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318 | Biol. Unserer Zeit | 33. Jahrgang 2003 | Nr. 5 DOI:10.1002/biuz.200310227 © 2003 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim S ukzessions- und Klimaxstadien, die Einnischung von Arten auf- grund abiotischer Ansprüche und Ge- gebenheiten, die Vernetztheit mikro- bieller Lebensprozesse, Stoffkreisläufe – all dies sind biologische Zusammen- hänge, deren Erarbeitung zum Stan- dardrepertoire des modernen Bio- logieunterrichtes gehören und die häufig durch Untersuchungen in ei- nem exemplarisch ausgewählten Bio- top begleitet werden. Diese Untersu- chungen sind ein bereichernder und notwendiger Bestandteil ökologischer Unterrichtsprojekte. Komplexe ökolo- gische Zusammenhänge unterliegen aber einem ständigen Wechsel in der Zeit, Untersuchungen im Gelände stel- len also immer Momentaufnahmen dar. Die Erforschung von Entwick- lungsprozessen ist im schulischen Be- reich aufgrund zeitlicher Beschrän- kungen oft nicht möglich und wird durch theoretische Bearbeitung er- setzt. Das Ansetzen einer Winog- radsky-Säule bietet die Möglichkeit, ökologische Prozesse wie Sukzession, Klimax und die Einnischung von Ar- ten am Modell zu beobachten, zu do- kumentieren und zu deuten. Darüber hinaus können stoffwechselphysiolo- gische Prozesse, die wichtige Phasen in der Evolution der Lebewesen cha- rakterisieren, erarbeitet werden. Wohnsilo für Mikroorganismen Die Winogradsky-Säule geht zurück auf Sergej Winogradsky (1856-1953), der neben Martinus Beijerinck als Begründer der Allgemeinen Mikrobiologie gilt. Wesentliche Erkennt- nisse über die am Schwefel- und Stickstoffkreislauf beteilig- ten Mikroorganismen sowie das Konzept der Chemo- lithotrophie gehen auf ihn zurück. In der Mikrobiologie dient die Winogradsky-Säule zur Anreicherung der am Schwefelkreislauf beteiligten Bakterien und ihrer ersten (vorläufigen) Identifizierung. Für die Herstellung einer Winogradsky-Säule benötigt man den von groben Verunreinigungen befreiten Schlamm ei- nes stehenden Gewässers, Wasser vom gleichen Standort, einige Blätter (Kaffee)-Filterpapier, einen etwa fünf Zenti- meter langen Eisennagel und etwa 10 g CaSO 4 × 2 H 2 O. Der Schlamm wird mit dem zerrissenen Filterpapier, dem Ei- sennagel und dem CaSO 4 vermischt, halbhoch in einen Glasstandzylinder gefüllt, dieser randvoll mit dem Teich- wasser gefüllt und luftdicht mit Laborfolie verschlossen. Dann lässt man den Standzylinder an einem Nordfenster stehen, ohne seine Position zu verändern, so dass die Säule eine Licht- und eine Schattenseite bekommt. Im Verlauf der nächsten Wochen entwickeln sich in der Säule gegenläufige Gradienten für Schwefel und Sauerstoff. Dieses Angebot abiotischer Faktoren reicht den sich in geringer Menge im Schlamm und im Wasser befindenden photo- und chemo- trophen Mikroorganismen für ihre Vermehrung aus. Zu diesen Mikroorganismen gehören: Sulfat- und Schwefel-reduzierende Proteobakterien (De- sulfurikanten) wie Desulfovibrio Endosporen-bildende, grampositive Bakterien mit nied- rigem GC-Verhältnis wie Clostridium Schwefel- und Eisen-oxidierende Bakterien wie Thioba- cillus und Beggiatoa Anaerobe phototrophe Bakterien: Schwefel-Purpurbak- terien wie Chromatium, Schwefelfreie Purpurbakterien wie Rhodospirillum und Grüne Schwefelbakterien wie Chlorobium Nitrifizierende Bakterien wie Nitrosomonas und Nitro- bacter Cyanobakterien Grünalgen Die angegebene Versuchsanordnung lässt sich in vielfälti- ger Weise variieren [3,4]. Das Ansetzen von Säulen mit Material unterschiedlicher Herkunft, beispielsweise aus stehenden Gewässern mit un- terschiedlichem Eutrophierungsgrad, Fließgewässern oder Einen Standzylinder, gefüllt mit Schlamm und Wasser eines stehenden Gewässers, weitere Zutaten für etwa 50 Cent und Geduld – mehr braucht man nicht für diesen Versuch, mit dem grundlegende ökologische, stoffwechselphysiologische und evolutive Zusammenhänge aus der Welt der Mikro- organismen anschaulich demonstriert und erarbeitet werden können. Modellversuch zur Mikrobiologie Die Winogradsky-Säule G ISELA T ELGMANN ABB. 1 Rotfärbung des Überstandes in einer Winogradsky-Säule durch Schwefelfreie Purpurbakterien. ABB. 2 Bildung einer gelben Bande durch Schwefel-Purpurbakterien.

