Potlatch-Kultur erwähnen.)¶3.Lebenswichtig zur Gestaltung der TAZ-Realität ist das Kon-zept des psychischen Nomadismus (oder des »wurzellosen Kos-

118

Netzes allmählich eine Art Gegen-Netz entstanden, das wir Spin-nengewebe nennen werden (so als sei das Netz eine Art Fischer-netz und bestünde das Spinnengewebe aus Weben, die in dieZwischenräume und Lücken des Netzes gewirkt wurden). Imallgemeinen werden wir den Terminus Spinnengewebe dann ge-brauchen, wenn wir uns auf die alternierende horizontale offe-ne Struktur des Infoaustausches, das nicht-hierarchische Netz-werk beziehen und uns den Begriff Gegen-Netz für die klan-destine illegale aufrührerische Nutzung des Spinnengewebes,einschließlich Datenpiraterie und anderer Formen, im Netzselber zu fischen, vorbehalten. Netz, Spinnengewebe und Ge-gen-Netz sind Teile des gleichen Komplexes – sie verschwim-men an unzähligen Punkten ineinander. Die Begriffe sollenkeine Gebiete, sondern lediglich Tendenzen benennen.¶(Abschweifung: Bevor du das Spinnengewebe oder Gegen-Netz wegen seines »Parasitentums« verdammst, das niemalseine wirklich revolutionäre Kraft sein kann, frage dich, worin»Produktion« im Zeitalter der Simulation besteht. Wer bildetdie »produktive Klasse«? Vielleicht wirst du gezwungen seinzuzugeben, daß diese Begriffe ihre Bedeutung verloren zu ha-ben scheinen. Jedenfalls sind die Antworten auf solche Fragenso komplex, daß die TAZ dazu tendiert, sie gänzlich zu igno-rieren und sich das herauszugreifen, was sie nutzen kann. »Kul-tur ist nicht unsere Natur« – und wir sind die diebischen El-stern oder die Jäger/Sammler der Welt der CommTech.)¶Die gegenwärtigen Formen des Spinnengewebes sind, so mußman vermuten, immer noch recht primitiv: das marginaleZine-Netzwerk, die BBS-Netzwerke, geklaute Software,Hacking, Telefon-Phreaking, ein wenig Einfluß in den Print-medien und in Radiosendern und fast keinen in den anderengroßen Medien – nicht in Fernsehstationen, keine Satelliten,keine Fiberoptik, kein Kabel etc. etc. Das Netz selber zeigt je-doch ein Muster sich verändernder/entstehender Beziehungenzwischen Subjekten (»users«) und Objekten (»data«). Die Na-tur dieser Beziehungen ist ausführlich erforscht worden, vonMcLuhan bis zu Virilio.¶Wir benötigten Seite über Seite, um zu »beweisen«, was mitt-lerweile »jede(r) weiß«. Statt dies noch einmal wiederzukäuen,interessiere ich mich vielmehr für die Frage, inwieweit diese

121

gar »gewaltsamen« Modus. »Gottes« finale Zuckungen undletztes Totenbettgeklapper dauern nun schon so lange an – inForm des Kapitalimus, Faschismus und Kommunismus zumBeispiel –, daß immer noch eine Menge an »kreativer Destruk-tion« durch post-bakuninistische post-nietzscheanische Kom-mandos oder Apachen (wörtlich »Feinde«) am alten Konsensuszu leisten bleibt. Diese Nomaden praktizieren die Razzia, siesind Korsare, sie sind Viren; sie brauchen und wünschenTAZen, Lager schwarzer Zelte unter den Wüstensternen, In-terzonen, versteckte befestigte Oasen an geheimen Karawa-nenrouten, »befreite« Flecken des Dschungels und des Ödlan-des, No-Go-Gebiete, Schwarzmärkte und Untergrundbasare.¶Diese Nomaden richten ihre Reisen nach seltsamen Sternenaus, die luminöse Datencluster im Cyberspace oder vielleichtauch Halluzinationen sein können. Breite eine Landkarte aus,darüber eine Karte der politischen Veränderung; darüber, eineKarte des Netzes, besonders des Gegen-Netzes mit der Her-vorhebung klandestiner Informationsströme und Logistik –und breite zum Schluß dann, über alles, die Karte der kreativenImagination, Ästhetik und Werte im Maßstab von 1:1. Dasentstehende Gitter wird lebendig, animiert von unerwartetenEnergiewirbeln und -strömen, Lichteruptionen, geheimenTunneln, Überraschungen.¶

Das Netz und das Spinnengewebe

Der nächste Faktor, der zur TAZ beiträgt, ist so umfassendund problematisch, daß ihm ein eigenes Kapitel gewidmet wer-den muß.¶Wir haben vom Netz gesprochen, das als die Gesamtheit allerInformations- und Kommunikationstransfers definiert werdenkann. Die Informationsübertragung ist in vielen Fällen privile-giert und bestimmten Eliten vorbehalten, was dem Netz einehierarchische Dimension verleiht. Andere Transaktionen hin-gegen sind für alle offen – das Netz hat also auch einen hori-zontalen oder nicht-hierarchischen Aspekt. Daten des Militärsund der Geheimdienste unterliegen der Geheimhaltung eben-so wie die der Banken und Währungsinformationen und ähnli-ches. Aber Telefon, Postsystem, öffentliche Datenbanken etc.sind weitgehend für alle zugänglich. Daher ist innerhalb des

120

das Netz für die Bedingungen des Cyberspace (wie in Tronoder Neuromancer) oder die Pseudo-Telepathie der »virtuellenRealität« gedacht. Als Fan von Cyberpunk male ich mir aus,daß »Realitätshacking« bei der Schaffung der TAZ eine we-sentliche Rolle spielen wird. Mit Gibson und Sterling vermuteich, daß das offizielle Netz es niemals schaffen wird, das Spin-nengewebe oder das Gegennetz auszuschalten – Datenpirate-rie, ungenehmigte Transmissionen und der freie Informations-fluß können nicht eingeforen werden. (Die Chaos-Theorie –wie ich sie verstehe – prophezeit, daß irgendein universalesKontrollsystem unmöglich ist.)¶Lassen wir jedoch die bloße Spekulation über die Zukunft bei-seite, haben wir uns ernsthaften Fragen über das Spinnengewe-be und die Technologie, die es impliziert, zu stellen. Die TAZwünscht vor allem die Vermeidung jeglichen Vermittelns,wünscht, ihre Existenz als unmittelbar zu erfahren. Das We-sentliche dieser Sache ist »Brust-an-Brust«, wie die Sufis sa-gen, oder von Angesicht-zu-Angesicht. Aber, ABER: das We-sentliche des Spinnengewebes ist Vermittlung. Maschinen sindhier unsere Botschafter – der menschliche Körper ist irrele-vant, außer als Terminal, mit all den negativen Konnotationendes Begriffs.¶Die TAZ kann vielleicht am ehesten ihren eigenen Raum fin-den, indem sie sich zwei scheinbar widersprüchliche Haltungengegenüber HiTech und deren Apotheose, dem Netz, durch denKopf gehen läßt: 1. das, was wir als die Fifth Estate/neopaläolit-hische post-Situ-ultragrüne Position bezeichnen könnten: WieLudditen gegen Vermittlung und gegen das Netz vorgehen;und 2. die Cyberpunk-Utopisten, Futuro-Libertären, Realitäts-hacker und ihre Verbündeten, die im Netz einen Evolutions-fortschritt sehen und davon ausgehen, daß jedwede Übel derVermittlung überwunden werden können – zumindest dann,wenn wir uns die Produktionsmittel angeeignet haben.¶Die TAZ stimmt den Hackern zu, denn sie will existent wer-den und dies zum Teil durch das Netz und sogar durch dieVermittlung des Netzes. Sie stimmt aber auch den Grünen zu,denn sie bewahrt sich die intensive Bewußtheit vom eigenenKörper und empfindet nur Abscheu vor CyberGnosis, den Ver-such, den Körper durch Instantaneität und Simulation zu

123

entstehenden Beziehungen für die TAZ nutzbar zu machensind.¶Die TAZ hat einen temporären wie wirklichen Ort in der Zeitund einen temporären wie wirklichen Ort im Raum. Aber siemuß natürlich auch ihren »Ort« im Spinnengewebe haben, unddieser Ort ist von anderer Natur, nicht wirklich, sondern virtu-ell. Das Spinnengewebe bietet nicht nur logistische Unterstüt-zung für die TAZ, es hilft auch, sie zu schaffen; grob gespro-chen könnte man sagen, daß die TAZ im Informations-Raumwie in der »wirklichen Welt« existiert. Wir haben bemerkt,daß es der TAZ, da sie temporär ist, notwendigerweise an eini-gen Vorteilen der Freiheit fehlt, die aus der Erfahrung vonDauer und mehr-oder-weniger festem Ort erst entsteht. Aberdas Spinnengewebe kann einiges von Dauer und Ort substitu-ieren, die TAZ von Anfang an informieren, ihr jede Menge anverdichteter Zeit und verdichtetem Raum liefern, die zu Daten»verflüchtigt« wurden.¶Beim derzeitigen Stand der Entwicklung des Spinnengewebesund unter Berücksichtigung unseres Verlangens nach dem»von Angesicht-zu-Angesicht« und nach dem Sensuellen müs-sen wir im Spinnengewebe primär ein Unterstützungssystemsehen, das Informationen von einer TAZ an eine andere liefert,die TAZ verteidigen, sie »unsichtbar« machen oder ihr Zähneverleihen kann, je nachdem, was die Situation erfordert. Abermehr noch: Wenn die TAZ ein Nomadencamp ist, dann hilftdas Spinnengewebe, die tribalen Epen, Lieder, Genealogienund Legenden zur Verfügung zu stellen; es verrät die gehei-men Karawanenrouten und Raubpfade, auf denen die Stam-mesökonomie basiert; es enthält sogar einige der Wege, denensie folgen werden, einige der Träume, die sie als Zeichen undOmen erfahren werden.¶Das Spinnengewebe bedarf keiner Computertechnologie, umzu existieren. Mündliche Botschaften, Post, das marginaleZine-Netzwerk, »Telefonketten« und ähnliches reichen, einInformations-Spinnengewebe zu schaffen. Das Entscheidendesind nicht die Marke oder das Level der verwendeten Technik,sondern die Offenheit und Horizontalität der Struktur. Nichts-destotrotz impliziert das gesamte Konzept des Netzes die Ver-wendung von Computern. In den SciFi-Imaginationen wird

122

schen Paläolithismus garantieren, einen primordial-schamani-schen Geist, der sogar das Netz selbst »infizieren« wird (worinmeinem Verständnis nach die wirkliche Bedeutung des Cyber-Punk liegt). Da die TAZ Intensivierung, Überfluß, Exzeß, Pot-latch, gelebtes Leben bedeutet, statt lediglich Überleben (survi-val – was das wehleidige Schibboleth der 80er Jahre war), kannsie weder durch Tech noch durch Anti-Tech definiert wer-den.¶Die Mandelbrot-Menge und deren computergraphische Reali-sierung zeigen uns – in einem fraktalen Universum – Karten,die in Karten eingebettet und faktisch verborgen sind, die wie-derum in Karten eingebettet und verborgen sind ... und so wei-ter – bis an die rechnerischen Grenzen. Wofür ist sie, dieseKarte, die in gewisser Weise ein 1:1 Verhältnis zu einer frakta-len Dimension aufweist? Was kann man damit anfangen, außerihre psychedelische Eleganz zu bewundern?¶Müßten wir uns eine Informationskarte vorstellen – eine karto-graphische Projektion des Netzes in seiner Gesamtheit, – hät-ten wir die Elemente des Chaos zu berücksichtigen, die bereitssichtbar geworden sind, so zum Beispiel bei den Operationenparalleller Anwendung, bei der Telekommunikation, beimTransfer elektronischen »Geldes«, in Gestalt von Viren, beimGuerillahacking und so weiter.¶Jedes dieser »Felder« des Chaos könnte durch – der Mandel-brot-Menge ähnlichen – Topographen dergestalt repräsentiertwerden, daß die »Peninsulas« in die Karte eingebettet oder indieser verborgen sind, so daß sie zu »verschwinden« scheinen.Dieses »Schreiben« – wovon Teile verschwinden, Teile sichim Hintergrund halten – repräsentiert genau den Prozeß,durch den das Netz bereits betroffen ist. Das Netz empfindetsich als unvollständig, letzten Endes aber als un-kontrollierbar.Mit anderen Worten, die Mandelbrot-Menge oder etwas ihrähnliches könnte sich als nützlich für das »Plotting« (in allenBedeutungen des Wortes) des Entstehens des Gegen-Netzesals chaotischer Prozeß erweisen, eine – um mit Prigogine zusprechen – »kreative Evolution«. Wenn zu nichts sonst, sodient die Mandelbrot-Menge als Metapher für ein »Kartogra-phieren« des TAZschen Interface mit dem Netz als ein Ver-schwinden von Information. Jede »Katastrophe« im Netz ist ein

