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DIE WEITERENTWICKLUNG DER WISSENSCHAFTS- UND FORSCHUNGSLANDSCHAFT IN NRW Ideen und Handlungsoptionen aus dem Initiativkreis Forschungspolitik

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DIE WEITERENTWICKLUNG DER WISSENSCHAFTS- UND

FORSCHUNGSLANDSCHAFT IN NRW

Ideen und Handlungsoptionen aus dem Initiativkreis Forschungspolitik

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IMPRESSUMHerausgeberinGRÜNE Fraktion im Landtag NRWSigrid Beer MdLParlamentarische GeschäftsführerinPlatz des Landtags 140221 Düsseldorf

RedaktionMichael Kersken, Simone Nöller, Guido von Wiecken

ISSN: 2509-4726Veröffentlicht im Februar 2017

KONTAKTDr. Ruth Seidl MdLSprecherin für Hochschul-, Wissenschafts- und ForschungspolitikTelefon 0211 / 884 2424 [email protected]

Dipl-Soz.-Wiss. Michael Kersken, M.A.Wissenschaftlicher Mitarbeiter fürWissenschaft und EuropaTelefon 0211 / 884 4104 [email protected]

www.gruene-fraktion-nrw.de

INHALT

EINLEITUNG Dr. Ruth Seidl MdL ............................................................................................................................................................3

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE UND HANDLUNGSOPTIONENEINE STRUKTURELLE REFORM DER UNIVERSITÄTEN UND FACHHOCHSCHULENDr. Ruth Seidl MdL ............................................................................................................................................................5

FORSCHUNG HEUTE UND MORGEN ÜBER DAS SCHWIERIGE ZUSAMMENSPIEL VON FORSCHUNG UND FORSCHUNGSPOLITIKProf. em. Dr. Jürgen Mittelstraß ....................................................................................................................................8

DAS PROGRAMM ZUR FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSESKEINE ALLEINIGE LÖSUNG DES PROBLEMSProf. Dr.-Ing. Gerhard Sagerer ..................................................................................................................................... 14

DER WEG ZU EINER FACHHOCHSCHULPROFESSURWUNSCH UND WIRKLICHKEITProf. Dr. Hans-Hennig von Grünberg .........................................................................................................................17

DIGITALISIERUNGSSTRATEGIE FÜR NRW IM BEREICH FORSCHUNGGUTE AUSGANGSLAGE FÜR DEN DIGITALEN WANDELProf. Dr.-Ing Wolfgang Marquardt ............................................................................................................................. 21

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EINLEITUNG

Dr. Ruth Seidl MdLSprecherin für Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungspolitik

Im April 2012 wurde auf unsere Einladung hin ein Initiativkreis Hochschulpolitik mit namhaften Wissenschaftler*innen gegründet, dessen Diskussionsergebnisse Perspektiven für die Weiterentwicklung der Hochschullandschaft in Nordrhein-Westfalen eröffnen sollten. Im November 2014 haben wir die Ergeb-nisse in einer Dokumentation10 gebündelt, deren politische Schlussfolgerungen mittlerweile teilweise in die praktische Regierungsarbeit eingeflossen sind. Alle Beteiligten sprachen sich dafür aus, sich im Rahmen eines weiteren Diskussionskreises intensiver mit der breiten Forschungslandschaft in NRW zu befassen.

Dieser etablierte sich im Februar 2016 und beschäftigte sich mit ausgewählten Fragen der Forschungs- und Hochschulpolitik. Hier ging es um: • das Selbstverständnis von Forschung sowie um das Zusammenspiel von Forschung, Forschungspolitik

und Gesellschaft, • die notwendigen Strukturen und Programme für eine zukunftsfähige Forschung, • die hochschulpolitischen Rahmenbedingungen der Forschung, • die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses,• die Lehre und Forschung vor dem Hintergrund der Digitalisierung,

Auf den folgenden Seiten finden sich nun Bewertungen in Form von einzelnen Autorenbeiträgen, die Wie-dergabe von protokollarischen Beiträgen aus der Diskussion und daraus abgeleitete Handlungsempfeh-lungen. Die Aufsätze geben die Sicht der jeweiligen Autor*innen wieder und bilden nicht notwendigerwei-se die Meinung aller Diskussionsbeteiligten ab.

Auch wenn wir sicherlich nicht alle Aspekte im Detail behandeln konnten, war die Arbeit des Initiativkreises Forschungspolitik sehr erfolgreich. Vor diesem Hintergrund bedanken wir uns bei allen Wissenschaftler*innen, die, regelmäßig oder in einzelnen Sitzungen, am Initiativkreis Forschungspolitik teilgenommen haben, für den sehr offenen und kreativen Diskussionsprozess, der ohne ideologische Scheuklappen und mit Respekt vor den unterschiedlichen Fächerdisziplinen und wissenschaftlichen Einrichtungen uns - und hoffentlich auch allen Teilnehmer*innen - sehr viel Spaß gemacht und viele Erkenntnisse gebracht hat.

10 Die Dokumentation „Ideen und Handlungsoptionen für die Weiterentwicklung der NRW-Hochschullandschaft - Abschlusspapier des Initiativ-kreises Hochschulpolitik“ kann abgerufen werden unter: http://gruene.fr/hochschulpapier.

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Beteiligt waren: • Prof. Dr.-Ing. Dieter Bathen (Vorsitzender der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft), • Prof. Dr. Marcus Baumann (Vorsitzender der Rektorenkonferenz der Fachhochschulen NRW), • Prof. Dr. Michael Brucksch (CEO des Deutschen Hochschul-Instituts), • Prof. Dr. med. Ellen Fritsche (Leiterin des Centrums für Ersatzmethoden zum Tierversuch am Leibniz-Insti-

tut für Umweltmedizinische Forschung), • Prof. Dr. Anne Friedrichs (Präsidentin der Hochschule für Gesundheit Bochum), • Prof. Dr. Hans-Hennig von Grünberg (Präsident der Hochschule Niederrhein und Vorsitzender der Hoch-

schulallianz für den Mittelstand), • Prof. Dr. Hartmut Ihne (Präsident der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg), • Prof. Dr. Michael Kerres (Leiter des Netzwerks E-Learning NRW am Learning Lab der Universität Duisburg-

Essen), • Prof. Dr. Lambert T. Koch (Rektor der Universität Wuppertal), • Prof. Dr.-Ing. Dorothea Kolossa (Ruhr-Universität Bochum), • Dr. Beate Kortendiek (Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW), • Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Marquardt (Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich und ehemaliger

Vorsitzender des Wissenschaftsrates), • Prof. em. Dr. Jürgen Mittelstraß (u. a. ehemaliger Vorsitzender des Österreichischen Wissenschaftsrats), • Prof. Dr. Bernhard Rumpe (Technische Hochschule Aachen), • Prof. Dr.-Ing. Gerhard Sagerer (Rektor der Universität Bielefeld und Vorsitzender der Landesrektorenkonfe-

renz der Universitäten in NRW), • Prof. em. Dr. Winfried Schulze (ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrats), • Prof. Dr. Tatjana Zimenkova (Technische Universität Dortmund), • Prof. em. Dr. Lothar Zechlin (Universität Duisburg-Essen).

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ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE UND HANDLUNGSOPTIONEN

EINE STRUKTURELLE REFORM DER UNIVERSITÄTEN UND FACHHOCHSCHULEN

Dr. Ruth Seidl MdLSprecherin für Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungspolitik

Nordrhein-Westfalen ist mit seinen 72 Hochschulen, über 100 innerhochschulischen und 59 außerhoch-schulischen Forschungseinrichtungen eine der dichtesten und führenden Wissenschaftsregionen in Euro-pa. Das Land hat in den vergangenen Jahrzehnten einen beeindruckenden Strukturwandel durchlaufen und hat damit seine vielleicht größte Stärke gezeigt: sich mit der Zeit zu wandeln und auf neue Herausforde-rungen zu reagieren. Besonders in diesem Wandel sind Gesellschaft und Wirtschaft auch auf starke Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen angewiesen. Umgekehrt brauchen Hochschulen und Forschungsein-richtungen aber natürlich auch die Unterstützung von Gesellschaft und Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund sind Innovationen in der Wissenschafts- und Forschungspolitik und aus den Hochschulen heraus notwen-dig, um das Land zukunftsfähig und nachhaltig zu gestalten.

Kapazitäten von Universitäten zu Fachhochschulen verlagern – Umbau der Universitäten zu neuen Forschungs- und LehrleistungszentrenImmer mehr Menschen interessieren sich für ein Studium an einer Fachhochschule in Nordrhein-Westfalen. Wir sollten daher die Kapazitäten an den Fachhochschulen erhöhen. Ziel sollte es sein, dass mindestens 60 Prozent der Studierenden an Fachhochschulen studieren.

Diese Verlagerung muss entsprechend finanziert werden. Die Fachhochschulen werden mit Ablauf des Hochschulpakts zusätzliche Mittel erhalten, da die Landesmittel verstetigt werden sollen, die bisher zur Ko-finanzierung aufgebracht werden. Zur dauerhaften Absicherung sind zusätzliche Mittel vom Land sind not-wendig. Diese könnte durch die Umwidmung von Programm- zu Grundmitteln erreicht werden.

Damit einhergehen sollte der Umbau der Universitäten zu Forschungs- und Lehrleistungszentren neuer Art, in einem wesentlich kleinerem Zuschnitt verglichen mit heute und konzentriert auf eine wirklich for-schungsnahe Lehre und die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Das wiederum bedingt Änderungen in der Kapazitätsverordnung des Landes, damit die Relation von wis-senschaftlichen Stellen zu Studierenden wieder auf ein angemessenes Maß reduziert werden kann. Dazu ist es auch erforderlich, bei gleichbleibenden Studierendenzahlen neue Stellen zu schaffen.

Passende Strukturen für den wissenschaftlichen Nachwuchs schaffen – „Professional Tenure Track“ an Fachhochschulen ausbauenDie Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist wichtig für Wissenschaft, Wirtschaft und Gesell-schaft. Dabei sollten unterschiedliche Karrierewege an Fachhochschulen, Universitäten sowie Kunst- und Musikhochschulen ermöglicht werden. Wir sollten die Hochschulen dabei unterstützen, die passenden

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Strukturen für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. Der Bund steht dabei in der Verantwortung, die Länder finanziell stärker zu unterstützen. Die neuen Möglichkeiten des geänderten Artikel 91 b des Grundgesetzes, der die Kooperationsoptionen von Bund und Ländern in der Wissenschaft neu regelt, müs-sen besser genutzt werden.

Um Forschung auf hohem Niveau durchführen zu können, bedürften die Fachhochschulen eines größeren Mittelbaus. Auch das müsste finanziell hinterlegt werden. An Fachhochschulen könnten dann Modelle eines „Professional Tenure Track“ weiter ausgebaut werden, wie sie bereits an mehreren Fachhochschulen des Landes erprobt werden und nun auch durch das Land speziell gefördert werden. Die Fachhochschulprofes-suren müssten dabei hinsichtlich des Lehrdeputats flexibler sein können.