Die Winogradsky-Säule: Modellversuch zur Mikrobiologie

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Page 1: Die Winogradsky-Säule: Modellversuch zur Mikrobiologie

318 | Biol. Unserer Zeit | 33. Jahrgang 2003 |Nr. 5 DOI:10.1002/biuz.200310227 © 2003 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Sukzessions- und Klimaxstadien,die Einnischung von Arten auf-

grund abiotischer Ansprüche und Ge-gebenheiten, die Vernetztheit mikro-bieller Lebensprozesse, Stoffkreisläufe– all dies sind biologische Zusammen-hänge, deren Erarbeitung zum Stan-dardrepertoire des modernen Bio-logieunterrichtes gehören und diehäufig durch Untersuchungen in ei-nem exemplarisch ausgewählten Bio-top begleitet werden. Diese Untersu-chungen sind ein bereichernder undnotwendiger Bestandteil ökologischerUnterrichtsprojekte. Komplexe ökolo-gische Zusammenhänge unterliegenaber einem ständigen Wechsel in derZeit, Untersuchungen im Gelände stel-len also immer Momentaufnahmendar. Die Erforschung von Entwick-lungsprozessen ist im schulischen Be-reich aufgrund zeitlicher Beschrän-kungen oft nicht möglich und wirddurch theoretische Bearbeitung er-setzt. Das Ansetzen einer Winog-radsky-Säule bietet die Möglichkeit,ökologische Prozesse wie Sukzession,Klimax und die Einnischung von Ar-ten am Modell zu beobachten, zu do-kumentieren und zu deuten. Darüberhinaus können stoffwechselphysiolo-gische Prozesse, die wichtige Phasenin der Evolution der Lebewesen cha-rakterisieren, erarbeitet werden.

Wohnsilo für MikroorganismenDie Winogradsky-Säule geht zurück auf Sergej Winogradsky(1856-1953), der neben Martinus Beijerinck als Begründerder Allgemeinen Mikrobiologie gilt. Wesentliche Erkennt-nisse über die am Schwefel- und Stickstoffkreislauf beteilig-ten Mikroorganismen sowie das Konzept der � Chemo-lithotrophie gehen auf ihn zurück. In der Mikrobiologiedient die Winogradsky-Säule zur Anreicherung der amSchwefelkreislauf beteiligten Bakterien und ihrer ersten(vorläufigen) Identifizierung.Für die Herstellung einer Winogradsky-Säule benötigt manden von groben Verunreinigungen befreiten Schlamm ei-nes stehenden Gewässers, Wasser vom gleichen Standort,einige Blätter (Kaffee)-Filterpapier, einen etwa fünf Zenti-meter langen Eisennagel und etwa 10 g CaSO4 × 2 H2O. DerSchlamm wird mit dem zerrissenen Filterpapier, dem Ei-sennagel und dem CaSO4 vermischt, halbhoch in einenGlasstandzylinder gefüllt, dieser randvoll mit dem Teich-wasser gefüllt und luftdicht mit Laborfolie verschlossen.Dann lässt man den Standzylinder an einem Nordfensterstehen, ohne seine Position zu verändern, so dass die Säuleeine Licht- und eine Schattenseite bekommt. Im Verlauf dernächsten Wochen entwickeln sich in der Säule gegenläufigeGradienten für Schwefel und Sauerstoff. Dieses Angebotabiotischer Faktoren reicht den sich in geringer Menge imSchlamm und im Wasser befindenden photo- und chemo-trophen Mikroorganismen für ihre Vermehrung aus. Zudiesen Mikroorganismen gehören: • Sulfat- und Schwefel-reduzierende Proteobakterien (De-

sulfurikanten) wie Desulfovibrio• Endosporen-bildende, grampositive Bakterien mit nied-

rigem � GC-Verhältnis wie Clostridium• Schwefel- und Eisen-oxidierende Bakterien wie Thioba-

cillus und Beggiatoa• Anaerobe phototrophe Bakterien: Schwefel-Purpurbak-

terien wie Chromatium, Schwefelfreie Purpurbakterienwie Rhodospirillum und Grüne Schwefelbakterien wieChlorobium

