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Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophie der Aufklärung Von Professor Dr. Joachim Hruschka, Erlangen Der Beitrag stellt die Geschichte der Unschuldsvermutung in der Natur- und Vernunftrechtslehre der Aufklärung dar. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts diskutiert Pufendorf eine BonitätsVermutung, die er in „Jedermanns Würde" begründet. Im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gelingt Christian Thomasms die Unterschei- dung der B onitäts Vermutung von der Unschuldsvermutung. Kurz nach der Mitte des Jahrhunderts bringt Achenwall die Überlegungen in ein System, das in wesentlichen Teilen von Kant übernommen wird. Am Ende des 18. Jahrhunderts betont Kant die Qualität eines unbescholtenen Menschen als einen Aspekt des jedermann zukommenden Freiheitsrechts. Obwohl die Unschuldsvermutung unter dem Einfluß der Naturrechtslehre in die Erklä- rung der Menschen- und Bürgerrechte Eingang findet, kann sich die deut- sche Praxis erst sehr verspätet mit ihr anfreunden. I. Die Bonitätsvermutung bei Pufendorf In seinem juristischen Hauptwerk „De Jure Naturae et Gentium" von 1672 bringt Pufendorf den Satz „Quilibet praesumitur bonus, donee probetur contrarium." („Jeder wird als gut vermutet, wenn nicht das Gegenteil be- wiesen wird.") 1 Aus der Formel wird in der Folgezeit die Unschuldsver- mutung werden, so wie wir sie heute kennen. Die zur Zeit gültige - auf Strafverfahren bezogene - Formulierung findet sich bekanntlich in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950: „Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist." Pufendorfhat den Satz nicht aus sich selbst. Er bezeichnet ihn als „tritum", als Sprichwort. Tatsächlich finden wir mehr oder weniger ähnliche Sätze schon bei den Glossatoren . Wir werden deshalb von der Verbreitung der Formel als Sprichwort, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa 3 , aus- 1 Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, 1672, Lib. VIII, Cap. IV § 3. 2 Einzelheiten bei Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, Diss. Bonn 1979, S. 9 ff., und Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 13 ff. 3 Pierre Bayle bringt einmal die Formel „Quilibet praesumitur bonus, donee probatur ZStW112(2000) Heft 2 Bereitgestellt von | University of Victoria McPherson Lib Angemeldet | 142.104.240.194 Heruntergeladen am | 06.06.14 02:15

Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophie der Aufklärung

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Die Unschuldsvermutung in der Rechtsphilosophieder Aufklärung

Von Professor Dr. Joachim Hruschka, Erlangen

Der Beitrag stellt die Geschichte der Unschuldsvermutung in der Natur- undVernunftrechtslehre der Aufklärung dar.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts diskutiert Pufendorf eineBonitätsVermutung, die er in „Jedermanns Würde" begründet. Im erstenJahrzehnt des 18. Jahrhunderts gelingt Christian Thomasms die Unterschei-dung der B onitäts Vermutung von der Unschuldsvermutung. Kurz nach derMitte des Jahrhunderts bringt Achenwall die Überlegungen in ein System,das in wesentlichen Teilen von Kant übernommen wird. Am Ende des18. Jahrhunderts betont Kant die Qualität eines unbescholtenen Menschenals einen Aspekt des jedermann zukommenden Freiheitsrechts. Obwohl dieUnschuldsvermutung unter dem Einfluß der Naturrechtslehre in die Erklä-rung der Menschen- und Bürgerrechte Eingang findet, kann sich die deut-sche Praxis erst sehr verspätet mit ihr anfreunden.

I . Die Bonitätsvermutung bei Pufendorf

In seinem juristischen Hauptwerk „De Jure Naturae et Gentium" von 1672bringt Pufendorf den Satz „Quilibet praesumitur bonus, donee probeturcontrarium." („Jeder wird als gut vermutet, wenn nicht das Gegenteil be-wiesen wird.")1 Aus der Formel wird in der Folgezeit die Unschuldsver-mutung werden, so wie wir sie heute kennen. Die zur Zeit gültige - aufStrafverfahren bezogene - Formulierung findet sich bekanntlich in Art. 6Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950: „Bis zumgesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß der wegen einerstrafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist."

Pufendorfhat den Satz nicht aus sich selbst. Er bezeichnet ihn als „tritum",als Sprichwort. Tatsächlich finden wir mehr oder weniger ähnliche Sätzeschon bei den Glossatoren . Wir werden deshalb von der Verbreitung derFormel als Sprichwort, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa3, aus-

1 Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, 1672, Lib. VIII, Cap. IV § 3.2 Einzelheiten bei Köster, Die Rechtsvermutung der Unschuld, Diss. Bonn 1979, S. 9 ff.,

und Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 13 ff.3 Pierre Bayle bringt einmal die Formel „Quilibet praesumitur bonus, donee probatur

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gehen können. Auch im Gemeinen Recht tauchen Bonitäts- und Unschulds-vermutungen immer wieder auf, wenn sie auch in der Praxis, jedenfalls vonunserem heutigen Standpunkt aus, im wesentlichen ineffizient bleiben .

In „De Jure Naturae et Gentium" befaßt sich Pufendorf nicht zum erstenMale mit der Vermutung. Das tut er schon einige Jahre vorher, in der„Dissertatio de Existimatione"5 von 1767. Der bereits am Titel der Arbeiterkennbare Zusammenhang, in den er die Vermutung stellt, ist bedeutsam.Das Wort „existimatio", das im 17. Jahrhundert eine Reihe verschiedener,wenn auch miteinander zusammenhängender Bedeutungen hat, hat beiPufendorf etwa den Sinn von „Würde". Zwar ist auch im 17. Jahrhundert„Würde" nicht die vorherrschende Bedeutung6. Doch ist Pufendorf s Sprach-gebrauch durch die Digesten legitimiert, wo „existimatio" bestimmt wird als„Zustand der unversehrten Würde eines Menschen, der an den Gesetzen undden guten Sitten bewährt ist, ein Zustand, der, wenn wir ein Delikt begehen,kraft der Autorität der Gesetze entweder vermindert oder völlig aufgehobenwird" („dignitatis inlaesae status, legibus ac moribus comprobatus, qui exdelicto nostro auctoritate legum aut minuitur aut consumitur") . Pufendorfdefiniert „existimatio" als „valor personarum in vita communi", als „Werteiner Person im zwischenmenschlichen Zusammenleben" - „aufgrund des-sen es möglich ist, eine Person mit anderen Personen zu vergleichen und sieihnen entweder vorzuziehen oder nachzusetzen . In der „Dissertatio deExistimatione" geht es infolgedessen um „Würde". Wie später Kant zwi-schen „Würde" und „Preis" unterscheiden wird9, unterscheidet auch schon

maluse, die er als „Maxime du droit* bezeichnet. Vgl. Nouvelles Lettres de l'Auteur dela Critique Generale de PHistoire d Calvinisme, 1685, Lettre XIII Nr. XII, zitiert nach:Oeuvres Diverses de Mr. Pierre Bayle, tome second, 1727 (Neudruck 1965), S. 257.