Promotionsrecht für Fachhochschulen einführenEs gibt mittlerweile einen relevanten Anteil sehr forschungsstarker Bereiche an Fachhochschulen. Hier treffen eine starke Lehre und eine starke anwendungsorientierte Forschung auf wissenschaftlich hohem Niveau aufeinander. Gleichzeitig können die Universitäten nicht mehr die Ausbildung des gesamten wis-senschaftlichen Nachwuchses übernehmen. Dafür sind die Unterschiede in den Fächerspektren von Fach-hochschulen und Universitäten zu groß geworden. Ebenso sind die Ansprüche und Bedarfe in der Welt der Fachhochschulen grundlegend anders als an Universitäten. Ein eigener und sich stabil entwickelnder Hochschultyp „Fachhochschule“ benötigt die volle Verantwortung für die Ausbildung des eigenen Nach-wuchses. Folgerichtig sollte über das im Hochschulgesetz verankerte Graduierteninstitut und über eine noch in das Gesetz einzubringende Experimentierklausel das eigenständige Promotionsrecht für die Fach-hochschulen erprobt werden. Fachhochschulen erhielten dann das Promotionsrecht für angewandte For-schung in ausgewählten Fachbereichen nach den Qualitätskriterien des Wissenschaftsrates.

Neues Finanzierungssystem einrichten – Grundfinanzierung der Hochschulen erhöhenUm ein hohes Niveau in Forschung und Lehre an allen Hochschulen gewährleisten zu können, müssen die-se dauerhaft gut finanziert werden. Das neue Finanzierungssystem für die Hochschulen in NRW, das derzeit noch zwischen Ministerium und Hochschulen diskutiert wird, muss die Mittel nach klaren Indikatoren ver-teilen, statt die historisch gewachsenen unterschiedlichen Zuweisungen an die Hochschulen fortzuführen. Darüber hinaus sollte der Anteil zeitlich begrenzter staatlicher Drittmittel reduziert und im Gegenzug die Grundfinanzierung der Hochschulen erhöht werden. Und schließlich muss der Bund den Ländern die Mög-lichkeit eröffnen, zusätzliche Mittel in die Grundfinanzierung zu investieren.

Forschung zur Digitalisierung als Landesforschungsschwerpunkt etablierenDie Digitalisierung betrifft alle Menschen und gesellschaftlichen Bereiche. Daher kommt in den nächsten Jahren der Forschung zur Digitalisierung eine besondere Bedeutung zu. Die Forschung zur Digitalisierung – von der Grundlagenforschung bis hin zur angewandten Forschung und Entwicklung – muss deutlicher he-rausgearbeitet werden, mit dem Ziel einen Landesforschungsschwerpunkt zu etablieren. Ein Verbund von Instituten oder ein Zentrum für Digitalisierung müsste hier eine Koordinierungsfunktion für die landesweit dezentral verteilten Kompetenzen unterschiedlichster Disziplinen übernehmen. Dieses Zentrum (oder der Verbund) könnte eigene Forschung zur Digitalisierung vorantreiben und die Entwicklung eines übergrei-fenden landesweiten Digitalisierungskonzepts ermöglichen.

Forschung im Bereich der großen gesellschaftlichen Herausforderungen und insbesondere der Nachhal-tigkeit muss auch weiterhin eine herausragende Position in NRW innehaben. Dies darf und wird aber nicht dazu führen, dass andere Forschungsarbeiten nicht unterstützt werden. Ergebnis- und technologieoffene Forschung wird es weiter geben.

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Raus aus dem Elfenbeinturm – Wissenschaft und Gesellschaft stärker verzahnenDas Wissenschaftssystem ist Teil der Gesellschaft und damit auch verantwortlich gegenüber der Gesell-schaft, die sie trägt und finanziert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen sich darüber bewusst sein, welche Aufgaben und Verantwortung sie in ihrem Wirkungsbereich haben. Aber auch bei den gesell-schaftlichen Akteur*innen muss stärker im Fokus stehen, in welchem Maße ihre Gegenwart und ihre Zu-kunft von den Leistungen der Wissenschaft abhängen. Dabei sollte es nicht nur darum gehen, Wissenschaft transparent zu machen, und diese auch als Beitrag zur Lösung von gemeinsamen Problemen zu verstehen, sondern auch darum, dass sich die Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft dialogfähig macht.

Wir brauchen neue innovative Wissenschaftsformate für mehr Teilhabe, Transfer und Nachhaltigkeit, die auf die großen Herausforderungen kluge Antworten geben können. Dabei könnte eine Hochschule als Experi-mentierraum und Vorreiter einer Bürgeruniversität fungieren. An sog. „Reallaboren“ (Veränderungsräumen) können Hochschulen, Kommunen sowie Akteur*innen aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft gemeinsam an ganz konkreten Lösungen vor Ort forschen.

Hochschulen und Universitätskliniken weiter sanieren und modernisierenIn den letzten Jahren haben wir in NRW die Sanierung und Modernisierung unserer Hochschulen und Universitätskliniken enorm vorangetrieben.. Das Land hat Milliardenprogramme aufgelegt, um den Sanie-rungsstau in der Wissenschaftslandschaft aufzulösen. Unsere „Infrastrukturen des Wissens“ in NRW müssen aber auch künftig weiter saniert, modernisiert und ausgebaut werden. Neben den Hochschulen und Univer-sitätsklinika gehören dazu auch die Studierendenwerke, inklusive ihrer Wohnheimplätze. Dafür muss NRW ausreichend und dauerhaft Mittel vom Bund erhalten. Die im Rahmen der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen bereits zugesagten Mittel des Bundes müssen in NRW zweckgebunden eingesetzt werden. Dazu muss ein „Zweckbindungsgesetz“ beschlossen werden, das es beispielsweise auch schon bei den bisherigen Entflechtungsmitteln gab.

Forschungseinrichtungen unterstützen und neu strukturierenAlle bisher ausschließlich vom Land institutionell finanzierten Forschungseinrichtungen sollten die Mög-lichkeit erhalten und dabei unterstützt werden, in eine Bund-Länder-Finanzierung überzugehen. Darüber hinaus sollte sich das Land weiterhin aktiv um die Ansiedlung zusätzlicher Bund-Länder-Forschungsein-richtungen in NRW bemühen.

Die Denkanstöße, die uns Prof. Dr. Mittelstraß für den Diskussionsprozess mit auf den Weg gegeben hat, sind etwa: ist dieses in sich wenig flexible deutsche System auch die institutionelle Zukunft? Entspricht dieses System noch einer Entwicklung, in der sich unter anderem der Forschungsbegriff ändert? Muss nicht einge-sehen werden, dass sich die Frage „Grundlagenforschung oder angewandte Forschung?“ nicht ein für alle-mal institutionell regeln lässt, sie vielmehr auf jeder Forschungsstufe neu gestellt werden muss? Definiert sich das Neue in der Forschung nicht zunehmend an den fachlichen und disziplinären Rändern, inter- oder transdisziplinär und damit auch inter- oder transinstitutionell, und nicht mehr in den institutionellen Ker-nen? Muss nicht Kooperation, auch über institutionelle Grenzen hinweg, groß geschrieben werden? Sollten wir die Vernunft eines Systems in sich weitgehend gegeneinander isolierter Teilsysteme hochschulischer und außerhochschulischer Art in Frage stellen?

NRW hat mit seiner Vielzahl an Hochschulen und Forschungseinrichtungen die Chance, sich als Vorreiter für eine Reform der Zusammenarbeit in der Wissenschaft zu profilieren. Orientiert am Konzept der Cluster, könnte an den Hochschulen eine neue, transdisziplinäre Forschungsstrukturgeschaffen werden, bei der die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen noch stärker als bisher eingebunden werden.

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FORSCHUNG HEUTE UND MORGEN

ÜBER DAS SCHWIERIGE ZUSAMMENSPIEL VON FORSCHUNG UND FORSCHUNGSPOLITIK

Prof. em. Dr. Jürgen Mittelstraß u. a. ehemaliger Vorsitzender des Österreichischen Wissenschaftsrates.

Alle unsere Pläne sind stets irgendwo zwischen Alltag und Utopie angesiedelt. Der Alltag denkt in kurzen Distanzen, die Utopie in fernen Idealitäten. So auch das Denken in Sachen Forschung und Forschungspo-litik. Der wissenschaftliche Alltag folgt handfesten Projektzwängen und träumt vom Nobelpreis, der poli-tische Alltag folgt selbst gesetzten Handlungszwängen und träumt von der idealen Gesellschaft. Und wo beide aufeinandertreffen, Wissenschaft und Politik, regiert das Missverständnis. Fünf Thesen zu Forschung und Forschungspolitik:

Wissenschaft ist methodisch gewonnenes und methodisch begründetes, erkenntnisgetriebenes Wissen, Forschung in diesem Sinne in ihrem Kern Grundlagenforschung.

Wissenschaft hat, wenn sie forscht, stets das wissenschaftlich Neue im Auge; deshalb spricht sie auch von Entdeckungen, von Durchbrüchen und (seltener) von revolutionären Einsichten. Ihre Lust ist ihre besonde-re, reflektierte Neugierde und ihre stets reklamierte Freiheit, ohne die sie nicht zu existieren vermag. Da-bei gibt es auch in der Wissenschaft kein Abonnement auf das Neue. Das Neue ist das, was den Antrieb al-les Wissenschaftlichen ausmacht, aber eben auch das, was allzu oft ausbleibt, das beschworen, aber nicht erreicht wird, dessen Suche in die Irre führt oder doch wieder nur im Gewohnten endet. Und dennoch: die wissenschaftliche Suche nach dem Neuen kann enttäuscht, aber auf Dauer in ihrem Erfolg nicht aufgehal-ten werden. Aus diesem Wissen zieht die Wissenschaft ihr Selbstbewusstsein und ihren Anspruch auf Un-abhängigkeit, auch und gerade gegenüber der politischen Welt.

Unabhängigkeit der Wissenschaft ist in der Tat ein hohes Gut. Nicht nur, weil jede Form von gelenkter Wis-senschaft vom Teufel ist10, sondern weil Wissenschaft ihre eigentliche Leistungsfähigkeit dort zeigt, wo sie ihre Probleme selbst formuliert, auch ‚erfindet‘, wo sie spielen kann. Oder noch anders formuliert: Ein biss-chen Elfenbeinturm muss sein, auch heute noch, wo sich sonst alles auf Innovation und Verwertbarkeit reimt. Heißt das, dass Grundlagen und Anwendungen sich nichts zu sagen haben?

Grundlagen und Anwendungen bilden in der Wissenschaft keine getrennten Welten; sie sind vielmehr Teile eines dynamischen Dreiecks, in dem sich alle Forschung bewegt.

Die Verhältnisse zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung sind heute wesentlich kom-plexer geworden, als sie früher vielleicht einmal waren und in vielen Köpfen, wissenschaftlichen wie wis-

10 Ich will hier nur an den Fall des Trofim Denissowitsch Lyssenko in der Biologie und an die ebenso politisch verordnete Deutsche Physik und Mathematik erinnern.