• Nitrifizierende Bakterien wie Nitrosomonas und Nitro-bacter

• Cyanobakterien• Grünalgen Die angegebene Versuchsanordnung lässt sich in vielfälti-ger Weise variieren [3,4]. Das Ansetzen von Säulen mit Material unterschiedlicherHerkunft, beispielsweise aus stehenden Gewässern mit un-terschiedlichem Eutrophierungsgrad, Fließgewässern oder

Einen Standzylinder, gefüllt mit Schlamm und Wasser einesstehenden Gewässers, weitere Zutaten für etwa 50 Cent undGeduld – mehr braucht man nicht für diesen Versuch, mitdem grundlegende ökologische, stoffwechselphysiologischeund evolutive Zusammenhänge aus der Welt der Mikro-organismen anschaulich demonstriert und erarbeitet werdenkönnen.

Modellversuch zur Mikrobiologie

Die Winogradsky-SäuleGISELA TELGMANN

A B B . 1 Rotfärbung des Überstandesin einer Winogradsky-Säule durchSchwefelfreie Purpurbakterien.

A B B . 2 Bildung einer gelben Bandedurch Schwefel-Purpurbakterien.

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W I N O G R A D S K Y - S Ä U L E | E X PE R I M E N T

Mooren ermöglicht die Untersuchung verschiedener Bio-tope. Der Vergleich von Winogradsky-Säulen, deren Mate-rial aus einem stehenden und einem fließenden Gewässerstammt, demonstriert eindringlich die Andersartigkeit derbeiden Ökosysteme. An der Entwicklung in den Säulenkann sogar erkennbar sein, ob ein Tümpel oder kleinerTeich eine nicht sichtbare Quelle besitzt. In Säulen, derenMaterial einem Fließgewässer entstammt, findet nach demAbsetzen der Schwebstoffe keine oder nur eine sehr kurz-fristige farbliche Veränderung statt.Die Identifizierung der Bakterien erfolgt entweder überphysiologische Merkmale oder über Stoffwechselendpro-dukte. Es bieten sich drei Möglichkeiten an:

Pigmente Viele Bakterienarten – beispielsweise Purpurbakterien –betreiben Photosynthese. Die photosynthetisch wirksamenPigmente (Bakteriochlorophylle, Carotinoide etc.) sind rotbeziehungsweise grün gefärbt. Treten die Bakterien ingroßen Mengen (Matten) auf, so nimmt die Matte die Farbedes häufigsten Pigmentes dieser Art an und erscheint rot,grün oder braun (Abbildung 1).

StoffwechselmetaboliteEinige Bakterienarten, beispielsweise Schwefel-oxidierendeBakterien, können Stoffwechselmetabolite (Schwefel) in-nerhalb oder außerhalb ihrer Zelle lagern. Treten diese Bakterien in Matten auf, so erscheinen sie gelblich (Abbil-dung 2).

StoffwechselendprodukteEinige Bakterienarten, beispielsweise Sulfat-reduzierendeBakterien, scheiden Stoffwechselendprodukte aus, die mitim Medium angebotenen Substanzen reagieren, was unterUmständen eine Färbung in ihrer Umgebung hervorruft(Abbildung 3).

Nitrifizierende Bakterien (Nitrosomonas, Nitrobacter)lassen sich mit diesen Möglichkeiten nicht identifizieren.Sie sind aber in Böden und Wasser so häufig, dass von ihrerAnwesenheit in der Säule ausgegangen werden kann.

Tabelle 1 gibt eine Übersicht über Vorkommen, Le-bensformtyp und Besonderheiten der genannten Bakteri-engattungen, was eine notwendige Voraussetzung für dieErarbeitung der Sachverhalte mit SchülerInnen ist. Selbst-verständlich leben mehr als die in der Tabelle angegebenenGattungen in der Säule und sie erbringen auch noch mehrLeistungen. Die Auswahl wurde aus didaktischen Gründenreduziert [4].

