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Die West-68er und ihr „Marsch durch die Institutionen“ Versuch, einen Mythos vom Kopf auf die Füße zu stellen Rudolf van Hüllen Gibt es einen „langen Marsch durch die Institutionen“, mit dem „die 68er“ spätestens mit Vereidigung des ersten Kabinetts von Gerhard Schröder 1998 die bürgerliche Repu- blik überwältigt haben? Immerhin ist die zahlenmäßige Repräsentanz von (früheren) Revoluzzern in diesem Kabi- nett eindrucksvoll: Neben dem „antirevisionistischen“ Jungsozialisten Schröder und dem Vizekanzler Fischer aus den Frankfurter „Putzgruppen“ noch drei Minister mit maoistischer, stalinistischer bzw. trotzkistischer Vergan- genheit, von den Staatssekretären gar nicht zu reden. Doch sind die Dinge komplexer, als das schnelle, empö- rungsbereite Urteil suggeriert. Die Probleme fangen schon beim Mythos „Marsch durch die Institutionen“ an und ge- hen mit der Frage weiter, wer oder was der „68er“ eigent- lich ist. Mythos „Marsch durch die Institutionen“ Mythen sind neutral oder sogar positiv konnotierte Ent- sprechungen zum Dämonischen. Der „Marsch durch die Institutionen“ ist zugleich ein kommunistischer Mythos und fester Bestandteil antikommunistischer Bedrohungs- 131

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Die West-68er und ihr „Marsch durchdie Institutionen“Versuch, einen Mythos vom Kopf auf dieFüße zu stellen

Rudolf van Hüllen

Gibt es einen „langen Marsch durch die Institutionen“,mit dem „die 68er“ spätestens mit Vereidigung des erstenKabinetts von Gerhard Schröder 1998 die bürgerliche Repu-blik überwältigt haben? Immerhin ist die zahlenmäßigeRepräsentanz von (früheren) Revoluzzern in diesem Kabi-nett eindrucksvoll: Neben dem „antirevisionistischen“Jungsozialisten Schröder und dem Vizekanzler Fischer ausden Frankfurter „Putzgruppen“ noch drei Minister mitmaoistischer, stalinistischer bzw. trotzkistischer Vergan-genheit, von den Staatssekretären gar nicht zu reden.

Doch sind die Dinge komplexer, als das schnelle, empö-rungsbereite Urteil suggeriert. Die Probleme fangen schonbeim Mythos „Marsch durch die Institutionen“ an und ge-hen mit der Frage weiter, wer oder was der „68er“ eigent-lich ist.

Mythos „Marsch durch die Institutionen“

Mythen sind neutral oder sogar positiv konnotierte Ent-sprechungen zum Dämonischen. Der „Marsch durch dieInstitutionen“ ist zugleich ein kommunistischer Mythosund fester Bestandteil antikommunistischer Bedrohungs-

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bilder der bürgerlichen Welt. Er suggeriert gezielte, im Ge-heimen erfolgende, schwer bzw. gar nicht abwehrbare Ge-fahren: Der klassische Begriff dafür ist „Unterwanderung“,stets gedacht als organisiertes Vorgehen eines Kollektivsund somit als eine Strategie, die dem bürgerlichen, libera-len und auf Offenheit orientierten Selbstverständnis dia-metral entgegengesetzt erscheint. Der „Marsch durch dieInstitutionen“ knüpft begrifflich an den „Langen Marsch“der Kommunistischen Partei (KP) Chinas zur Macht an,also an einen revolutionären Mythos. Bei genauerem Hin-sehen freilich zeigen sich einige Unstimmigkeiten: Derhistorische „Lange Marsch“ 1934/35 war eine zum Teil de-saströse Rückzugsbewegung der angeschlagenen kom-munistischen Streitkräfte aus den Zentralprovinzen Chi-nas in das abgelegene Jenan, bei der sie schon in der erstenPhase die Hälfte ihrer Kräfte verloren.1 Aus den Erfahrun-gen des „Langen Marsches“ entwickelte Mao Tse-tung al-lerdings die Grundzüge seiner Strategie des „lang anhalten-den Volkskrieges“: die Truppen aus dem Land ernähren,widersetzliche Bevölkerungsgruppen rücksichtslos massa-krieren, alle Regeln konventioneller Kriegsführung ent-schlossen aufgeben. Die Unerbittlichkeit und scheinbareUnbezwingbarkeit des Konzepts waren der Stoff, aus demdie Dämonisierung entstand. Die SDS-Aktivisten wusstendas zu nutzen: Eine ihrer Zeitschriften hieß nicht unbe-absichtigt Langer Marsch. Aber ob es einen gezielten, plan-mäßig angelegten „Marsch durch die Institutionen“ tat-sächlich gegeben hat, davon wird noch zu reden sein.

Die 68er: zwei Generationen

Das Etikett „68er“ verdeckt die Unsicherheit darüber, wo-rum es sich handelt. Eine ganze Generation, die 1968 in derprimären politischen Sozialisation steckte und von den Er-

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eignissen dieses überaus schicksalsträchtigen Jahres nach-haltig geprägt wurde? Dann verstände sich zunächst von sel-ber, dass die Prägungen für die jugendlichen Teilnehmer desPrager Frühlings andere gewesen sein mussten als für ihrewestdeutschen Altersgenossen. Also gibt es zumindest ost-und westeuropäische 68er. Und bei einer Betrachtung derwestdeutschen Variante wäre zusätzlich klärungsbedürftig,wie es mit der Vergleichbarkeit ihres französischen Pen-dants aussieht, dort mit der gleichen Selbstverständlichkeitebenso „Soixante-huitards“ genannt. Falls die ganze Gene-ration der zwischen 1940 und etwa Anfang der 1950er JahreGeborenen gemeint ist, wird man gravierende politischeDifferenzen, aber auch erstaunliche Parallelen bei Lebens-stilen und kulturellen Gewohnheiten finden. Umgekehrtkann man 68er einschränken auf diejenigen Polit-Kader,die „1968“ gemacht haben. Dann wird der Kreis wesentlichkleiner, obwohl die „Studentenrevolte“ fünfstellige Zahlenzu Protesten mobilisieren und noch größeren Anhang emo-tional mitziehen konnte. Der Sozialistische Deutsche Stu-dentenbund (SDS) umfasste allenfalls bis zu 2.500 Mitglie-der2. Gemessen an den seinerzeit 280.000 Studenten an dendamaligen (west-) deutschen Hochschulen handelte es sichalso um ein eher bescheidenes Reservoir.

Definiert man als 68er die ungefähr zwischen 1940 und1953 geborenen (linken) Polit-Aktivisten, so umfasste de-ren Spannbreite im Jahr 1968 den gereiften Studenten,Doktoranden oder Universitätsassistenten bis hinunterzum 15-jährigen anpolitisierten Schüler.3 Den politischenSpuren von 1968 ausschließlich in diesem Segment nach-spüren zu wollen, greift zu kurz, zumal von den damaligenexponierten Heroen der Studentenrevolte kaum jemand inexponierte politische oder administrative Funktionen ge-langte, eher verblieben sie im Umfeld der Universitäten.4

Ganz anders verhält es sich mit der daran anschließen-den Generation, den so genannten „K-Grüpplern“. Der