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senschaftspolitischen, noch immer sind. So gehen die alten Gleichungen ‚Grundlagenforschung gleich Wissenschaft‘ und ‚angewandte Forschung gleich Wirtschaft‘ nicht mehr auf. Auch was heute als Grundla-genforschung bezeichnet wird, ist häufig, auch wenn es sich noch anders verstehen sollte, anwendungsnah, und was als angewandte Forschung und selbst als Entwicklung bezeichnet wird, ist heute häufig grund-lagennah, z. B. wenn sie der Grundlagenforschung neue Nachweis- und Experimentiertechniken zur Verfü-gung stellt. Wir bewegen uns in Forschung und Innovation längst in einem (dynamischen) Forschungsdrei-eck, gebildet aus reiner Grundlagenforschung, d. h. Forschung, die keinerlei Anwendungsbezug erkennen lässt (z. B. die Suche nach dunkler Materie oder dunkler Energie in der Kosmologie), aus anwendungsorien-tierter Grundlagenforschung, d. h. Grundlagenforschung, die auch im Praktischen erfinderisch ist, und aus produktorientierter Anwendungsforschung, d. h. der industriellen Forschung. Im Bild gesprochen: wir haben es mit einem gleichseitigen Dreieck zu tun, in dem jede der drei Ecken eine der genannten Forschungs-formen darstellt und die Fläche die entsprechenden Mischformen. Die meisten unserer Projekte, seien sie im engeren Sinne wissenschaftlicher oder industrieller Art, sind in dieser Dreiecksfläche angesiedelt, der einen Ecke näher als der oder den anderen. Auch hier gilt wie so oft im Denken: Dualismen – in diesem Fal-le ein Dualismus von Grundlagenforschung und angewandter Forschung – machen die Dinge zu einfach, und sie orientieren nicht. Das gilt auch für Forschungs- und Wissenschaftsideale.

Zwei Beispiele dafür, wie konkret die Verbindungen in unserem Dreieck sind:

1. Viele Theorien in der Physik haben heute einen solchen Komplexitätsgrad erreicht, dass sich nur noch mit technischer Hilfe, hier in Form von Computern, ermitteln lässt, welche Aussagen sie eigentlich ent-halten. Dazu gehört z. B. die Besonderheit, dass elementarste Bestandteile der Materie, so genannte Quarks, nicht isoliert, sondern in Gruppen auftreten. Numerische Näherungsrechnungen, die wegen ih-rer Komplexität nur mit Hilfe eines Computers durchführbar sind, haben hier zu der Erwartung geführt, dass der Einschluss der Quarks tatsächlich eine Konsequenz der einschlägigen Theorie ist. In diesem Falle ist also erst durch den Einsatz von Computern klargeworden, was die Theorie überhaupt besagt. Grundlagenforschung nimmt den Charakter einer ‚angewandten Technologie‘ an.

2. Die Entwicklung von Hörgeräten. Diese kleinen Wunderwerke angewandter Forschung sind ohne die Ergebnisse der Grundlagenforschung undenkbar. Ihre Entwicklung setzt unter anderem das Grundla-genwissen der Neurobiologie und der Audiologie, ferner der Materialwissenschaften, der Elektronik und selbst der Sprachwissenschaften und der Psychologie voraus. Das heißt: Forschung im Bereich der Hör-hilfen basiert unmittelbar auf einem wissenschaftlichen Grundlagenwissen; sie wäre ohne dieses Wis-sen, in allen ihren Phasen, nicht möglich.

Wissenschaft ist nicht gleich Wissenschaft; sie ist sowohl eine besondere Wissensform als auch eine Insti-tution und eine Lebensform. Mit ihrem institutionellen und ihrem Lebensformcharakter verbindet sich ihre besondere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.

Wenn wir von Wissenschaft sprechen, sprechen wir nicht nur, wie dargestellt, von einer besonderen Form des Wissens und seiner Erzeugung – von Theorien, Methoden und besonderen Rationalitätsstandards, de-nen Theorien und Methoden folgen –, sondern auch von Wissenschaft als Institution, d. h. als einer gesell-schaftlichen Veranstaltung zur Stabilisierung der wissenschaftlichen Form der Wissensbildung. Doch auch damit ist der Begriff der Wissenschaft noch nicht erschöpft. Hinzu tritt Wissenschaft als Idee, in der das ei-gentümliche Wesen des Menschen als animal rationale, als rationales Wesen, in besonderer Weise zum Aus-druck kommt, oder mehr noch, eine Lebensform, die Lebensform des Wissenschaftlers und der Wissenschaft-lerin. Zusammen mit der institutionellen Form der Wissenschaft bilden Idee und Lebensform die Brücke zur Gesellschaft.

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Konkret bedeutet dies, dass Wissenschaft keineswegs in die Wiege gelegt wurde, praxis- und anwendungs-fern zu sein. Auf unser Forschungsdreieck bezogen, geht es nicht nur um einen differenzierten Forschungs-begriff, sondern auch um einen differenzierten Wissenschaftsbegriff. Das hat auch etwas mit einer mo-dernen Problementwicklung zu tun, in der Wissenschaft und Technik nicht nur wissenschaftstheoretisch gesehen in ein immer engeres, für die Zukunft der modernen Gesellschaft konstitutives Verhältnis zueinan-der treten. Dabei stehen wir in vielen Fällen nicht nur bei den (technischen) Innovationen, sondern auch bei den (wissenschaftlichen) Grundlagen für (technische) Innovationen vielleicht nicht mehr am Anfang, aber doch mitten in einer Entwicklung, die ihr Ende noch lange nicht erreicht hat. Das heißt, es geht nicht einfach nur um die Anwendung von vorhandenem Wissen, sondern auch um die produktive Weiterführung der Forschung, vor allem derjenigen, die in unserem Forschungsdreieck den Grundlagen nahebleibt. Alles das heißt: Für die moderne Welt gibt es – und auch das ist natürlich nichts Neues – keine Alternative zu den Leistungen von Wissenschaft, Forschung und Entwicklung. Ohne sie verlöre diese Welt ihre Handlungs- und Reaktionsfähigkeiten gegenüber Entwicklungen, die sich, wie z. B. die natürliche Evolution, die Tag und Nacht experimentiert, einen Teufel darum scheren werden, auf welchem Stande der Entwicklung eine Ge-sellschaft und eine Welt stehenbleiben wollen.

Das lässt sich auch – an die Adresse der Institution Wissenschaft sowie des Wissenschaftlers und der Wis-senschaftlerin gerichtet – in die Form eines Imperativs, eines Wissenschafts- oder Forschungsimperativs, bringen: Lass Dich leiten von der Lust auf das Neue und dem Willen zu erkennen, was die Welt im Innersten zu-sammenhält, aber achte darauf, dass es kein minderes Ziel ist, die Welt mit dem, was Du forschend und entwi-ckelnd tust, zusammenzuhalten!

Wie man sieht, geht es forschungsbezogen nicht nur um Innovation, die Industrie und Wirtschaft beflügelt oder Bedürfnisse befriedigt, die häufig selbst erst, wie man so schön sagt, durch die Wirtschaft ‚geweckt‘ werden, sondern auch (und gerade) um solche Erkenntnisse, die für das zukünftige Schicksal der Welt und des Menschen von entscheidender Bedeutung sind. Und eben darin liegt auch die besondere Verantwortung der Wissenschaft sowie des Wissenschaftlers und der Wissenschaftlerin gegenüber sich selbst, gegenüber der Welt und gegenüber der Gesellschaft.

Diese Verantwortung, die sich auch als institutionelle Verantwortung der Wissenschaft sowie des Wissen-schaftlers und der Wissenschaftlerin verstehen lässt, setzt, wenn sie wirksam werden soll, ein entspre-chendes Bewusstsein sowie Dialogfähigkeit sowohl auf Seiten der Wissenschaft und ihrer Subjekte als auch auf Seiten der Gesellschaft und ihrer Repräsentanten und Repräsentantinnen voraus. Als Institution ist Wissenschaft einerseits Teil der Gesellschaft und andererseits verantwortlich gegenüber der sie tra-genden und finanzierenden Gesellschaft. Das Ziel: In ihren praktizierten Verantwortungsstrukturen ent-spricht die Wissenschaft ihren entsprechenden Aufgaben gegenüber der Gesellschaft, die sich ihrerseits ein konkretes Bewusstsein darüber verschafft hat, in welchem Maße ihre Gegenwart und ihre Zukunft von den Leistungen der Wissenschaft abhängen. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Wissenschaft ihre Bemü-hungen verstärkt, der Gesellschaft Einblick in ihre Arbeit zu geben, und diese auch als Beitrag zur Lösung von gemeinsamen Problemen zu verstehen, sondern auch darum, dass sich die Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft dialogfähig macht. Nicht Betroffenheit macht uns zu Experten und Expertinnen, sondern al-lein erworbene Kompetenz. Die derzeit diskutierten Konzepte von responsible science und citizen science könnten in diesem Sinne Ausdruck praktizierter gegenseitiger Dialogfähigkeit und der Fähigkeit sein, in wichtigen gesellschaftlichen Problembereichen – Beispiele sind Energie, Umwelt, Gesundheit und Wirt-schaft – vermittelt über die Wissenschafts- und Forschungspolitik zusammenzuarbeiten.

In der Wissenschaft haben die Institutionen der Forschung zu folgen, nicht umgekehrt. Dem steht in Deutschland ein starker Strukturkonservatismus entgegen.

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Deutschland besitzt ein Wissenschaftssystem, um das uns andere Länder und Wissenschaftssysteme benei-den. Für alle Probleme wissenschaftlicher Art und für jedes wissenschaftliche Interesse ist gesorgt. Wer die absolute Freiheit der Forschung sucht und gleichzeitig in der (forschungsnahen) Lehre eine willkommene Herausforderung sieht, geht zur Universität; wer diese Freiheit ohne Verpflichtung zur Lehre will, geht zu Max-Planck; wer die Programmforschung schätzt, ist bei Helmholtz gut aufgehoben; wer auf Innovationen von wirtschaftlicher Bedeutung aus ist, findet dazu bei Fraunhofer alle wünschenswerten Voraussetzungen; wer die Behördenatmosphäre liebt, geht in die Ressortforschung; und bei Leibniz spiegelt sich das alles in einem bunten Institutionenspektrum noch einmal wider. Doch Arbeitsteilung dieser Art, nämlich in fest strukturierter Form, kann auch erhebliche Nachteile mit sich bringen. Ein System, das in seinen Strukturen auf Dauer gestellt ist, gerät unvermeidlich in Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn das, was in einem Sys-tem geregelt wird, in seinem Wesen etwas ungemein Dynamisches, nichts Statisches ist. Eben das ist in wis-senschaftlichen Dingen der Fall.

Die Fragen, die an das deutsche Wissenschaftssystem – und in vergleichbarer Form sicher auch an ande-re Wissenschaftssysteme – gestellt werden müssen, sind etwa die folgenden: Ist dieses in sich wenig fle-xible deutsche System auch die institutionelle Zukunft? Entspricht dieses System noch einer Entwicklung, in der sich unter anderem – von den individuellen Forschenden zu der Forschung – der Forschungsbegriff ändert? In der sich die Frage Grundlagenforschung oder angewandte Forschung nicht ein für allemal insti-tutionell regeln lässt, sie sich vielmehr auf jeder Forschungsstufe neu stellt? In der das Neue zunehmend an den fachlichen und disziplinären Rändern, damit auch an den institutionellen Rändern, nicht mehr in den institutionellen Kernen entsteht, sich vielmehr inter- oder transdisziplinär, damit auch inter- oder tran-sinstitutionell definiert? In der Kooperation, auch über institutionelle Grenzen hinweg, groß geschrieben wird? Bevor wir weiter kleine Brücken zwischen den Wissenschaftsteilsystemen schlagen – die gängigen Maßnahmen sind: ein wenig universitäre Lehre für die Außeruniversitären, gemeinsame Graduiertenschu-len, hier und da gemeinsame Projekte –, sollten wir wohl auch einmal die Vernunft eines Systems in sich weitgehend gegeneinander isolierter Teilsysteme universitärer und außeruniversitärer Art in Frage stellen.