4 Dazu Köster (Anm. 2), S. 39 ff.; vgl. auch Stuckenberg (Anm. 2), S. 19 ff.5 Pufendorf) Dissertatio de Existimatione (Resp. Erik Teet), 1667, § 5 (S. 4).6 Bei Spinoza beispielsweise meint das Wort „Überschätzung"; vgl. Spinoza, Ethica

Ordine Geometrico Demonstrata, (posthum) 1677, Pars III, „Affectuum Definitio-nesa, Def. XXI: „Existimatio est de aliquo prae Amore plus justo sentire." Vgl. auchOpera/Werke (Hrsg. Blumenstock), Bd. II, 1967, Pars IV Prop. XLVIII, XLIX (S. 362,452).

7 Digesten 50.13.5.1.8 So schon in Pufendorf, Elementa Jurisprudence Universalis, 1660, Lib. I, Def. IX

(S. 74): „Est autem existimatio valor personarum in vita communi, secundum quamaptae sunt cum aliis personis exaequari, aut comparari, eisque vel antihaberi, vel post-poni."

9 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, Werke - Akademie-Ausgabe(= AA), Bd. 4, S. 428 Z. 7-33, S. 434 Z. 31 bis S. 435 Z. 4.

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Pufendorf zwischen „existimatio" und „pretium" („Preis"), wobei er „exi-stimatio" allein auf Personen und „pretium" allein auf Sachen bezieht10.

Pufendorf s Diskussion des Begriffs der existimatio beginnt mit der Unter-scheidung der „existimatio simplex" von der „existimatio intensiva". DerAusdruck „existimatio simplex" wird verständlich, wenn wir ihn mit „Jeder-manns Würde" wiedergeben. Die existimatio intensiva ist der Vorrang, derjemandem aufgrund irgendwelcher Vorzüge, die er hat, eingeräumt wird.

Hier interessiert in erster Linie die existimatio simplex. Pufendorf unter-scheidet zwischen der existimatio simplex innerhalb und der existimatiosimplex außerhalb des Staates. Innerhalb des Staates besteht die existimatiosimplex darin, daß jemand als ein integrer Bürger des Staates angesehen wird,der noch nicht den Gesetzen (des Staates) gemäß als untauglich erklärtworden ist. Außerhalb des Staates besteht sie darin, daß ein Mensch alsjemand angesehen wird, der die Regeln des Naturrechts befolgt und mit demman infolgedessen Umgang haben kann11. In diesem Zusammenhang führtPufendorf den Begriff des „vir bonus", des „guten Mannes", ein. „Vir bonusest quis?", fragt Horaz. „Qui consulta patrum, qui leges juraque servat." -„Wer ist ein vir bonus? Wer den Ratschlägen der Väter, wer den Gesetzenund den Rechten dient." Nach Pufendorf ist ein „vir bonus" ein Mann, der„geneigt ist, sich den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft gemäß zuverhalten, und folglich bereit ist, soweit es an ihm selbst liegt, anderengegenüber das Naturgesetz zu beachten"13. Pufendorf bestimmt die existi-matio simplex als die Qualität eines Mannes, ein „vir bonus" zu sein.

Die existimatio simplex kommt jedermann „naturaliter" und „aequaliter"(„von Natur aus" und „gleichermaßen") zu: „Vor einer unrechten Tat sindalle gleichermaßen als ehrenhaft anzusehen."14 Sie-die existimatio simplex -ist das „Fundament", auf das sich die Vermutung „Quilibet praesumiturbonus ..." stützt. Wenn später - noch im 19. Jahrhundert - die Unschulds-vermutung aucVi „praesumtio boni virT genannt wird*^, dann hat der Name

10 Pufendorf (Anm. 1), Lib. VIII, Cap. IV § 1.1l Pufendorf (Anm. 8), Lib. I, Def. IX § l (S. 74 ff.).12 I Epistolae XVI, Z. 40 f. Zum „vir bonus" auch Cicero, De Officiis III, 19 (§§ 75 ff.).13 Pufendorf (Anm. 5), §4 (S. 3): „... ad socialitatis humanae leges sese accomodare

pronus; quique adeo legem naturalem adversus alios, quantum in se, observare sitparatus." Vgl. auch De Jure Naturae et Gentium, Lib. VIII, Cap. IV § 2.

14 Pufendorf (Anm. 5), § 5 (S. 3 f.); ders. (Anm. 1), Lib. VIII, Cap. IV § 3 („Citra ante-gressum pravum factum omnes aeque honesti sunt judicandi.").

15 Vgl. Vargba, Das Strafprocessrecht, 1885, S. 33. Auf Vargba weist hin Kühl, Unschulds-vermutung, Freispruch, Einstellung, 1983, S. 47 Fn. 58.

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hier eine seiner Wurzeln. Pufendorf selbst gibt der Vermutung freilich nochnicht diesen Namen.

Die Konsequenzen, die Pufendorf mit seinen Überlegungen verbindet,sind erheblich. Die existimatio simplex kann einem Menschen nicht einfachwillkürlich entzogen werden16. Gottlieb Gerbard Titius, der 1703 einenKommentar zu Pufendorfs „De Officio Hominis et Civis", der Kurzfassungvon „De Jure Naturae et Gentium" aus dem Jahre 1673, verfaßt, wird dieexistimatio simplex deshalb ausdrücklich als ein Recht auffassen , dasjedermann gleichermaßen zukommt18 und dem auf der Seite der andereneine vollkommene Verbindlichkeit zur Anerkennung des Berechtigten kor-respondiert . Das findet im 18. Jahrhundert rasch Anhänger. Barbeyracschließt sich dem an, der mit seiner Übersetzung von „De Jure Naturae etGentium" Pufendorfs Überlegungen im französischen Sprachraum verbrei-tet20. Carmichael, der schottische Kommentator von „De Officio Hominiset Civis"21, und Everard Otto, ein weiterer deutscher Kommentator22,schließen sich ebenfalls an. Pufendorf hat damit einen ganz wesentlichenGesichtspunkt herausgearbeitet. Als ein „vir bonus" angesehen zu werden,ist ein Recht, das jedermann zukommt und das in „Jedermanns Würde"begründet ist. Die BonitätsVermutung hat in diesem Recht ihre Grundlage.