125

transzendieren. Die TAZ findet die Tech/Anti-Tech-Dichoto-mie – wie die meisten Dichotomien – irreführend, da sich diesichtbaren Gegensätze als durch Semantik bewirkte Entstellun-gen oder gar Halluzinationen erweisen. Dies ist eine Art zu sa-gen, daß die TAZ in dieser, nicht in der Vorstellung von eineranderen Welt leben möchte, einer Vision von Welt, die ausfalscher Vereinheitlichung entstand (ganz grün ODER ganzmetallen), aus der nur nach und nach etwas werden kann (oderwie Alice sagte: »Marmelade gestern oder Marmelade morgen,aber niemals Marmelade heute«).¶Die TAZ ist »utopisch« in dem Sinne, daß sie sich eine Inten-sivierung des Alltaglebens ausmalt, oder – wie die Surrealistengesagt haben könnten – die Durchdringung des Lebens durchdas Wunderbare. Aber sie kann nicht »utopisch« in der unmit-telbaren Bedeutung des Wortes sein, nirgendwo, ein NichtOrt.Die TAZ ist irgendwo. Sie liegt an der Schnittstelle vieler Kräf-te, wie etwa der heidnische Energiepunkt an der Kreuzung my-steriöser ›ley-lines‹ liegt, was für den Adepten in scheinbarnicht in Beziehung stehenden Gelände- und Landschaftsteilen,bei Luftströmen, im Wasser und bei Tieren sichtbar ist. Der-zeit aber sind nicht alle Linien in Zeit und Raum eingraviert.Einige existieren nur »innerhalb« des Spinnengewebes, ob-wohl es Schnittstellen mit wirklichen Zeiten und Orten gibt.Vielleicht sind einige der Linien »nicht-gewöhnlich« in demSinne, daß es keine feste Regel für ihre Quantifizierung gibt.Diese Linien lassen sich im Lichte der Chaos-Theorie besserstudieren als per Soziologie, Statistik, Wirtschaftswissenschaf-ten etc. Die Kraftfelder, durch die die TAZ entsteht, sind je-nen chaotischen »Seltsamen Attraktoren« ähnlich, die sozusa-gen zwischen den Dimensionen existieren.¶Die TAZ nutzt ihrer Natur nach jede Möglichkeit, sich selbstzu verwirklichen – sie wird entweder in einer Höhle oder einerL-5 Space City entstehen –, aber sie wird vor allem leben, jetztoder sobald wie möglich, in welch suspekter oder herunterge-kommener Form auch immer, spontan, ohne sich um Ideologieoder gar Anti-Ideologie zu scheren. Sie wird sich des Compu-ters bedienen, weil der Computer existiert, aber sie wird sichauch Kräfte bedienen, die so wenig mit Entfremdung oder Si-mulation zu tun haben, daß sie der TAZ einen gewissen psychi-

124

ternehmen und Bürokratien zu produzieren. Darüberhinausbedarf es keiner hellseherischen Fähigkeiten, vorauszusagen,daß diese »Klasse« ihre Unterklasse entwickeln wird – eine ArtLumpenyuppietariat: Hausfrauen, zum Beispiel, die für ihreFamilien für ein »Zweiteinkommen« sorgen, indem sie ihreWohnungen in Elektro-Schwitzbuden verwandeln, kleine Ar-beitstyranneien, bei denen der »Boss« ein Computernetzwerkist.¶Ich bin auch wenig beeindruckt von der Art Information undden Dienstleistungen, wie sie von existierenden »radikalen«Netzwerken offeriert werden. Irgendwo – so wird einem gesagt– gibt es eine »Informationsökonomie«. Vielleicht ist dem so.Aber die Information, die über die »alternativen« BBSs gehan-delt werden, scheint gänzlich aus Tratsch und technischemGeplauder zu bestehen. Ist das eine Ökonomie? Oder bloß einZeitvertreib für Enthusiasten? Okay, PCs haben eine weitere»Printrevolution« bewirkt – Okay, es entwickeln sich margina-le Spinnengewebe – Okay, ich kann jetzt sechs Telefonge-spräche gleichzeitig führen. Was aber hat das für mein norma-les Alltagsleben geändert?¶Ehrlich, ich verfügte bereits über jede Menge Daten, um mei-ne Wahrnehmungen zu bereichern – was ist denn mitBüchern, Filmen, TV, Theater, Telefonen, der Post, veränder-ten Bewußtseinszuständen und so weiter? Brauche ich wirklicheinen PC, um an noch mehr Daten heranzukommen? Du bie-test mir geheime Informationen? Nun ... vielleicht bin ich ver-sucht – aber ich fordere immer noch wunderbare Geheimnisse,mehr als nur nicht ins Telefonbuch eingetragene Nummernoder Triviales über Cops und Politiker. Vor allem möchte ichComputer, die mir Informationen bieten, die mit realen Güternzu tun haben – »den guten Dingen im Leben«, wie es in derPräambel der IWW heißt. Und hier muß ich, da ich dieHacker und BBSer einer ärgerlichen intellektuellen Vagheitbezichtige, erklären, was ich mit »realen Gütern« meine.¶Aus politischen und persönlichen Gründen stehe ich auf gutesEssen, besseres als jenes, das der Kapitalismus zu bieten ver-mag – Essen, das nicht umweltverschmutzt und noch mit star-kem und natürlichem Geschmack gesegnet ist. Um die Dingenoch komplizierter zu machen: Stell dir vor, das Essen, nach

127

Knoten der Macht für das Spinnengewebe, das Gegennetz.Das Netz erleidet durch Chaos Schaden, während das Spin-nengewebe dadurch gedeihen kann.¶Ob durch einfache Datenpiraterie oder aber durch eine kom-plexere Entwicklung der tatsächlichen Beziehung zum Chaos,der Spinnengewebehacker, der Cybernetiker der TAZ wirdWege finden, sich Perturbationen, Crashes und Störungen imNetz zunutze zu machen (Wege, Informationen aus »Entro-pie« zu ziehen). Als Bricoleur, Sammler von Informationsfet-zen, Schmuggler, Erpresser, vielleicht sogar Cyberterroristwird der TAZ-Hacker an der Entwicklung klandestiner frakta-ler Verbindungen arbeiten. Diese Verbindungen und die ande-ren Informationen, die zwischen ihnen ausgetauscht werden,werden »Antriebskräfte« für das Entstehen der TAZ selbst sein– so, als würde man dem Energiemonopol Elektrizität stehlen,um ein leerstehendes Haus für Besetzer zu erleuchten.¶Um Situationen zu produzieren, die der TAZ dienlich sind,wird das Spinnengewebe im Netz parasitieren – wir können indieser Strategie aber auch den Versuch sehen, an der Schaffungeines alternativen und autonomen Netzes zu arbeiten, das»frei« und nicht länger parasitär ist und als Basis für eine»neue Gesellschaft« dient, »die aus der Hülse der alten entste-hen wird.« Das Gegen-Netz und die TAZ können, praktischgesprochen, als Ziele für sich gesehen werden, theoretisch aberauch als Kampfformen für eine andere Realität.¶Nachdem dies gesagt ist, müssen wir uns aber noch einiger Be-denken gegenüber Computern annehmen, einiger unbeant-worteter Fragen über den Personal Computer.¶Die Geschichte von Computernetzwerken, BBSs und verschie-denen anderen Experimenten in Elektrodemokratie ist bislangweitgehend hobbymäßig betrieben worden. Viele Anarchistenund Libertäre haben ein tiefes Vertrauen in den PC als Waffeder Befreiung und Selbstbefreiung – aber eigentlich keinewirklichen Fortschritte, keine nennenswerten Schritte in Rich-tung Freiheit vorzuweisen.¶Ich habe wenig Interesse an einer hypothetischen, in Entste-hung begriffenen Klasse von selbständigen Datenverarbeitern,die bald in der Lage sein wird, in großem Umfang in Klitschenoder durch Scheißarbeit gegen Stücklohn für verschiedene Un-

126

einige Futuro-Libertäre prognostizieren. Aber die TAZ schertsich nicht besonders um »war« oder »wird sein«. Die TAZ istan Resultaten interessiert, an erfolgreichen Attacken auf dieRealität des Konsensus, an Durchbrüchen in intensiveres underfüllteres Leben. Wenn sich der Computer für dieses Projektnicht nutzen läßt, dann muß der Computer überwunden wer-den. Meine Intuition sagt mir jedoch, daß das Gegen-Netz be-reits entsteht, vielleicht sogar schon existiert – ich kann es abernicht beweisen. Die Theorie von der TAZ basiert weitgehendauf dieser Intuition. Natürlich beinhaltet das Spinnengewebeauch nichtcomputerisierte Netzwerke des Austausches wieetwa Samisdat, Schwarzmarkt usw. – aber das Gesamtpotentialdes nichthierarchischen Informationsnetzwerkes verweist logi-scherweise auf den Computer als Werkzeug par excellence.Jetzt warte ich auf die Hacker, die mir beweisen, daß ich rechthabe, ich mich auf meine Intuition verlassen kann. Wo sindmeine Streckrüben?¶

»Nach Croatan verschwunden«2

Wir haben nicht die Absicht, die TAZ zu definieren oder Dog-men darüber aufzustellen, wie sie geschaffen werden muß. Un-sere Behauptung ist vielmehr, daß sie geschaffen wurde, ge-schaffen werden wird, geschaffen wird. Es ist daher wichtigerund interessanter, einen Blick auf einige TAZen aus Vergan-genheit und Gegenwart zu werfen und über mögliche zukünf-tige Ausprägungen zu spekulieren. Indem wir ein paar Prototy-pen beschwören, sind wir vielleicht in der Lage, den potentiel-len Rahmen des Komplexes zu ermessen und vielleicht sogareine Ahnung von einem »Archetypen« zu bekommen. Statt ineine Art Enzyklopädismus zu verfallen, werden wir uns einerStreutechnik bedienen, eines Mosaiks flüchtiger Blicke. Wirbeginnen recht willkürlich mit dem 16. und 17.Jahrhundertund der Besiedlung der Neuen Welt.¶

129

dem ich mich sehne, ist illegal – nichtpasteurisierte Milch viel-leicht oder die köstliche kubanische Frucht Mammei, die nichtfrisch in die USA eingeführt werden darf, da ihre Kerne hallu-zinogen sind (so sagt man mir). Ich bin kein Farmer. Nehmenwir mal an, ich wäre Importeur seltener Parfüms und Aphrodi-siatika, und verschärfen wir das Ganze durch die Annahme, diemeisten meiner Waren wären ebenfalls illegal. Oder vielleichtwill ich auch nur mit Word-Processing-Services für organischeSteckrüben Geschäfte machen, weigere mich aber, die Trans-aktion dem Finanzamt zu melden (was das Gesetz – du kannstes glauben oder nicht – vorschreibt). Oder vielleicht möchteich andere Menschen treffen und wir uns unter Zustimmungaller in – illegalen – Akten gegenseitig Freude bereiten (dies istversucht worden, aber alle Hard-Sex-BBSs wurden zerschlagen– und von welchem Nutzen ist ein Underground mit lausigerSicherheit?). Kurzum, nehmen wir an, daß ich die Schnauze vonbloßer Information voll habe. Eurer Meinung nach solltenComputer bereits in der Lage sein, meine Bedürfnisse nach Es-sen, Drogen, Sex, Steuerhinterziehung zu befriedigen. Wasalso ist Sache? Warum geschieht es denn nicht?¶Die TAZ hat sich ereignet, ereignet sich und wird sich – mitoder ohne Computer – ereignen. Damit aber die TAZ ihrganzes Potential entfalten kann, muß sie weniger eine Sacheder Selbstentzündung, sondern mehr eine Angelegenheit von»Inseln im Netz« werden. Das Netz, oder vielmehr das Ge-gen-Netz, wird zu einem integralen Aspekt der TAZ, einer Be-reicherung zur Entfaltung ihres Potentials, einem »Quanten-sprung« (seltsam, wie dieser Begriff zur Bedeutung großerSprung kam) in Komplexität und Signifikanz. Die TAZ mußnun in einer Welt des puren Raumes existieren, der Welt derSinne. Liminal, dahinschwindend gar, muß die TAZ Informa-tion und Begehren kombinieren, um das Abenteuer zu beste-hen (ihr »Sichereignen«), ihr Schicksal bis zum äußersten her-auszufordern, sich in ihr eigenes Werden zu vertiefen.¶Vielleicht haben die Anhänger der neopaläolithischen Schulerecht, wenn sie behaupten, daß alle Formen der Entfremdungund Vermittlung zerstört oder verworfen werden müssen, da-mit wir unsere Ziele verwirklichen können – oder vielleichtwird die wahre Anarchie nur im All verwirklicht werden, wie

