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die welt als entwurf - Otl Aicher (2. Auflage)

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"Otl Aichers Texte sind Erkundungen einer "Welt als Entwurf". Sie gehören substantiell zu seiner Arbeit. In der Bewegung durch die Geschichte von Denken und Gestalten, Bauen und Konstruieren versichert er sich der Möglichkeiten, die Existenz menschlich einzurichten. Nach wie vor geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Zivilisationskultur herstellbar ist. Diese Voraussetzungen müssen erstritten werden gegen scheinbare Sachzwänge und geistige Ersatzangebote. Otl Aicher streitet gern. So enthält dieser Band neben Berichten aus der Praxis und historischen Exkursen zu Design und Architektur auch polemische Einlassungen zu kulturpolitischen Themen. Mit produktivem Eigen-Sinn streitet Aicher vor allem für die Erneuerung der Moderne, die sich weitgehend in ästhetischen Visionen erschöpft habe. Noch immer sei der "Kultursonntag" wichtiger als der Arbeitsalltag." Wolfgang Jean Stock

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ISBN 978-3-433-03116-2

otl aicherdie weltals entwurf

Otl Aicher (1922–1991) war einer der herausragenden Vertreter des modernen Designs, er war Mitbegründer der legendären Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG). Der heute geläufige Begriff der visuellen Kommunikation ist auf ihn zurückzuführen. Was er seit den 1950er Jahren geschaffen hat, erinnert sei z. B. an die Piktogramme für die Olympischen Sommerspiele München 1972, gehört zu den ganz großen Leistungen der visuellen Kultur unserer Zeit.

Die hier versammelten Texte sind Erkundungen einer „Welt als Entwurf“. Sie gehören substantiell zu seiner Arbeit. In der Bewegung durch die Geschichte von Denken und Gestalten, Bauen und Konstruieren versichert er sich der Möglichkeiten, die Existenz menschlich einzurichten. Nach wie vor geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Zivilisations-kultur herstellbar ist. Diese Voraussetzungen müssen er-stritten werden gegen scheinbare Sachzwänge und geistige Ersatzangebote.

Otl Aicher streitet gern. So enthält dieser Band neben Berichten aus der Praxis und historischen Exkursen zu Design und Architektur auch polemische Einlassungen zu kultur– politischen Themen. Mit produktivem Eigen-Sinn streitet Aicher vor allem für die Erneuerung der Moderne, die sich weitgehend in ästhetischen Visionen erschöpft habe. Noch immer sei der „Kultursonntag“ wichtiger als der Arbeitsalltag.

Wolfgang Jean Stock

otl aicher die welt

als entwurf

www.ernst-und-sohn.de

9783433031162_otl aicher_die welt als entwurf_final.indd 1 29.01.15 13:53

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inhalt

8 einführung14 krise der moderne26 verzicht auf symbole34 ästhetische existenz39 die dritte moderne62 charles eames66 hans gugelot78 flugapparate von paul mc cready86 bauhaus und ulm95 architektur als abbild des staates

115 der nicht mehr brauchbare gebrauchsgegenstand126 die unterschrift135 intelligentes bauen141 meinen arbeitsplatz gibt es noch nicht147 schwierigkeiten für architekten und designer154 erscheinungsbild172 der freiraum des grafikers180 eine neue schrift184 die welt als entwurf196 nachwort198 nachweise

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Einführung

von Wolfgang Jean Stock

1Als Hannah Arendt 1950 die junge Bundesrepublikbesuchte, notierte sie: ,,Beobachtet man die Deutschen,wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjähri-gen Geschichte stolpern, dann begreift man, daß dieGeschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr derWirklichkeit geworden ist.“Zwei Jahre nach der Währungsreform und fünf Jahre

nach Kriegsende waren der Schock der Niederlage unddas Entsetzen über die im deutschen Namen verübtenVerbrechen weitgehend verdrängt. Angesichts der vielenAlltagsnöte hatte sich die Mehrzahl der Westdeutschenin die Normalität des Überlebens eingeübt. Die Verant-wortung für Ursachen und Folgen des Nazi-Regimeswurde in dieser Zwangsrealität von Besatzung und Man-gelverwaltung ausgeklammert. Emsig begann man, dieTrümmerfelder zu räumen, die inneren Trümmer aberblieben liegen. Die Nürnberger Prozesse wirkten schließ-lich als eine Art Generalabsolution von außen.Zum aktivierenden Schlagwort der Zeit wurde der ,,Wie-

deraufbau“. Wie verräterisch dieses zunehmend restau-rativ ausgelegte Wort war, darauf wies Walter Dirks schon1948 in den Frankfurter Heften hin. Wer statt der Wieder-herstellung des Alten einen sozialen und kulturellen Neu-aufbau forderte, stand somit unversehens am Rand dersich früh formierenden Wirtschaftswunder-Gesellschaft.Kein Wunder, daß dabei viele kulturelle Initiativen, vorallem nonkonforme Zeitschriften und Verlage, aufgebenmußten.

2Jene kleine Gruppe dagegen, die um 1950 in Ulm an derDonau die Gründung einer neuartigen Hochschule vor-bereitete, konnte sich durchsetzen. Inge Scholl und OtlAicher hatten bei ihrer Arbeit an der Ulmer Volkshoch-schule erfahren, wie groß das Bedürfnis nach einer kul-turellen Neuorientierung war. Zusammen mit einigenFreunden entwarfen sie das Programm einer Schule fürGestaltung mit gesellschaftspolitischer Ausrichtung. Inihrer pädagogischen Konzeption verband sich antifaschi-stische Haltung mit demokratischer Hoffnung. Graphiksollte zur sozialen Kommunikation werden, Produkt-gestaltung die Humanisierung des Alltags befördern.

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Nach vielen Schwierigkeiten, besonders bei der Finan-zierung, begann die Hochschule für Gestaltung (HfG) imSommer 1953 mit dem Unterricht. Zwei Jahre später zogman auf den Ulmer Kuhberg in das eigene, von Max Billentworfene Gebäude. Von dieser Höhe über dem Donau-tal wollte die HfG in der Nachfolge des Bauhauses wirken,freilich mit einem wesentlichen Unterschied. Währenddas Bauhaus die Ausbildung in den freien Künsten alsVoraussetzung für die Gestaltung einer guten Industrie-form betrachtete, propagierte die HfG das unmittelbare,sachliche Eingehen auf die gestellte Aufgabe. Deshalbgab es in Ulm weder Künstlerateliers für Maler und Bild-hauer noch Werkstätten für Kunsthandwerk.In seinem Text ,,bauhaus und ulm“, der den biographi-

schen Schlüssel darstellt für die hier versammelten Auf-sätze und Vorträge, hebt Otl Aicher diesen Unterschiedhervor: ,,damals in ulm mußten wir zurück zu den sachen,zu den dingen, zu den produkten, zur straße, zum alltag,zu den menschen. wir mußten umkehren. es ging nichtetwa um eine ausweitung der kunst in die alltäglichkeit,in die anwendung. es ging um eine gegenkunst, um zivi-lisationsarbeit, um zivilisationskultur.“Daraus spricht auch das Pathos des 1922 geborenen

Kriegsheimkehrers, für den die ,,bewältigung des wirk-lichen“ auf der Tagesordnung stand und nicht die Be-schäftigung mit zweckfreier Ästhetik. So herrschte in derHfG die Ansicht vor, Kunst sei ein Ausdruck von Fluchtvor dem Leben. Vor allem aber wollte man den Bereichder Produktgestaltung von künstlerischen Ansprüchenfreihalten, um Formalismen vorzubeugen.