16 Pufendorf (Anm. 5), § 15 (S. 15); ders. (Anm. 1), Lib. VIII, Cap. IV § 9; De OfficioHominis et Civis, Lib. II, Cap. XIV § 10.

17 TititiSy Observationes zu De Officio Hominis et Civis, 1703 (hier benutzt in derAusgabe von 1709), Obs. 656 zu „Est valor personarum" (L.II C.XIV § 1): „Existimatiosine dubio jus est." Vgl. auch Obs. 664 zu „Id autem manifestum est" (L.II C.XIV § 10).Pufendorf hatte die existimatio intensiva als ein unvollkommenes Recht bestimmt, als„ius imperfectum ad habendum ab aliis honorem et venerationem"; vgl. Pufendorf(Anm. 1), Lib. VIII, Cap. IV § 14.

18 Vgl. Titius (Anm. 17), Obs. 659 zu „Atque isthaec integra" (L.II C.XIV § 4).19 Titius (Anm. 17), „Obligatio perfecta".20 Le Droit de la Nature et des Gens, traduit du Latin de feu Mr. le Baron de Pufendorf,

par Jean Barbeyrac, 1706 (hier benutzt in der 2. Aufl. von 1712), tome second, Anm. 1zu Liv. VIII, Chap. IV § 2 (S. 415).

21 Carmichael, Observationes et Supplementa zu De Officio Hominis et Civis, 2. Aufl.1724, Obs. l zu Lib. I, Cap. IX § l und Obs. l zu Lib. II, Cap. XIV § 3 (noch nicht in der1. Aufl. von 1718); vgl. auch Hutckeson, Philosophiae Moralis Institutio Compendiaria,ed. altera 1745 (Neudruck in: Collected Works of Francis Hutcheson, vol. III, 1969),Lib. II, Cap. IV § 3 (S. 146).

22 , Observationes zu De Officio Hominis et Civis, 1728, Anm. zu Lib. II, Cap. XIV§2 (S. 436).

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II. Die Analyse der Bonitätsvermutung bei Thomasius

Noch bevor der äußere Erfolg von Pufendorfs Lehre von der existimatiosimplex erkennbar wird, wendet sich Christian Thomasius unserer Vermu-tung zu. Im Jahre 1700 publiziert er die „Dissertatio de PraesumtioneBonitatis". Dort übernimmt er das Sprichwort - statt von „tritum" sprichter von „brocardicum" - im wesentlichen in der Fassung, die wir von Pufen-dorf kennen: „Quilibet tamdiu praesumitur bonus, donee probetur contra-rium." („Jeder wird solange als gut vermutet, bis das Gegenteil bewiesenwird.") Wohl unter dem Eindruck der Pufendorf-Kommentierung seines(des Thomasius) Schülers Titius greift Thomasius dann rund ein Jahrzehntspäter das Thema noch einmal auf. Im Jahre 1709 publiziert er eine „Dis-sertatio de Existimatione, Fama et Infamia extra Rempublicam", in der er,was nahe liegt, auch auf die Vermutung eingeht24.

Pufendorfund seine Kommentatoren haben das Recht hervorgehoben, ausdem sich die Bonitätsvermutung ableitet. Wenn der Leser von Thomasiuseine Stellungnahme zu dieser Frage erwartet, dann wird er enttäuscht. Ob-wohl Thomasius in „De Praesumtione Bonitatis" ausdrücklich auch auf dasStrafverfahren eingeht, behandelt er die B onitätsVermutung nicht als eineRegel, die den Angeklagten durchweg schützt. Er kennt Gegenvermutun-gen, die den Ausschlag geben können . Von einem Recht des Angeklagten,bis zum Beweis des Gegenteils als vir bonus angesehen zu werden, ist keineRede. Auch in „De Existimatione" stellt Thomasius lediglich die Behauptungauf, daß die Juristen in der Anerkennung der Unschuldsvermutung mit ihm

23 Thomasius, Dissertatio de Praesumtione Bonitatis (Resp. Jakob Friedrich Ludovici),1700, §5 (S. 7). Der Inhalt der Dissertation ist jüngst von Stuckenberg (Anm.2),S.21 ff., beschrieben worden. Stuckenberg und vor ihm schon Köster (Anm.2),S. 58 f., schreiben die Arbeit dem Respondenten/. E Ludovici zu. Das tun auch Adelungund Rotermund, Fortsetzung und Ergänzungen zu Jöchers Gelehrten-Lexikon, Bd. 4,1813, Sp. 64 ff., 65. Auf die schwierige Frage der geistigen Urheberschaft solcherDissertationen ist hier nicht einzugehen. Zeitgenossen wie Barbeyrac, die sich mitihrem Inhalt auseinandersetzen, haben die Dissertatio de Praesumtione BonitatisThomasius zugeschrieben. Vgl. auch Zedler (Verleger), Grosses vollständiges Univer-sal-Lexikon, Bd. 43, 1745 (Neudruck 1962), Art. „Thomasius", Sp. 1596 (Nr. 51). Eskann auch nicht gut bezweifelt werden, daß die Arbeit im wesentlichen das Denken desTbomasins wiedergibt. Grundsätzlich zum Problem der Zuschreibung Scbubart-Fi-kentscber, Christian Thomasius - Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn derdeutschen Aufklärung, 1977, S. 33 ff.

24 Vgl. Thomasius, Dissertatio de Existimatione, Fama et Infamia extra Rempublicam,(Resp. Zacharias Schmidt), 1709, 34 (S. 20).

25 Vgl. Thomasius (Anm. 23), §§ 33 ff. (S. 34 ff.). Siehe auch die Zusammenfassung beiStuckenberg (Anm.2), S.23.

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übereinstimmen. Selbst dann, wenn das wahr ist, bedeutet das nicht das, waswir uns heute darunter vorstellen würden. Strafrechtslehre und Strafrechts-praxis der Zeit sind weit davon entfernt, im Zweifel zugunsten des Ange-klagten zu entscheiden. Es gibt Verdachtsstrafen und die absolutio ab in-stantia, die die Wiederaufnahme des Verfahrens zu jedem beliebigen Zeit-punkt erlaubt.

Die Leistungen des Thomasius liegen auf einem anderen Gebiet. Ihm gehtes um eine Analyse der Bedeutung der Vermutung. Beispielsweise fragt ernach ihrem formalen Charakter. Sie sei keine richterliche Vermutung, son-dern eine „praesumtio juris", das ist: eine - widerlegliche - Rechtsvermu-tung26. Interessanter sind indessen die inhaltlichen Analysen. In einemersten Schritt unterscheidet Thomasius die juridische BonitätsVermutungvon einer ihr korrespondierenden, aber gegenläufigen ethischen Vermutung.Das geschieht in „De Praesumtione Bonitatis". Die Unterscheidung versetztihn in die Lage, in einem zweiten Schritt die nunmehr als rein juridischerkannte B onitäts Vermutung auch einer inhaltlichen Kritik zu unterziehen.Dadurch wird aus der B onitäts Vermutung eine Unschuldsvermutung. Dasgeschieht in „De Existimatione".