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Zerfall des SDS und der „antiautoritären“ Phase der Stu-dentenrevolte mündete seit 1969 in verschiedene „Ent-mischungsprodukte“. Das auffälligste Moment unterihnen bildete neben der Entstehung terroristischer Forma-tionen die Gründung autoritär strukturierter kommunisti-scher, so genannter K-Gruppen, die an unterschiedlicheTraditionsstränge des Parteikommunismus anknüpften(Stalinismus, Maoismus, Trotzkismus, aber auch revolu-tionär-linkssozialistische Vorbilder).5 Einen weiteren, inseiner Größe und Bedeutung unterschätzten Teil sammeltedie orthodox-kommunistische, 1968 nach zwölfjähriger Il-legalität „neu konstituierte“ DKP ein. Und bei einemebenfalls zahlenmäßig erheblichen Segment gelang die In-tegration in die Sozialdemokratie – nicht ganz ohneReibungsverluste, denn die nunmehr entstehenden „anti-revisionistischen“ oder „Stamokap“-Flügel bei den Jung-sozialisten in der SPD argumentierten marxistisch und bil-deten eine Übergangszone zwischen linken Demokratenund extremistischer Linker. Gerd Koenen konstatiert zuRecht, erst mit dem Eintritt in die Entmischungsphase seiaus der antiautoritären Jugendrevolte eine echte, generatio-nell geprägte Massenbewegung geworden, die Zahl der or-ganisierten Mitglieder der „diversen linksrevolutionärenund kommunistischen Parteien“ habe die ganzen 1970erJahre über bei etwa 80.000 bis 100.000 gelegen.6 Das lässtsich nachprüfen, nimmt man die seinerzeitigen Zahlendes Verfassungsschutzes unter Berücksichtigung ihrer,heute aus Archiven nachweisbaren, Fehler zur Grundlage.Der relevante Zeitraum umfasst die Jahre bis 1976/77; da-nach zeichnet sich wiederum mit dem Aufkommen deranarchistischen Spontis und den Vorformen der Grünenein Umbruch in der „Neuen Linken“ ab. Dann kämeman – Stichprobe 1974 nach Gründung des letzten„K-Gruppen-Nachzüglers“, des Kommunistischen BundesWestdeutschland (KBW) – auf 13.000 Maoisten, 1.200

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Trotzkisten und 4.500 „Undogmatische“.7 Da seinerzeit ei-nige Organisationen unterschätzt wurden, kann man grobvon 20.000 „Neuen Linken“ ausgehen. Im orthodox-kom-munistischen Segment gehörten dem DKP-nahen Marxis-tischen Studentenbund Spartakus (MSB) 4.500 Mitgliederan. Die DKP-Jugendorganisation SDAJ täuschte über ihretatsächliche Stärke sowohl die Öffentlichkeit als auch denVerfassungsschutz. Sie behauptete, 1974 immerhin 29.000Mitglieder zu haben, die Kölner Extremismusbeobachterbilligten ihr 13.000 zu8 und irrten dennoch: Es waren imFebruar 1974 exakt 8.242.9 Die Zahlen beschreiben auchdie Neurekrutierungen der DKP aus der Zielgruppe Jugend.Junge DKPler waren fast ausnahmslos in SDAJ oder MSBtätig, selbst wenn sie zugleich der Partei beitraten. Bei denJungsozialisten schließlich umfassten die „Stamokaps“und „Antirevis“ selbstverständlich nicht den gesamten, indiesen Jahren erheblichen, Zustrom an jungen Sozialdemo-kraten, sondern nur wenige Tausend Funktionäre, zudenen man die rund 2.000 Mitglieder des linksextremisti-schen Sozialistischen Hochschulbundes (SHB) hinzuzählenmuss: Der seiner Mutterpartei SPD zu Beginn der 1970erJahre entlaufene SHB folgte nahtlos der Linie der DKP,seine Mitglieder besaßen aber überwiegend aus taktischenGründen noch Parteibücher der SPD10; hinausgeworfenwurden sie nicht.

Alle diese Organisationen, in denen sich im Zeitraum1970 bis 1977 die Primärsozialisation der „K-Gruppen-Ge-neration“ vollzieht, sind primär Jugend- bzw. Studenten-organisationen. Die „Standzeiten“ von vielen dort Orien-tierung suchenden jungen Leuten sind nicht sehr lang; beiden K-Gruppen und der DKP vor allem wegen des rigiden„demokratisch-zentralistischen“ internen Regimes. Mandarf davon ausgehen, dass statistisch gesehen die Mitglied-schaft ungefähr alle fünf Jahre komplett ausgetauscht wor-den ist. Es scheint also nicht unrealistisch anzunehmen,

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dass um die 80.000 Menschen in diesen Zusammenhängenihre politische Primärsozialisation erfahren haben. AlsK-Gruppen-Generation könnte man demnach die politi-sche Linke der Geburtsjahrgänge 1954 bis allenfalls 1960bezeichnen: An ihrem älteren Ende standen Aktivisten,die 1970 beim Zerfall des SDS sechzehn Jahre alt waren,an ihrem jüngeren jene, die sich 1977 mit sechzehn odersiebzehn Jahren noch in eine maoistische Organisation ver-irrten. Sie waren eher ein Auslaufmodell: Die „Post-68er“standen vor der Tür.11

Zahlenmäßig bedeutender und politisch prägender fürdie Gesellschaft als die „Original-68er“ der Jahrgänge1940 bis 1953 sind also deren Epigonen, die links soziali-sierten Polit-Aktivisten der Jahrgänge 1954 bis 1960.

Die Sozialisationselemente der 68er: Versuch einerAnnäherung

Natürlich gibt es keine Statistiken oder sozialwissen-schaftlichen Untersuchungen zum Zusammenhang zwi-schen politisch-extremistischer Sozialisation und späterenKarrieren in dem ursprünglich verachteten demokrati-schen System. Ersatzweise kann man sich einzelne Biogra-fien vornehmen. Das ist gewiss unterhaltsam, aber wenigaufschlussreich, weil es keinen Schlüssel für systemati-sche Aussagen liefert. Auch ist es nicht ganz risikolos:Nicht jeder frühere Aktivist hat die gleiche Contenancebei der Diskussion um seine Vergangenheit wie Joschka Fi-scher. Verbreitet herrscht Amnesie. Offensiver ist ein Ko-kettieren, indem man sich zu seiner Vergangenheit„bekennt“ – das schließt nur in seltenen Fällen eine Ent-schuldigung für das Angerichtete ein.12 Unangenehmersind jene Zeitgenossen, die gegen die Diskussion über ihreVergangenheit die bürgerliche Justiz anrufen. Man findet

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sie mit steigender Häufigkeit, je näher man dem orthodox-kommunistischen Segment der 68er kommt. Schließlichist für die Freunde (und manchmal nachrichtendienst-lichen Mittäter) der SED-Diktatur die Existenz von Mei-nungsfreiheit ein „Systemfehler“. Eine merkwürdige Sym-biose stellt sich dann ein, wenn sie gelegentlich inbestimmten Presserechtskammern auf jene 68er-Richtertreffen, die das Gleiche von diesem Grundrecht halten:nämlich nichts.

Eine Schilderung der Biografien und Karrieren von 68ernblieb zumeist ihren politischen Gegnern vorbehalten; dieAkteure zogen es in der Regel vor zu schweigen. Das „Ou-ting“ durch die Gegner war von unterschiedlichen Motivenbestimmt, manchmal galt es – von ganz links – der „Entlar-vung“ und moralischen Vernichtung von Verrätern und„Renegaten“. Auch Kritiker aus dem bürgerlich-demokrati-schen Lager neigen indessen dazu, Voraussetzungen, Um-fang und Ablauf von Lernprozessen im Leben von 68ern füreher nachrangig zu halten.13 Deshalb wird hier ein andererWeg beschritten. Er will klären, was die relevanten „Gene-rationen“ der 68er und der K-Grüppler gemeinsam habenund was sie unterscheidet. Aus den Spezifika der politischenPrimärsozialisation erwachsen durchaus nachvollziehbarähnliche bzw. grundlegend differierende Muster, in deneneine Resozialisierung abgelaufen ist – oder eben nicht.