3Wieder wurde die deutsche Provinz zu einem Vorort vonModerne und Fortschritt. Wie beim Bauhaus in Weimarund Dessau bot der Boden einer mittelgroßen Stadt nichtnur die Möglichkeit zu konzentrierter Arbeit. Die Engedes Milieus mitsamt den lokalen Vorbehalten und Animo-sitäten zwang die HfG ganz besonders zur Begründungund Rechtfertigung ihrer Praxis. In dieser Spannungfühlte man sich auf dem Kuhberg unabhängig – undman war es auch. Die Geschwister-Scholl-Stiftung alsfreie Trägerin garantierte eine relativ große Staatsferne,die eigenen Einnahmen, die häufig die Hälfte des Jahres-etats der Hochschule ausmachten, stärkten das Selbst-bewußtsein.Als Institution war die HfG ein Zwerg, ihre Ausstrahlung

aber reichte weltweit. Was lockte Studenten aus 49 Natio-nen nach Ulm? Sicher das avancierte Lehrprogramm, bei

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dem die sozialen Dimensionen von Gestaltung im Mittel-punkt standen, ebenso die pädagogischen Ziele, darunterdie Erziehung zur Argumentation und eine fachübergrei-fende statt fachspezifische Ausbildung. Wesentlich für denErfolg der HfG war freilich, daß sich der Aufbruchs-geist der Gründer auf Dozenten und Studenten über-trug. Nicht frei vonmessianischen Zügen, engagierteman sichgemeinsam für den Aufbau einer neuen industriellen Kul-tur: von der Produktgestaltung und der visuellen Kommu-nikation über Informationssysteme bis zum seriellenBauen. Technik undWissenschaft sollten dazu dienen,diese vorausschauende Gestaltung der Alltagskultur insWerk zu setzen.Im konservativen Kulturklima der westdeutschen

Nachkriegsgesellschaft war die HfG eine kreative Insel.Sie behauptete sich bis 1968 als experimentelle Einrich-tung in Zeiten, in denen mit dem Slogan ,,Keine Experi-mente“ Wahlen gewonnen wurden. Sie lehrte sozialeund kulturelle Verantwortung mit Blick auf die Zukunft,während gerade in den Universitäten der bürgerlich-museale Bildungskanon reaktiviert wurde. Gegen den,,Muff von tausend Jahren“ und die plüschige Gemütlich-keit der wirtschaftlich arrivierten Republik suchteman in Ulm praktische Wege für Aufklärung, Kritik undWahrhaftigkeit. Mitten im westdeutschen ,,Neon-Bieder-meier“ entstanden so die Umrisse einer sachlichen,demokratischen, weltoffenen Dingkultur.Die HfG selbst als auch die dort entwickelten Geräte,

Erscheinungsbilder, Drucksachen und Bausysteme wur-den im nach wie vor mißtrauischen Ausland als Zeug-nisse eines ,,anderen Deutschlands“ wahrgenommen. DieSchnörkellosigkeit, ja Nüchternheit der Gegenständeund Entwürfe dokumentierte einen Abschied vom ,,deut-schen Wesen“. Ähnlich wie der deutsche Pavillon vonEgon Eiermann und Sep Ruf auf der Weltausstellung1958 in Brüssel überzeugten die Ulmer Leistungen durchdie Einheit von Technologie, Funktionalität und Ästhetik.Wenn einer als Lehrer und Vorbild die Entfaltung der

HfG wesentlich prägen konnte, war es Otl Aicher. Er ver-körperte nicht nur die personelle Kontinuität seit derVorbereitungsphase, sondern konnte sich auch in denbeiden großen Konflikten durchsetzen: Sowohl bei dernegativ entschiedenen Frage, ob Kunst in das Lehrange-bot aufgenommen werden solle, was 1957 zum Weggangvon Max Bill führte, als auch Anfang der sechziger Jahrein der Auseinandersetzung zwischen ,,Theoretikern“ und,,Praktikern“. Für Aicher war der Vorrang praktischerArbeit selbstverständlich. Scharf wandte er sich 1963

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gegen ,,die unkritische wissenschaftsgläubigkeit mit ihremaufgeblähten trieb zur analyse und ihrer fortschreiten-den impotenz des machens“.

4Kein Meister ohne Lehrjahre: Auch und gerade für dieLehrer war die HfG eine hervorragende Schule. In denprogrammatisch angelegten Konflikten zwischen Theorieund Praxis begründete und präzisierte Otl Aicher seinePosition eines Realismus, der für die frühen sechzigerJahre nicht untypisch war. Martin Walser etwa schriebdamals: ,,Da dieser Realismus ja keine Erfindung der Will-kür ist, sondern eine einfach fällige Art, etwas anzu-schauen und darzustellen, kann man sagen: er wird einenweiteren Schritt ermöglichen zur Überwindung ideen-hafter, idealistischer, ideologischer Betrachtungsweisen.“Was Walser für die Literatur erhoffte, wurde Aicher zurMaxime seiner Arbeit für den richtigen Gebrauch derDinge.Den Optimismus, in die Welt gestaltend eingreifen zu

können, der die HfG im ganzen trug, hat sich Aicher be-wahrt. Zurück auf die Ulmer Erfahrungen geht aber auchseine Opposition gegen den Glauben an die Planbarkeitder Verhältnisse. Heute steht für Aicher fest, daß sozialeund wirtschaftliche Großplanungen, die sich technischerVerfahren und wissenschaftlicher Erkenntnisse instru-mentell bedienen, untaugliche Mittel sind, die Welt zuhumanisieren. Trotz aller Effizienz in Teilbereichen be-schleunigen sie sogar die Zerrüttung der gesellschaftli-chen Beziehungen und die Verwüstung der Erde bis zurGefährdung der Grundlagen menschlicher Existenz. Imgleichen Maße, wie der Mensch die Welt zu einem Arte-fakt gemacht hat, ist seine Unfähigkeit gewachsen, dieEntwicklung zu beherrschen. Weil die Produktion derDinge abstrakten Gesetzen folgt, unterwerfen sie dieLebenswelt.Aicher plädiert deshalb für eine radikale Rückkehr

zum Subjekt. Anstatt Regierungen, wirtschaftlichenMächten oder geistigen Instanzen zu vertrauen, solltendie Menschen das Bedürfnis entwickeln, ,,nach eigenenideen zu leben, eigene entwürfe zu machen, ihre durcheigene Vorstellungen bestimmten arbeiten zu verrichten,nach eigenen konzepten zu verfahren“. Erst dann werdensie nicht mehr durch die Verhältnisse gemacht, sonderngestalten ihr Leben selbst. Ein derart reflektiertes Machenentwirft die Dinge nach dem Kriterium ihres Gebrauchsund nicht in der Erwartung eines abstrakten Tauschwerts.Die Richtigkeit des Entwurfs ergibt sich daraus, ob das

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Resultat der nach allen Seiten untersuchten Aufgabeentspricht. Die Frage nach dem Wozu ersetzt die Fragenach dem Warum. Zwecke müssen auf ihren Sinn geprüftwerden.Diese konkrete Utopie steht hinter Aichers über vierzig-

jähriger Tätigkeit als Gestalter von Plakaten, Zeichen-systemen, Büchern, Ausstellungen, Erscheinungsbildernund einer eigenen Schrift. In der Auseinandersetzung mitAufgaben aus Industrie, Dienstleistungsunternehmen undMedien hat er ein Entwurfsprinzip entwickelt, das sichvon Design im populären Sinn grundsätzlich unterschei-det. Design ist für ihn gerade nicht Oberflächengestal-tung oder die Produktion visueller Reize. Demnach stelltdie ,,Postmoderne“ mit ihren Anleihen bei Kunst undMode einen Rückfall in Beliebigkeit und Verschwendungdar. Ihr Formalismus huldigt dem Kult des Überflüssigenund gipfelt nicht umsonst im ,,nicht mehr brauchbarengebrauchsgegenstand“. Der Geltungsnutzen hat denGebrauchsnutzen verdrängt: Styling statt Design.