128

2 s. hierzu auch Peter Lamborn Wilson, Calibans’s Masque. SpiritualAnarchy & The Wild Man in Colonial America; in: Ron Sakolsky& James Koehnline (Hrsg.), Gone to Croatan. Origins of North Ame-rican Dropout Culture. – New York/Edinburgh: Autonomedia/AKPress, 1993, S. 95-116 (Anm. d. Ü.)

richte über »grauäugige Indianer« wurden als Legenden abge-tan. In den Schulbüchern hieß es, was sich wirklich zugetragenhabe, sei die Massakrierung der hilflosen Siedler durch die In-dianer gewesen. »Croatan« war jedoch nicht irgendein Eldora-do, sondern der Name eines benachbarten Stammes freundlichgesonnener Indianer. Die Siedlung wurde offenbar von derKüste in die Great Dismal Swamps verlegt und ging in den tri-balen Strukturen auf. Und die grauäugigen Indianer gab eswirklich – sie sind noch immer da und nennen sich noch immerCroatans.¶Die erste Kolonie in der Neuen Welt hat es also vorgezogen,den Kontrakt mit Prospero (Dee/Raleigh/Empire) zu lösen.Ihre Bewohner liefen mit Kaliban zu den Wilden über. Siestiegen aus. Sie wurden »Indianer«, »Eingeborene«, entschie-den sich für das Chaos, statt sich dem schrecklichen Elend derFronarbeit für die Plutokraten und Intellektuellen Londonsauszusetzen.¶Während Nordamerika entstand, wo einst »Turtle Island«war, blieb Croatan in seiner kollektiven Psyche fest verankert.Jenseits der Siedlungsgrenzen (Frontier) herrschte noch immerder »Natur«-Zustand vor (d.h. kein Staat) – und im Bewußt-sein der Siedler schlummerte stets die Option der Wildheit,die Versuchung, Kirche, Farmarbeit, Bildung, Steuern – all dieLasten der Zivilisation – hinter sich zu lassen, und auf die einoder andere Weise »nach Croatan zu verschwinden«. Als zu-dem die Revolution in England verraten wurde, zunächst vonCromwell, dann durch die Restauration, flohen sehr viele pro-testantische Radikale, oder sie wurden in die Neue Welt ab-transportiert (die zu einem Gefängnis geworden war, ein Ortdes Exils). Antinomisten, Familisten, Quaker, Levellers, Dig-gers und Ranters wurden schnell mit dem okkulten Schattender Wildheit vertraut.¶Anne Hutchinson und ihre Freundinnen und Freunde4 sind nurdie bekanntesten (weil aus der Oberklasse) der Antinomisten,die das Pech hatten, Opfer der Bay-Colony-Politik zu werden.Es gab allerdings einen sehr viel radikaleren Flügel dieser Be-wegung. Die Ereignisse, auf die sich Hawthorne in »The May-

131

Die Öffnung der »neuen« Welt wurde von Anfang an als ok-kultistische Operation begriffen. Der Magier John Dee, spirituel-ler Berater von Elizabeth I, scheint das Konzept des »magi-schen Imperialismus« erfunden und damit eine ganze Genera-tion infiziert zu haben. Halkyut und Raleigh erlagen seinemZauber, und Raleigh nutzte seine Verbindungen zur »Schoolof Night« – einer Kabale fortschrittlicher Denker, Aristokratenund Eingeweihter –, um Erforschung, Kolonisierung und Kar-tographie voranzutreiben. Shakespeares Der Sturm (The Tem-pest) diente der Propaganda für die neue Ideologie und dieRoanoke Colony war deren erstes Vorzeigeexperiment.¶Die alchimistische Sicht der Neuen Welt assoziierte diese mitmateria prima oder Hyle, dem »Zustand der Natur«, Unschuldund »Alles-ist-Möglich« (»Virgin-ia«), einem Anfangschaos,das die Eingeweihten in »Gold« transmutieren würden, dasheißt in spirituelle Perfektion wie auch materiellen Überfluß.¶Aber diese alchimistische Vision ist zum Teil auch geprägt vonder tatsächlichen Faszination vom ›Wilden‹, einer heimlichenSympathie dafür, einem Gefühl der Sehnsucht nach seinerformlosen Form, dem der »Indianer« zum zentralen Symbolwurde: der »Mensch« im Naturzustand, unverdorben durcheine »Regierung«. Kaliban, der Wilde Mann, haust wie ein Vi-rus just in der Maschine des Okkulten Imperialismus; derWald/das Tier/die Menschen sind von Anfang an ausgestattetmit der magischen Kraft der Marginalisierten, Geächteten,Outcasts. Einerseits ist Kaliban häßlich und die Natur eine»heulende Wildnis« – anderseits ist Kaliban edel und unge-bunden und die Natur das reinste Eden. Diese europäische Be-wußtseinsspaltung geht der romantischen/klassischen Dichoto-mie voraus; sie hat ihren Ursprung in der Magie (High Magic)der Renaissance. Die Entdeckung Amerikas (Eldorado, dieQuelle der Jugend) führte zu deren Kristallisierung; und sie be-schleunigte sich in tatsächlichen Kolonisierungsvorhaben.¶In der Grundschule wurde uns beigebracht, die ersten Besied-lungen in Roanoke3 seien gescheitert; die Kolonisatoren mach-ten sich auf und davon und hinterließen lediglich die krypti-sche Nachricht: »Nach Croatan verschwunden«. Spätere Be-

130

3 vgl. ibid., S. 95 ff. (Anm. d. Ü.) 4 vgl. ibid., S. 102-104 (Anm. d. Ü.)

Bauerngesellschaften, sondern »Utopias« waren, die nahezu exnihilo auf terra incognita geschaffen wurden, Enklaven totalerFreiheit, die freie Räume auf den Karten besetzten. Nach demFall von Tortuga blieb das Bukanierideal während des »Golde-nen Zeitalters« der Piraterie (ca. 1660–1720) lebendig. DieFolge waren Landbesiedlungen, in Belize beispielsweise, dievon Bukaniern durchgeführt wurden. Als sich dann die Szenenach Madagaskar verlagerte – einer Insel, die noch nicht vonirgendeiner imperialen Macht beansprucht und die von einemPatchwork lokaler Könige (Stammesoberhäupter) regiert wur-de, die nach Piratenverbündeten suchten – erreichte das Pira-tenutopia seine höchste Form.¶Defoes Bericht über Kapitän Mission und die Gründung vonLibertatia mag, wie einige Historiker behaupten, ein literari-scher Streich sein, mit dem die radikale Whig-Theorie propa-giert werden sollte – er war aber zunächst in The General His-tory of the Pyrates (1724–28) eingebettet. Diese Quellensamm-lung wird nach wie vor als Geschichtsschreibung geschätzt.Zudem wurde die Geschichte über Kapitän Mission nicht kriti-siert, als das Buch erschien und viele alte Madagaskar-Kennernoch am Leben waren. Sie scheinen die Geschichte geglaubtzu haben, weil sie zweifellos Piratenenklaven wie die von Li-bertatia gekannt hatten. Dort wurden erneut befreite Sklaven,Einheimische und selbst traditionelle Feinde, wie etwa die Por-tugiesen, eingeladen, als Gleiche an dem Projekt teilzuhaben.(Die Befreiung der Sklaven von Sklavenschiffen war eine derHauptbeschäftigungen.) Land war gemeinschaftlicher Besitz,Repräsentanten wurde nur für kurze Zeiträume gewählt, dieBeute geteilt. Es wurden Freiheitsdoktrinen gepredigt, die weitradikaler waren als selbst die des Common Sense.¶Libertatia hoffte auf Fortdauer, und Mission starb bei der Ver-teidigung der Enklave. Die meisten Utopias der Piraten warenallerdings temporär angelegt. Die wirklichen »Republiken« derKorsare waren faktisch ihre Schiffe, die unter »Articles« fuhren.Die Küstenenklaven kannten zumeist überhaupt kein Gesetz.Das letzte klassische Beispiel, Nassau auf den Bahamas, eineStrandsiedlung aus Hütten und Zelten, in der Wein getrunkenund sich hemmungslos geliebt wurde (und wo – laut Birges So-domy and Piracy – auch Knabenliebe nichts Außergewöhnliches

133

pole of Merry Mount« bezieht, sind historisch gesichert. DieExtremisten hatten offenbar beschlossen, sich völlig vom Chri-stentum loszusagen und sich dem Paganismus zuzuwenden.Wenn sie es geschafft hätten, sich mit ihren indianischen Ver-bündeten zu vereinen, hätte das Resultat ein synkretistische an-tinomistisch/keltisch/algonkinische Religion, eine Art norda-merikanisches Santeria des 17.Jahrhunderts sein können.¶Sektierer hatten unter den lockereren und korrupteren Admi-nistrationen der Karibik mehr Erfolg. Wegen der rivalisieren-den europäischen Interessen waren viele Inseln unbewohnt,oder es wurde gar überhaupt kein Besitzanspruch erhoben. Be-sonders Barbados und Jamaika müssen von vielen Extremistenbesiedelt worden sein, und ich glaube, daß die Einflüße vonLevellers und Ranters zur Enstehung des Bukanier-»Utopia«auf Tortuga beigetragen haben. Hier können wir dank Esque-melin eine erfolgreiche Proto-TAZ der Neuen Welt tiefgrei-fender studieren. Vor solch fürchterlichen ›Wohltaten‹ desImperialismus wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Rassismus undIntoleranz, vor den Torturen der Zwangsarbeit und der Trost-losigkeit der Plantagen fliehend, nahmen die Bukanier5 india-nische Lebensweisen an, heirateten in karibische Familien ein,akzeptierten Schwarze und Spanier als Gleiche, pfiffen auf jeg-liche Nationalität, bestimmten ihre Kapitäne per demokrati-scher Wahl und kehrten in den »natürlichen Zustand« zurück.Nachdem sie sich »im Krieg mit der ganzen Welt« deklarierthatten, segelten sie los, um zu räubern. Und dies nach gemein-samen Verträgen, die »Articles« genannt wurden und so ega-litär waren, daß jeder den gleichen Anteil und der Kapitän ge-wöhnlich 1 1/4 oder 1 1/2 Beuteanteile erhielt. Züchtigungund Bestrafung waren verboten – Streitereien wurden per Ab-stimmung beigelegt oder per Duell entschieden.¶Es ist schlichtweg falsch, die Piraten als Wegelagerer der Seeoder gar Protokapitalisten zu bezeichnen, wie dies einige Hi-storiker getan haben. In gewisser Weise waren sie »Sozialban-diten«, obwohl ihre Basiscommunities keine traditionellen

132

5 Bukanier – frz. boucanier, eigtl. = Büffeljäger, ehem. Bez. bes. fürBewohner der Antillen; karib. Wort: westindischer Seeräuber im17.Jh. (Anm. d. Ü.)