Das Missliche ist nämlich: Aus sich selbst heraus tut dies das System nicht, dokumentiert etwa in der Art und Weise, wie die so genannte „Allianz der Wissenschaftsorganisationen“, gebildet unter anderem aus den Präsidenten der genannten Wissenschaftsteilsysteme, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Hoch-schulrektorenkonferenz und des Wissenschaftsrates, mit Fragen dieser Art umgeht, nämlich strenggenom-men gar nicht. Dabei gehört es ausdrücklich zu den Aufgaben der Allianz, zur strukturellen Weiterentwick-lung des deutschen Wissenschaftssystems Stellung zu nehmen. ‚Stellung nehmen‘, das heißt ja wohl auch, Entwicklungen nicht einfach zuzusehen, sondern sie zu gestalten. Eben das geschieht nicht. Man begegnet sich freundlich in den von niemandem in Frage gestellten eigenen institutionellen Grenzen und verteidigt diese, wenn Feinde oder Nöte, etwa finanzieller Art, in Sicht sind. Hier bestimmt ein gegebenes institutio-nelles System die Forschungsformen und Forschungsagenden, nicht umgekehrt die Forschung das System. Was tun?

Eine weitere Runde in der Exzellenzinitiative könnte (sollte) der Hebel zu einer grundlegenden Reform des deutschen Wissenschaftssystems werden. Vor allem ein weiterentwickeltes Clusterkonzept würde für die notwendige institutionelle Flexibilität sorgen. NRW könnte hier eine Vorreiterrolle übernehmen.

Die Imboden-Kommission zur Evaluation der Exzellenzinitiative11 empfiehlt eine Weiterentwicklung der Clusterstruktur hin zu einer sowohl thematisch als auch institutionell offeneren Struktur sowie eine Exzel-lenzprämie für besonders leistungsfähige Universitäten. Auf diesem Wege könnten ein wünschenswerter

11 Internationale Expertenkommission zur Evaluation der Exzellenzinitiative: Endbericht, Januar 2016: http://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Pa-pers/Imboden-Bericht-2016.pdf.

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Differenzierungsprozess gefördert und der institutionellen Vielfalt der Forschung, diese zugleich enger zu-sammenführend, entsprochen werden. Hier sollte man sogar noch weiter gehen: Cluster sollten, statt wie bisher ein institutionelles Eigenleben in der Universität zu führen, Träger einer institutionellen Reform der Universitäten werden – etwa als zentrales Strukturelement anstelle der herkömmlichen Instituts- und Fa-kultätsstruktur –, Universitäten sollten wieder zum eigentlichen Kern des Wissenschaftssystems werden. Das herrschende System ist schließlich extrem unfair: Während man den Universitäten immer schärfere Wettbewerbsregelungen aufbürdet, erfahren außeruniversitäre Forschungseinrichtungen eine hinsichtlich eines finanziellen Aufwuchses auch noch garantierte institutionelle, nicht wettbewerbsgebundene Förde-rung. Dabei stammen drei Viertel aller wissenschaftlichen Publikationen und über zwei Drittel der zehn Prozent hochzitierter Veröffentlichungen (highly cited papers) aus den Universitäten.12 Sollte das nicht wis-senschaftspolitisch zu denken geben und strukturelle Konsequenzen haben?

Die sind ohnehin aus den zuvor genannten Gründen dringend geboten. Hier wiederhole ich meinen vor gut einem Jahr gemachten Vorschlag zur strukturellen Reform des deutschen Wissenschaftssystems13:

1. Umbau der Universitäten zu Forschungs- und Lehrleistungszentren neuer Art, in, verglichen mit heute, wesentlich kleinerem Zuschnitt, konzentriert auf eine wirklich forschungsnahe Lehre und die Ausbil-dung des wissenschaftlichen Nachwuchses für alle Wissenschaftsteile. Damit würde den Universitäten, gegenüber ihrer derzeitigen Existenz als aufgeblasene Lehranstalten ihr Wesen und ihre wesentliche Leistungsfähigkeit wieder zurückgegeben.

2. Fachhochschulen als Regelhochschulen mit aus den Universitäten ausgelagerten, nicht unmittelbar for-schungsorientierten Teilen. Viele dieser universitären Teile entsprechen schon jetzt eher dem Modell Fachhochschule als dem Modell Universität. Dazu müsste das Fachhochschulsystem erheblich ausge-baut werden.

3. Helmholtz-Zentren, die eigentlich längst aus ihren national bestimmten Forschungsprogrammen he-rausgewachsen sind, als Entwicklungskerne europäischer und zu großen Teilen europäisch finanzierter Forschungszentren.

4. Max-Planck-Institute, getreu ihrer ursprünglichen Definition, als Schrittmacher an neuen Forschungs-fronten, dabei (das Harnack-Prinzip wirklich beherzigend) kleiner – es müssen ja nicht, wie mittlerweile in vielen Instituten gegeben, fünf und mehr Direktoren und Direktorinnen bzw. Abteilungen sein –, fle-xibler, sterblicher als heute. In ihren derzeitigen Großformaten verwischt sich nur der strukturelle und systemische Unterschied gegenüber den Helmholtz-Zentren.

5. Leibniz-Institute. Nach Auflösung einer im Wesentlichen imaginären institutionellen Einheit und par-tieller Eingliederung von Instituten der Normalforschung in Universitäten Überführung in einzelne objektbezogene spezielle Forschungsverbünde (Beispiele: die fünf forschenden Museen und die fünf Pädagogikinstitute der Gemeinschaft). Als eigens ausgewiesenes Wissenschaftssystem fehlt der Leib-niz-Gemeinschaft nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine materiale Idee.

6. Fraunhofer-Institute als paradigmatisches Erfolgsmodell zwischen Universität und Industrie sollten bleiben, wie sie sind. Hier greift auch der im politischen Diskurs so beliebte Innovationsbegriff. Inno-vation ist, recht verstanden, die technikorientierte Entwicklung und Anwendung von forschungsbezo-genem Wissen unter gesellschaftlichen Zwecken. Genau das leistet die Fraunhofer-Gesellschaft mit ih-ren Instituten auf eine vorbildliche Weise.

12 s. Hornbostel/Möller: Die Exzellenzinitiative und das deutsche Wissenschaftssystem. Eine bibliometrische Wirkungsanalyse, Berlin 2015, 42 ff: http://www.bbaw.de/publikationen/wissenschaftspolitik_im_dialog/BBAW_WiD-12_PDF-A1b.pdf.

13 Mittelstraß: Die Verhältnisse zum Tanzen bringen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. September 2014, Nr. 220, 6: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/wissenschaft-die-verhaeltnisse-zum-tanzen-bringen-13165481.html.

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Alle diese Maßnahmen zusammengenommen könnten, eine strukturelle Reform der Universitäten voraus-gesetzt, zu einer wirklichen Reform des Wissenschaftssystems führen, zu einer Reform, die mehr bedeuten würde als nur das Herumschieben altbekannter und vermeintlich durch die Bank bewährter Systembau-steine und Semantiken.

Nordrhein-Westfalen mit seinem unerhörten Reichtum an Wissenschaftseinrichtungen – 72 Hochschulen, unter ihnen 14 Universitäten, 12 Max-Planck-Instituten, 3 Helmholtz-Zentren, 13 Fraunhofer-Instituten, 11 Leibniz-Instituten und 15 Instituten der Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft – könnte sich hier an die Spitze einer großen Reformanstrengung setzen. Den Anfang sollten die Universitäten machen, indem sie sich, orientiert an der Clusterkonzeption, eine neue, transdisziplinären Forschungsnotwendigkeiten ent-gegenkommende Struktur geben und gleichzeitig versuchen, die außeruniversitären Forschungseinrich-tungen für ein gemeinsames institutionelles Experiment zu gewinnen. Ansatzpunkt könnte auch hier ein weiterentwickeltes Clusterkonzept sein. Dazu müssten sie, im staatlich geförderten Abgleich mit den Fach-hochschulen, zu wirklichen Forschungsuniversitäten im internationalen Maßstab werden, was sie unter den gegenwärtigen Bedingungen und verglichen mit ausländischen Spitzenuniversitäten, nämlich zu großen Teilen katastrophalen Betreuungsverhältnissen, hoher Lehrbelastung und fehlender Steuerungsmöglich-keiten bei Zahl und Qualität der Studierenden, nicht sein können (von der generellen Unterfinanzierung ganz zu schweigen). Es kommt nicht darauf an, (im Großen wie im Kleinen) weiterhin auf Wachstum des Systems zu setzen – so die naive allgemeine ökonomische Doktrin –, sondern darauf, das herrschende Sys-tem auf dem Wege eines radikalen Umbaus wirklich zukunftsfähig zu machen.

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DAS PROGRAMM ZUR FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES

KEINE ALLEINIGE LÖSUNG DES PROBLEMS

Prof. Dr.-Ing. Gerhard SagererRektor der Universität Bielefeld und Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz der Universitäten in NRW

(unter Mitarbeit von Dipl.-Soz.-Wiss. Michael Kersken, M. A.)

Im Juni 2016 beschlossen Bund und Länder das „Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses“10. Ziel des Programms ist es, die Karrierewege des wissenschaftlichen Nachwuchses an Uni-versitäten planbarer und transparenter zu machen. Mit der Tenure-Track-Professur soll ein neuer eigenstän-diger Karriereweg neben den üblichen Berufungsverfahren etabliert werden. Bis zum Jahr 2032 will der Bund bis zu einer Milliarde Euro einsetzen, mit der 1.000 zusätzliche Tenure-Track-Professuren gefördert werden sollen. Bund und Länder greifen damit nach eigenen Worten die Empfehlungen des Wissenschafts-rates von Juli 2014 zu „Karrierezielen und -wegen an Universitäten“11 auf. Jede Professur soll für sechs Jahre gefördert werden, plus zwei Jahren Anschluss- und Übergangsfinanzierung. Nach Auslaufen der Bundesför-derung müssen dann die Länder die dauerhafte Finanzierung sicherstellen. Die Mittel sollen in zwei An-tragsrunden 2017 und 2018 vergeben werden, wobei eine wissenschaftsgeleitete Begutachtung der Förde-ranträge erfolgen wird.

Das Programm schafft neue Möglichkeiten; löst allein aber nicht das grundsätzliche Problem, dass unser wissenschaftlicher Nachwuchs verlässliche Karrierewege benötigt, damit der „Beruf Wissenschaft“ attrak-tiver wird.

Das Modell der Tenure-Track-Professur darf nicht dazu führen, dass insgesamt ein Automatismus geschaf-fen wird, der nach der Promotion direkt zur verstetigten Professur führt. Dadurch würde das Auswahlsystem, das der Wissenschaft implizit ist, außer Kraft gesetzt. Wissenschaftliche Kriterien dürfen bei der Berufung nicht außer Acht gelassen werden. Auch muss ein wettbewerbliches Verfahren auf Basis dieser Kriterien in jedem Fall beibehalten werden.