5Design heißt, Denken und Machen aufeinander zu bezie-hen. Ästhetik ohne Ethik tendiert zur Täuschung. Es gehtum das Produkt als Ganzes, nicht allein um seine äußereForm. Das Kriterium des Gebrauchs schließt auch diesozialen und ökologischen Wirkungen ein: ,,design beziehtsich auf den kulturellen zustand einer epoche, der zeit,der welt. die heutige welt ist definiert durch ihren ent-wurfszustand. die heutige zivilisation ist eine vom men-schen gemachte und also entworfen. die qualität derentwürfe ist die qualität der welt“.Solches Design braucht entsprechende Partner. Wes-

halb nicht jeder Auftraggeber geeignet ist, dafür nenntAicher in seinen Innenansichten des Machens auch insti-tutionelle Gründe. Originäres Design verlangt zum einendas volle Engagement aller Beteiligten. Zum anderensetzt es die Kultur des ,,runden Tisches“ voraus, an demKaufleute, Ingenieure und Designer gemeinsam beraten.Weil kleine und mittlere Unternehmen überschaubarsind und ihre Strukturen weniger entfremdet, kann sichin ihnen originäres Design am besten entfalten. Aicher:,,design ist der lebensvorgang eines unternehmens, wennsich absichten in fakten und erscheinungen konkretisie-ren sollen. es ist das zentrum der unternehmenskultur,der innovativen und kreativen beschäftigung mit demunternehmenszweck.“Solche Orte gelungener Zusammenarbeit bezeichnet

Otl Aicher als ,,Werkstätten“. Hier wird nicht geplant und

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verwaltet, sondern entwickelt und entworfen. Im Prozeßvon Überprüfung und Korrektur wird der Entwurf zumrichtigen Ergebnis gesteuert. Dieses Prinzip der Steuerungin Alternativen erlaubt den beispielgebenden Beginn imBestehenden. Es entstehen Modelle einer ,,Welt als Ent-wurf“.Otl Aichers Texte sind Erkundungen jener Welt. Sie

gehören substantiell zu seiner Arbeit. In der Bewegungdurch die Geschichte von Denken und Gestalten, Bauenund Konstruieren versichert er sich der Möglichkeiten,die Existenz menschlich einzurichten. Nach wie vor gehtes ihm um die Frage, unter welchen VoraussetzungenZivilisationskultur herstellbar ist. Diese Voraussetzungenmüssen erstritten werden gegen scheinbare Sachzwängeund geistige Ersatzangebote.Otl Aicher streitet gern. So enthält dieser Band neben

Berichten aus der Praxis und historischen Exkursen zuDesign und Architektur auch polemische Einlassungenzu kulturpolitischen Themen. Mit produktivem Eigen-sinn streitet Aicher vor allem für die Erneuerung derModerne, die sich weitgehend in ästhetischen Visionenerschöpft habe. Noch immer sei der ,,kultursonntag“wichtiger als der Arbeitsalltag. Ohnehin lasse sich Ästhe-tik nicht auf Kunst reduzieren: ,,alles konkrete, alleswirkliche hat ästhetische relationen. die kunst als reineästhetik läuft sogar gefahr, von den ästhetischen nötender wirklichen welt abzulenken. in keinem fall darf esverschiedene ästhetische kategorien geben, eine reineund eine alltägliche. wir können ja auch nicht in dermoral unterscheiden zwischen einer der religion undeiner des alltags.“Design als Lebensweise an Stelle von Design als Kos-

metik: Otl Aicher vertraut auf die Schulung der Sinne.Sein Lebenswerk bürgt dafür, daß dieses Vertrauenmodern bleibt.

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die dritte moderne

zeitgeist ist ein begriff, der den zeitgeist besonders guttrifft. geist ist das höchste, der geist der zeit das tiefste.aber wenn schon allgemeinbegriffe meistens allgemein-plätze sind, so erweist sich der zeitgeist als besondersunscharf. jeder darf ihn so verstehen, wie er ihn formu-liert.zeitgeist ist eine entdeckung der bürgerlichen kunstge-

schichte, die es als unfein empfand, von tatsachen zusprechen, und sich dem geistigen zuwandte. die zeitwurde in epochen eingeteilt, für die jeweils ein zeitgeistzu suchen war. blickt man zurück in die vergangenheit,mag sich vielleicht so etwas wie eine geistige gemein-samkeit aller lebensformen einer epoche erkennen lassen,kommt man aber näher an die gegenwart und ihre tat-sächlichen verhältnisse heran, werden die geistigenperspektiven immer unklarer. zeitgeist gibt es nur ausgroßer distanz.aber selbst bei einem so klar definierten kulturabschnitt

wie dem barock tut man sich schwer, wenn man genauerhinschaut, um das gemeinsame zu entdecken. die geistigeperspektive der zeit, von der kunstgeschichte gezimmert,knickt ein.die dampfmaschine ist eine leistung des barock. wie

das? ja, erfunden von james watt 1765, zur selben zeit,als dominikus zimmermann und balthasar neumann ihreberühmten barockkirchen bauten. im barock wurde dierechenmaschine erfunden, der mechanische webstuhl,aber auch werkzeuge der modernen technik wie die bohr-maschine und die kreissäge. man baute erste flugkörper,ballons und hanggleiter. johann sebastian bach, dermathematiker unter den musikern, schuf alles andere alsabbilder geschwungener fassaden oder pompöser pilaster,keine musik mystischer erbauung.was war der zeitgeist des barock? im einen fall war es

der repräsentative auftritt des absolutistischen staates,eine bauwütige herrschaftsdemonstration. im anderenfall war es die kulturrevolution der gegenreformation.das baubesessene italien wies mit kuppeln und gewöl-ben, mit gesimsen und kapitellen, mit säulen und archi-traven, mit stuck und gips, mit rosa und himmelblauden protestantischen norden in seine mittelalterlichenschranken.was war barock? die himmelsmechanik newtons, das

kosmische uhrwerk von kreisbewegungen, in das auchdie erde einbezogen ist, oder der verzückte blick in den

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himmel der kirchenheiligen mit verschränkten händenund wallenden gewändern?der staat brauchte schlösserfronten, architekturauf-

tritte wie heeresformationen. die kirche ließ in die ge-wölbe offene himmel malen, um so immer noch demüti-gere gläubige zu bekommen, welche vor der autorität, so-wohl der kirche wie der herrschaft derer von gottesgnaden, niederknieten.inmitten dieser kulturknebelung entstand die industri-

elle revolution. papin erfand 1690 eine pumpe, diemit dampf betrieben wird, newcomen baute eine erste,noch langsam gehende dampfmaschine, dies schon 1711,ehe watt dann den schnelläufer konstruierte. 1760 wurdedie drehbank erfunden, kurz vorher die hobelmaschinefür lineare und für rotierende bewegung, nun angetriebenvon einer kraftmaschine.unterseeboote wurden gebaut und raddampfer. und

mit der entwicklung von nieten und schrauben wurdeneisenteile elemente von großstrukturen. die ersten eiser-nen brücken entstanden, 1775-79 die über den severnbei coalbrookdale. die erste gußeiserne stütze erschienum 1780. man benutzte bald auch eisen für glashäuserin botanischen gärten.vergessen wir den begriff zeitgeist. er ist zum minde-

sten in dieser periode, die noch am ehesten einen ge-meinsamen geist zu besitzen schien, nicht zu finden.oder geht etwa der ,,contrat social“ von rousseau mit derwieskirche zusammen, die beide zur selben zeit entstan-den? voltaire feierte die vernunft und die aufgeklärtemonarchie, rousseau dagegen kritisierte den hochmutdes verstandes, wollte zurück zur tugend der natürlich-keit und begründete das gemeinwesen des radikalenrepublikaners.nein, zeiten sind zu komplex, als daß sie sich für eine

einheitliche theorie eignen würden. die zusammenschauerweist sich als rührteig. auch die kunstgeschichte wolltewissenschaft sein, und wissenschaftlichkeit erwies sichan einheitlichen theorien, an generalisierungen, mögensie passen oder nicht.im barock wurde eine kolossale kultur aufgebaut, die

welt zu einer neuen erscheinung gebracht, und gleich-zeitig wurde eine alte welt ausgehöhlt, niedergerissen.die moderne wurde angelegt.hier ist die rede von einer dritten moderne.dies sei weder als definition eines zeitgeistes noch als

historische einteilung verstanden, wenn auch zeitlichezuordnungen gegeben sein mögen. es geht um die be-schreibung von einstellungen. von haltungen. die moder-

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ne ist zu komplex, als daß man sie sich ohne differenzie-rung aneignen könnte. selbst die darstellung dreier posi-tionen kann nur eine annäherung sein. als zeitgeist kannman sie jedenfalls nicht verstehen.