ten, entflohene Sklaven aufnahmen, als ›Zwischenstation‹ derUnderground Railway7 fungierten und ein religiöses und ideo-logisches Zentrum für Sklavenrebellionen waren. Die Religionwar HooDoo, eine Mischung aus afrikanischen, indianischenund christlichen Elementen. Und laut H. Leaming-Bey warendie Glaubensältesten und Führer der Great Dismal Maroonsals »Seven Finger High Glister« bekannt.¶Die Ramapaughs des nördlichen New Jersey (unrichtigerweiseals »Jackson Whites« bekannt) haben ebenfalls eine romanti-sche und archetypische Genealogie: befreite Sklaven derholländischen Poltroons, diverse Delaware- und Algonkin-Clans, die üblichen »Prostituierten«, die »Hessen« (Hessians:ein Schlagwort für ehemalige britische Söldner, abtrünnigeLoyalisten usw.) und örtliche Banden von Sozialbanditen wieden Claudius Smith’s.¶Auf einen afrikanisch-islamischen Ursprung berufen sich eini-ge Gruppen wie etwa die Moors of Delaware und die BenIshmaels8, die Mitte des 18. Jahrhunderts von Kentucky nachOhio migrierten. Die Ishmaels praktizierten Polygamie, tran-ken keinen Alkohol, verdienten ihren Lebensunterhalt als Min-strels, gingen Ehen mit Indianern ein und nahmen deren Bräu-che und Gewohnheiten an und huldigten so sehr dem Noma-dismus, daß sie ihre Häuser auf Räder bauten. Das Dreieck ih-rer jährlichen Migration wurde unter anderem durch Frontier-Städten mit Namen wie Mecca und Medina gebildet9. Im19. Jahrhundert hegten einige von ihnen anarchistische Ideale,und die Eugeniker des Eugenics Movement begingen an ihnenein besonders teufliches Pogrom – nach ihrer Losung »Erlö-sung durch Auslöschung«. Einige der frühesten eugenischenGesetze richteten sich gegen Gruppen wie die Ishmaels. Als

135

war), Lieder gesungen (die Piraten waren außerordentlich mu-sikbegeistert und heuerten Bands für die Dauer eines Raubzu-ges an) und fürchterliche Exzesse veranstaltet wurden, ver-schwand über Nacht, als die britische Flotte in der Bucht auf-tauchte. Blackbeard und »Calico Jack« Rackham und seineCrew von Piratinnen machten sich an wildere Küsten und inunzüchtigere Gefilde davon, während andere sich zu bessernversprachen. Aber die Bukaniertradition setzte sich sowohl aufMadagaskar – wo die Kinder der Piraten ihre eigenen Königrei-che errichteten – und in der Karibik fort, wo entflohene Skla-ven, und andere Menschen unterschiedlicher Hautfarbe in denBergen und im Hinterland als »Maroons« existierten. Als ZoraNeale Hurston in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts dieMaroon-Community auf Jamaica besuchte (siehe Tell My Hor-se), verfügte diese noch über einen gewissen Grad an Autono-mie und pflegte die alten Bräuche. Die Maroons von Surinampraktizieren immer noch afrikanischen »Paganismus«.¶Während des 18.Jahrhunderts produzierte Nordamerika eben-falls eine ganze Reihe »tri-racial isolate communities« vonDrop-Outs. (Der klinisch klingende Terminus »tri-racial isola-te communities« geht auf die Eugenikerbewegung (EugenicsMovement) zurück, welche die ersten wissenschaftlichen Studi-en über diese Communities erstellte. Die »Wissenschaft« dien-te allerdings nur dazu, den Haß auf »Mischlinge« und die Ar-men zu legitimieren, und die »Lösung des Problems« bestandgewöhnlich in Zwangssterilisation.) Die Kerne bestanden im-mer aus entflohenen Sklaven und Leibeigenen, sogenannten»Kriminellen« (d.h. ganz Armen), »Prostituierten« (wie dieEugeniker weiße Frauen bezeichneten, die Nichtweiße gehei-ratet hatten) und aus Angehörigen verschiedener lokaler Stäm-me. In einigen Fällen, wie etwa bei den Seminole und Chero-kee, wurden die Neuankömmlinge von der traditionellen triba-len Struktur absorbiert, in anderen Fällen wurden neue Stäm-me gegründet. So ›entstanden‹ auch die Maroons der GreatDismal Swamps6 , die das 18. und 19. Jahrhundert überdauer-

134

6 s. hierzu auch: James Koehnline, Legend of the Great Dismal Ma-roons. Swamp Rats of the World Unite! A Secret History of »TheOther America«; in: Sakolsky & Koehnline, S. 79-93 (Anm. d. Ü.)

7 Underground Railway – Geheimorganisation zum Durchschleusenentflohener Sklaven aus den Südstaaten nach den Nordstaaten undKanada vor der Abschaffung der Sklaverei (Anm. d. Ü.)

8 s. hierzu auch: Hugo Prosper Leaming, The Ben Ishmael Tribe:Fugitive Nation of the Old Northwest; in: Sakolsky & Koehnline,S. 19-60; und: Peter Lamborn Wilson, Sacred Drift. Essays on theMargins of Islam. – San Francisco: City Lights Books, 1993

9 vgl. Migrationskarte, in: Sakolsky & Koehnline, S. 18

ten liegt noch immer über den Überbleibseln unserer Wälder(die sich, nebenbei bemerkt, seit dem 19. Jahrhundert ausge-breitet haben, da Farmland zu Buschwald wurde. Thoreauträumte auf seinem Totenbett von der Rückkehr von » ... Indi-anern ... Wäldern ... «: Rückkehr des Unterdrückten).¶Die Moors und Ramapaughs haben natürlich gute materielleGründe, sich als Indianer zu sehen – schließlich haben sie in-dianische Vorfahren –, aber wenn wir ihre Selbstbezeichnungin »mythischer« wie historischer Sicht würdigen, werden wirzu Erkenntnissen gelangen, die bei der Suche nach der TAZweiterhelfen. In tribalen Gesellschaften existieren von einigenSoziologen als Männerbünde bezeichnete Gruppierungen: To-temgesellschaften, die in einem Akt der Gestaltveränderungmit der »Natur« identisch, das Totem-Tier werden wollen(Werwölfe, Jaguarschamanen, Leopardenmänner, Katzenzau-berer usw.). Im Kontext einer gesamten kolonialen Gesell-schaft (wie Taussig in Shamanism, Colonialism, and the WildMan ausführt) wird die Kraft der Gestaltveränderung als derindigenen Kultur insgesamt inhärent erachtet – daher kommtdem am stärksten unterdrückten Sektor der Gesellschaft durchden Mythos okkulten Wissens eine paradoxe Macht zu, dievom Kolonisten gefürchtet, jedoch auch für sich ersehnt wird.Natürlich verfügen die natives über ein gewisses okkultes Wis-sen; aber als Reaktion auf die imperiale Wahrnehmung von na-tive culture als eine Art »spiritual wild(er)ness« sehen sich die na-tives mehr und mehr bewußt in dieser Rolle. Auch wenn siemarginalisiert werden, gewinnt doch die Marginalität eine ma-gische Aura. Vor dem Auftauchen des weißen Mannes warensie einfach nur Stämme – nun sind sie »Hüter der Natur«, le-ben im »Naturzustand«. Der Kolonist selber wird von diesem»Mythos« verführt. Wann immer ein Amerikaner aussteigenoder zurück zur Natur möchte, stets »wird er zum Indianer«.Die radikalen Demokraten von Massachusetts (geistige Nach-fahren der radikalen Protestanten), die die Tea Party organi-sierten und tatsächlich glaubten, Regierungen könnten abge-schafft werden (die gesamte Berkshire-Region erklärte, sich ineinem »Naturzustand« zu befinden!), verkleideten sich als»Mohawks«. Die Kolonisten, die sich plötzlich gegenüberihrem Herkunftsland marginalisiert sahen, nahmen die Rolle

137

Stamm »verschwanden« sie in den zwanziger Jahren, verstärk-ten aber wahrscheinlich die Reihen früher »schwarz-islami-scher« Sekten wie dem Moorish Science Temple.¶Ich selbst wuchs mit Legenden über die »Kallikaks« der nahe-gelegenen Pine Barrens von New Jersey auf (und überLovecraft natürlich, einen fanatischen Rassisten, der von denisolierten Communities fasziniert war). Die Legenden erwiesensich als Volkserzählungen, die auf den Verleumdungen der Eu-geniker beruhten, die ihr US-Hauptquartier in Vineland, NewJersey, unterhielten und die üblichen »Reformen« gegen »Ras-senmischung« und »Schwachsinn« in den Barrens anstrengten(einschließlich der Publikation von Fotografien der Kallikaks,die ebenso grob wie offensichtlich retouchiert worden waren,damit diese wie Monster aussahen).¶Die »isolierten Communities« – zumindest diejenigen, die ihreIdentität bis ins 20. Jahrhundert hinein bewahrt haben – wei-gerten sich durchgehend, von der Mainstream-Kultur oder derschwarzen »Subkultur« aufgesogen zu werden, der moderneSoziologen sie gerne zuordnen. In den siebziger Jahren bean-tragten eine Reihe von Gruppen, darunter die Moors und dieRamapaughs, inspiriert von der American Native Renaissance,ihre Anerkennung als indianische Stämme. Sie erhielten Unter-stützung von indianischen Aktivisten, der offizielle Status wur-de ihnen jedoch verweigert. Hätten sie gewonnen, wäre viel-leicht ein gefährlicher Präzedenzfall für alle möglichen Drop-outs geschaffen worden, von »weißen Peyotisten« über Hip-pies bis zu schwarzen Nationalisten, »Ariern« (Aryans), Anar-chisten und Libertären – ein »Reservat« für alle und jeden.Das »Europäische Projekt« kann die Existenz der Wildennicht anerkennen – das grüne Chaos ist weiterhin eine viel zugroße Bedrohung des imperialen Traumes von Ordnung.¶Die Moors und Ramapaughs wiesen die »diachronische« oderhistorische Erklärung ihrer Ursprünge zugunsten einer »syn-chronen«, auf einem »Mythos« indianischer Adoption basie-renden Selbstidentität zurück. Oder um es anders auszu-drücken, sie nannten sich selbst »Indianer«. Man stelle sich vor,wieviele nach Croatan abreisen würden, wenn jeder, der eswünscht, »ein Indianer zu sein«, dies durch einen Akt derSelbstbezeichnung erreichen könnte. Jener alte okkulte Schat-

136

Vor der »Vollendung der Karte« ging jede Menge antiautori-tärer Energie in »eskapistische« Kommunen wie ModernTimes, die verschiedenen Phalanstères und so weiter. Interes-santerweise sollten einige dieser Projekte nicht auf »ewig« be-trieben werden, sondern nur so lange, wie sie Befriedigung ge-währen würden. An sozialistisch-utopischen Maßstäben gemes-sen, »scheiterten« diese Experimente, und wir wissen dahersehr wenig über sie.¶Als sich das Streben über die Siedlungsgrenze hinaus als un-möglich erwies, begann in Europa die Ära revolutionärerKommunen in den Städten. Die Kommunen von Paris, Lyonsund Marseille überlebten nicht lange genug, um irgendwelcheCharakteristika von Dauer aufweisen zu können, und man fragtsich, ob sie dies überhaupt sollten. Unserer Ansicht nach liegtdie hauptsächliche Faszination im Geiste der Kommunen.Während und nach jenen Jahren begannen Anarchisten mitder Praktizierung des revolutionären Nomadismus, zogen vonAufstand zu Aufstand, versuchten, in sich die Intensität desElans zu bewahren, den sie im Moment der Insurrektion erlebthatten. Tatsächlich sahen gewisse Anarchisten stirnerscher/nietzscheanerscher Prägung in dieser Aktivität das Ziel an sich,einen Weg, immer eine autonome Zone zu besetzen, die Interzo-ne, die sich während oder in der Folge von Krieg und Revolu-tion auftut (vgl. Pynchons »Zone« in Gravity’s Rainbow). Sieerklärten, wenn irgendeine sozialistische Revolution erfolgreichsein sollte, wären sie die ersten, die sich dagegen auflehnten. Siehatten nicht die Absicht aufzuhören, solange es keine univer-selle Anarchie gibt. 1917 begrüßten sie in Rußland freudig diefreien Sowjets: das war ihr Ziel. Aber sobald die Bolschewikidie Revolution verraten hatten, waren die individuellen Anar-chisten die ersten, die auf den Kriegspfad zurückkehrten. NachKronstadt verurteilten natürlich alle Anarchisten die »Sowjet-union« (ein begrifflicher Widerspruch) und zogen auf der Su-che nach neuen Insurrektionen weiter.¶Die Ukraine der Machno-Bewegung und das anarchistischeSpanien waren auf Dauer angelegt, und trotz der Lasten undZwänge andauernden Krieges läßt sich in beiden Fällen von ei-nem gewissen Erfolg sprechen: nicht daß sie eine »lange Zeit«existiert hätten, aber sie waren gut organisiert und hätten län-