Beginnen wir mit den gemeinsamen politisch-ideologi-schen Sozialisationsfaktoren. Die politischen Konzeptio-nen der 68er bestanden teils in Utopien, teils in absurdenVerklärungen existenter sozialrevolutionärer Gewaltsyste-me. Unter diesen Voraussetzungen äußerten sie sich vor-wiegend als Kritik an der bestehenden Gesellschaftsord-nung. Kritik als „Widerlegung“ der „falschen“ Realitätkommt dabei zumeist ohne den Nachweis funktionsfähi-ger Alternativen aus. Eine Vielzahl von „Antis“ steht daherzumeist im Vordergrund linker Gesellschaftsentwürfe.14

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Antikapitalismus und Ablehnung auf persönlicherHandlungsautonomie und Freiheit wirtschaftlicher Betäti-gung beruhender westlicher Gesellschaften bildet naturge-mäß den Kern einer Bewegung, die sich dezidiert als neo-marxistisch betrachtet. Als Chiffre für die verhassteangeblich repressive, entfremdende, manipulative, die ei-gene Bevölkerung und die Dritte Welt ausbeutende „kapi-talistische“ Ordnung standen die USA, wie der Slogan„USA – SA – SS“ plakativ ausdrückte. Welche Wirtschafts-modelle auch immer als Alternative angeboten wurden,alle waren kollektivistisch bestimmt, mehr oder wenigerzentralistisch gesteuert, ob es sich nun um unklare Vor-stellungen angeblich selbstbestimmter Kommunen, denrealen Sozialismus oder den „großen Sprung“ in MaosWirtschaftskollektivismus der „blauen Ameisen“ handel-te. In allen spielen lenkende und leitende Strukturen, dieselber nichts produzieren, eine wichtige Rolle. Das hatteFolgen für das Selbstverständnis der Protestgeneration: Siewar absolut staatsfixiert, dachte nie in Kategorien von Effi-zienz, Produktivität, Konkurrenz und Wettbewerb, son-dern stets in solchen von Administration, Bürokratie, Ver-teilung und Versorgung.15

Antiparlamentarismus knüpfte notwendig an Antikapi-talismus an und trat in den 68er-Generationen in unter-schiedlichen Formen auf. Die Sehnsucht nach einer sozialhomogenisierten Gesellschaft ließ den mühsamen, aufAusgleich und Kompromiss pluraler Interessen zielendenParlamentarismus als bloße Spiegelung marktwirtschaftli-cher, also kapitalistischer Ordnung verächtlich erscheinen.Das Gegenmodell kam bei den Antiautoritären anarcho-kommunardisch daher, dann bisweilen rätedemokratisch,wofür mit hohem Abstraktionsniveau das „SozialistischeBüro“ (SB) stand, dann wieder als offene Diktatur des Pro-letariats bei den K-Gruppen, oder semantisch bemänteltbei der DKP als „Macht der Arbeiterklasse“. Hart entlang

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der Trennlinie zur DKP balancierte das Juso-Segment mitseinen Vorstellungen von „antimonopolistischer Demo-kratie“, die allerdings anders als bei den orthodoxen Kom-munisten nicht als Übergangsform zur Errichtung einerDiktatur des realen Sozialismus verstanden wurde.

Antifaschismus trug auch in der 68er-Generation ein Ja-nusgesicht. Er konnte authentisch und moralisch fundiertsein, wenn er nach Ursachen für den Nationalsozialismusfragte, um eine Wiederholung unmöglich zu machen. Ande-rerseits war er in seiner kommunistischen Version lediglichzynisches Legitimationsmuster für stalinistische Diktatu-ren. Zudem konnten in beiden Varianten Überschneidungenvorkommen: Selbst authentisch gemeinter Antifaschismusblamierte sich, wenn er zu politischem Klamauk verkam.Dazu musste er nicht einmal als bewusste Entschuldungs-strategie eines „nachholenden Antifaschismus“ gemeintsein, wie Götz Aly den Antifaschismus der Studenten-revolte überscharf pointiert dargestellt hat. Und anderer-seits: Auch unter den von der DKP rekrutierten 68ernkonnte Antifaschismus authentisch sein, wenn jemand bei-spielsweise aus einer Familie rassisch oder politisch Verfolg-ter stammte.

Die im Antifaschismus als Ideologem der 68er angeleg-ten Ambivalenzen treten besonders plastisch bei jener Ohr-feige hervor, die Beate Klarsfeld (Jg. 1939) dem damaligenBundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 7. November1968 während eines CDU-Parteitages versetzte. Die sorg-fältig vorbereitete, symbolisch hoch aufgeladene Attacketraf den Falschen: Kiesinger war trotz seiner früheren Mit-gliedschaft in der NSDAP kein „Hardliner“ oder „Rech-ter“, sondern ein Politiker, der mit dem studentischen Pro-test geradezu skrupulös umging.16 Umgekehrt hatte dieTäterin mit Serge Klarsfeld nicht nur den Sohn einer ras-sisch verfolgten Familie geheiratet. Der Ehemann warauch Mitglied jener französischen KP, die zwischen 1940

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und Mai 1941 auf sowjetische Weisung intensiv mit denNazis kollaboriert und sich erst danach zur „Résistance“stilisiert hatte. In Deutschland wurde die „Attentäterin“,anwaltlich vertreten durch den Kommunisten und heuti-gen Nazi und notorischen Antisemiten Horst Mahler, imSchnellverfahren einerseits mit einer Haftstrafe belegt, dienicht nur nach heutigen Rechtsmaßstäben ziemlich unver-hältnismäßig erscheint. Sie zeigte sich andererseits agitato-risch versiert, ließ sich im Neuen Deutschland als Opferpräsentieren und webte ihre Aktion später literarisch inden Kitsch sowjetkommunistischer Geschichtsklitterungein. Schließlich fügte die deutsch-deutsche Situation wei-tere Irritationen hinzu: Das Ministerium für Staatssicher-heit hatte die Klarsfelds bei ihren Aufenthalten in Berlinbetreut und mit Material gegen Kiesinger gefüttert.17 UndSED-Politbüro-Mitglied Albert Norden, zuständig in seinerPartei für die Arbeit gegen die Bundesrepublik, war von derOhrfeige derart entzückt, dass er unverzüglich veranlasste,der Klarsfeld 2.000 DM zwecks „Unterstützung“ für „wei-tere Initiativen“ zukommen zu lassen, allerdings „aus Si-cherheitsgründen offiziell als Honorar“ für einen Aufsatzin einer DDR-Zeitschrift.18

Antifaschismus verband sich für die deutschen 68er inder Regel mit Antinationalismus. Wenn eine nationalisti-sche Bewegung in Deutschland zu Auschwitz geführt hat-te, durfte man als Linker nur antinationalistisch sein. InTeilen der K-Gruppen-Generation, so beim KB, dann in Tei-len des „fundamentalistischen“ Flügels der Grünen, riefdies ausgewachsene Wahnvorstellungen hervor: In denDeutschen sei etwas genetisch angelegt, das notwendig zuKrieg und Völkermord tendiere.19 Die 68er konnten sichauch kaum mit rationalen Formen der Distanz zum Natio-nalismus begnügen, also etwa mit dem gesellschaftlichenKonsens gegen Rechtsextremismus und mit einem Be-wusstsein der Verantwortung vor der Geschichte. Ihre anti-

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parlamentarische und antikapitalistische Wahrnehmungmachte es ihnen (zunächst) unmöglich, in der gelungenenWestbindung und im Verfassungspatriotismus positive An-knüpfungspunkte zu finden.

Die dialektische Kehrseite jenes habituellen Antinatio-nalismus mit seinem Verständnis der deutschen Teilungals Strafe für Auschwitz aber bestand darin, die SED-Dikta-tur aus der politischen Wahrnehmung auszuklammern.„Sie hatten“, schrieb Stefan Wolle aus der Sicht eines1968 in der DDR Studierenden über die SDS-Aktivisten,„das Elend der ganzen Welt im Blick und übersahen dasUnrecht vor der eigenen Haustür. Gegen die Unterdrü-ckung der Freiheit in der DDR und die Mauer protestiertensie nicht, obwohl ein Teil der Protestierer, wie RudiDutschke und Bernd Rabehl, aus dem Osten stammte.“20

Dabei waren schon 1968 die SED und der „stalinistischeFlügel“ des SDS, wie die orthodoxen Parteikader im Ver-band herabsetzend genannt wurden, behilflich, nachdemsie auf sowjetische Weisung ihre gesamtdeutschen Optio-nen fallengelassen hatten. Aber das Ausmaß der Ausblen-dung einer unmittelbar benachbarten Diktatur überraschtdoch: Als Dutschke und seine Freunde 1967 an Modellenfür eine Räterepublik in West-Berlin bastelten, hielten sieden Umstand der vollständigen Einschließung der Stadtdurch sowjetische Gardedivisionen nicht einmal für er-wähnenswert; die reale Teilung Europas war in ihren Uto-pien schlicht ein weißer Fleck geblieben.