1die moderne trat erstmals nicht nur in einzelaspekten,sondern als gesamterscheinung in der mitte des neun-zehnten jahrhunderts mit dem kristallpalast in london,den ausstellungshallen für die erste weltausstellung inerscheinung, joseph paxton hatte bei glashäusern seineerfahrungen mit gußeisen gemacht und errichtete nundas erste gebäude in elementbauweise, nur in eisen undglas als material und gefertigt nach methoden der indu-striellen massenproduktion. das bauprinzip bestimmtedie erscheinung. es gab keine vorgefaßte formvorstel-lung mehr wie bei den architekten des barock. das bau-prinzip war die architektur selbst. keine kunst, kein dekorwurden hinzugefügt.es gab schon vorher reine eisenkonstruktionen, reine

ingenieurbauten, so die markthalle bei der madeleine inparis, 1824 erbaut, oder der hungerford-fischmarkt inlondon von 1835. bereits 1801 entstand die erste guß-eiserne fabrik, eine siebengeschossige spinnerei in salford.der entwurf stammt von matthew boulton und jameswatt. der erfinder der dampfmaschine beteiligte sich ambau von fabriken, in denen diese eingesetzt wurde. diedampfmaschine, erst 30 jahre alt, war leistungsfähiggenug, eine spinnerei von sieben stockwerken über zahl-reiche transmissionen anzutreiben. watt setzte sein kon-struktives wissen auch dafür ein, für ein entsprechendesgebäude eine eisenkonstruktion zu finden.aber der kristallpalast glich einem fanal. seine grund-

fläche war viermal größer als st. peter in rom. erbautwurde er in sechs monaten. die einzelteile wurden alleals serienprodukte hergestellt. dabei waren die elementeeher kleinformatig und fügten sich wie ein netz zusam-men. die größte glasscheibe, die man damals herstellenkonnte. war nur 1.20 m lang. die feine gliederung gabdem bau ein ätherisches aussehen. es gab keine kritik.die welt staunte.das andere fanal der ersten moderne war der eiffel-

turm in paris, erbaut für die weltausstellung von 1889,bereits heftig umstritten und angegriffen von den hüternder kunst und den wahrern der kultur. gustave eiffel warein bauingenieur, der bislang kühne eisenbahnviaduktein gitterkonstruktionen errichtet hatte. sie demonstrier-ten nur sich selbst, reines konstruktives kalkül.

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paxton hat später als architekt schreckliche neugotischevillen gebaut, und auch eiffel war ein bürgerlich gespal-tener mensch, der auf der einen seite seinen beruf alsingenieur ausübte, gleichzeitig aber bestrebt war, aneiner etablierten kulturwelt teilzunehmen. ihre werkeverdanken ihre kulturelle bedeutung als konstruktivearchitektur einem mißverständnis. ein ingenieurbau, seies eine fabrik, eine brücke, eine markthalle oder ein aus-stellungsbau, war ein zweckbau für profane veranstal-tungen und funktionen. also nichts kulturelles. kunstund kultur war im geistigen angesiedelt. erst durch dieseablenkung war die geburt einer neuen architektur mög-lich. eine architektur, die so ist, wie sie ist, in die nichtshineingelegt wurde. diese architektur durfte reine kon-struktion sein, reine methode.zwischen dem kristallpalast und dem eiffelturm gibt

es eine fülle von eisenbauten, die als herausragendewerke in die architekturgeschichte eingegangen sind.zur selben weltausstellung, zu der der eiffelturm errichtetwurde, gab es die galerie des machines mit einer spann-weite von 115 m, erbaut von ferdinand dutert und victorcontamin. die maschinenhalle der weltausstellung von1878, elf jahre zuvor, hatte noch eine spannweite vonnur 35 m. allerdings bauten die engländer schon 1868 dieeisenbahnstation st. pancras mit einer spannweite von73 m. henri labrouste baute die bibliotheque sainte-geneviève in paris hauptsächlich aus glas und eisen, undgustave eiffel und louis-charles boileau errichteten einwarenhaus mit einem riesigen dach aus glas. all diesebauten sind inzwischen ausführlich gewürdigt wordenund sind bestandteil unseres kulturbewußtseins.weniger gewürdigt wird die entwicklung der architek-

tur im weiten bereich der eisenbahnbauten. der bahn-steige, stationen, der schuppen und brücken. kaum ge-würdigt wird die entwicklung der fabrikbauten, derwerkstätten, der hallen bis zu den hüttenwerken. ziehtman all dies in betracht, dann erweist es sich als kühn,die moderne architektur erst 1911 mit dem bau der fagus-werke von walter gropius in alfeld beginnen zu lassen.warum nicht dann mit den fabrikbauten von albert kahnoder ernest I. ransome? oder gar mit dem boat store vongodfrey greene, das 1860 errichtet wurde und ein bauvon egon eiermann aus dem jahre 1960 sein könnte?lassen wir eine zweite moderne mit dem jahr 1911

beginnen. ein jahr zuvor wurde das erste abstrakte bildgemalt, von kandinsky. man sagt, neues sei angebrochen.im selben jahr errichtete behrens seine maschinenhallefür die AEG in berlin.

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inzwischen ist es lehrmeinung, daß mit peter behrens undwalter gropius die moderne architektur begann.aber es gab bereits zuvor eine moderne. peter behrens

und walter gropius kommt zweifellos das verdienst zu,bauprinzipien des ingeniösen bauens, die bereits in derprofanwelt der industrie gebräuchlich waren, in die bil-dungsarchitektur der kultur- und kunstwelt eingeführtzu haben. mehr noch, sie haben der zitatenarchitektur,die dort gepflegt wurde, den boden entzogen. für einigezeit. wenn behrens und mehr noch gropius in der archi-tekturgeschichte einen festen platz gefunden haben,dann nicht als die erfinder einer konstruktiv-funktiona-len architektur, sondern als die architekten, die einesolche, bereits vorhandene in die kulturwelt des akade-mischen bauens eingeschleust, für den kultur- und kunst-betrieb hoffähig gemacht haben.diese erste moderne hatte bereits alle elemente der

zweiten moderne herausgebildet, die kurz nach 1900 mitden fabrikbauten in detroit und highland park von albertkahn, der turbinenfabrik der AEG in berlin von peterbehrens sowie den faguswerken in alfeld von waltergropius und adolf meyer begann, es fällt schwer, etwasgrundsätzlich neues zu entdecken. das trifft auf denstahlbetonbau ebenso zu wie auf das bauen mit eisenund stahl.der stahlbeton wurde 1849 von dem gärtner joseph

monier erfunden, der seine gärtnereieinfassungen undblumenkübel aus beton mit eisenstäben bewehrte unddamit zugfest machte. er wurde am ende des jahrhundertszu einem bauprinzip entwickelt wie zu beginn des jahr-hunderts der eisenskelettbau. pioniere waren der franzö-sische ingenieur francois hennebique, der amerikanischearchitekt ernest I. ransome, der schweizer brückenbauerrobert maillart und der französische ingenieur eugenefreyssinet. es entstand erstmals eine homogene bau-struktur, bei der stützen und balken, stützen und deckenineinander vergossen sind. später entstanden selbsttra-gende schalen, die zu neuen gewölbeformen führten undsich mathematischen idealflächen anpassen können.aber auch der stahlbetonskelettbau war voll entwickelt,lange bevor le corbusier 1916 sein domino-modell konzi-pierte, betonplatten mit zurückgesetzten stützen, erwei-terbar nach jeder richtung, ohne tragende wände. 1908schon baute tony garnier eine halle eines schlachthofsin stahlbeton, welche die galerie des machines von 1889nach ausmaß und struktur zum vorbild hatte.die moderne war etabliert. auch die gestalt neuer tech-

nischer produkte, von kesseln und motoren, von maschi-

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nen und transmissionen befreite die architektur vonjeglichem formalen vorbild. es entstanden fördertürme,gasbehälter, raffinerien, fähren und silos und machtenden entwurfsvorgang unabhängig genug, formen nuraus material, aufgabe und konstruktion zu bestimmen.weshalb fängt dann die moderne erst 1910 an, oder inder architektur 1911?warum zählt louis sullivan nur für architekturhistoriker

zur moderne, der 1899–1904 in chicago das warenhausschlesinger and mayer errichtete, wie es erich mendelsohnin den dreißiger jahren nicht moderner hatte erbauenkönnen? warum zählt albert kahns winchester gun factoryin new haven von 1906 nicht zur modernen architektur,obwohl es ein früher mies hätte sein können? sie werdenhöchstens als vorläufer gewürdigt. in den fünfziger jahren,als ich mich für den kristallpalast zu interessierenbegann, konnte ich auf ein einziges englisches buch überjoseph paxton zurückgreifen. die regale waren dagegenbesetzt mit büchern über gropius, le corbusier, mies vander rohe.