Die Empfehlung des Wissenschaftsrates, die Postdoc-Phase in zwei Abschnitte einzuteilen, zwingt Nach-wuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, frühzeitig über ihre Karriereziele nachzuden-ken. Nicht nur an den Scheidepunkten, auch auf ihrem weiteren Karriereweg benötigen sie dafür eine dau-erhafte Beratung.

Dabei gilt auch zu bedenken: wie viel Akzeptanz genießt die Juniorprofessur überhaupt in der Wissen-schaft? Allein schon die W1-Besoldung, mit zu geringem Grundgehalt, Personal- und Sachmitteln sowie ohne die Möglichkeit Leistungszulagen zu erhalten, ist im Vergleich zu W2 und W3 eine Zumutung. Allen-

10 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz: Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, http://www.gwk-bonn.de/themen/vorhaben-an-hochschulen/foerderung-des-wissenschaftlichen-nachwuchses/.

11 Wissenschaftsrat (2014): Empfehlungen zu Karrierezielen und -wegen an Universitäten, in: http://www.wissenschaftsrat.de/download/ar-chiv/4009-14.pdf.

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falls gegenüber den bisher unstrukturierten und kurzzeitigen Beschäftigungen während der traditionellen Habilitation bietet diese „Qualifikationsphase“ insgesamt bessere Bedingungen.

Durch die Exzellenzinitiative und weitere Dritt- sowie Sondermittelprogramme der letzten Jahre wurde be-reits eine große Anzahl an Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs geschaffen. Allerdings waren und sind die meisten dieser Stellen nicht auf Dauer angelegt, da die Programme zeitlich befristet sind. Laufen die Programme aus, laufen auch die Stellen aus. Damit erhöht sich der Druck für den Nachwuchs immens. Der Mittelbau wird immer weiter ausgeweitet, aber für den Anschluss können die Hochschulen nicht in aus-reichendem Umfang sorgen.

Gleichzeitig ist die Anzahl der Studierenden in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Die Grundausstat-tung der Universitäten hat jedoch nicht im vergleichbaren Maße mitgehalten. Der Anstieg der Studieren-denzahlen wurde allein mit den Mitteln aus dem Hochschulpakt 2020 finanziert, während die Erhöhungen der Grundmittel höchstens die Inflation und Personalkostensteigerungen aufgefangen haben. In einigen Bundesländern erfolgte nicht einmal dies, dort wurden – zum Teil massiv – die Grundmittel gekürzt.

Die Landesrektorenkonferenz ist besorgt: Durch die hoch bleibenden Studierendenzahlen und wegen der sehr hohen Lehrbelastung des Personals könnte Nordrhein-Westfalen von Ländern wie Bayern oder Baden-Württemberg, die stärker in die Verbesserung der Betreuungsrelation investieren, in der wissenschaftlichen Leistung in Rückstand geraten, von einem internationalen Vergleich ganz zu schweigen.

Die größte Hürde für die Verbesserung der Betreuungsrelation stellt die Kapazitätsverordnung dar: Jede zu-sätzliche Stunde Lehrdeputat führt automatisch zu einer Erhöhung der Studienplätze. Hiervon ausgenom-men sind in Nordrhein-Westfalen nur die Mittel zur Verbesserung der Qualität in Lehre und Studium, die als Ersatz für die abgeschafften Studiengebühren eingeführt wurden. Diese machen aber nur einen kleinen Teil der Finanzierung der Hochschulen aus und beziehen sich auf den Stand der Studierendenzahlen von 2009. Eine grundsätzliche Änderung der Kapazitätsverordnung erscheint daher dringend notwendig.

Sondermittel wie der Hochschulpakt reichen nicht aus, um die Bedarfe der Hochschulen abzudecken. Au-ßerdem werden sie nicht dauerhaft zur Verfügung stehen. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Karriere-wege des (potenziellen) wissenschaftlichen Nachwuchses: Wegen der zeitlichen Befristung der Mittel kön-nen verlässliche Karrierewege nicht ohne Weiteres angeboten werden. Dass in regelmäßigen Abständen über das Fortbestehen der Sondermittel politisch verhandelt werden muss, erschwert es den Hochschu-len in mehr dauerhaftes Personal zu investieren. Eine Erhöhung der Grundfinanzierung der Hochschulen müsste demnach auch dadurch erfolgen, dass Sondermittel, wie insbesondere der Hochschulpakt, in die Globalbudgets der Hochschulen verstetigt werden.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat für 2017 damit begonnen einen Teil der Landesmittel zur Kofinanzie-rung des Hochschulpakts in die Grundfinanzierung zu verstetigen12. Dieser Betrag wird, so ist es in der „Hochschulvereinbarung NRW 2021“13 mit den Hochschulen vereinbart worden, bis zum Jahr 2021 auf 250 Millionen Euro aufwachsen. Ab 2022 stehen die Mittel den Hochschulen jedes Jahr zusätzlich und unbe-fristet in ihrer Grundfinanzierung zur Verfügung. Die Landesrektorenkonferenz hat die erheblichen finanzi-ellen Anstrengungen des Landes ausdrücklich begrüßt. Vor dem Hintergrund der anhaltend hohen Studie-rendenzahlen ist die Verstetigung befristeter Programmmittel für die Universitäten in NRW unabdingbar. Die Finanzierungszusagen des Landes ermöglichen eine verlässliche Grundfinanzierung und schaffen so

12 Eigentlich müsste es heißen „weitere Teile“, denn im Landeshaushalt waren bereits 200 Millionen Euro Mittel zur Kofinanzierung des Hoch-schulpakts in der Grundfinanzierung ausgewiesen. Hierbei handelt es sich vorwiegend um verstetigte Mittel aus dem Ausbau der Fachhoch-schulen, mit dem die steigenden Studierendenzahlen teilweise aufgefangen werden. Die neuerliche Verstetigung kommt allen öffentlichen Universitäten und Fachhochschulen zu Gute.

13 Hochschulvereinbarung NRW 2021: http://www.wissenschaft.nrw.de/fileadmin/Medien/Dokumente/Hochschule/Hochschulvereinbarung_NRW_2021__ohne_Unterschrift.pdf.

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Planungssicherheit bis 2020. Um die hohe Attraktivität und Leistungsstärke der Universitäten nachhaltig zu gewährleisten, ist aber eine für sie angemessene Grundausstattung auch über diesen Zeitraum hinaus notwendig.

Ein künftiges Finanzierungskonzept für die Grundausstattung der Hochschulen muss sich unter anderem an den realen Studierendenzahlen orientieren, darf gleichzeitig aber auch die kritische Masse einer Hoch-schule nicht gefährden, und muss eine zeitliche Perspektive von mindestens fünf bis zehn Jahren bie-ten. Nur so können verlässlichere Karrierewege geschaffen, die Betreuungsrelationen verbessert und mehr Spitzenforschung ermöglicht werden. Ein objektiver Vergleich mit anderen Bundesländern und Regionen in Europa bleibt für die Dynamik wichtig. Ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem ist der Motor von Wirt-schaft und Gesellschaft, aber er braucht auch ausreichend Treibstoff.

Dieser kursorische Überblick konnte nicht alle Aspekte der Problematik anreißen. Auch bleiben noch eine Reihe offener Fragen übrig. Selbst die so grundlegende Frage nach der angemessenen Finanzierung ist nur ein Teil des Problems. Aber: auch dies ist ein Prozess, der am besten schrittweise angegangen wird.

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DER WEG ZU EINER FACHHOCHSCHULPROFESSUR

WUNSCH UND WIRKLICHKEIT

Prof. Dr. Hans-Hennig von GrünbergPräsident der Hochschule Niederrhein und Vorsitzender der Hochschulallianz für den Mittelstand

Wir haben in Deutschland 24.000 Universitäts- und 19.000 Fachhochschulprofessuren. Während Fachhoch-schulen in vielen Disziplinen immer größere Mühen haben, ihre Professuren geeignet zu besetzen, sind die 24.000 Universitätsprofessuren heiß begehrt. Zu viele Bewerberinnen und Bewerber bei diesem Hoch-schultyp, zu wenige bei jenem. Was hat das zu bedeuten? Und was könnte man tun, um die Fachhochschul-professur attraktiver zu machen?

Beginnen wir mit den Fachhochschulen. Jüngst hat eine Umfrage des Verbands Deutscher Machinen- und Anlagenbau (VDMA) unter den Dekaninnen und Dekanen der Fachbereiche Elektrotechnik und Maschinen-bau an den Fachhochschulen Deutschlands gezeigt, wie groß inzwischen die Unzufriedenheit mit der Be-werberlage bei ausgeschriebenen Professuren ist: mit der Anzahl der üblicherweise eingehenden Bewer-bungen waren gerade einmal 5 Prozent der Befragten zufrieden, mit der Qualität der Bewerbungen nur etwa 40 Prozent. Eine andere Umfrage belegt, dass nur bei jeder dritten Besetzung einer Elektrotechnik-Professur an einer Fachhochschule eine einzige Ausschreibung zum Erfolg führt. Und blickt man auf die Hochschule Niederrhein mit ihren Standorten in Krefeld und Mönchengladbach – eine Hochschule, die im Vergleich zu manch anderer in Hinsicht auf ihre Lage noch privilegiert ist –, so hatten wir in den 85 Be-setzungsverfahren der letzten fünf Jahre in 45 Verfahren weniger als 10 qualifizierte Bewerbungen, neun Verfahren endeten mit nur einer Person auf der Berufungsliste. Das umfangreiche Datenmaterial belegt, dass mindestens 15 qualifizierte Bewerbungen notwendig sind, um mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 95 Prozent eine Berufungsliste mit mindestens zwei berufungsfähigen Kandidatinnen und Kandidaten zu erhalten. Das war in gerade einmal 20 Verfahren der Fall. Dabei sind die Unterschiede zwischen den Fachbereichen erheblich. Ausreichend Kandidatinnen und Kandidaten hatten wir in der Chemie, den Wirt-schafts- und Sozialwissenschaften, schwierige Verhältnisse beim Wirtschaftsingenieurwesen, in der Elek-trotechnik und im Maschinenbau und wirklich dramatisch schlechte Bewerberzahlen in den Lebensmittel-wissenschaften, im Gesundheitswesen und in der Textiltechnik. Beispielsweise hatten wir in keinem der neun Verfahren im Fachbereich „Textil- und Bekleidungstechnik“ mehr als höchstens acht qualifizierte Be-werberinnen und Bewerber.