Erst Teile der späteren K-Gruppen-Generation entdeck-ten, vermittelt über die „Theorie der drei Welten“21 des„großen Vorsitzenden“ Mao, auch den realen Sozialismuswieder: Nunmehr negativ als „Sozialimperialismus“, der –soweit immerhin korrekt – in Gestalt der Sowjets und ihrerLakaien die ostdeutsche Arbeiterklasse unterdrücke. DieseSichtweise – im Wesentlichen nur von der KPD/AO undvom KBW vertreten – war in der Linken nie hegemonie-

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fähig, nicht zuletzt weil die DKP und ihre Hilfstruppen allezur Verfügung stehenden Mittel zu ihrer Bekämpfung ein-setzten.

Im Großen und Ganzen behaupteten sie dabei nicht nurdie Lufthoheit, es gelang ihnen auch, Vorbehalte gegen dieSED-Diktatur immer stärker abzubauen. Jener „diskreteCharme“ der DDR war nicht zuletzt das Werk sorgfältigernachrichtendienstlicher Arbeit des Ministeriums für Staats-sicherheit unter geneigten oder direkt als Agenten geworbe-nen Journalisten und Meinungsbildnern aus der 68er-Gene-ration.22

Das Segment der „Äquidistanz“-Politiker, die gleichenAbstand zu den „Supermächten“ USA und UdSSR empfah-len, wurde nicht einmal in den Grünen mehrheitsfähig. Pa-radox: Petra Kelly kämpfte für beidseitige Abrüstung, fürMenschenrechte und die Friedensbewegung in der DDR –an der Seite von Gert Bastian, der vom MfS und der Gruppe„Generäle für den Frieden“ an der langen Leine geführtwurde.

Von hier war der Weg kurz zum Antiimperialismus. Erwäre denkbar gewesen als „Antihegemonismus“ und Äqui-distanzdenken, stellte aber genau das zunächst nicht dar.Vielmehr gefiel sich linker Antiimperialismus der 68er alsmeist romantische, manchmal auch handfeste Verehrungfür „Befreiungsbewegungen“ und revolutionäre Regime(Aktion „Eine Mark für eine Kugel“ der KBW-AbspaltungBund Westdeutscher Kommunisten oder „Waffen für El Sal-vador“ des KB). Dabei war die Begeisterung für die simbab-wische ZANU noch eine harmlose Variante – die Wandlungdes „Freiheitskämpfers“ Mugabe zum Wahlbetrüger, Bank-rotteur und Totschläger konnte man schließlich nicht ohneweiteres voraussehen. Frappierender waren – neben der ge-wohnheitsmäßigen Parteinahme für realsozialistische Dik-taturen und Terroristen durch die DKP und ihr Umfeld – dieBejubelungen der terroristischen Massenverbrechen Maos

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und Pol Pots. Dies waren vom sozialethischen Unwert-gehalt her richtig kriminelle Akte, denn die Fakten warenbei einiger intellektueller Anstrengung erkennbar und dieTäter, besonders die leitenden Kader der Revolutions-possen – nicht mehr im Alter jugendlicher Unschuld: Chris-tian Semler (Jg.1938) betreibt genau da Geschichtsklitte-rung, wenn er einen „deutlichen Trennungsstrich“zwischen der „radikalen Linken“ (die im Übrigen eine mili-tant-extremistische war) und dem Terrorismus zu ziehenbemüht ist. Auch wenn Semler es bestreitet: Es ist durchauslegitim, den „antiimperialistischen Kampf der Linken inden 1960er und 1970er Jahren in die Nähe terroristischerGewalt“23 zu rücken – zumindest für die 1970er Jahre, in de-nen die Studentenrevolte aus dem Stand ihrer „antiautoritä-ren Unschuld“ herausgetreten war. Dass es zwischen demAufbau eigener terroristischer Strukturen und der Unter-stützung ausländischer Terroristen keinen so großen Unter-schied geben kann, wie uns Semler glauben machen will,belegt seit Beginn dieses Jahrtausends die Erfahrung mitdem islamistischen Terrorismus.

„Original-68er“ und K-Gruppen-Epigonen:die Unterschiede

Die Gemeinsamkeiten der beiden zusammengehörendenGenerationen sollten nicht die gravierenden Unterschiedeverdecken. Es ist allgemein herrschende Ansicht, dasssich bei der Entmischung der Studentenrevolte geradezugravierende Brüche in der politischen und ideologischenAusrichtung, im Organisationsverständnis und im Akti-onsstil vollzogen haben.

Das beginnt mit dem Anspruchshorizont: Der SDSwurde aufgegeben, weil ihn als studentische Organisationniemand mehr wollte. Die längst dissonanten Akteure hat-

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ten Größeres im Sinn: den Aufbau proletarischer Parteienmit dem Auftrag „Weltrevolution“. In der Auflösungs-erklärung vom März 1970, nicht zuletzt vollstreckt durchden Funktionär Udo Knapp, später Funktionär der Grünenund dann für die SPD stellvertretender Landrat auf Rügen,hieß es: „Der politische Kampf der Gruppen, die aus der an-ti-autoritären Revolte hervorgegangen sind, wird heutezentral bestimmt von den Perspektiven des Klassenkamp-fes und der Organisation des Proletariats.“24

Die Brüche betrafen die konkrete Ausprägung einigerder bereits aufgezählten „Antis“:

Natürlich blieb es beim Antikapitalismus. Aber nun-mehr war Schluss mit den unklaren, oft existenzialistischverbrämten antikapitalistischen Entfremdungs- und Mani-pulationstheorien aus der Hexenküche der „FrankfurterSchule“, die nicht selten ins Psychologisierende abdrifte-ten und damit dem Lehrsatz widersprachen, dass Marxis-mus eine „materialistische Wissenschaft“ sei. Jetzt wur-den die Klassiker geschult: Nicht nur die vierzig blauenBände Marx/Engels-Werke, sondern vor allem die genausozahlreichen der Lenin-Werke rückten in die Bücherregale.Oft flankiert von den dreizehn Bänden der Werke Stalins,aber vor allem von den in der alten Bundesrepublik in ho-hen Auflagen verkauften Werke Mao Tse-tungs. Die ge-messen an der Stringenz Stalins einigermaßen wirren„Mao Tse-tung-Ideen“ wurden zu Sprachhülsen von erheb-licher Bestandskraft eingedampft. Noch in den 1980er Jah-ren forderte die KPD/AO-Kaderin Antje Vollmer im inner-parteilichen Machtkampf der Grünen „Bombardiert dasHauptquartier!“ und das „Neue Denken“ des GenossenMao fand später über karrierebeflissene Jünger seinen Wegin das modische Geschwätz von Consulting-Firmen.25 DieKapitalismuskritik wurde dogmatisiert, ein mental tiefverankerter, nicht mehr rational hinterfragter Bestandteildes Lebensgefühls.

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Der Antifaschismus verlor insbesondere in seiner Rolleals sowjetischer Geschichtsmythos seinen Stellenwert beijenen Organisationen, die sich kompromisslos dem VorbildVolksrepublik China zuwandten. Für die Maoisten spielteer mangels mit dem europäischen Kontext vergleichbarerhistorischer Erfahrungen keine nennenswerte Rolle unddie deutschen Anhänger des „großen Steuermanns“ über-nahmen wie üblich die „Linie“.