2die ingenieurbauten des 19. jahrhunderts, die bautender ersten moderne, wurden nach technischen gesichts-punkten von technikern erbaut, die bauten der zweitenmoderne dagegen von architekten. schon von der ausbil-dung her sind dies zwei verschiedene welten. der archi-tekt wächst in einer anstalt der künste auf, in einer aka-demie, in einer ecole des beaux-arts, in der nähe vonskulptur und malerei. der ingenieur wächst auf im um-feld von maschinenbau, von materialprüfung, von statikund kinetik. hier ist die domäne von ursache und wirkung,von aufwand und wirkung, von ökonomie und intelligenz,dort bewegt man sich im bereich des ästhetischen, der imbesonderen bestimmt wird durch das historische beispiel.die ecole des beaux-arts stand wie ein mann gegen

den eiffelturm auf und verteidigte die proportionen undordnungen des klassizismus und anderer historischer stile.aber die studentische jugend konnte der vergangenheitnichts abgewinnen. man suchte einen neuen stil. derjugendstil löste den historismus ab, zunächst in brüssel,der hauptstadt des am meisten industrialisierten landesin europa, dann in wien, in paris, in barcelona. die zielewaren vereinfachung, reduktion der mittel und organi-sche zuordnungen und verbindungen. der jugendstilentdeckte das quadrat, den kreis und das dreieck als ele-mentarste formen wieder und setzte sie nach den lianen-orgien als ornamente ein. im jahr 1899 erschien ein buch,

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das nur dem quadrat gewidmet ist. die revolte gegen denhistorismus und die neugotik fraß sich selber auf undkam am ende bei der suche nach der reinen form bei dergeometrie an.die nächste generation an den kunsthochschulen ent-

deckte dann, daß quadrat, kreis und dreieck auch die ele-mentaren formen der konstruktion und des funktionie-rens in der maschinenwelt sind, die technik wurde zumvorbild der neuen ästhetik, stahl und glas das neue mate-rial, rotation und translation die neue bewegung.aber keiner der neuen architekten war techniker, sie

alle verstanden technik als formrepertoire, als ästheti-sche vorgabe gemäß dem althergebrachten bürgerlichenkulturbetrieb, für den die form die erstbestimmende ur-sache ist. der künstler hat eine form vor augen und mate-rialisiert sie dann. der geist kommt zuerst. der technikerkommt von einer ganz anderen seite. er hat vorgaben,material, mittel, zweckbestimmung, ökonomische rahmen-bedingungen. daraus ermittelt er eine form. sie entstehtaus einem prozeß der optimierung.die zweite moderne war die eroberung der technik

durch die kunst. der russische konstruktivist konnte keinemaschine bauen. er war maler, er malte die maschinen-welt. er schuf türme und stahlgebilde, silos und kranan-lagen als produkte einer neuen ästhetischen sicht. einerevolution entfaltete sich. die moderne, die schon langeda war, entfaltete sich ein zweites mal, als ästhetischesereignis, als stil, als formensprache.methodisch blieb man auf dem boden der ecole des

beaux-arts, man sah die welt ästhetisch, als form. geän-dert hatte sich das motiv. der neue gegenstand der kunstist die technische welt. und so kam es nicht von ungefähr,daß die zweite moderne in der architektur zur selben zeitbegann, als das erste abstrakte bild gemalt wurde.kandinsky wie auch mondrian suchten in fast religiösen

begriffen die befreiung des geistes von der materie. siesuchten die reine form, die reine farbe, die überwindungalles stofflichen. der primat der kunst als reiner geist,von dem alles ausgeht, war etabliert.es gab konflikte. architekten, die der arbeiterbewegung

nahestanden und architektur mehr unter sozialen ge-sichtspunkten sahen, wie etwa mart stam, el lissitzky,hannes meyer, schoben ökonomische, konstruktive undfunktionale aspekte in den vordergrund. sie lehnten sichan die arbeitsprinzipien der ingenieurbauten des 19. jahr-hunderts an und verwarfen die bestimmende rolle derästhetik und die bestimmung durch formale konzepte.aber sie konnten sich nicht gegen die ,,maler“ durchsetzen,

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die wie van doesburg, moholy-nagy, le corbusier odermalewitsch das wort derer führten, die aus der kunsthervorgegangen waren.bis auf den heutigen tag werden mart stam und hannes

meyer verschwiegen. als opponenten gegen die ,,schön-heitsarchitektur“ starben sie ausgemustert, vergessen.die argumentationsebene auch der architektur wurde

mehr und mehr die der malerei. man sprach nicht mehrvon spannweite, last, kräfteverlauf, von knickmoment,durchbiegung. man sprach von transparenz des raumes,von asymmetrie, von zerlegung von oberflächen, von pla-stizität, durchdringung, reinheit der form, reinheit derfarbe, genau so, als ginge es um ein kubistisches gemälde.der kubismus seinerseits hatte von einer dritten seite herdie ästhetik der elementargeometrie begründet. er ver-stand alle gegenstände, die er malte, aufgebaut aus kör-pern mit geometrischen elementarformen, aus kegeln,würfeln, kuben, zylindern, pyramiden. in der malereicezannes werden diese urkörper angedeutet. bei picasso,gris und braque treten sie deutlicher hervor und sind inder malerei le corbusiers so deutlich vorhanden, daß eszu einem haus, bestehend aus urkörpern, nur noch einwinziger schritt ist. am ende ist das haus ein dreidimen-sionaler kubistischer gegenstand.ästhetische werte wurden metaphysisch begründet.

die horizontale sei kalt, sagte kandinsky, die vertikalewarm. die linke bildhälfte strebe nach außen, die rechtenach innen. der rechte winkel neige zu rot, der 60° win-kel zu gelb. vertikale und horizontale linien, meintemondrian, seien der ausdruck zweier entgegengesetzterkräfte. ihre wechselseitige wirkung mache das leben aus.das bild schaffe neue geistige wirklichkeit. linien, farbenund formen erzeugten eine reine vitalität, in der verti-kalen und horizontalen träfen sich raumachse und zeit-achse. das bild sei ein autonomer ästhetischer kosmos.und malewitsch schuf in seinen bildern den unbe-

grenzten raum. vordergrund und hintergrund sind auf-gehoben. die bildobjekte bewegen sich schwerelos. diezeit ist ohne grenze. die kunst erschließt raum und zeit.in dreidimensionalen modellen, sogenannten architek-tonas, wurden die reinen raumfigurationen ermittelt,nach denen dann architekten ihre bauten ausführenkönnen. form ist jenseits der funktion.von all diesen transzendentalen aussagen läßt sich

auch das gegenteil behaupten. warum kann eine hori-zontale nicht auch warm sein? und eine vertikale nichtauch kalt? aber das ist nicht entscheidend, von bedeu-tung ist, daß man sich eine metaphysische sprache ange-

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wöhnt hat, um formen und farben, um ästhetische phä-nomene zu benennen und zu bezeichnen, das ästhetischehatte eine abgehobene, nicht mehr diskutierbare seins-weise. das haus diente nicht irgendwelchen zwecken, eswar ästhetische erscheinung durch die gliederung vonflächen, durch die durchdringung von räumen, durch dietransparenz von volumen, die auflösung der perspektiveund des blickpunkts zugunsten einer raum- und flächen-abfolge.nicht selten wurden die ästhetischen ansprüche so

weit getrieben, daß der gebrauchswert darunter zu lei-den hatte. die zweite moderne in der architektur war an-gewandter kubismus, angewandter purismus und neo-plastizismus, angewandter suprematismus. wie jemandschläft, wie man arbeitet, wie man kocht, wo die kinderspielen, wie man belüftet und belichtet, wo man sich zu-rückziehen kann, das alles waren triviale dinge, und einbett in einem raum von mies van der rohe ist als solchesunbedeutend. es ist nichts als ein ästhetisches objekt.wie flächen zueinander stehen, wie sie von innen nachaußen greifen, wie sie öffnungen und übergänge erzeu-gen, das war die aufgabe der architektur. simultaneität,gleichzeitigkeit von wand und öffnung, von innen undaußen mußte erzeugt werden, transparenz der über-gänge, das ineinanderfließen der räume sowie das wech-selspiel von großen und kleinen wänden als autonomeflächen, die ein spannungsfeld erzeugen.nun durfte der zeitgeist wieder zitiert werden. das

kulturmuster der bürgerlich-ästhetischen moderne, derkunst-architekten und der kunst-designer ist idealistisch.die wirklichkeit wird nicht aus der sache und der sach-lage interpretiert, sondern nach übergeordneten prinzi-pien, nach ästhetischen transzendentalien.es steht außer zweifel, es gibt ästhetische phänomene.