139

marginalisierter natives an, um so (in gewissem Sinne) an ihrerokkulten Kraft, ihrer mythischen Ausstrahlung teilzuhaben.Von den Mountain Men bis zu den Boy Scouts – der Traum,»zum Indianer zu werden«, zieht sich durch unzählige Strö-mungen der amerikanischen Geschichte, der Kultur und desBewußtseins.¶Die sexuellen Phantasien, die mit »tri-racial groups« verbundensind, bestätigen diese Hypothese. »Natives« sind natürlich im-mer unmoralisch, aber Überläufer zu diesen und Drop-outsmüssen gänzlich polymorph-pervers sein. Die Bukanier warenSodomiten, die Maroons und Mountain Men lebten in einer»Mischkultur«, bei den »Jukes und Kallikaks« gab es Inzest,die Kinder liefen nackt umher und masturbierten in der Öf-fentlichkeit usw. usw. Die Rückkehr in einen »Natur«zustand«scheint die Ausübung jedes »unnatürlichen« Aktes zu gestat-ten, zumindest dann, wenn wir den Puritanern und EugenikernGlauben schenken. Und da viele Menschen in unterdrückten,moralistischen, rassistischen Gesellschaften sich heimlich ge-nau diese zügellosen Akte wünschen, projizieren sie sie auf dieMarginalisierten und wiegen sich damit in der Gewißheit, daßsie selber zivilisiert und rein bleiben. Und tatsächlich lehneneinige marginalisierte Communities den moralischen Konsensder Gesellschaft ab – die Piraten taten dies ganz sicher! – undlebten zweifellos einige der von der Zivilisation unterdrücktenWünsche aus. (Würdest du das nicht?) »Wild« werden ist stetsein erotischer Akt, ein Akt der Nacktheit. Von der Erfüllungvon Nietzsches Traum von einer neuen, von ethnischem undnationalem Chauvinismus befreiten Humanität – einem Vor-läufer des »psychischen Nomaden« vielleicht sind wir heuteweiter entfernt als zu seiner Zeit. Chauvinismus ist nach wievor dominant. Aber die autonomen Zonen der Bukanier undMaroons, Ishmaels und Moors, Ramapaughs und »Kallikaks«oder ihre Geschichten bleiben als Indikatoren dessen, wasNietzsche »den Willen zur Macht als Verschwinden« genannthaben könnte. Wir müssen auf dieses Thema zurückkommen.¶

Musik als ein organisatorisches Prinzip

Unterdessen wenden wir uns jedoch der Geschichte des klassi-schen Anarchismus im Kontext des TAZ-Konzepts zu.¶

138

gestohlen) und wunderliche Reformer jeglicher Couleur (ein-schließlich Buddhisten, Theosophen und Vedantisten) tauch-ten haufenweise in Fiume auf. Die Party nahm kein Ende.D’Annunzio trug jeden Morgen vom Balkon Gedichte undManifeste vor, jeden Abend gab es ein Konzert, danach einFeuerwerk. Hierin bestand die ganze Aktivität der Regierung.Als achtzehn Monate später der Wein und das Geld ausgegan-gen waren und schließlich die italienische Flotte auftauchte undein paar Granaten auf das Stadtpalais abfeuerte, hatte keinermehr die Energie, Widerstand zu leisten.¶D’Annunzio zeigte später –, wie viele italienische Anarchisten –Sympathien für den Faschismus – faktisch brachte Mussolini(der Ex-Syndikalist) selbst den Poeten auf diesen Weg. AlsD’Annunzio seinen Irrtum erkannte, war es zu spät: er war zualt und krank. Aber Il Duce ließ ihn ohnehin töten – vom Bal-kon stürzen – und machte ihn so zum »Märtyrer«. Was Fiumebetrifft, so können wir auf unserer Suche aus diesem Beispielmehr über einige Aspekte lernen, obwohl die Ernsthaftigkeitder freien Ukraine und des freien Barcelona fehlte. In gewisserWeise war Fiume das letzte Piraten-Utopia (oder das einzigemoderne Beispiel), aber vielleicht auch so etwas wie die erstemoderne TAZ.¶Ich glaube, wenn wir Fiume mit dem Paris der Revolte von1968 (und den städtischen Insurrektionen der frühen siebzigerJahre in Italien) wie auch mit den amerikanischen gegenkultu-rellen Kommunen und den Einflüssen der Anarchos/NeuenLinken vergleichen, sollten wir gewisse Ähnlichkeiten feststel-len, zum Beispiel: die Wichtigkeit ästhetischer Theorie (s. dieSituationisten) – das, was »Piratenökonomie« genannt werdenkönnte, gut leben vom Surplus gesellschaftlicher Überproduk-tion – auch die Beliebtheit farbenprächtiger Militäruniformen– und das Konzept von Musik als Mittel revolutionärer gesell-schaftlicher Veränderung – und schließlich die Gemeinsamkeitder Nichtdauer, der Bereitschaft, weiterzuziehen, der Gestalt-veränderung, des Umsiedelns an andere Universitäten, auf an-dere Berggipfel, in andere Ghettos, Fabriken, sichere Unter-schlüpfe, verlassene Farmen – oder gar das Einsteigen auf an-dere Bewußtseinsebenen. Niemand versuchte, eine weitere re-volutionäre Diktatur zu errichten, weder in Fiume, Paris, noch

141

ger bestehen können, wäre nicht die Aggression von außen ge-wesen. Ich werde mich daher statt dessen bei den Experimen-ten der Zwischenkriegsperiode auf die verrückte Republik vonFiume konzentrieren, die sehr viel weniger bekannt ist undnicht auf Dauer angelegt war.10¶Gabriele D’Annunzio, dekadenter Poet, Künstler, Musiker,Ästhet, Frauenheld, tollkühner Pionier der Aeronautik, Zaube-rer, Genie und Schurke, ging aus dem Ersten Weltkrieg alsHeld hervor, der über eine kleine Armee verfügte: die »Ardi-ti«. Auf der Suche nach Abenteuer beschloß er, die Stadt Fiu-me einzunehmen und sie aus jugoslawischer in italienischeHand zu übergeben. Nach einer nekromantischen Zeremoniemit seiner Mätresse auf einem Friedhof in Venedig machte ersich daran, Fiume zu erobern. Dies gelang ihm ohne nennens-werte Schwierigkeiten. Aber Italien lehnte sein großzügigesAngebot ab. Der Premierminister schimpfte ihn einen Ver-rückten.¶Beleidigt beschloß D’Annunzio, die Unabhängigkeit auszuru-fen und zu sehen, wie lange er diese verteidigen könne. Mit ei-nem seiner anarchistischen Freunde entwarf er die Verfassung,in der Musik zum zentralen Prinzip des Staates erklärt wurde.Die Marineangehörigen (Deserteure und anarchistische Schiff-fahrtsgewerkschafter aus Mailand) nannten sich Uscochi – nachschon lange verschwundenen Piraten, die einst auf der Küstevorgelagerten Inseln lebten und venezianische und ottomani-sche Schiffe überfielen. Den modernen Uscochi gelangen eini-ge wilde Coups: reiche italienische Handelsschiffe garantiertender Republik plötzlich eine Zukunft: Geld in den Koffern!Künstler, Bohèmiens, Abenteurer, Anarchisten (D’Annunziokorrespondierte mit Malatesta), Flüchtlinge und Staatenlose,Homosexuelle, militärische Dandies (die Uniform war schwarzund mit dem Piratenzeichen geschmückt – später von der SS

140

10 Im folgenden erliegt der Autor zu sehr der Faszination des Ästheti-zismus der Genußdiktatur des in Fiume selbstherrlich agierendenD’Annunzio, ohne deren nationalistische Motivation zu erwähnen.Aus dem operettenhaften Versuch eines Gesamtkunstwerkes wurdeletztlich eine präfaschistische Bewegung. Waren die von den Parti-sanen in Italien und Jugoslawien befreiten Gebiete keine tem-porären autonomen Zonen, lieber Hakim? (Anm. d. Ü.)

daß man ihn als Heiligen in Erinnerung behält. Allerdings wirder heute noch von Anarchisten mißverstanden und des »Ver-rats« an einer »sozialistischen Regierung« bezichtigt. Hätteder Sowjet nur ein Jahr gedauert, würden wir bei der Erwäh-nung seiner Schönheit weinen müssen – aber bevor auch nurdie ersten Blumen jenes Frühlings verwelkt waren, wurden derGeist13 und die Poesie ausgelöscht, und wir haben all das ver-gessen. Stell dir vor, wie es gewesen sein muß, die Luft einerStadt zu atmen, in der der Volksbeauftragte für Volksauf-klärung gerade prophezeit hat, die Schulkinder würden balddie Werke Walt Whitmans auswendig kennen. Ach, gäbe esdoch eine Zeitmaschine ... ¶

Der Wille zur Macht als Verschwinden

Foucault, Baudrillard et. al. haben ausführlich verschiedeneFormen des »Verschwindens« diskutiert. Ich will hier darle-gen, daß die TAZ in gewisser Weise eine Taktik des Ver-schwindens ist.¶Wenn Theoretiker vom Verschwinden des Sozialen sprechen,benennen sie damit zum einen die Unmöglichkeit der »sozia-len Revolution« sowie die Unmöglichkeit »des Staates«, denAbgrund der Macht, das Ende des Diskurses der Macht. Dieanarchistische Fragestellung sollte folglich sein: Warum sichmit einer Macht konfrontieren, die all ihre Bedeutung verlorenhat und zur bloßen Simulation geworden ist? Solche Konfron-tationen werden lediglich gefährliche und häßliche Gewaltaus-brüche der hohlköpfigen Blödhammel zur Folge haben, dieüber sämtliche Waffenarsenale und Knäste verfügen. (Viel-leicht ist dies ein krasses amerikanisches Mißverstehen subli-mer und scharfsinniger franco-germanischer (Franco-Germanic)Theorie. Wenn ja, gut; wer hat denn gesagt, Verstehen sei fürdas Umsetzen einer Idee notwendig?)¶Meinem Verständnis nach scheint Verschwinden eine sehr lo-gische radikale Option für unsere Zeit zu sein, keineswegs einDesaster oder der Tod für das radikale Projekt. Anders als diemorbid nihilistische Deathfreak-Auffassung von Theorie in-tendiert meine, aus ihr einen Sprengsatz nützlicher Strategien

143

in Millbrook. Entweder die Welt würde sich ändern oder ebennicht. Bleib unterdessen in Bewegung und lebe intensiv.¶Der Münchner Sowjet (oder die »Räterepublik«) von 1919zeigte gewisse Grundzüge der TAZ, wenn auch ihre erklärtenZiele – wie bei den meisten Revolutionen – nicht eben »tem-porär« waren. Gustav Landauer als Kulturminister und SilvioGesell als Wirtschaftsminister und andere antiautoritäre undextrem libertäre Sozialisten wie der Dichter/Dramatiker ErnstMühsam und Ernst Toller und Ret Marut (der Romanschrift-steller B. Traven) gaben dem Sowjet einen deutlichen anarchi-stischen Touch. Landauer, der Jahre der Isolation verbrachte,um an seiner großen Synthese von Nietzsche, Proudhon, Kro-potkin, Stirner, Meister Eckhardt, den radikalen Mystikernund den romantischen Volksphilosophen11 zu arbeiten, wußtevon Anfang an, daß der Sowjet zum Scheitern verurteilt war.Er hoffte nur, er würde lange genug existieren, damit er ver-standen werden könnte. Kurt Eisner, Mitinitiator und Märtyrerdes Sowjets12, glaubte buchstäblich, daß Poeten und Poesie dieBasis der Revolution bilden sollten. Es existierten Pläne, großeTeile Bayerns einem Experiment anarcho-syndikalistischenWirtschaftens und gemeinschaftlichen Lebens zu widmen.Landauer unterbreitete Pläne für ein System Freier Schulenund für ein Theater des Volkes. Die Unterstützung für den So-wjet war mehr oder weniger beschränkt auf die ärmsten Unter-klassen und Bohèmiens Münchens und Gruppen wie die Wan-dervögel (eine neoromantische Jugendbewegung), jüdische Ra-dikale (wie Buber), die Expressionisten und andere Randexi-stenzen. Daher wird die Münchner Räterepublik von Histori-kern als »Kaffeehausrepublik« abgetan und deren Bedeutungim Vergleich mit der marxistischen und spartakistischen Parti-zipation an Deutschlands Nachkriegsrevolution(en) herabge-würdigt. Von den Kommunisten ausmanövriert und schließlichvon Soldaten ermordet, die unter dem Einfluß der okkult/fa-schistischen Thulegesellschaft standen, verdient es Landauer,

142

11 »Volk« im Original deutsch (Anm. d. Ü.)12 Kurt Eisner wurde nach Ausrufung der Republik am 8. November

1918 Ministerpräsident und Außenminister und auf dem Weg inden Landtag am 21. Februar 1919 ermordet (Anm. d. Ü.) 13 »Geist« im Original deutsch (Anm. d. Ü.)