Der Antiimperialismus differenzierte sich je nach mao-istischer oder orthodox-kommunistischer Ausrichtung biszur gegenseitigen Feindseligkeit aus. Für die maoistischausgerichteten K-Gruppen bedeutete dies: Aufgrund ihrergegen den „sowjetischen Sozialimperialismus“ gerichtetenPolitik tauchte in ihrem Wahrnehmungshorizont Ost-europa wieder auf. Zuerst 1980, in der polnischen Krise, ge-riet damit auch die sowjetische imperiale Repression inden Blick. Der „Parteiauftrag“ gegen den „Sozialimperialis-mus“ bewirkte erste Kontakte zu oppositionellen Gruppenim sowjetischen Machtbereich, transportierte Sichtweisenund Erfahrungen. Und irgendwann war aus dem Antiimpe-rialismus die Wahrnehmung einer massiven Verletzungvon Menschenrechten entstanden. Erfahrungen mit den„Agenturen des anderen Blocks in der Friedensbewegung“(Bahro), der DKP, halfen bei Erkenntnisprozessen: DKP,ihre Hilfsorganisationen, ihr Kollaborationsumfeld ausdem linken demokratischen Spektrum, auch das Ministe-rium für Staatssicherheit, hatten verschiedene Unterneh-men der Linken, die bei der Kritik an Menschenrechtsver-letzungen auch realsozialistische nicht ausnahmen, schonin den 1970er Jahren massiv sabotiert. Von dort war esnicht mehr sehr weit zu der Erkenntnis, dass die SED-Dik-tatur ein Homunkulus des sowjetischen Systems war unddamit erschien die „deutsche Frage“, bisher als „revolutio-näre Vereinigung der deutschen Arbeiterklasse“ behandelt,in erheblich anderem Profil auf der Agenda.

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Neben diesen Wandlungen zentraler Ideologeme inner-halb der „Neuen Linken“ gab es auch ganz entscheidendeBrüche, die direkt die politische Praxis, insbesondere Akti-onsstil und Organisationsverständnis, betrafen.

Die „Original-68er“ waren im wörtlichen Sinne anti-autoritär. Ihr Aktionsstil umfasste spezifische Mittel, u. a.das Happening, die Provokation, das Sit-in (als Blockade,nicht als aktiv gewaltsame Aktion), die Störung normalerund alltäglicher Abläufe durch Mittel der Überzeichnungund Lächerlichmachung. Demonstrationen waren eherkeine vorher angemeldeten und mit der Polizei bis zur Ver-kehrsregelung abgesprochenen „Latsch-Demos“26, aberauch nicht als Straßenschlachten angelegt. Eher zielten sie,wie die berühmte „Spaziergang-Demonstration“ vom De-zember 1967, bei der sich auf dem Kurfürstendamm SDS-Gruppen zu kleinen Manifestationen zusammenrotteten,aber ebenso schnell wieder zerstreuten, wenn Polizeikräfteim Anmarsch waren, darauf, die Hilflosigkeit der Staats-macht gegenüber provokanten Aktionsformen zu demons-trieren.

Dies alles wich mit der K-Gruppen-Phase einem ande-ren Stil: Das Referenzmodell der zumeist studentischenAkteure waren nun die revolutionären Kämpfe der Zeitzwischen den beiden Weltkriegen. Das Leitbild bildete die„Levée en masse“ des 19./20. Jahrhunderts, die marschie-renden Kolonnen der Massenheere des Ersten Weltkrieges,der Kampfverbände der Zwischenkriegszeit, streng diszip-liniert, mit eingeübten Riten, Uniformen, Kampfsym-bolen. Stets standen sie bereit, die Straßenkampf-Roman-tik des Hamburger Aufstandes der Kommunisten 1923und der Schlägereien zwischen Rotem Frontkämpferbundund SA neu zu inszenieren. Faschistische Ästhetik warbei diesen historischen Zitaten subkutan immer mit imBild. Ganz undenkbar, dass sich hier Fritz Teufel oder Die-ter Kunzelmann eingereiht hätten. Und doch waren die

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„Bataillonskommandeure“ der ML-“Revolutionsarmeen“nicht selten Genossen aus der „antiautoritären“ Phase, dienach ihrer Mutation zu kleinen Thälmanns jetzt als Partei-führer ihre Truppen kommandierten. In den 1970er Jahrennahm die Ästhetik der offenen Feldschlacht zwischen Poli-zei und K-Gruppen geradezu surreale Formen an: In ge-schlossenen, einheitlichen Formationen rückten K-Grüpp-ler in den großen „Kämpfen“ gegen die norddeutschenBaugelände für Kernkraftwerke vor, bis die Staatsmachtvon der ihr vorbehaltenen Luftüberlegenheit Gebrauchmachte und mobile Eingreiftrupps mit Hubschraubern ein-setzte.27 Und Jahre später wusste mancher distinguierteMinisterialrat mit einer Mischung aus Abscheu und Be-wunderung zu berichten, dass der neue, aus einer öko-pazi-fistischen Partei stammende Minister sein Haus „wie einePanzerbrigade“ führe. Kein wirklicher Zufall, wenn dieKriegserfahrung des Herrn Minister zum Beispiel vomKommando über eine Hundertschaft behelmter und ver-mummter K-Grüppler während der Schlacht um das Bau-gelände des KKW Grohnde (März 1977) stammte.

Zu den Brüchen zwischen den „Original-68ern“ und ih-ren Epigonen gehörte ein verändertes Organisationsver-ständnis. Die „Original-68er“ hielten nichts von Politikin Gremien und Institutionen. Sie hatten mit dem Verbanddeutscher Studentenschaften (VDS) sogar eine brauchbareLobby-Organisation bewusst heruntergewirtschaftet undaufgegeben. Ihr anarcho-libertäres Selbstverständnis ver-schwand für fast ein Jahrzehnt von der Bühne des Links-extremismus – von ganz kleinen Refugien wie der Frank-furter Sponti-Szene abgesehen. Stattdessen hielt der„demokratische Zentralismus“ Einzug. Organisation er-setzte alle Formen von Spontaneität und Zufälligkeit.Kommunisten, auch selbsternannte Marxisten-Leninisten,sind Organisationsfetischisten, sie wissen um LeninsWort, dass die Arbeiterklasse gegen den übermächtigen

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Klassenfeind nichts einzusetzen habe außer ihrer Organisa-tion.28 Sie denken in Hierarchien und formalisierten Ab-läufen. Nichts läuft außerhalb, nichts ohne die Organisati-on: Wo ein Kommunist ist, da ist die Partei. Die Führungentscheidet, die Entscheidungen sind verbindlich, unbe-dingt durchzuführen, das Auftreten nach außen ist einheit-lich. Für die Beseitigung eventuell abweichender Meinun-gen gibt es die „unverzichtbaren Organisationsprinzipien“des „Demozent“, danach „Kritik und Selbstkritik“, dasParteiverfahren, den Ausschluss und notfalls die sozialeÄchtung und Stigmatisierung als „Feind“ – die StalinscheGenickschusspraxis stand ja nicht mehr zur Verfügung.

Als diese Organisationsform in der Formierungsphaseder Grünen auf die basisdemokratisch-humanistischenund generell offen eingestellten Umweltschützer, Men-schenrechtler und Idealisten traf, erwies sie sich macht-politisch als absolut überlegen. Selbst aus einer Minderhei-tenposition heraus schafften es die K-Grüppler mühelos alsorganisierte Kollektive, die Vielzahl ihrer extrem indivi-dualistisch eingestellten und wenig koordiniert handeln-den Gegner zu marginalisieren. Die „Basisdemokratrie“der Grünen wurde zum idealen Manöverfeld der organisier-ten Zentralisten – bis zum völligen Sieg: „Meine Basis istgut erzogen; sie tut, was wir für sie entschieden haben“, er-klärte dem Autor Anfang der 1980er Jahre ungeniert zusehr vorgerückter Stunde ein einflussreicher Funktionärder Alternativen Liste Berlin (AL Berlin) in einer BonnerNachtkneipe. Erfahrungen in „Gremienpolitik“, präziseBeherrschung von Geschäftsordnungsfragen, das Aussitzenvon widerständigen Vorstellungen, auch die schiere Fähig-keit, länger wach zu bleiben bei den endlosen Parteitagen;später – in Amt und Würden – das verständige Studium vonVerwaltungs- und Dienstvorschriften, sicherten denK-Gruppen-Protagonisten mit ihrer Resozialisierung in diePartei der Grünen beispiellose Karrieren.

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Wirkungen

Betrachtet man die Berufs- und Karrierewege der beiden Va-rianten der 68er, fallen Unterschiede ins Auge. Sie beste-hen nicht nur darin, dass die „Ursprungs-68er“ älter sindund nur zum Teil als Leitungskader bei den K-Gruppen-Ge-nerationisten wieder auftauchen.