In „De Praesumtione Bonitatis" muß Thomasius zu der Unterscheidungvon Recht und Ethik Stellung nehmen. Recht und Ethik unterscheiden sich27

in dem, was sie als „gut" und als „schlecht" bezeichnen. Der Jurist qua Juristgibt sich damit zufrieden, daß die Bürger die Gesetze nicht mit ihren äußerenHandlungen verletzen, weshalb für ihn schon als „gut" gilt, wer es aus Furchtvor Strafe unterläßt, gesetzeswidrig zu handeln28. Anders, wenn es nicht umdas Recht, sondern um die Ethik, nicht um das forum externum, sondern umdas forum internum geht. Als ethisch gut („moraliter bonus") gilt nur, wer„aus Liebe, d.i. frei und mit Freuden gut handelt und auch das leistet, wasdem anderen aufgrund eines unvollkommenen Rechts zusteht". Ethischschlecht („moraliter malus") hingegen handelt, wer seine Leistung nur„aus Furcht vor Strafe" oder sonst aus anderen als den Gründen, die sein

26 Thomasius (Anm. 23), § 9 (S. 11).27 Vgl. Thomasius (Anm. 23), § 11 (S. 13 f.) mit der Gegenüberstellung von „jus naturae"

und „ethica", von „forum externum" und „forum internum", von „forum soli" und„forum poli".

28 Tbomasius (Anm. 23), § 11 (S. 13): „Ast JCtus, quatenus talis, interna non respicienscontentus est, modo Gives in factis externis Leges propositas, non violent, ideoque illietiam bonus is dicitur, qui formidine demum poenae peccare odit." Vgl. auch § 13(S. 15): „Bonitas ... JCtis dicatur conformitas externarum actionum cum lege prae-scripta." („Von Bonität sprechen die Juristen dann, wenn die äußeren Handlungen einesMenschen mit dem Gesetz übereinstimmen.")

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Handeln als gut qualifizieren, erbringt und dabei nur das leistet, „wozu erkraft Gesetzes verpflichtet ist und was ihm aufgrund des vollkommenenRechts eines anderen abgenötigt werden kann"29.

Auf dieser Grundlage stellt Tbomasius die Rechtsvermutung - „Quilibettamdiu bonus praesumitur, donec probetur contrarium" - einer „philoso-phischen" Vermutung gegenüber. Die rechtliche Vermutung ist das Urteil,daß die Handlungen der Menschen „im Zweifel" mit dem Gesetz äußerlichübereinstimmen, es sei denn, man ist, „gemäß unserem Sprichwort, gezwun-gen, aufgrund eines kraftvoll gefühlten Beweises des Gegenteils anderesanzunehmen . Sie ist die Vermutung, daß die Bürger in diesem Sinne„gerecht leben und gerechte Handlungen vornehmen" („quod cives justevivant, & justas actiones edant")31. Die „philosophische" Vermutung gehtdagegen in die entgegengesetzte Richtung. „Quilibet... tamdiu malus prae-sumitur, donec fructibus vitae suae, seu vita vere virtuosa, contrarium pro-batum dederit." („Jeder wird solange als schlecht vermutet, bis er durch das,was er im Leben geleistet, d. i. durch ein wirklich tugendhaftes Leben, denBeweis des Gegenteils erbracht hat.") Thomasms geht in diesem Zusam-menhang auf Begriffe wie „homo in statu post lapsum" („der Mensch imZustand nach dem Sündenfall") ein. Er zitiert Horaz: „Oderunt peccareboni, virtutis amore; Oderunt peccare mali formidine poenae." („Die Gutenunterlassen die Sünde aus Liebe zur Tugend, die Bösen aus Furcht vorStrafe.") Eine eigentliche Begründung für die „philosophische" Vermutungversucht er jedoch nicht. Ihm genügt es, die „philosophische" Vermutungformuliert und der rechtlichen Vermutung gegenübergestellt zu haben. VonInteresse für ihn ist allein die rechtliche Vermutung.

In „De Existimatione" geht Thomasius wie Pufendorfvon der Differenzzwischen „Würde" und „Preis" aus34. Er übernimmt auch Pufendorfs Unter-scheidung zwischen existimatio simplex und existimatio intensiva. Aller-

29 „Qui ex amore, id est libere & cum delectatione bene agit, & ea quoque praestat, ad quaealter jus saltern imperfectum habebat, üle moraliter bonus est; malus e contrario omnisille, qui metu poenae aut alio respectu ea facit, quae Lex eum ex debito facere jubet, &quae jure perfecto ab eodem exigi queunt."

30 „Ideo Praesumtio bonitatis in genere erit judicium... de actionibus hominum, quod indubio eae cum lege proposita convenientiam externam habeant, nisi, juxta brocardicumnostrum, per probationem in contrarium forte factam aliud credere cogatur."

31 Tbomasius (Anm. 23), § 13 (S. 15).32 Thomasms (Anm. 23), § 11 (S. 13).33 Der Text bei Horaz, l Epistolae XVI, Z. 52 f., lautet: „Oderunt peccare boni virtutis

amore; Tu nil admittis notae formidine poenae.34 Tbomasius (Anm. 24), § 11 (S. 9).

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dings bestimmt er den Sinn des Ausdrucks „existimatio" neu. „Existimatio"bedeutet nicht mehr „Würde" (Thomasius kennt diese Bedeutung, aber sie istihm zweitrangig), sondern, durchaus dem vorherrschenden Sinn des Wortesentsprechend, in erster Linie „Urteil". Er definiert: „Existimatio" ist das„Urteil über den eigenen Wert oder über den Wert einer anderen Person"35.„Existimatio simplex" bedeutet daher bei ihm etwa „schlichte Achtung",und „existimatio intensiva" bedeutet etwa „gesteigerte Achtung".

Thomasius kritisiert vor allem Pufendorfs Begriff des „vir bonus". Es gibt,so Thomasius, einen positiven und einen negativen Sinn des Ausdrucks „virbonus". Setzt man den positiven Sinn voraus, dann kann man sagen, daß einMensch den anderen an positiven Qualitäten überragt. Es gibt dann Gradeder Bonität. Mit dem positiven Sinn des Ausdrucks bewegen wir uns folglichim Bereich der existimatio intensiva. Bei der existimatio simplex dagegengeht es um den negativen Sinn des Ausdrucks, der keine Grade erlaubt. Indiesem negativen Sinne bedeutet „vir bonus", daß der betreffende Mensch„non est malus", daß er nicht schlecht sei . Schon Titius hatte die „pro-bitas , die „bewährte Rechtschaffenheit", um die es nach ihm bei derexistimatio simplex geht, in erster Linie dahin bestimmt, daß diese „probitas"in der Unterlassung von Delikten besteht . Nicht ein malus ist, nachThomasiuSy der Mensch, der andere nicht mit Haß verfolgt und anderenkeinen Schaden zufügt39.