auch die ingenieure des 19. jahrhunderts haben ästhetiknicht geleugnet, sie aber nicht als übergeordnetes, be-stimmendes prinzip anerkannt. sie mußte in der sacheselbst zutage treten.zwischen zwei gleichen einheiten, etwa zwei punkten,

gibt es keine geregelte beziehung. ob sie eng beisammenoder weiter voneinander entfernt sind, ihr abstand bleibtohne maßstab, ohne vergleich. kommt ein dritter punkthinzu, ergeben sich zwischen den punkten drei abstände.und diese treten zueinander in eine relation. sie sind ent-weder gleich oder unterschiedlich. sie können in ihrenproportionen beliebig oder geordnet sein, das heißt inbestimmten verhältnissen geordnet. das ist der anfangder ästhetik. sie geht darauf aus, relationen in bewußte

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verhältnisse, also in zuordnungen zu bringen. das kön-nen zahlenverhältnisse sein, inhaltliche zuordnungen,psychische relationen.das ist unbestritten, die frage ist nur, welchen stellen-

wert die ästhetik im entwurf hat. und da wird von sigfriedgiedion zum beispiel auch für das bauhaus postuliert,daß zuerst der künstler das sagen hatte.sigfried giedion war schüler von heinrich wölfflin ge-

wesen, der den begriff zeitgeist in die kunstgeschichteübernommen hatte, nachdem er bei hegel noch demweltgeist entsprochen hatte. wölfflin hat die ästheti-schen überbegriffe klassisch und archaisch, geschlossenund offen, einheit und vielfalt als merkmale der formeingeführt und kunst nicht mehr verstanden als hervor-bringung, sondern als aussage der zeit. giedion, der mitraum, zeit, architektur das kunstgeschichtliche stan-dardwerk der moderne, der zweiten moderne, geschaffenhat, führte die kategoriale sicht der dinge auch in dieheutige gestaltung ein und interpretierte sie im sinneder konventionellen kunstgeschichte. diese läuft immerdarauf hinaus, daß der künstler eine oberste instanz ist,daß die form ein oberstes prinzip ist. dies auch dann,wenn die neue technik eine fülle von formen geschaffenhat, die in die klassische betrachtungsweise nicht hin-einpassen wie der regenschirm, der rippenzylinder, diearmatur, das fitting, die verschraubung, der ventilator,die glühbirne, das getriebe.läßt sich der fabrikschornstein interpretieren nach

den kategorien der klassischen kunstgeschichte? ist erklassisch oder archaisch? ist er offen oder geschlossen?zeitgeist, ja der läßt sich immer ausmachen. dann ver-

weist der schornstein auf den außerirdischen raum. erstrebt in die höhe. sprengt raum und zeit. von rauch, ab-gasen, ruß, verunreinigter luft ist weniger die rede. dage-gen tritt wie bei kandinsky die senkrechte, die kalt ist,gegen das horizontale an, das warm sein soll. das dinghat, bevor es ding sein kann, weltgefühl auszustrahlen.wenn architektur und gestaltung in diesem sinne eine

weltaussage sind, darf es nicht verwundern, daß ihr sta-tus als raum-zeit-gebilde auch noch ergänzt wird umden der geschichte. architektur steht im dialog mit derarchitekturgeschichte. sie ist sprachlos ohne das histo-rische zitat. das wußte schon adolf loos, der die antikesäule reaktivierte. die postmoderne ist eine fortsetzungjener moderne, die ein weltgefühl vermittelte. der kubis-mus selbst hat immer schon die geschichte zitiert unddie neue sprache angereichert mit den versatzstückender tradition. es konnte nicht ausbleiben, daß der histo-

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rismus auch die moderne wieder einholte. das neuedesign heute heißt bauhaus plus palladio. es gibt neuer-dings stühle, die eine empirerücken lehne aus mahagoni,zwei stuhlbeine aus birnbaum und zwei beine aus gebo-genem stahlrohr haben. die sitzfläche ist perforiertesblech.die neue welle hat das ganze formenrepertoire kan-

dinskys ausgeraubt. die freiheit der kunst schlägt sichnieder in der freiheit des designs. und gut tut immer einhistorisches zitat zu all den farbigen dreiecken, streifen,kreisen und kreissegmenten.das ist gewiß nicht die fortsetzung des historismus.

das alte wird nicht einfach kopiert. inzwischen gibt esbücher wie seneao für die manager. es macht sich gut, ineine rede über ökonomie ein klassisches zitat einzubauen.warum also sollen hotels oder verwaltungsgebäude nichtportale bekommen, die aus einem pharaonengrab stam-men könnten oder aus einem bad von pompeji?wenn man design und architektur ästhetisch moti-

viert, spricht nichts dagegen, auch die klassische ästhe-tik einzubeziehen. das macht den neuen zeitgeist aus,daß er grenzen sprengt, grenzen des raums und grenzender zeit.die parallele zum eklektizismus der antike ist evident.

hadrian hatte alles an kunst, was er auf seinen feldzügenzu gesicht bekam, im park seiner villa bei tivoli zusammen-getragen und so die kosmopolitische dimension seinesweltreichs demonstriert. das resultat war oberflächlicherformalismus und langeweile. das essen bestand nur nochaus schaum.

3die dritte moderne hat noch kein fanal, sieht man einmalvom centre pompidou ab, das recht exzeptionell ist. sieist nicht auf monumente angelegt, weil sie sachlich seinwill.für mich gibt es trotzdem einen bau, der an ihrem an-

fang steht. es ist nur ein wohnhaus, aber vom rang deskatsura-palastes in kioto, es ist das wohnhaus von charleseames. im gegensatz zum schlafraum eines hauses vonmies van der rohe dient das schlafzimmer in diesem hausnicht der ästhetischen repräsentation eines bettes, son-dern ist ein raum zum schlafen. es ist ein bewohnbareshaus, zum gebrauchen gemacht. es wurde 1949 erbaut,ein stahlskelettbau mit standardelementen aus der indu-strie. das haus hat den charakter eines ateliers. die ganzelebensform ist die eines ateliers. es gibt kein vornehmeswohnzimmer mehr, keinen salon, keine zweite etage des

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lebens. es zerfällt nicht in kult und alltag. der alltag istder kult. der gebrauch macht das haus aus.überhaupt charles eames. er war der erste nicht ideo-

logische designer der moderne. seine stuhle kleben nichtan der ästhetik der stahlrohrmöbel, ihre profile sind ausder aufgabe entstanden und demonstrieren nicht denkult an quadrat, kreis und dreieck. das sitzen läßt sich füreames nicht in eine geometrie pressen. die schalen seinerstühle und sessel respektieren den menschlichen körper.er wäre nie auf die idee gekommen, den menschen aufstühlen mit ebenen brettern oder kaltem blech sitzen zulassen, wie dies heute, der form halber, nötig gewordenist.eames hat den stuhl und die sitzgelegenheit dieses

jahrhunderts geschaffen, zum teil auf rollen, verstellbar,mit materialien, die der sache entsprechen. mehr oderweniger gehen alle heutigen stuhle auf charles eameszurück. als erster benutzte er verformte schalen. er hattesie in der kriegszeit entwickelt als bein- und armschalenfür verwundete soldaten. er suchte minimierte stahlkon-struktionen, professionelle, das heißt hochtechnisierteverbindungstechniken, ließ die meisten metallteile nacheinem minimierungsprozeß als gußstücke herstellen undermöglichte anpassungsfähige profile, die sich verjüngenoder erweitern. sein college-stuhl hat dieselbe qualitätwie der managersessel, der sich fast mit dem körper be-wegt, wippt, neigt, rollt und sich in der höhe verstellenläßt.weiß man, wie das nächste modell ausgesehen hätte,

wenn eames länger gelebt hätte? man weiß es nicht.eames hatte keinen stil. er strengte seinen intellekt an,um herauszufinden, wie man am besten sitzt, welchematerialien dafür am geeignetsten sind und wie sich dasganze am besten herstellen läßt, welche technik unsheute die topindustrie dafür anbietet. und darauf gibt esviele antworten. es gibt um so mehr, je mehr man sichvon formvorstellungen freimachen kann und die ästhetikaus der stube sperrt.für die zweite moderne eines mies van der rohe oder

le corbusier begrenzte sich das repertoire an technik aufdas material in seiner von der industrie vorgegebenenstandardform. eames war verfahrenstechniker. mit pro-filen allein konnte er nichts anfangen. erst in der verfor-mung und in der verbindung von stahl, holz oder kunst-stoff entwickelt sich technische qualität. technik ist erstdann ausgenutzt, wenn man die qualität der verformun-gen im griff hat, die ein werkstoff und seine verarbei-tungsmöglichkeiten hergeben. dabei spielt dann eine