Exponierte „Original-68er“ findet man in der Politikeher selten. Offenbar hat sich eine gewisse Reserviertheitgegenüber institutionalisierter Politik erhalten. Vor allemaber war dieses personelle Segment beruflich längst satu-riert. Viele waren in der Keimzelle ihres Aufbegehrens,den Universitäten, geblieben. Deren kräftiger Ausbau inden frühen 1970er Jahren hatte zahlreiche hoch dotierteStellen für Lebenszeitbeamte geschaffen, in vielen Fach-bereichen ergab sich auch die Möglichkeit, über das Verfas-sungsprinzip der Freiheit von Wissenschaft und Forschungdie eigenen ideologischen Hobbys zu pflegen: „Planstellengab es plötzlich im Überfluss. An vielen neu gegründetenUniversitäten erlangte man Assistenzprofessuren ohnePromotion, Leute wurden zu Lehrstuhlinhabern, die nochnie ein Buch oder einen bedeutenden Aufsatz verfasst hat-ten. Man sprach von Discount-Professoren.“29 Auch unterihnen gab es freilich manchen fähigen Kopf. Aber ins-gesamt bekam den Universitäten der massenhafte Zulaufwissenschaftlicher Dünnbrettbohrer nicht gut. Jahrzehntesaßen sie auf ihren H4-Lebenszeitstellen, oft gewohnt,Wissenschaft durch verunklarendes Geschwätz im Stiledes marxistischen Obskurantisten Herbert Marcuse zu er-setzen. Ihre letzten Exemplare veranstalten bis heute,kurz vor der Emeritierung, praktische Seminare, in denenman lernen kann, wie man Wirtschafts- und Politikgipfelpraktisch stört oder sprengt. Die weitaus meisten von ih-nen hielten es mit dem Grundsatz, dass einmal für richtigerkannte Theorie weder geändert werden müsse, noch ei-

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nen Bezug zur Realität benötigt: „Die Lehren von Marxund Engels sind allmächtig, weil sie wahr sind.“ (Lenin).Und beim Kampf um die geistige Hegemonie hielten siePluralismus prinzipiell für überflüssig: Ganze Fakultäten,bevorzugt sozialwissenschaftlicher oder philologischerRichtung, verwandelten sich jahrelang in Kampffelder, aufdenen mithilfe der Drittelparität verschiedene Fraktionenvon Linksextremisten um die Vormacht kämpften. In ein-zelnen Fällen entstanden, wo die Organisationskraft aus-reichte, wie beispielsweise im Falle der DKP in Marburg,nahezu aseptisch reine Parteihochschulen, in deren Beru-fungsinstanzen sich die 68er-Generation reproduzierte.

Die zahlenmäßig weit größere K-Gruppen-Generationfand auf diesem Feld nicht selten schon eine Politik der be-setzten Stühle vor. Sie teilte mit den „Original-68ern“ dieÜberzeugung, dass sie nach Universitätsabschluss dasselbstverständliche Anrecht auf eine Lebenszeitstelle im öf-fentlichen Dienst haben müsse. Nur war klar, dass diesesich im Verwaltungsdienst, in der Justiz und vor allem imSchulwesen befinden würde. Weit verbreitete Staatsfixie-rung und Versorgungsmentalität erklären den bemerkens-werten Erfolg der von der DKP entfesselten „Berufsver-bote“-Kampagne. 1972 hatten die Ministerpräsidenten derLänder sich mit dem so genannten „Extremistenbeschluss“erlaubt, darauf hinzuweisen, dass die beamtenrechtlicheTreuepflicht auch Verfassungstreue einschließe, mithin deröffentliche Dienst nicht als Versorgungsanstalt für Berufs-revolutionäre gedacht sei. Weit über den Kreis der tatsäch-lich Betroffenen hinaus wurde das als „Menschenrechtsver-letzung“ wahrgenommen, und wer auch nur den Verdachthatte, drei Monate später als zum frühestmöglichen Zeit-punkt auf Lebenszeit verbeamtet worden zu sein, machte„politische Repression“ geltend. Einem erheblichen Teilauch der K-Gruppen-Generation war die Vorstellung fremdgeblieben, dass es neben steuerfinanzierten Beamtenstellen

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noch andere Formen der Einkommens- und Wertschöpfunggeben könnte.

Als politisches Betätigungsfeld boten sich Ende der1970er Jahre die großen neuen sozialen Protestbewegungenan: Anti-AKW, Frauen, Ökologie und Frieden. Dass dieseThemen keine originären Kampffelder maoistischer Revo-lutionäre waren, störte nicht, weil man dort „die Massen“erreichen konnte. Das politische Substrat der Protestkon-junkturen wurden die Grünen, die wohl erste Neugründungim Parteiensystem der Bundesrepublik mit der Aussicht, dieFünf-Prozent-Klausel zu überwinden. Die Claims warenschnell abgesteckt: Die KPD/AO übernahm die AlternativeListe Berlin, die KB die Grün-Alternative Liste in Hamburg,der KBW teilte sich mit den „Putzgruppen“ von Joschka Fi-scher und Daniel Cohn-Bendit die hessischen Grünen. Biszur Klärung der Machtverhältnisse und der strategischenFragen gab es bekanntlich jahrelange Flügelkämpfe, erst ge-gen die bürgerlichen Ökologen in der Partei, dann unter-einander, manchmal mit schiefer Schlachtordnung. Aberdie Beschäftigung mit den Themen der neuen sozialen Be-wegungen und die Tätigkeit in parlamentarischen Struktu-ren nach demokratischen Regeln blieb nicht ohne Folgen:An der Revolution hielten nicht alle fest.

Die Bedingungen für eine politische Resozialisierungder K-Gruppen-Generation auf diesem Wege waren indes-sen recht unterschiedlich. Die Juso-Antirevisionisten undStamokaps wurden offenbar nur durch den Zusammen-bruch des SED-Regimes davor bewahrt, sich mit denStaatssozialisten der SED restlos gemein zu machen.Selbstkritisch räumte einer ihrer Akteure ein: „Offizielle,Jugendbegegnungen‘ zwischen dem ,Zentralrat der FDJ‘und dem Bundesvorstand der Jusos, Arbeitsgespräche mitDDR-Staatsfunktionären und wiederholte Reisen in dieLänder des ,realen Sozialismus‘ gehörten schon bald zumpolitischen Routinealltag dieser Politgeneration. … Wer

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sich allzu lange in dieser ,volkseigenen‘ Luxuswelt fürwichtige Staats- und Parteigäste im ,realen Sozialismus‘aufgehalten hatte, … lief Gefahr, die traurige Realitätschließlich für unreal zu halten und wurde 1989/90 dafürvom realen Leben bestraft.“30 Anders die ebenfalls vielfachaus der K-Gruppen-Generation stammenden DKP-„Er-neuerer“: Sie waren, beeindruckt von den Reformen Gor-batschows und angeekelt von der (aus finanziellen und per-sonellen Gründen) unmöglichen Wandlungsfähigkeit derDKP schon 1988/89 ausgetreten oder aus der Partei gewor-fen worden. Manche führte der Weg zu den Grünen. Wernur die halbe Strecke schaffte, fand in der oberflächlichentstalinisierten PDS eine neue Heimat – und wieder eineOption für eine sozialistische „Systemtransformation“.