Der Pufendorf-Kommentator Gottlieb Samuel Treuer faßt wenige Jahrespäter die Ergebnisse zusammen, die Thomasius in „De Existimatione"erzielt. Treuer schreibt knapp, aber prägnant, Pufendorfs existimatio simplexbedeute nicht, daß der andere Mensch für gut, sondern lediglich, daß er fürnicht schlecht gehalten werde, „haberi non quidem pro bono, sed pro non-malo . Ein non-malus aber ist der Mensch, der den äußeren Frieden nichtstört.

Es ist klar, daß die neue Bestimmung des „vir bonus" auf unsere Vermu-tung zurückwirkt. Die Vermutung geht jetzt nicht mehr dahin, ein Mann sei„gut", sondern dahin, daß er niemandem geschadet habe („quod neminem

35 Thomasius (Anm. 24), §10 (S. 9): „Supponendum est existimationem in genere essejudicium de valore sui ipsius et aliorum."

36 Thomasens (Anm. 24), § 13 (S. 10).37 Vgl. das „comprobatus" in der oben (Anm. 7) wiedergegebenen Digesten-Stelle.38 Titius (Anm. 17), Obs. 659 zu „Atque isthaec Integra" (L.II C.XIV 4).39 Vgl. Tbomasius (Anm. 24), 36 (S. 21).40 Treuer, Adnotationes zu De Officio Hominis et Civis, 1717 (hier benutzt in der 2. Aufl.

1726), Anm. zu Lib. II § XIV § l (S. 586) und zu §§ 2, 3, 4 (S. 587).

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laeserit"). An dieser Stelle wirkt die Darstellung des Thomasius besonderseindringlich. Er bedient sich neben der lateinischen auch der deutschenSprache: „daß er ein ehrlicher Mann sey". „Man habe mein Tage nichts bösesvon ihm gehöret."

Die Umwandlung der Vermutung, jemand sei ein „vir bonus", in dieVermutung, er sei ein „vir non-malus", ist der entscheidende Schritt voneiner Bonitätsvermutung zu einer Unschuldsvermutung. Es ist deshalb keinZufall, daß bei Thomasius tatsächlich von „Unschuld" im Sinne von „Nicht-Schuld" die Rede ist. In „De Existimatione" findet sich der Satz, „quod indubio pro innocentia & bonitate magis quam pro facinore sit praesumen-dum, & quod adeo infamiam alicujus allegans earn probare debeat" („daß imZweifelsfalle die Unschuld und Güte eines Menschen eher als die Annahme,er habe ein Verbrechen begangen, zu vermuten sind und daß infolgedessenderjenige, der einen anderen verdächtigt, dies beweisen muß")42. Ein Rechtdes Angeklagten wird damit freilich, wie gesagt, nicht verbunden.

I I I . Das „ius in existimationem iusti viri" beiAchenwall und Kant

Die Zurückhaltung, um es so zu bezeichnen, die Thomasius sich bei derFrage auferlegt, ob die existimatio qua Jedermanns Würde ein Recht sei odernicht, ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitet. Noch vierJahrzehnte nach „De Existimatione" nimmt Christian Wolff zwar zur Un-schuldsvermutung Stellung, aber diese Stellungnahme ist zweideutig. Einer-seits heißt es, „richtigerweise" spreche „die Vermutung für die Unschuld,weil es besser ist, im Zweifelsfall den Schuldigen freizusprechen als denUnschuldigen zu bestrafen", andererseits geht Wolff von der genau ent-gegengesetzten Vermutung aus, wenn jemand in einem starken Tatverdachtsteht43. Wolff kennt auch den Begriff der existimatio44. Von einem entspre-chenden Recht ist jedoch nicht die Rede.

In seinem „Ius Naturae" aus den fünfziger und sechziger Jahren45 tut

41 Thomasius (Anm. 24), § 36 (S. 20).42 Thomasius (Anm. 24), § 35 (S. 20).43 Wolff, Jus Naturae VIII, 1748 (Neudruck 1968), § 673 (S. 501): „Praesumtio igitur recte

sit pro innocentia, cum praestet in casu absolvi, quam innocentem puniri." Aber: „Inquern magna cadit suspicio, is deli(n)quisse praesumitur." Vgl. § 676 Zusatz (S. 504).Diese und weitere Stellen von Wolff bei Stuckenberg (Anm. 2), S. 26 f. Fn. 106.

44 Wolff, Jus Naturae I, 1740 (Neudruck 1972), §§ 538 ff. (S. 354 ff.).45 Soweit nicht anders angegeben, sind die folgenden Zitate aus: Ackenwall, Ius Naturae

(pars prior), 6. Aufl. 1767.

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Achenwall den nächsten entscheidenden Schritt. Achenwall greift die The-men auf, die in der vorangegangenen Periode diskutiert wurden, und ver-einigt sie in einem System. „Existimatio" bedeutet jetzt, um die Mitte des18.Jahrhunderts, manchmal „Achtung", bei den meisten Autoren jedochschlicht „Schätzung", „Beurteilung" in einer neutralen Bedeutung. Deshalbmuß zwischen „existimatio bona" und „existimatio mala" unterschiedenwerden, zwischen der guten und der schlechten Meinung, die man voneinem Menschen haben kann. Achenwall geht von einer „existimatio mora-lis" in einem weiten Sinne aus, die er, in Übereinstimmung mit den meistenAutoren der Zeit, als Urteil anderer Personen über unsere Vollkommen-heiten und Unvollkommenheiten bestimmt . Wir müssen den Ausdruck„moralis" dabei richtig verstehen. In der Sprache des 18. Jahrhunderts stehtdas „Moralische" nicht wie in der heutigen engen Bedeutung des Wortes ineinem Gegensatz zum „Unmoralischen", sondern in einem Gegensatz zum„Physischen" als dem „Außermoralischen". Mit einem Wort Hegels ist„moralisch" in diesem Sinne „das Geistige, Intellektuelle überhaupt". „Mo-ralische" Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten sind danach dieVollkommenheiten oder Unvollkommenheiten eines Menschen als Personund nicht seine physischen Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten.