Parallelen: »Networking« als Alternative zu Politik wird in vie-len gesellschaftlichen Bereichen praktiziert, und eine nicht-hierarchische Organisationsweise ist selbst über die anarchisti-sche Bewegung hinaus populär geworden, schlicht und einfach,weil sie funktioniert. (ACT UP und Earth First! sind zwei Bei-spiele. Alcoholics Anonymous ist – seltsam genug – ein weite-res.)¶Arbeitsverweigerung kann in Form von Absenteismus, Trun-kenheit am Arbeitsplatz, Sabotage und bloßer Unaufmerksam-keit stattfinden, aber auch neuen Rebellionsweisen Auftrieb ge-ben: mehr Selbständigkeit, Eingebundensein in die »schwarze«Ökonomie und »lavoro nero«, Ausweitung des Prinzips der so-zialen Hängematte und andere kriminelle Optionen, Grasan-bau etc. – alles mehr oder weniger »unsichtbare« Aktivitätenim Gegensatz zur traditionellen linken Konfrontationstrategiewie etwa der des Generalstreiks.¶Sich der Kirche verweigern? Nun, die »negative Haltung« be-steht wahrscheinlich im ... Fernsehgucken. Aber die positivenAlternativen finden wir in allen möglichen nicht-autoritärenFormen der Spiritualität, vom »nichtkirchlichen« Christentumbis zum Neo-Paganismus. Die »Freien Religionen«, wie ich siegerne bezeichne, kleine, selbstgeschaffene, halb ernsthafte/halbspaßige Kulte, beeinflußt von Strömungen wie Discordianis-mus und Anarcho-Taoismus, sind überall zu finden und stelleneinen sich verbreitenden »vierten Weg« jenseits der etablier-ten Kirchen, der televangelischen Frömmler und der Leereund der Konsumentenhaltung des New Age dar. Man könnteauch sagen, daß die wesentliche Ablehnung der Orthodoxie inder Konstruktion »privater Moralitäten« im Nietzscheani-schen Sinne besteht: der Spiritualität von »freien Geistern«.¶Die Negierung von Wohnung ist »Obdachlosigkeit«, durch diesich die meisten Betroffenen als Opfer sehen, weil sie nicht indie Nomadologie gezwungen werden möchten. Aber »Obdach-losigkeit« kann in gewissem Sinne eine Tugend, ein Abenteuersein – so stellt es sich zumindest der großen internationalenBewegung der Hausbesetzer dar – unseren modernen Hobos.¶Die Negierung der Familie ist natürlich Scheidung oder ein an-deres Symptom des »Scheiterns«. Die positive Alternative ent-springt der Erkenntnis, daß das Leben ohne die Kernfamilie

145

der »Revolutionierung des Alltagslebens« zu machen: derKampf, der nicht aufhören kann, selbst nicht mit dem allerletz-ten Scheitern der politischen und sozialen Revolution, danichts außer dem Weltende ein Ende des Alltagslebens wieauch unseres Verlangens nach guten Dingen, nach dem Wun-derbaren bringen kann. Und wie Nietzsche sagte, könnte dieWelt zu einem Ende kommen, wäre dies logischerweise bereitsgeschehen. Dies ist nicht geschehen, also wird es nicht gesche-hen. Und – wie einer der Sufis sagte – egal, wieviel verbotenenWein wir trinken, wir werden diesen rasenden Durst in dieEwigkeit tragen.¶Zerzan und Black haben unabhängig voneinander bestimmte»Elemente der Verweigerung« (Zerzan) festgestellt, die viel-leicht in gewißer Weise als symptomatisch für eine radikaleKultur des Verschwindens gesehen werden können, teilweiseunbewußt, aber teilweise auch bewußt. Sie beeinflussen weitmehr Leute als irgendeine linke oder anarchistische Idee. Die-se Gebärden richten sich gegen Institutionen und sind in die-sem Sinne »negativ« – aber jede negative Gebärde verweist aufeine »positive« Taktik, die abgelehnten Institutionen zu über-winden, statt sich ihnen lediglich zu verweigern.¶Die negative Haltung gegen das Schulwesen beispielsweise ist»freiwilliges Analphabetentum«. Da ich die liberale Hoch-schätzung von Bildung um des sozialen Aufstiegs willen nichtteile, kann ich auch die allerorten zu hörenden Schreckensseuf-zer wegen dieses Phänomens nicht nachvollziehen: Ich sympa-thisiere mit Kindern, die Bücher und den Mist in den Büchernablehnen. Es gibt jedoch positive Alternativen, die sich dergleichen Energie des Verschwindens bedienen. Unterrichtungzu Hause und die Vermittlung von Fähigkeiten, wie etwa demMüßiggang, resultieren aus der Absenz vom Gefängnis derSchule. ›Hacking‹ ist eine andere Form von »Bildung« – mitbestimmten Charakteristika der »Unsichtbarkeit«.¶Eine massenhafte negative Haltung gegen Politik ist schlicht-weg das Nicht-Wählen. »Apathie« (d.h. ein Überdruß vomlangweiligen Spektakel) hält mehr als die Hälfte der Nationvon den Wahlurnen fern; Anarchismus hat soviel nie bewirkt!(Noch hat Anarchismus irgendetwas mit dem Scheitern derjüngsten Volkszählung zu tun gehabt.) Wieder gibt es positive

144

sellschaft« – von keinem immer und ewig währenden Utopia,von keinem Versteck in den Bergen, von keiner Insel; auch vonkeinem postrevolutionären Utopia – und sehr wahrscheinlichvon keinerlei Revolution! – auch von keinem VONU, keineranarchistischen Raumstation – noch akzeptieren wir ein»Baudrillardsches Verschwinden« in die Stille einer ironischenHyperkonformität. Ich habe keine Probleme mit irgendwel-chen Rimbauds, die der Kunst in irgendein Abessinien ent-kommen. Wir können aber eine Ästhetik schaffen, selbst eineÄsthetik des Verschwindens, indem wir den simplen Akt voll-ziehen, niemals wieder zurückzukehren. Indem wir sagen, wirsind keine Avantgarde, und es gibt keine Avantgarde, habenwir unser »Nach Croatan verschwunden« geschrieben. DieFrage ist dann: Wie sich ein »Alltagsleben« in Croatan vorstel-len? Besonders, wenn wir nicht sagen können, daß Croatan inZeit (Steinzeit oder Post-Revolution) oder Raum existiert. Istes ein Utopia, irgendeine vergessene Stadt im Mittelwestenoder Abessinien? Wo und wann ist die Welt der unvermittel-ten Kreativität? Wenn sie existieren kann, ist sie existent – abervielleicht nur als eine Art alternierender Realität, deren Wahr-nehmung wir bislang noch nicht erlernt haben. Wo würdenwir die Saat suchen – das unsere Gehsteige sprengende Un-kraut – von dieser Anderswelt in unsere Welt? Hinweise, dierichtigen Richtungen für die Suche? Ein Fingerzeig auf denMond?¶Ich glaube, daß die einzige Lösung für die »Aufhebung undRealisierung« von Kunst in dem Sichtbarwerden der TAZliegt. Die Kritik, daß die TAZ »nichts als« ein Kunstwerk sei,würde ich vehement zurückweisen. Meiner Ansicht nach ist dieTAZ die einzig mögliche »Zeit« und der einzig mögliche»Raum« für Kunst, die sich zum bloßen Vergnügen am kreati-ven Spiel und als eine wirksame Unterstützung der Kräfte er-eignet, die es der TAZ erlauben, Kohärenz zu entwickeln undsich zu manifestieren.¶Kunst ist in der Welt der Kunst zur Ware geworden; aber einnoch größeres Problem ist das der Re-Präsentation selbst unddas der Verweigerung jeglicher Vermittlung. In der TAZ wirdKunst als Ware schlichtweg unmöglich werden; stattdessenwird sie eine Lebensbedingung sein. Sich von Vermittlung ver-

147

glücklicher sein kann, wobei hundert Blumen blühen – von al-leinerziehenden Eltern über Gruppenhochzeiten bis zu eroti-schen Wahlverwandtschaften. Das »European Project« vertei-digt in einem Nachhutgefecht die Familie – ödipales Elend istdas eigentliche Wesen der Kontrolle. Alternativen existieren –sie müssen allerdings im Verborgenen bleiben, besonders seitdem Krieg der 80er und 90er Jahre gegen Sex.¶Was heißt Ablehnung von Kunst? Die »negative Haltung« istnicht in dem dummen Nihilismus eines »Kunststreikes« oderder Verunstaltung eines berühmten Gemäldes zu finden – sieläßt sich an den gelangweilten Blicken ablesen, mit denen diemeisten Leute bei der bloßen Nennung des Wortes reagieren.Wie aber sähe eine »positive Haltung« aus? Ist es möglich,sich eine Ästhetik vorzustellen, die nicht einnehmend ist, diesich von Geschichte und selbst vom Markt entfernt? Oder zu-mindest dazu tendiert? Die Repräsentation durch Präsenz erset-zen möchte? Wie macht sich Präsenz spürbar, selbst in (oderdurch) Repräsentation?¶»Chaos-Linguistik« verfolgt eine Präsenz, die kontinuierlichaus allen Ordnungen von Sprache und Bedeutungssystemenverschwindet; eine schwer faßbare Präsenz, schwindend, latif(»flüchtig«, ein Terminus der Sufi-Alchimie) – der ›SeltsameAttraktor‹, um den memes zusammenfließen, auf chaotischeWeise neue und spontane Ordnungen bilden. Hier haben wireine Ästhetik des Grenzbereiches zwischen Chaos und Ord-nung, den Rand, das Gebiet der »Katastrophe«, wo der Zu-sammenbruch des Systems Aufklärung gleichen kann. (Anmer-kung: Für eine Erklärung von »Chaos-Linguistik« siehe An-hang A, dann lies bitte diesen Abschnitt erneut.)¶Das Verschwinden des Künstlers IST – in situationistischerSicht – die »Aufhebung und Realisierung von Kunst«. Abervon wo verschwinden wir? Und hört oder sieht man jemalswieder von uns? Wir verschwinden nach ›Croatan‹ – was istunser Schicksal? Unsere ganze Kunst besteht in einer Ab-schiedsnotiz an die Geschichte – »Nach Croatan verschwun-den«. Wo aber ist es, und was werden wir dort tun?¶Erstens: Wir sprechen hier nicht vom tatsächlichen Ver-schwinden aus der Welt und ihrer Zukunft – von keinem zeitli-chen Zurück zur paläolithischen »ursprünglichen Freizeitge-

146

tonomie sein, sie kann aber nur unter der Bedingung existieren,daß wir uns selbst bereits als freie Wesen kennen.¶2. Das Gegen-Netzwerk muß expandieren. Derzeit spiegelt eseher Abstraktion denn Realität wieder. (Fan-)Zines und Mittei-lungsblätter tauschen Information aus, was Teil der notwendi-gen Basisarbeit der TAZ ist, aber sehr wenig dieser Informati-on bezieht sich auf konkrete Güter und Hilfe, die für ein auto-nomes Leben notwendig sind. Wir leben in keinem Cyber-Space; davon zu träumen, wir täten es, heißt einer CyberGno-sis verfallen, der falschen Transzendierung des Körpers. DieTAZ ist ein physischer Ort, in dem wir uns entweder befindenoder eben nicht. Es bedarf aller Sinne. Das Netzwerk ist in ge-wisser Weise wie ein neues Sinnesorgan, das zu den anderenhinzu kommen muß – die anderen dürfen nicht davon subtra-hiert werden, wie dies in furchtbaren Parodien mystischerTrance geschieht. Ohne das Netz wäre die Realisierung desTAZ-Komplexes unmöglich. Aber das Netzwerk ist kein Zielan sich. Es ist eine Waffe.¶3. Der Kontrollapparat – der »Staat« – muß weiterhin simultanin Auflösung begriffen sein und wird sich weiter verhärten, mitdem gegenwärtigen Kurs fortfahren, wobei hysterische Rigi-dität mehr und mehr eine Leere maskiert, den Abgrund derMacht. Während Macht »verschwindet«, muß unser Wille zurMacht Verschwinden sein.¶Wir haben bereits die Frage behandelt, ob die TAZ »bloß« alsein Kunstwerk gesehen werden kann. Aber ihr werdet auchwissen wollen, ob sie mehr als ein Rattenloch im Babylon derInformation oder aber ein Labyrinth von immer mehr verbun-denen Tunneln, aber nur der ökonomischen Sackgasse desfreibeuterischen Parasitentums ergeben ist. Meine Antwortlautet, daß ich lieber eine Ratte in der Mauer als eine Ratte imKäfig bin – aber ich insistiere auch darauf, daß die TAZ dieseKategorien transzendiert.¶Eine Welt, in der es der TAZ gelingt, sich zu verwurzeln,könnte der Welt ähneln, die »P.M.« in seinem Buch Bolo’Boloentworfen hat. Vielleicht ist die TAZ ein »Proto-Bolo«. Aberinsofern als die TAZ jetzt existiert, steht sie für mehr als nurdie Mondänität der Negativität oder des gegenkulturellen Aus-steigertums.¶