Für die Universitäten gilt das Gegenteil: groß ist dort stets die Zahl derer, die sich auf ausgeschriebene Pro-fessuren bewerben. In der Physik sind Verfahren bekannt, wo sich weit mehr als 100 hochqualifizierte Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler beworben haben. Insgesamt haben wir in Deutschland 166.000 Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Mittelbau der Universitäten beschäftigt sind und zu einem guten Teil potenzielle Bewerberinnen und Bewerber für ausgeschriebene Universitätsprofessuren sind. Das führt zu einem geradezu absurden Zahlenverhältnis zwischen Nachwuchs und dauerhaft angestelltem wis-

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senschaftlichen Personal, wie ein Blick in den Bundesbericht für den wissenschaftlichen Nachwuchs zeigt. So sind etwa in England 35 Prozent des wissenschaftlichen Personals einer Universität wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in Deutschland hingegen 85 Prozent; davon der weit überwiegende Teil in befristeten Dienstverhältnissen. Das Verhältnis von abgeschlossenen Promotionen pro freiwerdender Professur – so eine Feststellung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) aus dem Jahr 2013 – ist im Schnitt über alle Fächer bei 20 zu 1 angekommen. In der Mathematik und in den Naturwissenschaften liegt das Verhältnis gar bei 30 zu 1 und in den Ingenieurwissenschaften bei immerhin noch 8 zu1. Soll heißen: wer nach der Promotion an der Universität bleibt, hat nur außerordentlich geringe Chancen, später auch eine Professur zu „ergattern“.

Mangel hier, Überfluss dort. Ist dieser Befund nicht nachgerade ein Beweis für das Scheitern der Idee, dass ein Hochschultyp den Nachwuchs auch des anderen Typs ausbilden soll? Wenn man auf die Hochschule Niederrhein blickt, kann man sagen: das funktioniert eigentlich nur bei Berufungsverfahren in der Chemie und den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die Zuarbeit funktioniert nur schlecht in den ingenieur-wissenschaftlichen Disziplinen und so gut wie gar nicht in all jenen Fachdisziplinen, die es nur in unserem Hochschultyp gibt: Gesundheitswissenschaften, Textil- und Bekleidungstechnik, Lebensmittelwissenschaf-ten, Ernährung.

Warum dieser Bewerbermangel? Erstens, weil es sich um Wissenschaftsfelder handelt, die von den Univer-sitäten nicht besetzt werden und für die es folglich schlicht keinen promovierten Nachwuchs gibt. Zwei-tens, weil man mit einem W2-Gehalt nur selten interessante Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Industrie abwerben kann, die dort einfach deutlich mehr verdienen, und drittens, weil bei Fehlen eines vorab planbaren, verlässlichen Karriereweges sich eigentlich auch niemand auf eine Fachhochschulpro-fessur vorbereiten kann. Und wenn man schließlich auf all jene Berufsfelder blickt, die sich gerade aka-demisieren, so muss man doch im höchsten Maße beunruhigt sein: wie um alles in der Welt will man da einstmals all die notwendigen Professuren besetzen? Zum Beispiel, wenn jetzt demnächst ein berufsquali-fizierendes Pflegestudium vor allem an Fachhochschulen eingeführt werden soll. Wenn man einmal hoch-rechnet, um wie viele Studierende es sich dabei bundesweit handelt, so muss man sich besorgt fragen, wie der enorme Bedarf an Professorinnen und Professoren in den Pflegewissenschaften eigentlich einstmals gedeckt werden soll.

Es ist offensichtlich: die Universitäten können längst nicht mehr die Ausbildung des gesamten wissen-schaftlichen Nachwuchses übernehmen. Dafür sind die Unterschiede in den Fächerspektren von Fachhoch-schulen und Universitäten viel zu groß geworden. Dafür sind auch die Ansprüche und Bedarfe in der Welt der Fachhochschulen so grundlegend anders als an Universitäten, eben weil wir wirklich ein anderer Hoch-schultyp geworden sind und unbedingt auch sein wollen. Will man einen eigenen und sich stabil entwi-ckelnden Hochschultyp „Fachhochschule“ dauerhaft erhalten, so wird man gar nicht drumherum kommen, ihm auch die volle Verantwortung für die Ausbildung des eigenen Nachwuchses, und also das Promotions-recht, einzuräumen. Das ist so klar, wie es in den Jahrzehnten vor 1899 klar war, als die Technischen Univer-sitäten ihr Promotionsrecht bekamen.

Die problematische Bewerberlage bei ausgeschriebenen Fachhochschulprofessuren ist nun wiederholt und breit im politischen Raum diskutiert worden. Die HRK hat sich dazu geäußert und im Oktober 2016 nun endlich auch der Wissenschaftsrat mit seinen „Empfehlungen zur Personalgewinnung und -entwicklung an Fachhochschulen“10. Letzterer hat sehr ausführlich und eindrucksvoll die Problemlage geschildert und noch einmal ausdrücklich festgestellt, dass die klassische Doppelqualifikation für die Fachhochschulprofessur

10 Wissenschaftsrat (2016): Empfehlungen zur Personalgewinnung und -entwicklung an Fachhochschulen, http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/5637-16.pdf.

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mit einem akademischen und einem beruflichem Anteil nach wie vor völlig unverzichtbar ist. Er hat aber auch vorgeschlagen, dass dort, wo über den traditionellen Zugang zu wenige qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber auf ausgeschriebene Professuren gewonnen werden können, ein strukturierter Zugang ein-gerichtet werden sollte, der den traditionellen keinesfalls ersetzen darf, sondern allenfalls ergänzen soll. Dazu propagiert der Wissenschaftsrat die Idee von Tandem-Programmen, also die Verknüpfung von trans-ferorientierter berufspraktischer Qualifizierung in der Praxis mit hochschulischer Lehre und Forschung zur Erreichung der nötigen Doppelqualifikation für eine Professur an einer Hochschule für angewandte Wis-senschaften bzw. Fachhochschule.

Die „Hochschulallianz für den Mittelstand“, als Zusammenschluss von elf Hochschulen für angewandte Wis-senschaften (HAW), hat dazu in einem Positionspapier detaillierte Vorschläge und Modelle erarbeitet. Wir schlagen darin unter anderem die Einführung eines kombinierten HAW doc-post-doc-Verfahrens (HAW 3+3) und eines HAW-Tenure Track-Verfahrens vor. Beide Vorschläge bauen auf der Idee von Tandem-Program-men auf und müssten zusätzlich zu den derzeitigen Bestandsregelungen eingerichtet werden. Mittelfristig sollten diese Verfahren in der Lage sein, bis zu einem Viertel der Neuberufungen an Fachhochschulen zu bedienen. Insbesondere in kritischen Lehr- und Forschungsbereichen könnten auf diese Weise Nachwuch-sengpässe behoben bzw. auch der Anteil von Professorinnen erhöht werden.

Wir haben in NRW seit kurzem ein durch die Landesregierung finanziertes Tandem-Programm, mit dem wir promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf eine Fachhochschulprofessur vorbereiten wollen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Programm sollen für drei Jahre die Hälfte ihrer Zeit in einem Unternehmen und die andere Hälfte an der Hochschule in Lehre und Forschung beschäftigt sein, um sich so auf ein normales, wettbewerbliches Berufungsverfahren mit öffentlicher Ausschreibung vorzube-reiten. Dieses Landesprogramm („Karrierewege FH-Professur“) ist gerade erst ausgeschrieben worden und wir können noch nicht abschließend berichten. Doch zeigen erste Erfahrungen bei der Ansprache von Un-ternehmen eine große Aufgeschlossenheit für diese Idee: Unternehmen wissen zu schätzen, dass über die-ses Programm Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ihre Unternehmen kommen könnten, die sich sonst eher nicht für ihr Haus interessieren würden. Sie wertschätzen überdies, dass sie mit einem zusätz-lichen Karriereweg hin zu einer Fachhochschulprofessur jungen Berufsanfängerinnen und Berufsanfängern im Haus eine weitere Entwicklungsmöglichkeit anbieten können. Die Teilnahme an solchen Tandem-Pro-grammen erweitert also ihr Spektrum an Personalentwicklungsinstrumenten.

In Diskussionen wird oft auf die Gefahr hingewiesen, dass diese „Praxis Post-Docs“ in den Unternehmen wie bessere Praktikantinnen und Praktikanten behandelt werden könnten. Diesen möglichen Einwand haben wir an die Unternehmen weitergegeben, der dort allerdings zurückgewiesen worden ist. Wenn man dauer-haft fähige Post-Docs für sein Unternehmen gewinnen wolle, müsse man dem Programm zum Erfolg ver-helfen und den Damen und Herren attraktive Berufsbedingungen bieten, so die Sicht der Unternehmen. Im Übrigen habe man keinerlei Interesse an weiteren Praktikantinnen und Praktikanten und würde erst gar nicht an dem Programm teilnehmen, wenn man nicht interessante und anspruchsvolle Aufgaben für die Damen und Herren bereitstellen könnte. Das wesentlichste Argument für die Bereitschaft zur Teilnahme ist allerdings ein grundsätzliches: wer als Unternehmerin oder Unternehmer wolle, dass die Hochschulen des Landes eine angewandte Forschung machen, die sich auch an den Interessen der Unternehmen orientiert, habe keine bessere Möglichkeit, seinen Problemen Gehör zu verschaffen, als eine Teilnahme an einem sol-chen Tandem-Programm.

Und von Seiten der von uns angesprochenen potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten war zu hören, dass sie das Programm deswegen attraktiv fänden, weil sich aus dieser Lebensphase drei mögliche Wege entwickeln könnten: der Weg ins Unternehmen, der Weg zur Fachhochschule und durchaus noch der Weg zurück in den universitären Wissenschaftsbetrieb. Im Augenblick ist die Hochschule Niederrhein dabei, mit

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ausgesuchten Kandidatinnen und Kandidaten interessierte Firmen zu besuchen, um über mögliche Koope-rationsprojekte für die drei Jahre zu sprechen. Ein ungemein motivierendes Erlebnis: Die Unternehmen sind bemerkenswert offen für Neues und die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treibt vor allem ein Motiv: die Dinge, an denen sie während ihrer Promotionszeit geforscht haben, nun auch selbst in die praktische Anwendung zu überführen. Sie wollen am Ende den Nutzen miterleben, den ihre Forschungser-gebnisse in einem Unternehmen stiften.

Wir leben in Zeiten des Umbruchs: während man in Hessen bereits einzelnen Fachhochschulen das Pro-motionsrecht verleiht, versucht man es in Nordrhein-Westfalen noch mit dem „Graduierteninstitut NRW“, einem Institut, was die Aufgabe hat, kooperative Promotionsvorhaben zwischen Universitäten und Fach-hochschulen anzubahnen. Offensichtlich aber ist, dass der Gesetzgeber erkannt hat, dass die Abhängigkeit eines Hochschultyps vom anderen nicht nur unwürdig, sondern schlicht und einfach dysfunktional ist. Und mehr als das: spätestens seit dem lang ersehnten und dankbar entgegen genommenen Wissenschaftsrats-gutachten „Empfehlungen zur Personalgewinnung und -entwicklung an Fachhochschulen“ ist allgemein klar, dass man ganz neue Wege der Personalentwicklung an Fachhochschulen wird beschreiten müssen, wenn man auch in Zeiten des demografischen Wandels Fachhochschulprofessoren berufen will, die glei-chermaßen als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie als Berufspraktikerinnen und Berufsprakti-ker überzeugen können.