Achenwall macht einen Unterschied zwischen einer äußeren und einerinneren moralischen Vollkommenheit . Die äußere moralische Vollkom-menheit ist eine „mere iustitia externa", eine „bloß äußere Gerechtigkeit",die darin besteht, daß der vir iustus, der äußerlich gerechte Mann, seineäußere Verbindlichkeit erfüllt. Daneben gibt es eine moralische Vollkom-menheit anderer Art, die darin besteht, daß der vollkommene Mann nichtnur seine äußere, sondern zugleich auch seine innere Verbindlichkeit49 er-füllt. Diese letztere Vollkommenheit steht in einem Gegensatz zu der „reinäußeren Gerechtigkeit" und heißt „virtus", „Tugend . Den verschiedenenWeisen von Vollkommenheit entsprechen die verschiedenen existimationesbonae. Es gibt eine existimatio bona, die in der Zuschreibung äußererGerechtigkeit, und es gibt eine existimatio bona, die in der Zuschreibungvon Tugend besteht. Die Zuschreibung äußerer Gerechtigkeit nennt Achen-

46 Achenwall, Prolegomena luris Naturalis, 3. Aufl. 1767, § 72 (S. 67).47 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 1830, § 503

Anm.48 „Perfectio moralis externa" und „perfectio moralis interna".49 „Obligatio naturalis externa" und „obligatio interna".50 Achenwall betont, daß gegenüber der Tugend die rein äußere Gerechtigkeit einen

wesentlich geringeren Wert hat.

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wall „ existirnatio iusti viri", auch „existimatio simplex", während die exi-stimatio bona, die in der Zuschreibung von Tugend besteht, als „existimatiointensiva" charakterisiert wird . Die Zuschreibung von Tugend ist gegen-über der Zuschreibung bloß äußerer Gerechtigkeit eine „gesteigerte" Schät-zung der anderen Person. Die Unterscheidung von „existimatio simplex"und „existimatio intensiva" läuft jetzt zu der Unterscheidung von Recht undEthik parallel.

Acbenwall unterscheidet damit, soweit ich sehe, als erster eine juristischeund eine ethische existimatio bona. Pufendorfs» vir bonus" wird bei ihm zum„vir iustus", der sich an die äußeren Gesetze hält. Wir finden hier einenGedanken wieder, den schon Thomasius geäußert hat. Schon Thomasiuswollte die rechtliche Vermutung auf die Vermutung der Gesetzeskonformi-tät unserer „äußeren Handlungen" beschränken. Achenwall stellt diesenGedanken, der bei Thomasius noch gewissermaßen in der Luft hängt, indas System der existimatio ein. Das macht es notwendig, zwischen denbeiden existimationes bonae, der „existimatio iusti viri" und der ethischenexistimatio bona, zu unterscheiden. Die Überlegungen Pufendorfsy des Titiusund anderer dazu, daß der Betroffene ein Recht auf Anerkennung seinerRechtschaffenheit hat, werden auf den vir iustus übertragen. Achenwallkennt den Begriff des subjektiven Rechts52 und wendet ihn in unseremZusammenhang an. Ich habe einen Anspruch darauf, daß die Gesetzeskon-formität meiner „äußeren" Handlungen anerkannt wird. Dieses subjektiveRecht bezeichnet Achenwall als „ius in existimationem iusti viri".

In der „Metaphysik der Sitten" von 1797 wird Kant die UnterscheidungenAchenwalls übernehmen. Die Differenz zwischen der „äußeren moralischenVollkommenheit" oder „mere iustitia externa" auf der einen und der „in-neren moralischen Vollkommenheit" oder „virtus" auf der anderen Seite istdie Grundlage für die Unterscheidung von Rechtslehre und Tugendlehre.Die existimatio simplex in der neuen Bedeutung als Zuschreibung reinäußerer Gerechtigkeit wird bei Kant zur „Qualität" „eines unbescholtenenMenschen (iusti)"53, die in die Rechtslehre, und die existimatio intensiva inder neuen Bedeutung als Zuschreibung von Tugend wird zur „Achtung des

1l Achenwall (Anm. 45), §§ 96 ff. (S. 80 ff.), besonders §§ 98 f. (S. 83 f.).52 Achenwall (Anm. 46), § 44 (S. 37): „Facultas hominis physica, quatenus nulli legi morali

contraria est, est eius FACULTAS MORALIS, et uno verbo IUS appellatur (in sphaeranempe legum moralium, alias ius morale), vocabulo iuris sumto subiective hoc est proaffectione personae." Ähnlich ders. (Anm. 45), § 23 (S. 14).

53 Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, AA, Bd. 6, S. 238 Z. 2. Kant übernimmt auch denBegriff des „gerechten (iustum)" von Achenwall: „gerecht (iustum)" ist, „was nach

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Nebenmenschen"54, die in die Tugendlehre gehört. Die Qualität „einesunbescholtenen Menschen (iusti)" ist eine „Befugnis", die „schon im Prinzipder angeborenen Freiheit" liegt . Sie ist, mit anderen Worten, ein Aspekt desjedermann angeborenen Freiheitsrechts. Im Streitfalle und wenn „die Frageeintritt, wem die Beweisführung (onus probandi) obliege", kann ich mich aufmein angeborenes Recht der Freiheit berufen, von dem die Qualität einesunbescholtenen Menschen „nicht wirklich unterschieden ist"56.

Achenwall gibt unserer Vermutung die Fassung „Quilibet praesumendussit Justus, donee nimirum probetur contrarium." („Jeder ist als gerecht zuvermuten, bis das Gegenteil bewiesen ist.") In seiner Vorlesung überAchen-walls „Naturrecht" im Wintersemester 1784/85 sagt Kant dazu: „Es kann einSpitzbub verklagt werden, und er es leugnen. Wer soils beweisen? derAnkläger: denn der Spitzbub wenn er auch schon gestohlen hat, fundirtsich auf das natürliche Recht des guten Nahmens, daß er jetzt nicht unrechtgethan habe. Seit der Zeit seiner bösen Streiche kann er sich schon gebesserthaben."

In der Vorlesung erwägt Kant auch die Möglichkeit, der ZweiteilungAchenwalls von existimatio simplex und existimatio intensiva entsprechend,zwischen einem „Rechtsprinzip" und einem „Prinzip der Moral" zu unter-scheiden. Er stellt der juridischen Vermutung „Quilibet praesumendus estJustus, donee probetur contrarium" eine ethische Vermutung gegenüber:„Quilibet praesumendus sit malus, donee probetur contrarium." („Jeder-mann ist als schlecht zu vermuten, bis das Gegenteil bewiesen ist.") Den„juridischen" - im Gegensatz zum „ethischen" - guten Namen habe jeder-mann „a natura"57. Im übrigen kommentiert Kant Achenwalls „jus existi-mationis", das „Recht des guten Namens", in der Vorlesung wie folgt: „Anteomnem factum juridicum muß jeder für gut gehalten werden, ehe jemandnichts Unrechtes gethan hat,... kann ich ihn dessen auch nicht beschuldigen.