149

abschieden ist schwieriger, aber die Beseitigung aller Sperrenzwischen Künstler und »Nutzern« von Kunst wird zu einer Si-tuation führen, in der (wie A.K. Coomaraswamy ausgeführthat) »der Künstler keine besondere Person, sondern jede Per-son ein besonderer Künstler ist.«¶Zusammengefaßt: Verschwinden ist nicht notwendigerweiseeine »Katastrophe« – außer im mathematischen Sinne einer»plötzlichen topologischen Änderung«. All den hier skizzier-ten positiven Haltungen liegen statt der traditionell revolu-tionären Konfrontation wohl bestimmte Abstufungen der Un-sichtbarkeit zugrunde. Die »Neue Linke« hat nie so recht anihre eigene Existenz geglaubt – bis sie sich schließlich in denAbendnachrichten sah. Die Neue Autonomie wird im Gegen-satz dazu entweder die Medien infiltrieren und von innen her-aus umwälzen oder aber nie wieder »gesehen« werden. DieTAZ existiert nicht nur jenseits von Kontrolle, sondern auchjenseits einer Definition, jenseits des Benennens (welches Aktedes Bestaunens und der Versklavung sind), jenseits des Ver-ständnisses von Staat, jenseits der staatlichen Fähigkeit zusehen.¶

Rattenlöcher im Babylon der Information

Die Taz als bewußte radikale Taktik wird unter bestimmtenBedingungen entstehen:¶1.Psychologische Befreiung. Das heißt, wir müssen die Momen-te und Räume realisieren (real werden lassen), in denen Freiheitnicht nur möglich, sondern wirklich ist. Wir müssen wissen, aufwelche Weise wir tatsächlich unterdrückt sind und auch, aufwelche Weise wir eigener Repression unterliegen oder einerPhantasie nachhängen, in der uns Ideen knechten. ARBEIT bei-spielsweise ist für die meisten von uns viel eher ein Ärgernis alsPolitik. Entfremdung ist sehr viel gefährlicher für uns als zahn-lose, überholte, sterbende Ideologien. Das geistige Festhaltenan »Idealen« – die faktisch bloße Projektionen unserer Empö-rung über das Opferdasein sind – wird unser Projekt nicht wei-terbringen. Die TAZ ist kein Vorbote irgendeines sozialutopi-schen Eden, dem wir unser Leben zu opfern haben, damit dieKinder unserer Kinder ein bißchen frische Luft schnuppernkönnen. Die TAZ muß Schauplatz unserer gegenwärtigen Au-

148

Anhang A

Chaos-Linguistik14

Noch keine Wissenschaft, aber ein Vorschlag: Bestimmte Pro-bleme der Linguistik könnten gelöst werden, würde Spracheals ein komplexes dynamisches System oder »Chaosfeld« gese-hen.¶Von allen Reaktionen auf Saussures Linguistik sind hier zweivon besonderem Interesse: die erste, »Antilinguistik«, kann –in der Moderne – bis zu Rimbauds Abreise gen Abessinienzurückverfolgt werden; sie zeigt sich bei Nietzsches »Ichfürchte, daß, während wir immer noch eine Grammatik haben,wir Gott noch nicht getötet haben«; bei den Dadaisten; beiKorzybskis »Die Landkarte ist nicht das Territorium«; beiBurroughs Cut-ups und »Durchbruch in den Grauen Raum«;bei Zerzans Angriff auf die Sprache selbst als Repräsentationund Vermittlung.¶Die zweite, die chomskysche Linguistik mit ihrem Glauben an»universelle Grammatik« und ihren Baumdiagrammen, stellt(wie ich glaube) einen Versuch dar, Sprache durch die Ent-deckung von »verborgenen Invariablen« zu »retten«, auf ähnli-che Weise, wie einige Wissenschaftler versuchen, die Physikvor der »Irrationalität« der Quantenmechanik zu »retten«. Ob-wohl man vom Anarchisten Chomsky hätte erwarten können,daß er sich an die Seite der Nihilisten stellt, hat seine schöneTheorie faktisch allerdings mehr mit Platonismus oder Sufis-mus denn mit Anarchismus gemein. Die traditionelle Metaphy-sik beschreibt Sprache als reines Licht, das durch das farbigeGlas der Archetypen scheint; Chomsky spricht von »angebore-nen« Grammatiken. Wörter sind Blätter, Zweige sind Sätze,Muttersprachen sind Äste, Sprachfamilien sind Baumstämme,und die Wurzeln sind im »Himmel« ... oder in den DNS. Ichnenne dies »Hermetalinguistik« – hermetisch und metaphy-sisch. Der Nihilismus (oder – Burroughs zu Ehren – »Heavy-

151

Wir haben den Fest-Charakter des unkontrollierten Momenteserwähnt, der sich – wenn auch nur kurz – in spontaner Selbst-ordnung verstärkt. Er ist »epiphanisch« – ein Erlebnishöhe-punkt auf sozialer wie individueller Ebene.¶Befreiung wird im Kampf verwirklicht – das ist die Essenz vonNietzsches »Selbstwerdung.« Als Zeichen für die These magauch Nietzsches Wandern gelten. Es ist der Vorläufer desTreibens, in Situationisten-Sprache des dériver und in Lyo-tards Definition von Driftwork. Wir können eine neue Geo-graphie vorhersehen, eine Art Wallfahrtskarte, auf der heiligeStätten durch Erlebnishöhepunkte und TAZen ersetzt sind:eine wirkliche Wissenschaft der Psychotopographie, die wirvielleicht »Geo-Autonomie« oder »Anarchomancy« nennenkönnen.¶Die TAZ bringt eine gewisse Unkultiviertheit mit sich, eineEntwicklung von Zahmheit zur Wildnis/Wildheit, ein»Zurück«, das auch ein Schritt vorwärts ist. Sie erfordert auchein »Yoga« des Chaos, ein Projekt »höherer« Ordnungen (desBewußtseins oder einfach des Lebens), denen man sich durch»Surfen auf der Wellenfront des Chaos« nähert, einer komple-xen Dynamik. Die TAZ ist eine Lebenskunst des fortgesetztenAufbegehrens, wild aber sanft – sie verführt, vergewaltigt nicht,schmuggelt, statt blutrünstig ein Piratendasein zu führen, tanztund kümmert sich nicht um Eschatologie.¶Geben wir zu, daß wir auf Parties gewesen sind, auf denen füreine kurze Nacht lang eine Republik aus erfüllten Begierdenerrungen wurde. Sollen wir nicht beichten, daß die Politik je-ner Nacht für uns mehr Realität und Kraft besitzt, als die – sa-gen wir mal – der gesamten US-Regierung? Einige dieser»Parties«, die wir erwähnt haben, dauerten zwei oder drei Jah-re. Ist das die Imagination, den Kampf wert? Laßt uns Un-sichtbarkeit, Spinnengewebe und psychischen Nomadismusstudieren – wer weiß, was wir ereichen werden?¶

Spring Equinox, 1990

150

14 s. hierzu auch: Hakim Bey, Aimless Wandering. Chuang Tzu’s ChaosLinguistics. – La Farge: Xexoxial Editions, 1993 (deutsch in: Ioë Bsaf-fot, Heft 1, Berlin, 1994

os ist. Daraus folgte, daß das ganze dadaistische Experimentie-ren (Feyerabend beschrieb seine Schule der wissenschaftlichenEpistemologie als »anarchistisch-dadaistisch«) mit Lautpoesie,Gesten, Cut-Up, Tierlauten usw. – all dies nicht dazu diente,Bedeutung auf die Spur zu kommen oder diese zu zerstören,sondern sie zu schöpfen. Der Nihilismus weist dunkel daraufhin, daß Sprache »arbiträr« Bedeutung hervorbringt. Die Cha-oslinguistik stimmt dem freudig zu, merkt aber an, daß SpracheSprache überwinden kann, Sprache aus Konfusion und Nieder-gang semantischer Tyrannei Freiheit schaffen kann.¶

×Anhang B

Angewandter Hedonismus

Die Mitglieder der Bonnot Gang waren Vegetarier und tran-ken ausschließlich Wasser. Sie nahmen ein schlimmes (obwohlmalerisches) Ende. Gemüse und Wasser, für sich genommenexzellent – wirklich pures Zen –, sollten nicht um des Martyri-ums willen, sondern als Epiphanie konsumiert werden. Selbst-verleugnung als radikale Praxis, der Leveller-Impuls, riechtnach millenarianischer Düsternis – und diese linke Strömungteilt eine historische Quelle mit dem neopuritanischen Funda-mentalismus und der moralischen Reaktion unserer Zeit. Die›Neue Askese‹, ob von anorexischen Gesundheitsfreaks,schmallippigen Polizeisoziologen, geradlinigen Nihilisten ausder Geschäftswelt, rückständigen faschistischen Baptisten oderdrogenfreien Republikanern praktiziert ... in jedem Fall ist derBeweggrund: Ressentiment.¶Angesichts der gegenwärtigen scheinheiligen Anästhesie wer-den wir eine ganze Ahnengalerie erstellen von Helden, die denKampf gegen falsches Bewußtsein fortführten, aber dennochwußten, wie man eine Party feiert, ein genialer Genpool, einerare und schwer zu definierende Kategorie, große Geister,nicht nur für Wahrheit, sondern für die Wahrheit der Wonnen,

153

Metalinguistik«) scheint mir Sprache in eine Sackgasse geführtzu haben, drohte, sie »unmöglich« zu machen (eine Großtat,aber eine deprimierende) – während Chomsky am Versprechenund der Hoffnung einer Offenbarung in letzter Minute festhält,was ich ebenfalls nur schwer akzeptieren kann. Ich würde Spra-che auch gerne »retten«, aber ohne Rekurs auf irgendwelche»Gespenster« oder vermeintliche Regeln über Gott, Würfelund das Universum.¶Kehren wir zu Saussure und seinen posthum veröffentlichtenNotizen über Anagramme in lateinischer Lyrik zurück, findenwir Hinweise auf einen Prozeß, der sich der Zeichen/Signifier-Dynamik entzieht. Saussure war mit der Vorstellung von einerArt »Meta«-Linguistik konfrontiert, die sich in der Sprache er-eignet, statt als kategorischer Imperativ von »außen« auferlegtzu sein. Sobald Sprache zu spielen anfängt, wie in den akrosti-schen Gedichten, derer er sich annahm, scheint sie mit selbst-verstärkender Komplexität zu schwingen. Saussure versuchte,die Anagramme zu quantifizieren, aber seine Zahlzeichen ent-glitten ihm fortwährend (als seien vielleicht nichtlineare Glei-chungen im Spiel). Er fing zudem an, die Anagramme überallzu finden, selbst in lateinischer Prosa. Er fragte sich, ob er hal-luziniere – oder ob Anagramme ein natürlicher unbewußterProzeß der Parole sein. Er gab das Projekt auf.¶Ich frage mich: Könnten wir anfangen, Sprache analog kom-plexer dynamischer Systeme zu modellieren, wenn genug Da-ten dieser Art in den Computer eingegeben würden? Gramma-tiken wären dann nicht »angeboren«, sondern würden alsspontan sich entwickelnde »höhere Ordnungen« aus dem Cha-os entstehen, im Prigogineschen Sinne aus »kreativer Entwick-lung«. Grammatiken könnten dann als »Seltsame Attraktoren«gedacht werden, wie die verborgenen Patterns, die die Ana-gramme »verursachten« – Patterns, die »real« sind, aber »Exi-stenz« nur in Form von Sub-Patterns haben, die sie manifestie-ren. Wenn Bedeutung schwer faßbar ist, dann vielleicht, weilBewußtsein selbst und daher Sprache fraktal ist.¶Ich finde diese Theorie eher überzeugend anarchistisch als dieAnti-Linguisik oder den Chomskyanismus. Sie läßt daraufschließen, daß Sprache Repräsentation und Vermittlung über-winden kann, nicht weil sie angeboren ist, sondern weil sie Cha-

152

Einem Laib Brot unter den Zweig ich trugEine Flasche Wein, einen Band mit Gedichten – und DuNeben mir singend in der Wildnis –Und die Wildnis ist Paradies genug.Ach, meine Geliebte, fülle diese Tasse, zu klarenDas Heute von altem Kummer und neuen Gefahren –Morgen? – Nun, morgen kann ich ich selbstSein mit Gesterns siebentausend Jahren.Ach, Liebe! könnten Du und ich mit dem Schicksal

konspirieren,Vollständig diesen traurig’ Lauf der Dinge kapieren,Würden wir ihn sabotieren – und ihn dannMehr nach des Herzens Begehren komponieren.