Sukzession in der SäuleDie Entnahme der Schlamm– und Wasserprobe aus demnatürlichen Umfeld und das Ansetzen der Säule stellen ei-nen gravierenden Eingriff in die Lebensbedingungen derentnommenen Mikroorganismen dar. In der je nach Jahres-zeit etwa sieben bis 14 Tage dauernden Reorganisations-phase bietet die Säule äußerlich ein Bild vollkommener

manchmal sogar täglich, so sind nachetwa vier bis sechs Monaten nur nochgeringfügige Änderungen feststellbar.Die Nettoproduktion und die Zu-nahme der Biomasse stabilisiert sichnach dieser Übergangsphase auf ho-hem Niveau.

Klimax: stabile VerhältnisseStabilität bei der Ausprägung und In-tensität der Bakterienbanden weistauf das Erreichen des Klimaxstadiumshin (Abbildung 5). Im Wechselspielzwischen der ökologischen Potenzder Bakteriengattungen und den abio-tischen Faktoren in der Säule hat sichnach etwa sechs Monaten eine Mikro-organismengemeinschaft entwickelt,die durch die Dominanz bestimmterGattungen und durch stabile Stoff-kreisläufe gekennzeichnet ist (Abbil-dung 6).

KohlenstoffkreislaufAlle Lebewesen benötigen für ihre Le-bensprozesse Kohlenstoff. Zu Beginndes Versuches stehen in der SäuleCO2, Cellulose und totes organischesMaterial als Kohlenstoffquelle zur Ver-fügung. Die im Schlamm lebendenEndosporen-bildenden, grampositivenBakterien mit niedrigem � GC-Verhält-nis (beispielsweise Clostridien) unddie Desulfurikanten vergären als obli-gate heterotrophe Anaerobier Koh-lenhydrate, vor allem Cellulose, unterBildung großer Gasmengen. Als Gä-

Die mit einem grünen Pfeil markierten Begriffewerden im Glossarerklärt.

A B B . 3 Schwarzfärbung desSchlammes durch Desulfurikanten,Bildung einer roten Bande durchSchwefelfreie Purpurbakterien.

A B B . 4 Sonnenseite einer Säule.

Ruhe. Die anschließende Wachstumsphase, gekennzeich-net durch eine Zunahme der � Nettoproduktion und derBiomasse, kündigt sich durch einen raschen Szenenwech-sel an. Mit Hilfe der genannten Identifizierungsmöglichkei-ten lassen sich die zeitlich aufeinander folgenden Beobach-tungen bestimmten Bakteriengattungen zuordnen. Diestoffwechselphysiologischen Leistungen dieser Bakterien-gattungen sind weitgehend bekannt (Tabelle 1), deshalblassen sich Aussagen über Abhängigkeiten und Wechsel-beziehungen in der Welt der Mikroorganismen machen.

Alle in Tabelle 2 beschriebenen Beobachtungen bezie-hen sich auf die Schattenseite der Säule. Die zeitgleichenVorgänge auf der Sonnenseite unterscheiden sich zum Teilstark davon, wie in Abbildung 4 zu erkennen ist. Sie sind je-doch aufgrund der Eigenschaften der verschiedenen pho-totrophen Bakteriengattungen stark standortabhängig undin ihrer Reihenfolge und Intensität kaum vorhersagbar.

Wechseln die beobachtbaren Ereignisse nach der Reor-ganisationsphase zu Beginn der Sukzession wöchentlich,

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oobblliiggaatt aannaaeerroobbee BBaakktteerriieenn– Endosporen-bildende, grampositive chemoorganoheterotroph Einleitung der anaeroben Nahrungskette Boden

Bakterien mit niedrigem GC-Verhältnis durch Vergärung von Kohlenhydraten unter Schlammz. B. Clostridium Bildung großer Gasmengen, N2-Fixierer Magen-Darm-Trakt

– Sulfat- und Schwefel-reduzierende chemolithotroph, Reduktion von Sulfat zu Sulfid Schlamm, nasse BödenProteobakterien z. B. Desulvofibrio chemoorganoheterotroph

aannaaeerroobbee pphhoottoottrroopphhee BBaakktteerriieenn ((zz.. TT.. ffaakkuullttaattiivv aaeerroobb ffüürr bbeeggrreennzzttee ZZeeiitt))– Schwefel-Purpurbakterien photolithoautotroph anoxygene Photosynthese, Abbau von H2S belichtete O2-freie Wasser-

z. B. Chromatium über S0 zu Sulfat, intrazelluläre S-Ablagerung, zone stehender GewässerN2-Fixierer