äußeren Gesetzen recht ist"; vgl. Bd. 6, S. 224 Z. 7 f. Siehe auch Bd. 6, S. 301 Z. 15 f., woKant die Formel der Bonitätsvermutung, wenn auch unvollständig, wiedergibt.

54 Ä«if(Anm.53),S.448ff.55 Vgl. Kant (Anm. 53), S. 238 Z. 9 f.56 Vgl. Kant (Anm. 53), S. 238 einerseits Z. 12 ff., andererseits Z. 9 ff.57 Nur am Rande sei vermerkt, daß Kant die „ethische" Vermutung, jedermann sei bis

zum Beweise des Gegenteils ein malus, in der „Metaphysik der Sitten" zur Begründungder Notwendigkeit benutzen wird, in eine Gesellschaft mit anderen zu treten; vgl. Kant(Anm. 53), S. 307 Z. 26 f.

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Deswegen muß ich ihn auch nicht positiv für gut halten, sondern bloßnegativ."58 Der Einfluß des Thomasius ist unverkennbar .

IV. Die Durchsetzung der Unschuldsvermutung in der Praxis

Pw/endor/hatte eine BonitätsVermutung vorgefunden, die freilich noch nichtausreichend differenziert. Er stellt sie in den Zusammenhang der existimatio.Die Vermutung gründet in „Jedermanns Würde", wir können auch „Men-schenwürde" sagen. Sie wurzelt damit in einem Recht, das ich habe. Tho-masius entwickelt die Bonitätsvermutung zu einer Unschuldsvermutung. Ererkennt, daß es vor dem forum externum nicht um die Qualität einesMenschen als „gut" geht, sondern darum, daß ihm nichts Schlechtes nach-gesagt werden kann. Darüber hinaus beschränkt er die Vermutung auf dieäußeren Handlungen. Er sieht, daß es für das forum externum auf die innereEinstellung des Menschen nicht ankommt. Das mit der Unschuldsvermu-tung verbundene Recht wird von Thomasius freilich nicht hervorgehoben.Achenwall bringt diese Überlegungen in ein System. Er betont das Recht, dasjedermann zukommt. Kant sieht die „Qualität" „eines unbescholtenen Men-schen (iusti)" als einen Aspekt des jedermann zukommenden Freiheits-rechts60.

Es ist kaum ein Zweifel daran möglich, daß es die Natur- und Vernunfts-rechtslehrer waren, die die Unschuldsvermutung im Endeffekt durchgesetzthaben, vornehmlich Pufendorf und seine Anhänger, später Achenwall undKant. Sie waren die „Theoretiker", die sich nicht an das jeweils geltendeRecht, das Gemeine Recht mit seinen Beweisregeln, sondern allein an dieVernunft gehalten haben und infolgedessen auch in der Lage gewesen sind,das geltende Recht zu kritisieren. Kants Bemerkungen in der Vorlesung überAchenwall heben sich vorteilhaft ab von Vermutungen, wie wir sie wenigeJahre zuvor noch bei Boehmer finden: „Semel malus semper talis praesu-mitur."61

Damit war der Weg in die Praxis geebnet. Das spektakulärste Ereignis im

58 Die wiedergegebenen Texte aus Kants Vorlesung „Naturrecht Feyerabend", in: Kant,AA, Bd. 27.2.2, S. 1340 Z. 1-12.

59 Zur Lehre von der existimatio („Unbescholtenheit" und „Achtung vor dem Neben-menschen") bei Kant und der Kant vorangehenden Naturrechtslehre vgl. auch meinenBeitrag in: Byrd u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000).

60 Kant (Anm. 53), S. 237 Z. 27 ff. und S. 238.6* Boehmer, Meditationes in Constitutionem Criminalem Carolinam, 1770, § l zu Art. 25

(S. 127). Auf Boehmer weist auch Köster (Anm. 2), S. 59 f., hin.

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Zusammenhang mit der Durchsetzung der Unschuldsvermutung ist dieErklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, in derdie Vermutung freilich weniger deklariert als vorausgesetzt wird: „Touthomme etant presume innocent jusqu'ä ce qui'l ait ete declare coup-able, .. .<<62. Zweifellos hat Frankreich eine einschlägige eigene Tradition63.Doch wird man auch an Barbeyracs Pufendorf-Übersetzung denken müssen:„Chacun est cense homme de bien, jusques ä ce qu'on ait prouve le contrai-re."64 „Le Droit de la Nature et des Gens" hat zwischen 1706 und 1771 sechsAuflagen und fünf Nachdrucke gehabt65. Pufendorfs „De Jure Naturae etGentium" wurde im französischen Sprachraum also gelesen. Damit wurdenübrigens auch die Ergebnisse der „Dissertatio de Existimatione" des Tho-masius im französischen Sprachraum bekannt gemacht. Barbeyrac, der vonAnfang an auf die beiden Dissertationen des Thomasms hinweist66, hatjedenfalls „De Existimatione" für so wichtig gehalten, daß er noch in der5. Auflage seiner P#/ewß?or/-Übersetzung von 1734 Nachträge macht, umden wesentlichen Inhalt dieser Arbeit des Thomasms darzustellen .

Die Wirkung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ist bekannt-lich gewaltig. Die Erklärung strahlt aus nach dem übrigen Europa und nachAmerika. Thomas Paine nimmt ihre englische Übersetzung schon 1791 insein „Rights of Man" auf68. Wie die ganze Erklärung wirkt auch die in ihrenthaltene Unschuldsvermutung in ganzer Breite.

In der deutschen Straf rechtslehre des 18. Jahrhunderts finden sich ersteAnzeichen einer Anerkennung der Unschuldsvermutung bei Christian

62 Einleitender Nebensatz von Art. 9.63 Bei Bayle (Anm. 3) findet sich der Satz: „C'est avec raison que presume, qu'un

particulier accuse de meurtre, n'en est point coupable, jusqu'ä ce qu'on l'ait prouve."Weitere Ausführungen, die in unserem Zusammenhang wichtig wären, macht derAutor jedoch nicht. Vgl. auch Pothiers, Traite des donations entre-vifs, posthum1778, Oeuvres VIII (hrsgg. von Bugnet), 1890, S. 347, 353 (Nr. 20), wo es heißt:„l'innocence doit se presumer plutöt que le crime"; auf Pothiers weist Stuckenberg(Anm. 2), S. 24 Fn.91 a.E., hin.