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wichtige rolle, wie intelligent sich die verschiedenen teileverbinden und kombinieren lassen.wohl jeder kennt die situation: man begleitet jemanden

heim, ist in eine ernsthafte diskussion verwickelt, mußdann den weg noch einmal zurückgehen, weil man nichtzu ende gekommen ist, und so weiter. so ging ich einmalmit walter gropius eine halbe nacht zwischen seinerwohnung und meinem hotel. es war in den fünfziger jah-ren in boston. das thema war schon damals: ist die ver-wendung von technischen materialien schon modernearchitektur? es ging um die bewertung von konrad wachs-mann. wachsmann hatte zusammen mit gropius ein bau-system entwickelt mit industriell vorgefertigten teilen,wobei das eigentliche problem ihre verbindung war. demwidmete wachsmann seine ganze aufmerksamkeit undentwickelte ein schloß, das fast ein maschinenteil war.dem widersetzte sich gropius. architektur habe ein allge-meines konzept im auge, sie dürfe nicht in schlossereiausarten. die technik habe nur die funktion, neue mate-rialien zur verfügung zu stellen. einig wurden wir injener nacht nicht.mir läuft es kalt den rücken hinunter, wenn ich sehe,

wie in der architektur profile als solche kultiviert werdenund wie man sie mit gewalt verschweißt und verbindet,alles unter dem zwang der vereinfachten form. ein knoten,der nicht stimmt, tut mir physisch weh. für mich ist archi-tektur verfahrenstechnik und anwendungstechnik wieder maschinenbau. stahlprofile sind nur rohware.das speichenrad eines fahrrads ist ein komplexes pro-

dukt. die felge mit ihrem querschnitt zur aufnahme desreifens, die spannbaren speichen, ihre abwicklung, dienabe, der schlauch, das alles macht ein absolut überzeu-gendes gebilde aus. wäre es nach der ideologie des soge-nannten neuen bauens gegangen, hätte man aus einemvollwandmaterial eine kreisscheibe ausgeschnitten undrot oder gelb oder blau angemalt. und in der tat gibt esmodelle solcher art von rietveld, wo das rad zwar seineeinfachste form, aber in einer vorgeschichtlichen tech-nik bekommen hat.wirkliche technik ist anders. sie ist materialisierte

intelligenz mit dem ziel, die beste lösung mit einer mini-mierung des aufwands zu erreichen.in der architektur ist norman foster ein mann, der

ähnlich denkt wie charles eames. seine stahlkonstruktionenkommen aus der fabrik, nicht aus der eisenwarenhand-lung. es sind verarbeitete profile, nicht stranggepreßte.die knoten sind industrieprodukte. die festigkeit ergibtsich aus der struktur, nicht aus der kraft.

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ein quadrat oder ein rechteck ist nicht steif, bei genü-gender gewalt geben die gelenke nach. erst eine diago-nale macht es steif. es teilt die rechteckige fläche in zweidreiecke. und ein dreieck ist immer steif. seine form läßtsich nicht verschieben. intelligentes bauen ist bauen mitdreiecken.in der puristischen architektur von mies van der rohe

gibt es nur rechtecke. die diagonale kommt nicht vor. siedarf nicht vorkommen, weil sie das konzept klassischerruhe stören würde, weil die sprache der formen, der recht-eckigen formen gestört wäre.auch bei norman foster weiß man nicht, wie sein näch-

stes gebäude aussehen wird. der spielraum für intelli-gente lösungen ist unermeßlich, aber nur dann, wennman in der lage ist, fragen zu stellen. wer keine fragenstellen kann, wiederholt sich.norman foster hat den technischen verstand eines

flugzeugbauers. er weiß, wie ein rotorkopf eines hub-schraubers zu konstruieren ist, der die energie des motorsin die bewegung zweier rotierender flügelblätter umsetzt,die während der rotation in ihrem winkel zu verstellensind. er hat ein faible für flugzeuge, bei deren konstruk-tion die minimierung des aufwands an material und ener-gie bei gleichzeitiger maximierung der leistung das ober-ste prinzip ist. seine bauten kommen in die nähe vonnaturerzeugnissen. auch bei pflanzen herrscht das prin-zip vor, viel wirkung bei wenig aufwand zu erreichen.hierin ist die natur meisterin, und sie tut es immer mitintelligenz, nicht mit kraft.bei bauten solcher art gibt es eine neue art von ästhe-

tik. sie spricht auch den kopf an. man kann diese bautenlesen, verstehen. man entdeckt sie. was man sieht, istso, weil es klüger ist als andersherum. man entdeckt ein-fälle, logik, witz. es ist nicht die pure gemütsästhetik, diedumpfe empfindung. hier spricht auch kein zeitgeist, keinweltgefühl, man sieht eine der bestmöglichen lösungenauf eine fragestellung.die dritte moderne greift auf die erste zurück. sie ist

konstruktiv, nicht formal. aber sie weiß, daß das technischrichtige nicht auch unbedingt das schöne sein muß. tech-nische optimierung und visuelle optimierung sind zweiverschiedene dinge. aber selbst wenn sie unterschiedlichegesetze haben und nach eigenen kategorien zu behandelnsind, lassen sie sich nicht trennen. das schöne ist auf dasrichtige angewiesen, und das richtige muß sich in derbesten ästhetik entfalten.das kunst-schöne als das autonom schöne hat in der

technik keinen platz. auf der anderen seite will sich auch

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das richtige, technisch beste in einer ästhetischen ord-nung entfalten. zuweilen ist sogar das schönere zugleichauch das bessere.diese komplexität, die eine parallele in der psycho-

somatik haben mag, wo auch eines das andere wechsel-seitig bedingt, ist in der dritten moderne in einer anderenweise angelegt als in der ersten. es ist ein besondererglücksfall, daß heute architekt und ingenieur aufeinanderzugegangen sind. beispielhaft ist die verbindung deslondoner ingenieurbüros ove arup mit so bedeutendenarchitekten wie richard rogers, renzo piano, normanfoster sowie michael hopkins, alle pioniere des neuen kon-zeptes in der architektur. man hat den eindruck, die inge-nieure möchten architekten sein, architektur machen,während die architekten den ehrgeiz entwickeln, in diebranche der baukonstruktion überzuwechseln. beide,der ingenieur und der architekt, gehen aufeinander zu.allerdings weiß auch jeder, daß es nicht damit getan seinkann, zwei disziplinen zu vereinigen. es kommt auch hiernicht mehr heraus als mittelmaß, wenn der entwurfspro-zeß nicht kreativ und ingeniös wird, schöpferisch. es gibtauch bauten, denen man ansieht, daß der architekt sichauf den ingenieur verlassen hat und der ingenieur aufden architekten. sie sind ohne das spiel der intelligenz,ohne einfälle und denkvermögen.architektur ist heute heruntergekommen auf das

niveau von modejournalen. man studiert zeitschriften,man lernt nicht mehr baumethoden, höchstens in demumfang, wie eine modistin wissen muß, wie kleider zu-sammengenäht werden. inzwischen ist auch das techni-sche bauen mode geworden. high-tech heißt die neueästhetik. man nimmt technik lediglich als versatzstück,als musterkatalog für neue designeinfälle.fast hätte art déco das bauhaus gefressen. art deco

war die offzielle kunst der zwanziger jahre. das bauhauswar inoffiziell. so scheint es manchmal, als könnte high-tech die neue, die dritte moderne fressen. vieles von dem,was heute den anschein erweckt, als hätte ein architektmit einem bauingenieur zusammengearbeitet, ist nur alserscheinung abgeguckt, eine neue formalistische mode.ohne frage geht die dritte moderne auf den konstruk-

tivismus zurück. aber konstruktivisten waren maler,keine techniker. die maschinenwelt, die sie faszinierte,setzte sich in maschinenrethorik um, die industriebautenlieferten mehr malmotive als konstruktive anregungen.wladimir tatlins entwurf für ein denkmal der dritten in-ternationale, das hauptwerk des konstruktivismus, warnur die Illusion einer konstruktion, nur ihr ästhetischer