- Schwefelfreie Purpurbakterien photolithoautotroph anoxygene Photosynthese, Abbau von H2S belichtete O2-freie Wasser-z. B. Rhodospirillum über S0 zu Sulfat, extrazelluläre S-Ablagerung, zone stehender Gewässer

N2-Fixierer– Grüne Schwefelbakterien photolithoautotroph anoxygene Photosynthese, Abbau von H2S zu S0, belichtete O2-freie Wasser-

z. B. Chlorobium extrazelluläre S-Ablagerung, N2-Fixierer zone stehender Gewässeroobblliiggaatt aaeerroobbee BBaakktteerriieenn– Schwefel- und Eisen-oxidierende chemolithoautotroph Oxidation von Schwefel (-verbindungen) Schlamm, Boden

Bakterien z. B. Thiobacillus, Beggiatoa zu Sulfat– Cyanobakterien photolithoautotroph aerob, oxygene Photosynthese, N2-Fixierer Boden, Süß- und Meer-

wasser– Nitrifizierende Bakterien

z. B. Nitrosomonas chemolithoautotroph aerob, Oxidation von Ammoniak zu Nitrit Boden, Abwasser, Süß- und Meerwasser

z. B. Nitrobacter chemolithoautotroph aerob, Oxidation von Nitrit zu Nitrat Boden, Süß- und Meer-wasser

Mikroorganismus Lebensformtyp Besonderheiten Natürliches Vorkommen

TA B . 1 | T Y PI S C H E B E WO H N E R VO N W I N O G R A DS K Y- S Ä U L E N

Intensive Gasbildung starke Vermehrung – Einleitung der „anaeroben Nahrungskette“ der Clostridien – Vergärung der Cellulose (Filterpapier) unter Bildung von CO2,

H2 und Acetat bzw. Lactat – Schaffung der Voraussetzungen für die Vermehrung anderer

ArtenBildung schwarzer Flecken im Schlamm starke Vermehrung – Nutzung von H2 und Lactat als H-Donator

der Desulfurikanten und Kohlenstoffquelle – Reduktion von SO4

2– (Gips) zu H2S – Reaktion des H2S mit dem Eisen

des Eisennagels zu FeS ⇒ Schwarzfärbung Bildung einer roten Bande starke Vermehrung der – Nutzung von H2S als Elektronen- und im Schlamm, Rotfärbung Schwefelfreien Purpurbakterien H-Donator für die anoxygene des Wasserkörpers Photosynthese

– Abbau über S0 zu Sulfat

Bildung einer gelben Bande starke Vermehrung – Abbau über S0 zu Sulfatim Schlamm der Schwefel-Purpurbakterien

Bildung grüner und violetter Vermehrung der Grünen – Abbau über S0 zu SulfatBanden im Schlamm Schwefelbakterien und – Beginnende O2-Produktion

Cyanobakterien

Bildung einer schmutzig wirkenden, starke Vermehrung Schwefel- – Nutzung der Metabolite aus der Aminosäure-Vergärung weißgelben „Wolke“ im Überstand oxidierender Bakterien von Clostridium

– Oxidation von S0 zu SulfatBildung grüner Banden im Überstand Vermehrung der Grünalgen – O2-Produktion

Beobachtung Mikroorganismus Erklärung

TA B . 2 | Z E I T L I C H E A B FO LG E W E S E N T L I C H E R VO RG Ä N G E ( AU S WA H L ) I N D E R W I N O G R A DS K Y- S Ä U L E

Page 4: Die Winogradsky-Säule: Modellversuch zur Mikrobiologie

rungsprodukte fallen neben CO2 und H2 auch Acetat undLactat an.

Die in der belichteten, O2-freien Wasserzone auftreten-den anaeroben phototrophen Bakterien fixieren CO2 mitHilfe von � RubP, nutzen es für ihre Photosynthese und pro-duzieren organische Kohlenstoffverbindungen. Diese Bak-terien können für eine begrenzte Zeit aerob leben, O2 undzu hohe Beleuchtungsstärken hemmen aber die Photosyn-these, da die Bildung der Photopigmente verhindert wird.Schwefel-oxidierende Bakterien sind in der Regel auto-troph, können aber bei Bedarf zu einer heterotrophenLebensweise übergehen (Abbildung 6a).