64 Barbeyrac (Anm. 20), tome second, Liv. VIII, Chap. IV § 3 (S. 416).65 Vgl. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, 1972, S. 360 f.66 Siehe Barbeyrac (Anm. 20), 2. Aufl. 1712, Liv. VIII, Chap. IV, l zu § 2 und l zu § 3

(S. 415 f.).67 Unter anderem wird die Bestimmung des „vir bonus" in einem negativen Sinne her-

vorgehoben. Vgl. Barbeyrac (Anm. 20), tome second, 5. Aufl. 1734, Liv. VIII, Chap. IV,3 zu § 3; 3 und 6 zu § 5 (S. 506 ff.).

68 „Every Man being presumed innocent till he has been convicted.. .*, zitiert nach: TheComplete Writings of Thomas Paine, collected and edited by Philip S.Foner, 1945,S.241ff., 314.

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Friedrich Georg Meister . Meister ist zur selben Zeit an der juristischenFakultät in Göttingen wie Achenwall, weshalb wir einen Einfluß des letz-teren annehmen können. Der eigentliche Durchbruch geschieht jedoch erstganz am Ende des 18. Jahrhunderts, offensichtlich unter dem Eindruck derErklärung der Menschen- und Bürgerrechte und von Kants Lehre von derUnbescholtenheit. Johann Adam Bergk ist als „derjenige deutsche Straf-prozeßtheoretiker" bezeichnet worden, der dem Grundsatz „in dubio proreo" in Deutschland zum Durchbruch verholfen habe . In der Tat erklärtBergk im Jahre 1798: „Sollte auch jemand seine Unschuld nicht völligbefriedigend rechtfertigen können, so muß er dennoch losgesprochen wer-den, denn der Richter hat entweder hinreichende Beweise seiner angeschul-digten Tat und ist völlig von seiner Schuld überzeugt oder nicht; im erstenFalle ist die Verurtheilung geboten, und im Ändern die Lossprechung."71

Wird jemand aufgrund eines bloßen Verdachts bestraft, so sei das „wider-rechtlich". Im selben Jahr geht auch der Strafrechtler Karl Grolman von dem„Quilibet praesumitur bonus, donee probetur contrarium" aus, das er wiefolgt paraphrasiert: „Man kann keinem eine böse That zuschreiben, bis esbewiesen ist, daß er eine dergleichen verrichtet habe." Grolman erklärtdiesen Satz „für vollkommen wahr und richtig . Das heutige (deutsche)Rechtssprichwort „in dubio pro reo" wird im Gefolge dieser Entwicklungim Jahre 1811 geprägt .

Freilich dauert es dann noch mehr als eine Generation, bis sich die Un-

69 Vgl. Holtappelsy Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo", 1965,S. 59 ff., und Köster (Anm. 2), S. 52.

70 Holtappels (Anm. 69), S. 74 ff., 76. Holtappels bezieht sich dabei auf den Aufsatz vonBergk aus dem Jahre 1801 in: Klein/Kleinschrod (Hrsg.), Archiv des Criminalrechts,3. Bd. 3.Stck,S.76ff.

71 In den Anmerkungen zu der Übersetzung von Beccaria^ Abhandlung über Verbrechenund Strafen, Erster Theil 1798, S. 96 ff., 98.

72 Grolman, „Wird Dolus bey begangenen Verbrechen vermuthet?**, in: ders. (Hrsg.),Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde, 1. Th. 2. Stck, 1798,S. 70, 71. Entsprechend drei Jahre später Feuerhach, Lehrbuch des gemeinen inDeutschland geltenden Peinlichen Rechts, 1801, §91 (S. 70 ff.). Feuerhach verlangteinen „vollständigen", „vollkommenen** Beweis „für die Existenz** der mit Strafebedrohten Tat und erklärt wie Bergk eine Bestrafung des Angeschuldigten bei einem„unvollkommenen Beweis** ebenfalls für rechtswidrig. Es ist fast überflüssig, daraufhinzuweisen, daß Bergk schon 1797 eine Schrift mit dem Titel „Briefe über ImmanuelKant's metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre** publiziert, die Grolman in dervon ihm herausgegebenen Bibliothek (1. Th. 2. Stck, 1798, S. 83 ff.) noch 1798 (ableh-nend) bespricht. Der Einfluß Kants zeigt sich jedoch daran besonders deutlich.

73 Von Stübel im Anschluß an Dig. 42.1.38. Vgl. dazu Holtappels (Anm. 69), S. 81 ff.

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Schuldsvermutung auch in der Strafrechtspraxis durchsetzt . Die praxis-orientierte Strafrechtslehre fungiert dabei durchaus als Hemmschuh. Mansehe nur die berühmte Preisaufgabe, die noch 1798 von den angesehenenStrafrechtlern Klein und Kleinschrod gestellt wird, ob sich eine „außeror-dentliche Strafe" rechtfertigen lasse75. In demselben Aufsatz von 1798, indem er die Unschuldsvermutung anerkennt, führt Grolman eine Vorsatz-vermutung ein, die die Unschuldsvermutung eines Teils ihrer Wirksamkeitberaubt. Die praesumtio doli wird dann vornehmlich von Feuerbach ver-fochten . Sie gerät durch Feuerbach in das Bayerische Strafgesetzbuch von1813 (Art. 43). Feuerbach gibt die Vorsatzvermutung später wieder auf, undzwar mit eher schwächlichen Gründen77. In Bayern wird sie erst 1848beseitigt . Auch andere Gegenvermutungen werden zeitweilig aner-kannt . Der Weg der Unschuldsvermutung in die Praxis erwies sich alsein steiniger Weg.

74 Vgl. Holtappels (Anm. 69), S. 73 ff.; Holzhauer, Art. „in dubio pro reo" in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. II, 1978,Sp. 349 ff., 355 ff. Beide Autoren gehen allerdings nicht auf die Naturrechtslehre ein,der hier die Vorreiterrolle zukommt, auch nicht auf den seit Pufendorj diskutiertenGrundsatz „Quilibet praesumitur bonus, donee probetur contrarium".

75 Klein/Kleinschrod (Hrsg.), Archiv des Criminalrechts, 1. Bd. 2. Stück, 1798, S. 152 ff.Dazu Holzhauer (Anm. 74), Sp. 357.

76 Vgl. Feuerbach (Anm. 72), § 68 (S. 53 f.).77 Vgl. etwa Feuerbach (Anm. 72), 10. Aufl. 1828, § 87 (S. 64 f.). Der Autor begründet dort

die Aufgabe der Vorsatzvermutung mit einem knappen Hinweis auf einige Stellen inälteren Gesetzen, ohne auf seine eigenen früheren Argumente zugunsten der Vermu-tung einzugehen.

78 Vgl. Stenglein, Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, 1. Bd. 1858, S. 35 Fn. 17,S. 36.

79 Zu ihnen vgl. von Jagemann/Brauer, Criminallexikon, 1854, Art. „Rechtsvermu-thung", S. 545.

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