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traum. schon naum gabo rief damals tatlin zu, er solleentweder funktionelle häuser und brücken bauen oderreine kunst machen, aber nicht beides. eine überzeugendekonstruktion ist immer rational und minimiert, nie ex-pressionistisch. expressionistische technik gibt es nicht.insofern hatte der konstruktivismus mehr die bedeu-

tung eines manifestes, das sein gewicht erhielt als pro-gramm, nicht als beispielhafte vorführung.dieses programm will die trennung von kunst und leben,

von gesellschaft und individuum, von technik und hand-arbeit, von körper und geist aufheben.alles ist design. alles ist zu schaffen. alles, das leben,

der alltag, das private und das öffentliche braucht diekraft, den geist, die verantwortung der gestaltung, denschöpferischen Zugriff.die bauten der russischen architekten selbst blieben

an bedeutung hinter diesem programm zurück, das eineneue frontstellung brachte. hannes meyer widersetztesich walter gropius, el lissitzky widersetzte sich le corbu-sier, mart stam widersetzte sich theo van doesburg,wladimir tatlin widersetzte sich piet mondrian, alexanderrodschenko widersetzte sich lászló moholy-nagy. dasrevolutionäre pathos der zwanziger jahre erlaubte es, zurufen: nieder mit der kunst! und in der tat, selbst mon-drian hatte zweifel, ob kunst, autonome ästhetik, in derzukunft noch statthaft sei.ginge es hier um eine historische wertung, müßte man

fraglos auf die großen anstoße hinweisen, die zwischender weißenhofsiedlung in stuttgart und der siedlungneubühl in zürich entstanden sind, auf die siedlungenvon ernst may oder j.j.p. oud und für die damalige zeitso eindrucksvolle leistungen wie die frankfurter küche.es geht indessen um positionen und mentalitäten. sie inihrer kontur herauszuarbeiten, läßt die historische oderpersönliche bedeutung gelegentlich in den hintergrundtreten. so ist es kein wertendes historisches urteil, wennman vom damaligen konstruktivismus, der eine reihewichtiger bauten hervorgebracht hat, sagt, er habeweniger auf die konstruktion geachtet als auf konstruk-tives aussehen.der neue konstruktivismus, die dritte moderne, wie sie

am centre pompidou erkennbar ist, verläßt das feld derbaukonstruktionen aus stahlprofilen. die bauten werdenzu geräten mit speziell für den aufgabenzweck geformtenteilen. bauteile, die druck standzuhalten haben, sehenanders aus als solche, die zug auszuhalten haben. einekonstruktion wie das centre pompidou ist keine mono-lithische struktur mehr. sie beruht auf einem deutlich

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ablesbaren wechselspiel von zug- und druckkräften mitsehr unterschiedlichen ausbildungen der konstruktiventeile, die sich in zum teil komplizierten knoten zu einemganzen zusammenfügen. gelenke nehmen die formenvon knochen an, tragarme verjüngen sich entsprechendihrer beanspruchung.anregungen mögen von archigram ausgegangen sein.

die zeichnenden architekten um 1960 hatten einen be-darf an maschinenformen für ihre papierentwürfe futu-ristischer städte.aber das entscheidende kriterium ist ein neues ver-

ständnis für baustatik. das bauen orientiert sich ambauen selbst. architekt und ingenieur arbeiten zusam-men. jeder hat seine kompetenz, aber es gibt keine tren-nende grenze. jeder tummelt sich im feld des anderen.für den statiker ist ein maßstab der brückenbau, der

in besonderem maße ein optimum mit einem minimumzu erreichen sucht, ein optimum an stabilität mit einemminimum an material und technischem aufwand. dascentre pompidou oder auch die hongkong and shanghaibank in hongkong übertragen die technik des brücken-baus auf die architektur. das schafft neue betätigungs-felder für den architekten, der nun frei wird, die formalenfesseln von quadrat, kreis und dreieck abzulegen, freiwird, formale programme zu erfüllen. er, der auf die formaus ist, muß diese entwickeln, herausholen, wachsenlassen, freilegen, zur entfaltung bringen, ehe er weiß,wie sie aussieht.die tugend der wissenschaft überträgt sich auch auf

das entwerfen. die tugend der wissenschaft ist neugierde,nicht das wissen. ein wissenschaftler, der schon weiß,was er wissen will, ist bereits kein wissenschaftler mehr.der wissenschaftler will finden. er wendet nicht wissenan. er lernt das fragen und trainiert das finden.das auch ist die tugend des neuen architekten, des

neuen designers. das leben wird mehr und mehr zu einemunbekannten kosmos. jedes individuum hat früher eherals heute gewußt, wohin sein leben führen wird. die welt,die zeit wird offen. wir müssen uns ins unbekannte vor-tasten. der zeitgeist hat keine antworten mehr. wir ent-werfen, weil wir suchen, nicht weil wir wissen.das resultat wird je nach vorgehen ein anderes sein.

wer weiß, neigt zu einem karosseriedesigner. er verpacktdie dinge in seine vorstellung. er schließt sie ein. weraber sucht, der kommt zu offenen, strukturellen lösungen.die gestalt zeigt ihre entstehung. sie bekennt sich zu

ihrem hergang. damit befriedigt sie zugleich das bedürf-nis, sie lesen, sie verstehen zu können. sie ist eine art

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niederschrift. sie käme damit nicht aus, allein erschei-nung zu sein, wie dies offensichtlich bei den bauten vonieoh ming pei der fall ist. zu zeigen, wie etwas gemachtist, ist offensichtlich eine andere entwurfskultur als dasresultat allein hinzustellen und seine herkunft zu ver-stecken. der primat des karosseriedesigns ist gebrochen.es reicht nicht mehr aus, etwas nur noch zu zeigen.

die verpackung ist die lüge. alles sieht heute gut aus. wirwissen, was gut aussehen bedeutet. vor allem für denje-nigen, der einen hereinlegen will. wir brauchen den blickdurch die aufmachung hindurch, auch der kunde wirdneugierig.es ist heute der entwurf selbst, der offenlegt. nicht

mehr der zeitgeist. im entwurf wird gezeigt, was vor sichging, was sache ist. die antworten liegen nicht mehr imraum des geistes, und sei es des zeitgeistes, sie liegen inder sache. im brot selbst zeigt sich, ob man es noch essenkann, im wasser selbst, ob man es noch trinken kann, inder luft selbst, ob man sie noch atmen kann. der zeitgeistist zu allgemein.die welt ist in einem bedenklichen zustand. ein viertel

aller arten von pflanzen und tieren sind essentiell bedrohtoder ausgestorben. wir gehen mit der natur um, als seisie beliebig verfügbares, wertloses eigentum. sie kostetnichts und ist auch nichts wert.der mensch ist so weit gekommen, daß er sich selbst

auszulöschen droht. nicht als ob der mensch des men-schen feind wäre. niemand will den anderen umbringen.aber an der rüstung verdienen, an der chemie, die dieerde kaputtmacht, am auto, das mit seinen abgasen dieluft verpestet, das möchten dann doch wohl alle. auf densegen der konsumgesellschaft verzichten, die den ganzenplaneten im überkonsum zu ersticken droht, das willniemand.dieses gespaltene irresein läßt sich nur ertragen durch

ablenkung. die feinste davon ist die ästhetisierung derwelt. wir üben uns, ihr ein neues, vollendetes make-upzu geben, und kippen die chemischen überreste, die beider produktion von kosmopolitischer kosmetik anfallen -und das ist mehr, als an produkten herauskommt -, ein-fach in die flüsse. das leben ist nur auszuhalten, wenn esschöner wird. das denken ist nur auszuhalten, wenn auchder kopf an den moden täglich neuer theorien teilnimmt,am postmodernen konsum kesser thesen. der müll, andem wir ersticken, ist nur auszuhalten in neuen häusernaus glas, messing, marmor und chrom. die verkümmern-den bäume lassen sich nur ertragen durch immer größerund schöner werdende künstliche blumen. die kunststoff-

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industrie hat eine perfektion erreicht, daß das auge denunterschied von natur und kunst nicht mehr ausmachenkann, man muß die blumen schon befühlen.nie war die malerei so schön, so üppig und groß wie zu

makarts zeiten, als in den fabriken und straßen die arbei-terkämpfe tobten. noch nie wurden so viele museen ge-baut wie heute, alle im stil der zweiten moderne, unddies in einer zeit, in der wir das leben als solchesbedrohen.

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