StickstoffkreislaufStickstoff ist unverzichtbarer Bestandteil der Amino- undNukleinsäuren. Prokaryoten sind in Abhängigkeit vom Sau-erstoffgehalt in der Umgebung in der Lage, durch Assimila-tion entweder NO3

– oder NH3 zum Aufbau körpereigenerProteine und Nukleinsäuren zu verwenden – eine Grund-voraussetzung für die Zunahme ihrer Biomasse. Den Pro-zess der Ammonifikation (organischer N → NH4

+) vermö-gen viele Mikroorganismen durchzuführen (Abbildung 6b).An der N2-Fixierung (N2+8H → 2NH3+H2) sind unter aero-ben Bedingungen Cyanobakterien, unter anaeroben Bedin-gungen Endosporen-bildende, grampositive Bakterien wieClostridien und anaerobe phototrophe Bakterien beteiligt.NH3 ist ein hochgradig wasserlösliches Gas, das in Gegen-wart von Wasser zu NH4

+ und OH– reagiert.

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W I N O G R A D S K Y - S Ä U L E | E X PE R I M E N T

A B B . 5 | S C H E M AT I S C H E DA R S T E L LU N G E I N E R R E I F E N S Ä U L E

A B B . 6 | S TA B I L E S TO F F K R E I S L Ä U F E I N D E R W I N O G R A DS K Y- S Ä U L E

Schwefel-oxidierendeBakterien

NitrifizierendeBakterien

AnaerobephototropheBakterien

Endosporen-bildende,grampositiveBakterien

Desulfurikanten

organischeKohlenstoff-

verbindungen

CO2

NO3– NO2

Proteine

Proteine

NH3

NH3

N2

O2

H2S

H2S SO42–

SO42–H2S S

SO42–H2S S

a) Kohlenstoffkreislauf b) Stickstoffkreislauf c) Schwefelkreislauf

Kahmhaut

Grüne Gefäßwand + Lösung: Algen

Thiobacillus/Beggiatoa

Rote Gefäßwand + Lösung/rote, braune, rosa- und purpurfarbene Matten: Schwefelfreie Purpurbakterien

Grün-gelbe Matten: Grüne Schwefelbakterien undSchwefel-Purpurbakterien

Blaugrüne Flecken: Cyanobakterien (nicht immer vorhanden)

Schwarzgefärbter Schlamm: Desulfurikanten

Page 5: Die Winogradsky-Säule: Modellversuch zur Mikrobiologie

Die Nitrifikation (NH4+ → NO3

-) wird in zwei Teilprozesseunterteilt, da kein Mikroorganismus den gesamten Vorgangallein bewirken kann. Beide Teilprozesse laufen unter aero-ben Bedingungen ab. Nitrosomonas überführt NH4

+ inNO2

-, anschließend wird NO2- von Nitrobacter in NO3

- um-gewandelt. Für die Denitrifikation (NO3

- → N2) zeichnen

mungskette und anderen wichtigeneisenhaltigen Verbindungen der Zel-len reagiert und Stoffwechselwegedauerhaft inaktiviert. Liegt Eisen bei-spielsweise als Eisennagel in der Um-gebung vor, bildet sich schwarzes, un-lösliches FeS. Der Vorgang ist an derSchwarzfärbung des Schlammes zu er-kennen. Die Bildung von FeS stellt inder Natur einen wichtigen und effizi-enten Entgiftungsmechanismus dar.Alle anaeroben phototrophen Bakte-rien nutzen Licht als Energiequelle.Anders als grüne Pflanzen verwenden

sie jedoch anstelle des Wassers H2S als Elektronen- und H-Donator. Dieses H2S wird von Schwefel-Purpurbakterienund Schwefelfreien Purpurbakterien über S0 zu Sulfat, vonGrünen Schwefelbakterien nur zu S0 abgebaut.

Die aeroben Schwefel- und Eisen-oxidierenden Bakte-rien wie Thiobacillus und Beggiatoa vermögen Schwefelund Schwefelverbindungen wie beispielsweise H2S zu Sul-fat zu oxidieren und so den Kreislauf zu schließen. In derSäule tritt zunächst Beggiatoa auf, erkennbar am Auftreteneiner weißgelben, fadenalgenartig wirkenden „Wolke“. DaBeggiatoa empfindlich auf die zunehmende Versauerungdes Milieus reagiert, wird dieser Mikroorganismus von denazidophilen Thiobacillen abgelöst (Abbildung 6c).