Ähnlich erging es den Kadern des KB. Er hatte sich zwei-mal gespalten: 1979 über die Frage, wie man bei den Grü-nen einsteigen sollte, dann nochmals 1990 über die Frageeines Beitritts zur PDS oder einer ideologisch aseptischen„antideutschen“ Ausrichtung. Vielfach wanderten auchKBler von den Grünen in die PDS weiter, z. B. JürgenReents, als hauptamtlicher Kader einer der wichtigerenIdeologen seiner Gruppe, 1983 bis 1985 MdB der Grünen,1991 Pressesprecher der PDS-Bundestagsfraktion undheute Chefredakteur des Neuen Deutschland.31 Ein ande-res Beispiel ist Ulla Jelpke (Jg. 1951), einst Mitglied des Lei-tenden Gremiums des KB, dann 1982 bis 1989 Mitglied derHamburger Bürgerschaft für den dortigen Landesverbandder Grünen. Seit 1990 und wieder seit 2005 MdB der PDS.Die diätenfreie Zeit 2003 bis 2005 verbrachte sie als In-landsredakteurin der traditionskommunistischen JungenWelt. Die innenpolitische Sprecherin der heutigen „Lin-ken“ wirbt mit Stalinscher Beharrlichkeit für Solidaritätmit terroristischen „Befreiungsbewegungen“ und für „anti-faschistische“ Bündnisse ihrer Partei mit den Autonomenund der DKP. Tendenziell scheint die Aussage gerechtfer-

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tigt, dass Angehörige des KB vergleichsweise schlechtereVoraussetzungen für eine demokratische Resozialisierungaufweisen.

Das unterscheidet sie von den früh gescheitertenK-Grüpplern der KPD/AO (aufgelöst 1980) und den „Nach-züglern“ im erst 1973 gegründeten KBW. Beide hatten dieAbsurditäten einer halluzinierten finalen Krise des Kapita-lismus, von drohendem Faschismus und finalem Kampfdes Proletariats in der Weltrevolution auf die Spitzegetrieben – und sie damit dialektisch in Ernüchterung um-schlagen lassen. Die Teilhabe am Formierungsprozess derGrünen glich so auch einer Rückkehr auf den Boden derRealität. Die ursprünglich maoistisch inspirierte Distanzzum Sowjetkommunismus – beim KB war da eher einfreundliches Fremdheitsgefühl vorherrschend – brachte siein Kontakt zu den Bürgerrechtsbewegungen Osteuropas.Für viele wurde dies eine katalytische Erfahrung, die dasTor für den Ausstieg aus totalitär-linksextremen Zusam-menhängen öffnete: In der Polen-Solidarität standen dieKBWler plötzlich in „einer Solidaritätsbewegung, in dersich Ex-Maoisten, Noch-Immer-Trotzkisten, Querköpfewie Heinz Brandt, einige SB-Leute sowie ein paar protes-tantische und katholische Dissidenten trafen“ – das pro-duktive Aufbrechen monolithischer Weltbilder war vor-gezeichnet.32

Ein organisierter „Langer Marsch durch die Institutio-nen“, gedacht als „lang anhaltender Volkskrieg“ gegen dieInstitutionen der bürgerlichen Demokratie, hat daher nichtstattgefunden. Ganz allgemein ist die Masse selbst derkommunistisch sozialisierten K-Gruppen-Generation derIntegrationskraft demokratischer Werte und Verfahren er-legen. Ein paar, die wohl strukturell schwierigere Aus-gangsvoraussetzungen zu bewältigen hatten, kamen in derDemokratie nicht an. Das ist normal, weil Resozialisie-rungsprozesse primär individueller Natur sind.

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Anders verhält es sich mit der Wahrnehmung des 68er-Er-bes. Sie ist in der Masse apologetisch bis geschichtsklitternd.Die zweifellos totalitären Absichten der seinerzeitigen Pro-tagonisten verdienen ebenso eine kritische Aufarbeitungwie die SED-Diktatur. Das kann schmerzhaft sein, zumaldie ehemaligen Aktivisten lieber schweigen oder die Dingeim milden Licht historischer Verklärung belassen möchten.Aber nicht ausgeräumt ist die Gefahr, dass ein geschichts-klitterndes Bild von „1968“ von ganz anderer Seite für durch-sichtige Zwecke genutzt wird. Wo solche Spezialisten für po-litische Produktpiraterie angesiedelt sind, weiß man, seitsich die SED 1990 mit dem Etikett „demokratischer Sozialis-mus“ schmückte. Und tatsächlich gibt es von der absichts-vollen Benennung einer Studententruppe der Rentnerparteials „SDS“ bis zu einem Kongress „40 Jahre 1968 – Die letzteSchlacht gewinnen wir“ (2. bis 4. Mai 2008 in Berlin) kräftigeAktivitäten dieser Serientäter mit jahrzehntelanger Erfah-rung in politischer Manipulation und Geschichtsfälschung.Nicht zuletzt die geläuterten 68er sollten sich diese Verein-nahmung ihrer Biografien nicht gefallen lassen.

Anmerkungen1 Neuester Forschungsstand zu dem Unternehmen bei Chan,Jung / Halliday Jon: Mao. Das Leben eines Mannes. Das Schicksaleines Volkes. – München: 2005. – S. 175 ff.2 Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kul-turrevolution 1967–1977. – Köln: 2001. – S. 18.3 Dazu gibt es naturgemäß unterschiedliche Ansichten. ChristianSemler, einst SDS-Funktionär und dann Häuptling der maoisti-schen KPD/AO, will sie auf 1938 bis 1948 datieren, ein verständli-cher Wunsch, denn er selber ist Jahrgang 1938, gehörte also wieHorst Mahler (Jg. 1936) zu den ältesten Exemplaren „gereifter“ Stu-denten (Semler, Christian: 1968 im Westen – Was ging uns dieDDR an? In: APuZ 45/2003, S. 3). Gester, Jochen / Hajek, Willi:1968 – und was dann? – Bremen: 2002. – S. 412, legen die 68er aufdie Jahre 1943 bis 1951.

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4 Man sehe sich den letzten Führungskreis des SDS aus 21 Funktio-nären an (bei Fichter / Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS. –Berlin: 1977. – S. 120.), so findet man einen Verleger (K. D. Wolff),einen Rechtsanwalt, einen Gewerkschaftsfunktionär, aber sechsUniversitätsdozenten; mit politisch herausgehobenen Funktionen:drei DKPler, drei stalinistische K-Grüppler, einen Trotzkisten.5 Für die Entstehung der K-Gruppen nach wie vor am umfassends-ten: Langguth, Gerd: Protestbewegung. – Köln: 1983.; und zumneueren Forschungsstand: Kühn, Andreas: Stalins Enkel, MaosSöhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der70er Jahre. – Frankfurt; New York: 2005. Die wichtigsten K-Grup-pen waren erstens die maoistische Kommunistische ParteiDeutschlands / Aufbau-Organisation (KPD/AO), 1970 bis 1980, Po-tenzial: bis zu 1.000 Mitglieder, Führer: Christian Semler; zweitensdie stalinistisch-pro-albanische Kommunistische Partei Deutsch-lands / Marxisten-Leninisten (KPD/ML), gegründet 1968, im We-sentlichen erloschen 1986, Potenzial: bis zu 800 Mitglieder, Füh-rer: Ernst Aust; drittens der Kommunistische Bund (KB), 1971 bis1990, Potenzial: bis zu 2.800 Mitglieder, geführt von einem „Lei-tenden Gremium“; viertens der maoistische KommunistischeBund Westdeutschland (KBW), 1973 bis 1985, Potenzial: bis zu3.500 Mitglieder, Führer: Hans-Gerhart „Joscha“ Schmierer; fünf-tens die maoistisch-stalinistische „Marxistisch-Leninistische Par-tei Deutschlands“ (MLPD), gegründet 1972, Potenzial: bis zu 2.000Mitglieder, Führer: Stefan Engel. Kaum dazu rechnen möchte mansechstens die diskursiven Trotzkisten der deutschen Sektionenund Resonanzgruppen der „Quatrième Internationale / SecrétariatUnifié“, die es in den 1970er Jahren auf bis zu 600 Anhänger brach-ten und deren Kader in allen linken Formationen Spuren hinterlas-sen haben sowie siebtens das bis in die frühen 1960er Jahre zurück-reichende rätedemokratische und um Entwicklung linker Theoriebemühte Sozialistische Büro (SB).6 Koenen: Rotes Jahrzehnt. a.a.O., S. 18. Die von Koenen vor-geschlagene Zahl ist eher zu hoch, auch wenn man in Rechnungstellt, dass im linksextremistischen Personenpotenzial die DKP al-leine schon mit rund 40.000 zu Buche schlug.7 Verfassungsschutzbericht 1974, S. 45.8 Verfassungsschutzbericht 1974, S. 59.9 Schreiben des DKP-Vorsitzenden Herbert Mies an Erich Hone-cker vom 14.2.1974., SAPMO-BArch DY30/IVB2/2.028/55.