Omar FitzGerald

Geschichte, Materialismus, Monismus, Positivismus und all die»Ismen« dieser Welt sind alte und rostige Werkzeuge, die ichnicht mehr brauche und die mich nicht mehr interessieren.Mein Prinzip ist Leben, mein Ende der Tod. Ich möchte einintensives statt tragisches Leben leben.¶Du wartest auf die Revolution? Meine eigene hat vor langerZeit begonnen! Wenn du so weit bist (Mein Gott, welch eineendlose Warterei!), hätte ich nichts dagegen, dich eine Weilezu begleiten. Wenn du aber aufhören wirst, werde ich auf mei-nem wahnsinnigen und triumphalen Weg zur großen und er-habenen Eroberung des Nichts fortfahren!¶Jede Gesellschaft, die du gestaltest, wird ihre Grenzen haben.Und jenseits der Grenzen jeder Gesellschaft werden die auf-rührerischen und heroischen Tramps mit ihren wilden & un-schuldigen Gedanken umherstolzieren – jene, die ohne die Pla-nung stets neuer und furchtbarer Rebellionsausbrüche nicht le-ben können!¶Ich werde einer von ihnen sein!¶Und nach mir, wie schon vor mir, werden diejenigen sein, diezu ihren Gefährten sagen: »Kümmert euch um euch, statt umeure Götter oder eure Idole. Entdeckt, was in euch steckt,bringt es ans Licht, zeigt euch!«¶

155

ernsthaft, aber nicht nüchtern, deren sonniges Gemüt sie nichtträge, sondern lebhaft macht, brillant, aber nicht nervend. Stelldir einen Nietzsche mit einer guten Verdauung vor. Weder dielauen Epikureer noch die aufgeblasenen Sybariten. Eine Artspiritueller Hedonismus, ein tatsächlicher Pfad des Vergnü-gens, eine Vision von einem guten Leben, das prächtig undmöglich ist und auf einem Gefühl für die verschwenderischeFülle der Realität basiert.¶

Scheich Abu Sa’id von KhorassanCahrles FourierBrillat-SvarinRabelaisAbu NuwasAga Khan IIIR. VaneigemOscar WildeOmar KhayyamSir Richard BurtonEmma Goldmanführe die Liste mit deinen Lieblingen fort

×Anhang C

Zusätzliche Zitate

Was uns angeht, so hat Er uns den Job permanenter Arbeitslo-sigkeit vermittelt.

Hätte er übrigens gewollt, daß wir arbeiten,Würde er nicht diesen Wein geschaffen haben.

Mit einem Bauchvoll hiervon, Sir,Würden Sie hinauseilen, der Wirtschaft zu dienen?Jalaloddin Rumi, Diwan-e Shams

154

gen Burschen haben nicht den Mut, das, was sie durch Schurkerei be-kommen, auf andere Art zu verteidigen; seid verflucht alle mitein-ander; verflucht seien sie als geriebenes Halunkenpack, und ihr, dieihr ihnen dient, als eine Horde serviler Dummköpfe. Sie schmähenuns, diese Schufte, obwohl es nur diesen Unterschied gibt, sie berau-ben die Armen unter dem Deckmantel des Gesetzes, fürwahr, undwir plündern die Reichen unter dem Schutz unseres eigenen Mutes.Wären Sie da nicht besser einer von uns geworden, statt wegen einerAnstellung hinter diesen Schurken herzukriechen?¶Als der Kapitän antwortete, sein Gewissen verböte ihm, dasGesetz Gottes und des Menschen zu brechen, fuhr der PiratBellamy fort:¶Sie sind ein teuflischer Gewissensschurke, ich bin ein freier Prinz,und ich verfüge über die gleiche Macht, die ganze Welt zu bekriegenwie der, der über hundert Segelschiffe auf See verfügt; und das sagtmir mein Gewissen: aber mit solchen wimmernden Kriechern, die esihren Vorgesetzten erlauben, sie an Deck nach Belieben zu treten,wird nicht diskutiert.¶

×Die Dinner-Party

Die höchste Form menschlicher Gesellschaft in der existieren-den Ordnung ist im Salon zu finden. In den eleganten und vor-nehmen Zusammenkünften der aristokratischen Klassen gibt eskeine impertinente Einmischung der Gesetzgebung. Die Indi-vidualität jedes einzelne wird respektiert. Der Umgang ist da-her gänzlich frei. Konversation ist stetig, brillant und abwechs-lungsreich. Gruppen werden nach Anziehung gebildet. Sie lö-sen sich stets wieder auf und bilden sich auf die gleiche subtileund alles durchdringende Weise wieder neu. GegenseitigeAchtung durchdringt alle Klassen, und die perfekteste Harmo-nie, die je in komplexen menschlichen Beziehungen erreichtwurde, ist just unter den Bedingungen zu finden, die Gesetzge-ber und Staatsmänner als Bedingungen unvermeidlicher Anar-chie und Unordnung fürchten. Wenn es überhaupt Etikette

157

Denn jede Person, die sich selbst erforscht, findet, was myste-riös verborgen ist, ein Schatten, der jede Form der Gesellschaftverdunkelt, die unter der Sonne existieren kann!¶Alle Gesellschaften erzittern, wenn die spöttische Aristokratieder Tramps, der Unnahbaren, der Einmaligen, der Herrscherüber das Ideal und der Eroberer des Nichts entschlossen vor-anschreiten.¶Also los, ihr Ikonoklasten, vorwärts!¶»Der Himmel der Verkündigung verdunkelt sich bereits undschweigt!«¶

Renzo NovatoreArcola, Januar 1920

×Piratenstolz Kapitän Bellamy

Daniel Defoe schrieb unter dem Pseudonym Captain CharlesJohnson A General History of the Robberies and Murders of theMost Notorious Pirates. Das Buch wurde zum ersten historischenStandardtext über Piraten. Laut Patrick Pringles Jolly Rogerwar die Rekrutierung von Piraten unter Arbeitslosen, entflohe-nen Leibeigenen und deportierten Kriminellen am erfolgreich-sten. Die Meere sorgten für eine augenblickliche Nivellierungvon Klassenunterschieden. Defoe berichtet davon, wie der Pi-ratenkapitän Bellamy zu dem Kapitän eines gerade erbeutetenHandelsschiffes sprach. Der Kapitän des Handelsschiffes hattesoeben die Einladung abgelehnt, sich den Piraten anzusch-ließen.¶Tut mir leid, Sie werden wohl Ihre Schaluppe nicht zurückbekom-men, denn ich verabscheue es, jemandem Schaden zuzufügen, wennes nicht meinem Vorteil dient. Verfluchen Sie die Schaluppe, wirmüssen sie versenken, und dabei könnte sie Ihnen von Nutzen sein.Obwohl Sie ein unterwürfiger Hund sind, wie all diejenigen, die essich gefallen lassen, durch Gesetze regiert zu werden, die reicheMänner zu ihrer eigenen Sicherheit geschaffen haben; denn diese fei-

156

Dank

CHAOS: THE BROADSHEETS OF ONTOLOGICAL ANARCHISM er-schien erstmals 1985 bei Grim Reaper Press, Weehawken,New Jersey; eine Neuauflage wurde in Providence, Rhode Is-land veröffentlicht und in Boulder, Colorado, nachgedruckt.Eine weitere Ausgabe erschien 1990 im Verlag Golem, Provi-dence, die durch die Wee Press in Santa Cruz, Kalifornien,nachgedruckt wurde. »The Temporary Autonomous Zone«wurde 1990 in der Jack Kerouac School of Disembodied Poe-tics in Boulder vorgetragen und in New York City von WBAIFM gesendet.¶Ich danke den folgenden Publikationen, ob es sie nun nochgibt oder sie ihr Erscheinen längst eingestellt haben (natürlichhabe ich viele entweder verloren oder vergessen – Entschuldi-gung!): KAOS (London); Ganymede (London); Pan (Amster-dam); Popular Reality; Exquisite Corpse (auch Stiffest of the Corpse,City Lights); Anarchy (Columbia, MO); Factsheet Five; DharmaCombat; OVO; City Lights Review; Rants and Incendiary Tracts(Amok); Apocalypse Culture (Amok); Mondo 2000; The Sporadical;Black Eye; Moorish Science Monitor; FEH!; Fag Rag; The Storm!;Panic (Chicago); Bolo Log (Zürich); Anathema; Seditious Deli-cious; Minor Problems (London); AQUA; Prakilpana.¶

159

gibt, sind sie lediglich ein Hinweis auf Prinzipien, die jede undjeder einzelne für sich akzeptiert hat.¶Ist es nicht vorstellbar, daß aller zukünftiger Fortschritt derMenschlichkeit, mit all den unzähligen Elementen der Ent-wicklung, die sich gegenwärtig auftun, die Gesellschaft im all-gemeinen und in allen ihren Relationen nicht diesen hohenGrad der Perfektion erreichen werden, den bestimmte Gesell-schaftsteile unter bestimmten Umständen bereits erreicht ha-ben?¶Nehmen wir an, der Umgang im Salon sei durch eine spezifi-sche Gesetzgebung reguliert. Lassen wir die Zeit, die jederGentleman mit einer Lady sprechen darf, gesetzlich fixiert, dieSitzhaltung oder die Art des Stehens genauestens reguliert, dieThemen, über die sie sprechen dürfen, den Tonfall und die je-weiligen Gesten sorgfältig festgelegt sein. Und dies alles unterdem Vorwand, Durcheinander und die Beeinträchtigung derPrivilegien und Rechte jedes einzelnen verhindern zu wollen.Läßt sich dann irgendetwas besser Kalkuliertes oder Sicheresvorstellen, um gesellschaftlichen Umgang in intolerable Skla-verei und hoffnungslose Konfusion zu verwandeln?¶

S.Pearl Andrews The Science of Society

158

Hakim Bey lebt als freier Autor und Rundfunkmacher in NewYork und ist Mitarbeiter des Verlages autonomedia und vonSemiotext(e).

Die Amsterdamer Agentur Bilwet hat in der Edition ID-Ar-chiv 1991 das Buch »Bewegungslehre. Botschaften aus einerautonomen Wirklichkeit« veröffentlicht. 1993 erschien imBollmann Verlag, Köln, das »Bilwet Medienarchiv«.

Jürgen Schneider lebt als freier Übersetzer (aus dem irischenEnglisch und aus dem Amerikanischen, u. a. John McGuffin,Paul Durcan, Paul Beatty), Publizist (zuletzt: (Hrsg.) IrrlandtIreland Irland, Berlin: Druckhaus Galrev, 1993) und Ausstel-lungsmacher in Berlin.

161

Dank auch an die folgenden Individuen: Jim Fleming; JamesKoehnline; Sue Ann Harkey; Sharon Gannon; Dave Mandl;Bob Black; Robert Anton Wilson; William Burroughs;»P.M.«; Joel Birroco; Adam Parfrey; Brett Rutherford; JakeRabinowitz; Allen Ginsberg; Anne Waldman; Frank Torey;André Codrescu; Dave Crowbar; Ivan Stang; Nathaniel Tarn;Chris Funkhauser; Steve Englander; Alex Trotter.¶

März 1991

160