EinnischungEin Vergleich der Abbildungen 6a bis 6c macht deutlich,dass das Auftreten und die Häufigkeit der verschiedenenMikroorganismen, erkennbar an Anordnung und Stärke derBanden, nicht zufällig erfolgt, sondern abhängig ist von derökologischen Potenz des jeweiligen Verursachers und vonden Stoffwechselleistungen anderer Mikroorganismen. Sobedingt die unterschiedliche H2S-Toleranz der verschiede-nen Gruppen der anaeroben phototrophen Bakterien dieLage der grünen, gelben und roten Banden. Die H2S-Tole-ranz nimmt von den Schwefelfreien Purpurbakterien überdie Schwefel-Purpurbakterien zu den Grünen Schwefelbak-terien (Abbildung 7) hin zu. Entsprechend sind die Banden

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S I C H E R H E I T S H I N W E I S |Winogradsky-Säulen sind einfach durchzuführende Versuche,trotzdem sollte man sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. In diesen Säulen können sich Bakterien entwickeln, die für denMenschen gefährlich sind, beispielsweise bestimmte Clostridien-arten. Ein angemessener, den Sicherheitsbestimmungen ent-sprechender Umgang mit diesen Säulen ist dringend geboten.Dazu gehört, dass diese Säulen niemals von SchülerInnen in derSchule geöffnet werden. Außerdem riecht der Inhalt ausgespro-chen organisch. Die in den verschiedenen Bundesländern gelten-den Sicherheitsbestimmungen müssen unbedingt eingesehenwerden.

A B B . 7 Bildung grüner Banden durchGrüne Schwefelbakterien und Cyano-bakterien.

A B B . 8 Parallel zu 2 angesetzte Säulemit vergleichbarer Bandenanordnung

Bacillus, Paracoccus und Pseudomo-nas verantwortlich. Diese Mikroorga-nismen sind mit den oben angege-benen Identifizierungsmöglichkeitennicht nachweisbar.

SchwefelkreislaufDie in der Natur weit verbreiteten,aber wegen der geringen Schwefel-konzentrationen in der Umwelt zah-lenmäßig seltenen Desulfurikantenfindet man in der Schlammschicht ste-hender Gewässer, sofern diese viel or-ganisches Material enthalten. Zur Op-timierung der Lebensbedingungenwird deshalb der Schlamm in derWinogradsky-Säule mit Gips angerei-chert. Viele Desulfurikanten sind alsobligat anaerobe Lebewesen mit ho-hem CO2-Bedarf auf strikt anaerobeBedingungen angewiesen, sie reagie-ren empfindlich auf O2. Der Abbaudes organischen Materials erfolgt un-vollständig, Acetat wird ausgeschie-den.

Desulfurikanten produzieren den„Löwenanteil“ an H2S in der Natur, dasie Sulfat (SO4

2-) unter anaeroben Be-dingungen zu Sulfid (H2S, FeS) redu-zieren. Die Form, in der das Sulfidanschließend in der Umgebung vor-liegt, ist pH-Wert abhängig: Bei einempH-Wert < 7 liegt Sulfid als leichtflüchtiges H2S, bei einem pH-Wert > 7als HS- und S2- vor. HS- ist toxisch, da esmit dem Eisen der Cytochrome der At-

400 – 550 nm Carotinoide (akz. Pigment) Purpurbakterien550 – 650 nm Phycobiliproteine Cyanobakterien680 – 685 nm Chlorophyll a Cyanobakterien705 – 755 nm Bakterienchlorophyll c, d, e Grüne Schwefel-Bakterien805 nm Bakterienchlorophyll a Grüne Schwefel-Bakterien830 – 890 nm Bakterienchlorophyll a Purpurbakterien1020 – 1040 nm Bakterienchlorophyll b Purpurbakterien (wenige Arten)

Absorptionsmaxima Pigment Bakterienart

TA B . 3 A B S O R P T I O N S M A X I M A D E R PI G M E N T E PH OTOT RO PH E R

M I K RO O RG A N I S M E N I N D E R W I N O G R A DS K Y- S Ä U L E

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wegen des nach oben hin abnehmenden H2S-Gehaltes vonoben nach unten rot, gelb und dann grün. Setzt man meh-rere Säulen mit Material vergleichbarer Standorte gleichzei-tig an, lassen sich diese Zusammenhänge leicht demon-strieren. Nach zwölf bis 16 Wochen weisen diese Säulen inder Regel die gleiche farbliche Bandenabfolge auf – aller-dings in unterschiedlicher Stärke und Ausdehnung (Abbil-dungen 8 und 2).