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10 Eine besonders problematische Konstellation, denn ihnen stan-den damit auch SPD-Karrieren offen.11 Den kulturellen Graben schildert ein Post-68er: „Unvergesslichdas Frühstück am 1. Mai 1975 in unserer Wohngemeinschaft: Alsdie Sponti-Fraktion in die Küche stürmte, um noch schnell einenKaffee zu trinken, bevor wir zur Mai-Demonstration aufbrachen,saßen dort unsere beiden Maoisten in ihren Konfirmationsanzügen,weißen Hemden und Krawatten. Wir kriegten uns vor Lachenkaum ein über ihren Aufzug. ,Heute ist der Festtag der Arbeiterklas-se’, erklärten sie zutiefst beleidigt und weigerten sich, zusammenmit uns in unseren schmuddeligen Lederjacken zur Demonstrationzu fahren.“ (Sontheimer, Michael: Rebellion ist gerechtfertigt. Be-richt eines ‚Post-68ers‘. In: APuZ 20/88, S. 28).12 Positive Gegenbeispiele: Gerd Koenen (ehemals KBW) (Anm. 2),Götz Aly (ehemals Rote Hilfe West-Berlin): Unser Kampf 1968 –ein irritierter Blick zurück. – Frankfurt am Main: 2008.; auch diezahlreichen Arbeiten des ehemaligen Basisgruppen-AStA-Vorsit-zenden Wolfgang Kraushaar.13 Für den biografischen Zugriff die in Focus 36/1997 begonnenemehrteilige Serie, für einen eher analytischen Ansatz: HelmutFogt in: Rheinischer Merkur / Christ und Welt, 29.4.1988.14 Dem Autor ist völlig geläufig, dass die Studentenrevolte auch ge-wichtige modernisierende demokratisierende Wirkungen nachsich zog. Sie sind indessen einerseits in dem Medienspektakel umdas Jubiläum der Revolte hinreichend herausgestellt worden, ande-rerseits geht es bei einer Betrachtung zum „Langen Marsch durchdie Institutionen“ um die möglichen Fernwirkungen extremisti-scher Weltbilder. Dieser Aspekt bleibt nämlich im selbstreferen-ziellen und häufig von der Deutungsmacht der 68er bestimmtenMedienrummel unterbelichtet.15 Antikapitalistisch und staatsfixiert blieben übrigens auch diewenigen 68er, die sich im späteren Verlauf ihres politischen Irrlich-terns als Nationalbolschewisten und mehr oder weniger beken-nende Rechtsextremisten profilierten: Horst Mahler, der Hambur-ger SDS-Funktionär Reinhold Oberlercher, neuerdings mit kaumverhohlener Nähe zur NPD der Dutschke-Intimus Bernd Rabehl.Die Anzahl solcher Apostaten ist überschaubar; aber das „Anti“des Antikapitalismus haben sie alle behalten.16 Aly: Unser Kampf. a.a.O. (Anm. 12), S. 33 ff.

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17 Bohnsack, Günter: Die Legende stirbt. – Berlin: 1997. – S. 33.18 Albert Norden an Genosse Raab, Abt. Finanzverwaltung undParteibetriebe des ZK der SED, unter dem 14.11.1968; SAPMO-BArch DY 30/IVA2/2.028/17, Bl. 61.19 Die Spätgeschädigten solcher – im Kern schon wieder rassistischargumentierender – Wahngebilde sind die heutigen „Antideut-schen“ im autonomen Spektrum, deren Aktivisten, von ihren uni-versitären und intellektuellen „Einflüsterern“ abgesehen, die Jahr-gänge 1980 bis 1990 umspannen dürfte. Was zu der Frage Anlassgibt, ob in pluralistischen Gesellschaften so etwas wie pathologi-sches Lernen existieren kann.20 Wolle, Stefan: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. – Ber-lin: 2008. – S. 93.21 Sie besagte, dass dem „imperialistischen Block der kapitalisti-schen Welt“ und dem „sozialimperialistischen Block um die revi-sionistische Sowjetunion“ als dritte Kraft die Staaten der DrittenWelt gegenüber ständen, mit der Volksrepublik China als natürli-chem Bündnispartner.22 Dazu umfänglich: Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme derDDR. Stasi und Westmedien. – Berlin; München: 2001. Als Wolf-gang Kraushaar nach Durchsicht der MfS-Akten das Ausmaß derrealsozialistischen Einflussnahme publizierte („Unsere unterwan-derten Jahre“, FAZ, 7.4.1998), wurde er teils beschimpft, teils be-lehrt, vorwiegend von solchen 68ern, die im Gravitationsfeld derDKP zu Hause waren.23 Semler, Christian: Die radikale Linke und die RAF. In: APuZ40–41/2007, S. 3.24 Zit. nach: Albrecht, Willy: Der Sozialistische Deutsche Studen-tenbund (SDS) – Vom parteikonformen Studentenverband zum Re-präsentanten der Neuen Linken. – Bonn: 1994. – S. 470.25 Dort durchaus mit umstürzender (= revolutionärer) Wirkung: Esging ihnen schließlich darum, die Notwendigkeit einer „ganz neu-en“ Unternehmensführung, die sie verkauften, klar zu machen. Esist nicht aktenkundig, wie viele Maoisten den Weg in solche Be-rufsfelder gewählt haben, aber zur Ruinierung des Kapitalismusdurch Zerschlagung rationaler Unternehmens- und Verwaltungs-strukturen haben sie gewiss mehr beigetragen als sie es in ihrenK-Gruppen jemals vermocht hätten.26 Abwertende Bezeichnung der heutigen Autonomen für Gewerk-

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schafts-, Friedens- und sonstige Demonstrationen des DKP/PDS/SPD-Spektrums, die ohne relevante Störungen der öffentlichen Si-cherheit und Ordnung ablaufen.27 Es sei an dieser Stelle auf einen Aspekt deutscher hoheitlicherDemonstrationskultur hingewiesen: Das mittelalterliche Ritualder Ritterspiele wird eingehalten, selbst wenn die Hüter des staat-lichen Gewaltmonopols der Übermacht weichen und damit einStadtviertel mehr oder weniger zum Plündern freigeben müssen.Geschossen wird nicht, nicht einmal wie in der Schweiz üblichmit Gummischrot. Das hat etwas zu tun mit zwei Vorfällen: 1952hatte eine bedrängte Polizeieinheit in Essen auf FDJ-Demonstran-ten geschossen und den Kommunisten Philipp Müller tödlich ge-troffen und am 2. Juni 1967 hatten die tödlichen Polizeischüsseauf den Demonstranten Benno Ohnesorg erheblich zur Eskalationder Studentenunruhen beigetragen.28 W. I. Lenin: Werke, Bd.7. S. 419 f.29 Aly: Unser Kampf. a.a.O. (Anm. 12), S. 130.30 Fichter, Tilman: Die SPD und die nationale Frage. In: Stephan,Cora (Hrsg.): Wir Kollaborateure. Der Westen und die deutschenVergangenheiten. – Hamburg: 1992. – S. 107–124, zit. S. 119 f.31 Wer sich für die Karrieren von KB-Aktiven interessiert, wird imbiografischen Anhang fündig bei: Steffen, Jochen: Geschichtenvom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunisti-schen Bundes 1971 bis 1991. – Hamburg; Göttingen: 2002.32 Koenen: Das rote Jahrzehnt. a.a.O. (Anm. 2), S. 494. Um das SBmusste man sich ohnehin nicht sorgen: Seine Wissenschaftskaderbetrieben keine Machtpolitik und nur wenige blieben später imMilieu der PDS kleben. Die übrigen schrieben seit den späten1970er Jahren Strategiepapiere für die verschiedenen Flügel derGrünen. Aus den Verfassungsschutzberichten verschwand die Or-ganisation aus guten Gründen schon in den 1980er Jahren.

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