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DIGITALISIERUNGSSTRATEGIE FÜR NRW IM BEREICH FORSCHUNG

GUTE AUSGANGSLAGE FÜR DEN DIGITALEN WANDEL

Prof. Dr.-Ing Wolfgang Marquardt Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich und ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrates

Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat sich mit der Strategie „NRW 4.0: Digitaler Wandel in Nordrhein-Westfalen“ das Ziel gesetzt, den digitalen Wandel zu nutzen, um die Standortvorteile des Landes nicht nur zu halten, sondern auszubauen. Dieser Wandel soll derart gestaltet werden, „dass möglichst viele Menschen nicht nur ökonomisch davon profitieren, sondern auch gesellschaftlich daran teilhaben können.“

Das Konzept der Digitalisierung ist seit Langem etabliert und bei Weitem nicht neu. Beispielhaft lässt sich dies anhand des folgenden Sachverhalts illustrieren: Vor 20 Jahren waren circa 3 Prozent der weltweit vor-handenen Informationen digital vorhanden. 10 Jahre später waren es schon etwa 94 Prozent. Entsprechende Technologien sind inzwischen fester Bestandteil unseres Alltags: Videos, digitale Texte, E-Books, Mess- und Regelsystemtechnik beispielsweise für Heizungsanlagen in Gebäuden, oder Digitalisate im Sammlungsbe-reich.

Warum aber ist Digitalisierung von hoher Relevanz? Sie führt zu einem Umbruch in unserem Wirtschafts-system: Neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten entwickeln sich, bei denen der monetäre Wert eines Produkts häufig durch seinen IT-Anteil bestimmt wird. Die Wissenschaft steht in der Verantwortung, diesen Umbruch mit einer Herangehensweise zu begleiten, die weit über das klassische Verständnis von In-formations- und Kommunikationstechnologien sowie Informatik hinausgeht. Zuallererst geht es dabei um die wissenschaftliche Begleitung der Entwicklung neuer Geräte mit digitalem Anteil und der Entwicklung von neuen Technologien, beispielsweise für das Hoch- und Höchstleistungsrechnen (High Performance Computing, HPC), für digitale Netze oder für eingebettete Systeme. Dazu sind komplementäre Aktivitäten bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Implikationen dieser Produkte und Technologien sowie die Begleitung der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle notwendig.

Aber auch die Forschungsprozesse selbst ändern sich im Rahmen der Digitalisierung. Schwerpunkte der so-genannten „Science 4.0“ sind unter anderem die Forschung an und mit Simulations- und Datenanalyse und kognitivem Computing. Im Bereich der Lehre ermöglicht die Digitalisierung neue Ansätze, die lebenslanges Lernen ermöglichen und dabei den Lehrenden räumlich und zeitlich von den Lernenden entkoppeln kön-nen. Als illustrierendes Beispiel sollen hier die sogenannte Massive Open Online Courses genannt werden, die einem breiten Zielpublikum Zugang zu Bildung ermöglichen können.

FAZIT: Die Wissenschaft begleitet den digitalen Wandel durch einen Ansatz, der weit über das klassische Verständnis von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Informatik hinausreicht. Dieser umfasst (1) die Bearbeitung von Forschungsfragen zur Entwicklung von Produkten, Technologien und Ge-schäftsmodellen unter Betrachtung der gesellschaftlichen Implikationen, (2) die Weiterentwicklung von

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Forschungsprozessen, (3) neue Ansätze zur Verbreitung von Wissen im Rahmen der Lehre.

Dabei hat sich das Hoch- und Höchstleistungsrechnen für Simulation und Datenanalyse als eine essen-tielle Infrastruktur für eine zunehmende Zahl an Disziplinen entwickelt, nicht nur in den MINT-Fächern, sondern zunehmend auch in der Medizin sowie den Sozial- und Geisteswissenschaften. Da zudem der Wis-senschaftsstandort Nordrhein-Westfalen in diesem Themenbereich eine hohe internationale Wettbewerbs-fähigkeit erreicht hat, wird dieser Aspekt im Folgenden näher ausgeführt.

High Performance Computing für Simulation und Big Data - die HPC-Pyramide weiterentwickelnDer wissenschaftliche Bedarf kann nicht alleine durch Bau und Betrieb von Infrastrukturen für das Hoch- und Höchstleistungsrechnen gedeckt werden. Benötigt werden Kompetenzzentren mit Servicekompetenz, anstatt reine Rechenzentren. Diese müssen HPC-Rechenleistung und Speicherkapazitäten ebenso zur Ver-fügung stellen, wie Serviceleistungen und Methodenkompetenzen. Letztgenanntes bedingt eine Metho-denentwicklung beispielsweise in den Bereichen Datenanalyse, Numerische Algorithmen, Modellierungs-techniken, Parallelisierung und Co-Design.

Um diese Kompetenzzentren nachhaltig entwickeln, betreiben und zur Verfügung stellen zu können, erge-ben sich für die Wissenschaft vielfältige Herausforderungen: Eine nachhaltige Sicherung der Finanzierung einer verteilten nationalen Infrastruktur – mit schnell aufeinanderfolgenden Innovationszyklen – sollte auch in Deutschland realisiert werden. Als Ausgangspunkt für eine solche Infrastruktur kann die bereits existierende HPC-Pyramide in Deutschland dienen, die Tier-0/1-, Tier-2- und Tier-3-Zentren integriert und damit jeweils unterschiedliche Zielgruppen bedient:

Die drei Tier-0/1-Zentren HLRS (Universität Stuttgart), LRZ (Bayerische Akademie der Wissenschaften) und JSC (Forschungszentrum Jülich) sind im Gauss Centre for Supercomputing (GCS) organisiert und betreiben Höchstleistungsrechnerarchitekturen auf nationaler und europäischer Ebene. Das GCS wird über ein Bund-Länder-Abkommen (Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen) mit mehreren 100 Millionen Euro über fünf Jahre finanziert. Ein etabliertes Peer-Review-System ermöglicht den Zugang für nationale und internationale Nutzerinnen und Nutzer. Dieses Verfahren existiert seit 30 Jahren und besitzt eine hohe Re-putation. Die 15 Tier-2-Zentren bedienen überwiegend Nutzerinnen und Nutzer von Universitäten und ei-nigen außeruniversitären Einrichtungen in Deutschland. Die Finanzierung in Höhe von zehn Millionen Euro über fünf Jahre erfolgt über die programmatisch-strukturelle Linie im Programm Forschungsbauten nach Artikel 91b des Grundgesetzes. Organisatorisch sind die Zentren in der Gauß-Allianz gebündelt. Tier-3-Zen-tren haben einen lokalen Auftrag und bedienen einzelne Universitäten oder Einrichtungen von Wissen-schaftsorganisationen. Die Finanzierung in Höhe von wenigen Millionen Euro über fünf Jahre erfolgt über die Trägereinrichtungen.

Der Wissenschaftsrat bestätigt prinzipiell diese Strukturierung der deutschen HPC-Pyramide in seinen Empfehlungen „Finanzierung des Nationalen Hoch- und Höchstleistungsrechnens in Deutschland“. Gleich-zeitig formuliert er die folgenden Empfehlungen zur Weiterentwicklung:• Implementierung einer qualitätsbasierten Vergabe von Rechenzeit (und Nutzerunterstützung) für nati-

onale (und internationale) Wissenschaftsgemeinde in allen Bereichen • Engere inhaltliche Verschränkung von HPC und Big Data Analytics• Entwicklung von Kompetenzzentren mit komplementärem Fokus auf Methoden, Technologien und An-

wendungen• Stärkere Integration über die Ebenen der HPC-Pyramide hinweg und langfristig Zusammenführung zu

einer nationalen Koordinationsstruktur „Nationales Höchstleistungsrechnen“ (NHR)• Langfristige Sicherstellung der Finanzierung von Investitions- und Betriebskosten

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Zusätzlich identifiziert er die folgenden Herausforderungen:• Kaum zu deckender Bedarf an Absolventinnen und Absolventen mit Kenntnissen im Bereich der Simu-

lation und Datenanalyse• Bedarf an einer systematischen Verschränkung fachwissenschaftlicher Problemstellungen und simula-

tionswissenschaftlicher Kompetenz; wenig Kompetenz an der Schnittstelle Anwendung-Methodik vor-handen

• Großes Defizit in den Bereichen Modellierung, Algorithmen und Software-Entwicklung sowie in nach-haltiger Pflege und Bereitstellung von Software im Kontext von Simulation

Auch wenn die oben genannten Maßnahmen langfristig zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit der HPC-Pyramide führen, besteht schon kurz- bis mittelfristig Handlungsbedarf, um die internationale An-schluss- und Wettbewerbsfähigkeit zu halten: Die Strategie- und Wettbewerbsfähigkeit des Gauss Centre for Supercomputing muss weiterentwickelt werden.

Die Wissenschaftseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen haben federführende Rollen und weitreichende Expertise zu HPC und können wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der HPC-Pyramide leisten: So bün-deln die RWTH Aachen sowie das Forschungszentrum Jülich – aufbauend auf der bewährten Kooperation „Jülich Aachen Research Alliance“ – gegenwärtig ihre weitreichenden Kompetenzen im Bereich Infrastruk-tur, Methodik und Anwendung. Ein Schwerpunkt wird die Etablierung eines „Center for Simulation and Data Sciences“ sein, das über Einbindung weiterer Universitäten in NRW als Nukleus eines NHR-Zentrums dienen kann. Das Forschungsportfolio kann über die komplementäre Aufstellung der Expertise der beiden Einrich-tungen weitreichend aufgestellt werden und soll unter anderem die Bereiche Simulation, Datenwissen-schaften, Deep Learning, Machine Learning, Cognitive Computing und neuromorphe Rechnerarchitekturen umfassen. Der Aufbau und Betrieb eines „Industrial Simulation & Data Hub“ soll gemeinsame Projekte mit der Industrie fördern und Aktivitäten am Ende der Innovationskette stärken. Im Bereich des Kognitiven Computing ist beispielsweise derzeit der Aufbau eines NRW-Kompetenzzentrums in Kooperation mit IBM und weiteren Unternehmen in Planung.

FAZIT: Eine Stabilisierung und Weiterentwicklung der Strukturen im Hoch- und Höchstleistungsrechnen in integrierter Form sind unerlässlich für die Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftssystems in Nordr-hein-Westfalen und Deutschland und eine Grundlage für deren Innovationskraft. Nordrhein-Westfalen hat die Möglichkeit auf Grundlage der existierenden Infrastrukturen und Kompetenzen eine wichtige Rolle in Deutschland einzunehmen, dabei die Weiterentwicklung der nationalen HPC-Governance prägend zu be-einflussen und die Anschlussfähigkeit an die europäische Science Cloud zu gestalten.