Der Vergleich der Absorptionsmaxima der photosyn-thetisch aktiven und akzessorischen Pigmente der ver-schiedenen anaeroben phototrophen Bakterienarten undder Cyanobakterien lässt die Ausnutzung und Aufteilungder Wellenlängen zwischen 400 und 1000 nm erkennen(Tabelle 3).

Evolutive AspekteDie Frage, in welcher Reihenfolge sich die verschiedenenMikroorganismen beziehungsweise ihre stoffwechselphy-siologischen Leistungen entwickelt haben, wird kontroversdiskutiert. In vielen Quellen wird davon ausgegangen, dassdie Evolution der Prokaryoten vor mindestens 3,5 Milliar-den Jahren begann und über � Fermentation, Chemo-lithotrophie, anoxygene Photosynthese bis zur oxygenenPhotosynthese verlief [1, 2]. Vertreter aller dieser stoff-wechselphysiologischen Leistungen sind in der Säule ver-sammelt. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Phä-nomen, dass ihr Zusammenleben nicht nach dem Prinzipdes „Fressen und Gefressen werden“ der Eukaryotenwelterfolgt, sondern über das Geben und Nehmen von Stoff-wechselendprodukten.

ZusammenfassungIn einer Winogradsky-Säule entwickeln sich unterschiedlicheSchwefel– und Sauerstoffgradienten. Die im Schlamm undWasser vorhandenen Mikroorganismen siedeln sich entspre-chend ihrer Ansprüche an ihre ökologische Nische in „Etagen“an und vermehren sich im Verlauf der folgenden Wochen der-art stark, dass sie als farbige Banden sichtbar werden. MitHilfe einfacher Identifizierungsmöglichkeiten können dieseBanden bekannten Mikroorganismen zugeordnet werden.Die Kenntnis ihrer Stoffwechselleistungen und Lebensan-sprüche ermöglicht die Deutung der zeitlichen Abfolge bei derBandenbildung und die Zuordnung wichtiger Vorgänge zuwesentlichen Teilprozessen des Kohlenstoff-, Schwefel- undStickstoffkreislaufes. Die Beobachtung über mehrere Wo-chen ermöglicht die Unterscheidung von Sukzession undKlimaxstadium und lässt so das Prozesshafte ökologischerVorgänge erkennen.

Literatur[1] S. Bentner, H.-D. Martin, Naturfarben weit mehr als nur Vorbild für

Farben und Ästhetik, Universität Düsseldorf.[2] M. Madigan, J. M. Martinko, J. Parker, Brock Mikrobiologie. Spektrum

Akademischer Verlag, Heidelberg, 2001.[3] H. Schlegel, Allgemeine Mikrobiologie. Georg Thieme Verlag, Stutt-

gart, 1992.[4] G. Telgmann, Die Winogradsky-Säule: Modell für prokaryotische

Wechselbeziehungen, UB 22000022, 278, 46-51.

Die AutorinGisela Telgmann, geboren 1954 in Münster, unter-richtet an einem Lemgoer Gymnasium die FächerBiologie und Erziehungswissenschaft. Sie ist außer-dem an der Organisation und Leitung des Netz-werkes Universität, Gymnasium, Industrie (NUGILemgo) maßgeblich beteiligt.

Anschrift:G. Telgmann, Rampendal 65, D-32657 Lemgo,Email: [email protected]

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W I N O G R A D S K Y - S Ä U L E | E X PE R I M E N T

G LOSSA R |Chemolithotrophie: Form des chemotrophen Energiestoffwechsels, bei dem anorgani-sche Verbindungen (z. B. H2S) oder Ionen die Reduktionsäquivalente (Wasserstoff, Elek-tronen) für den Energiegewinn (ATP-Bildung) liefern.

Fermentation: hier: Ab- oder Umbau organischer Stoffe durch Mikroorganismen.

GC-Verhältnis: Das Guanin-Cytosin-Verhältnis ist ein wichtiges Kriterium bei der kon-ventionellen taxonomischen Einordnung der Prokaryoten. Das GC-Verhältnis wirdberechnet nach der Formel G+C/G+C+A+T x 100%. Das GC-Verhältnis schwankt beiProkaryoten zwischen 20 und 80 Prozent.

Nettoproduktion: Über den Verbrauch hinausgehende Produktion von Gasen bzw. Sub-straten.

RubP: Ribulosebiphosphat, CO2-Akzeptor im Calvin-Zyklus.

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