Potenziale von Big Data Analytics nutzenEine Weiterentwicklung der HPC-Pyramide unterstützt die Nutzung des hohen Innovationspotenzials im Bereich Big Data Analytics. Diese verspricht einen hohen Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft, kann aber auch die Entwicklung in vielen gesellschaftlich hochrelevanten Bereichen wie Industrie 4.0, Energiewende oder personalisierte Medizin entscheidend prägen. Durch Big Data werden herkömmliche Wertschöpfungs-ketten in einem großen Ausmaß modifiziert und neue Geschäftsmodelle möglich. Aber auch die Herausfor-derungen für die Wissenschaft sind vielfältig:• Die verlässliche Bereitstellung sehr großer Datenmengen für Erst- und Nachnutzung in einer Disziplin• Die übergreifende Nutzung über Disziplingrenzen hinweg• Die Entwicklung von Technologien, Methoden und Workflows für die fundierte Analyse von sehr groß-

en Datensätzen im Terabyte-Bereich aus Experimenten und Beobachtungen (z. B. Omics-Technologien in den Lebenswissenschaften, Astrophysik, Teilchenphysik, Materialwissenschaften usw.). Dies bedingt semantisches Annotieren mit Metadaten zur Beschreibung der Daten und ihres Kontexts und kom-

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plexe wissenschaftlich-technische Aufgabenstellungen an der Schnittstelle von Informatik und Wis-senschaftsdisziplinen (vgl. Data Life Cycle im Anlagenbau)

• Die Integration von Datenerfassung (Mess-/Beobachtungsinstrumente) und Datenanalyse zu einer Systemfunktion und die Ausbildung neuer Geschäftsmodelle (z. B. im Bereich der medizinischen Bild-gebung)

• Die Entwicklung und Implementierung angemessener Ausbildungsgänge für Expertinnen und Exper-ten an der Schnittstelle Big Data und naturwissenschaftlicher und/oder technischer Fragestellungen

Aktuell existieren in der Wissenschaftslandschaft viele kleinskalige, community-spezifische Initiativen zur Datenerfassung, -haltung, -verarbeitung und -analyse. Als Beispiele können der Geodatenverbund, die Sa-tellitendatenbank des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt oder Datenbanken der Netzwerke auf nationaler und europäischer Ebene zur Pflanzenphänotypisierung genannt werden.

Um die Wissenschaft adäquat für die genannten Herausforderungen aufzustellen, empfiehlt der Rat für Informationsinfrastrukturen in seiner Publikation „Leistung aus Vielfalt“ vom Mai 2016 die Etablierung einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) als Rückgrat für Forschungsdatenmanagement in Deutschland. Diese soll physikalisch dezentral organisiert, aber eine logische zentrale Realisierung nicht nur einer technischen Infrastruktur für Datenspeicher (Archive), sondern auch für (High Performance) Com-puting und Visualisierungs-/Virtual-Reality ermöglichen. Methoden- und Anwendungswissen sollen in Kompetenzzentren zusammengeführt werden. Dieses Desiderat einer NFDI möchte die Helmholtz-Gemein-schaft Deutscher Forschungszentren mit der „Helmholtz Data Federation“ (HDF) bedienen, die eine Keim-zelle für eine die Wissenschaftsorganisationen übergreifende Forschungsdaten-Föderation stellt. Offen zu-nächst für Nutzerinnen und Nutzer aus der Helmholtz-Gemeinschaft, soll sie prinzipiell allen potenziellen Nutzerinnen und Nutzern im deutschen Wissenschaftssystem zur Verfügung stehen. Sie integriert die drei Kernelemente (1) Hardware, (2) Innovative Software und (3) Exzellente Benutzerunterstützung. Die HDF wird einen elementaren Bedarf von Wissenschaftseinrichtungen hinsichtlich Nutzerunterstützung, Soft-ware und Hardware decken können.

FAZIT: Die Helmholtz Data Federation soll als Nukleus einer Forschungsdateninfrastruktur der Helm-holtz-Gemeinschaft dienen, die selbst wiederum Teil der NFDI und der internationalen Informationsinfra-strukturen wird. Die dabei entwickelten und zur Verfügung gestellten Software und Hardware – u. a. am Forschungszentrum Jülich – können die Wissenschaft an den Wissenschaftseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen in diesem Zukunftsfeld entscheidend unterstützen. Eine hohe Sichtbarkeit von Nordrhein-West-falen ist durch die prägende Rolle des Forschungszentrums Jülich in Kooperation mit der RWTH Aachen bei der Entwicklung und Umsetzung gewährleistet. Beide Einrichtungen planen die Bündelung der wechsel-seitigen einschlägigen Kompetenzen, insbesondere durch die Gründung eines Centers for Simulation and Data Science unter dem Dach von JARA. Außerdem erfolgt in enger Zusammenarbeit die abgestimmte Ein-führung eines einrichtungsübergreifenden Forschungsdatenmanagements, das nachhaltig finanziert wer-den muss.

Dem Desiderat „Sicherheit“ durch einen systemischen Ansatz gerecht werdenDie mangelnde Sicherheit von aktuellen IT-Systemen und die weiter wachsende Komplexität zukünftiger Systeme führen zu einem akut hohen kurzfristigen Handlungsdruck. Mittel- bis langfristig sind neue Ansät-ze unerlässlich. Aktuell wird diese Herausforderung nur in wenigen Bereichen der Wissenschaft mit einer klaren strategischen Ausrichtung bearbeitet (Beispiel: Strategie- und Positionspapier der Fraunhofer-Ge-sellschaft „Cyber-Sicherheit 2020: Herausforderungen für die IT-Sicherheitsforschung“, 2014). An den Uni-versitäten und außeruniversitären Einrichtungen existieren in der Regel breit gestreute, aber unterkritische Aktivitäten.

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Das Karlsruher Institut für Technologie und das Forschungszentrum Jülich haben ein langfristig angelegtes Konzept mit einer klaren Systematik entwickelt, das auf fünf Säulen beruht: (1) Die Entwicklung vollkom-men neuartiger Hardware (basierend auf alternativen physikalischen Prinzipien, insbesondere aus dem Be-reich der Quantenphysik); (2) Die Entwicklung sicherer Software; (3) Die Optimierung wissenschaftlicher Methoden (Metriken, Theorien, Simulation); (4) Den Transfer über Demonstratoren, in der die Praxistaug-lichkeit einzelner Komponenten wie Smart Devices, aber auch die Funktionalität des Gesamtsystems unter-sucht wird; (5) Die rechtlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und Limitierungen. Potenzielle Part-ner aus Wissenschaft (z. B. RWTH Aachen) und Industrie (z. B. Siemens, IBM), die komplementäres Wissen und Erfahrungen zur gesamtsystemischen Bearbeitung der Fragestellung einbringen können, haben bereits großes Interesse an einer Beteiligung signalisiert.

FAZIT: Wirksame Vorsorgeforschung im Bereich Cyber-Sicherheit benötigt einen großskaligen und syste-mischen Ansatz, der gegenwärtig von der Helmholtz-Gemeinschaft entwickelt und initiiert wird.

Die zweite Quantenrevolution mitgestaltenDas 21. Jahrhundert wird von vielen Expertinnen und Experten als „quantum era“ bezeichnet, die sich über eine zweite Quantenrevolution definiert . Diese wird die grundlegenden Konzepte der Quantenmechanik, wie Superpositionen und Verschränkung von der atomaren Ebene in die Anwendungswelt befördern. Da-durch ergeben sich vielfältige Anwendungsfelder wie Quantensensorik und -metrologie, Quantenkommu-nikation und Quantenrechnen oder Quanten-Datenverarbeitung.

Mögliche direkte Anwendungen könnten in den Bereichen Quantencomputer, Quantenelektronik, Quan-tenkryptographie entstehen. In diesem hochdynamischen Feld werden weltweit hohe Investitionssum-men platziert, um die Speerspitze der wissenschaftlichen Entwicklungen zu besetzen. In Kanada wird der Leuchtturm „Institute for Quantum Computing“ in Waterloo mit Investitionen in Höhe von 300 Millionen Euro gestärkt, das „Center for Quantum Information“ in Singapur erhält 110 Millionen Euro. In den Nieder-landen werden durch das Wirtschaftsministerium 135 Millionen Euro für ein Programm an der TU Delft in Zusammenarbeit mit der Forschungsorganisation TNO bereitgestellt. Die Europäische Kommission hat im Frühjahr 2016 eine Flagship-Initiative zu Quantenrechnen angekündigt, um die Innovationsfähigkeit im Europäischen Raum in der „quantum era“ zu stärken. Dafür sollen über eine Milliarde Euro bereitgestellt werden.

Nordrhein-Westfalen und Deutschland müssen darauf achten, in diesem hochdynamischen Zukunftsfeld weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben. Bisherige Schwerpunkte bei der Technologieentwicklung sind an der RWTH Aachen und am Forschungszentrum Jülich zu finden. Aufbauend auf der dort vorhandenen Ex-pertise in der Materialforschung und dem Höchstleistungsrechnen könnten hier disruptive Lösungen für die benötigten neuen Rechnerarchitekturen entwickelt werden. Die RWTH Aachen und das Forschungszen-trum Jülich planen, diese Expertisen zu bündeln und in Kooperation mit der TU Delft einen Nukleus auch für eine europäische Initiative zu schaffen.

FAZIT: Nordrhein-Westfalen hat eine gute Ausgangslage, um eine prägende Rolle bei der Entwicklung des Zukunftsthemas Quantenrechnen in Deutschland und Europa einzunehmen. Allerdings muss der hohen Dy-namik entsprochen werden. Die NRW-Universitäten sind herzlich eingeladen, ihre Expertise bei der Weiter-entwicklung des Quantenrechnens einzubringen.

Die Fachkräfte von morgen entwickeln und fördernSowohl der Wissenschaftsrat als auch der Rat für Informationsinfrastrukturen haben in ihren Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Höchst- und Hochleistungsrechnens sowie des Forschungsdatenmanagements auf einen starken Bedarf an Entwicklung von neuen Berufsfeldern und der Ausbildung entsprechender

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Fachkräfte hingewiesen. Insbesondere fächerübergreifende Kompetenzen werden zukünftig benötigt wer-den.

Ein weitreichender Bedarf muss bereits heute in allen oben diskutieren Bereichen (HPC für Simulation und Big Data, Quantenrechnen, Cyber-Sicherheit) konstatiert werden. Bei der Förderung der Expertinnen und Experten von morgen können Wissenschaftseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen eine Vorreiterrolle ein-nehmen. Die RWTH Aachen und das Forschungszentrum Jülich haben bereits frühzeitig auf diesen Bedarf reagiert. In Aachen wurde 2006 beispielsweise die Aachener Graduiertenschule für computergestützte Na-tur- und Ingenieurwissenschaften (AICES) gegründet. Im Jahr 2007 wurde an den beiden Einrichtungen die Graduiertenschule German Research School for Simulation Sciences etabliert. Die bereits existierenden Strukturen an RWTH und Forschungszentrum Jülich sollen zukünftig in einer gemeinsamen Initiative ge-bündelt werden.

FAZIT: Eine langfristig erfolgversprechende Begleitung des digitalen Wandels durch die Wissenschaft wird erst durch die Ausbildung und Förderung der Expertinnen und Experten von morgen ermöglicht. Durch be-stehende Kompetenzen von Wissenschaftseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen hat das Land eine sehr gute Ausgangslage.

Literaturhinweise• Wissenschaftsrat (2012): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informations-

infrastrukturen in Deutschland bis 2020.

• Wissenschaftsrat (2013): Empfehlungen zu einem Kerndatensatz Forschung.

• Wissenschaftsrat (2014): Bedeutung und Weiterentwicklung von Simulation in der Wissenschaft – Po-sitionspapier.

• Wissenschaftsrat (2015): Empfehlungen zur Finanzierung des Nationalen Hoch- und Höchstleistungs-rechnens in Deutschland.

• Rat für Informationsinfrastrukturen (2016): Leistung aus Vielfalt - Empfehlungen zu Strukturen, Pro-zessen und Finanzierung des Forschungsdatenmanagements in Deutschland.

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