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Die Wissenskluft-Hypothese
Running head: DIE WISSENSKLUFT-HYPOTHESE
Die Wissenskluft-Hypothese
Eine Überprüfung durch drei unabhängige Studien
Larissa Grodke-Bried
Matrikelnr.: 3725476
Eberhard Karls Universität Tübingen
Prof. Dr. Guido Zurstiege
Dr. Tino G. K. Meitz
Tutor: Elena Pelzer
16.03.2012
Die Wissenskluft-Hypothese
Abstract
Nach der allgemeinen Vorstellung der Gesellschaft sollen die Massenmedien für die
Informationsverbreitung in der Bevölkerung sorgen. Mehr Informationsmenge bedeutet dann
mehr Wissen und auch mehr Demokratie für jeden einzelnen Bürger. Die Wissenskluft-
Hypothese stellt diese Vorstellung von der Funktion der Medien in Frage, da sie aussagt, dass
höher Gebildete besser in der Lage sind, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten als
geringer Gebildete. Die Studie von Tichenor, Donohue und Olien stammt zwar aus dem Jahr
1970, doch durch die heutigen Diskussionen über eine Zwei-Klassengeselleschaft und die
Befürchtung einer auseinandergehenden Schere zwischen gering und hoch Gebildeten ist die
Studie mehr als aktuell. In meiner Arbeit gehe ich zuerst auf die Studie von Tichenor et al.
und die Begründung der Wissensklüfte ein. Um die oben genannte Vorstellung weiter zu
untersuchen vergleiche ich die Studien von Heinz Bonfadelli, Isabella-Afra Holst und
Reinhold Horstmann, die die Allgemeingültigkeit der Hypothese in Frage stellen und daher
eigene Analysen durchgeführt haben. Im Vergleich von mehreren Fragstellungen, kommen
sie zu teilweise unterschiedlichen Ergebnissen, die darauf hindeuten, dass die Hypothese von
Tichenor et al. nicht generell gültig ist. Vielmehr ist es wichtig, vielschichtige
Differenzierungen für die Betrachtung des Phänomens einzuführen und individuelle
Eigenschaften zu beachten.
Die Wissenskluft-Hypothese
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 4
2. Die Wissenskluft-Hypothese 5
2.1 Ausgangshypothese 5
2.2 Begründung der Ausgangshypothese 6
2.3 Ursachen des Wissensklufteffekts 7
2.4 Kritik an der Ausgangshypothese 8
3. Untersuchung der Aussagen durch Bonfadelli, Horstmann und Holst 10
3.1 Heinz Bonfadelli 10
3.2 Reinhold Horstmann 10
3.3 Isabella-Afra Holst 11
3.4 Drei Untersuchungsfragen 11
3.4.1 Rolle der formalen Bildung 11
3.4.2 Langfristigkeit von Wissensunterschieden 12
3.4.3 Einfluss der geographischen und/oder psychologischen
Nähe der Bevölkerung zum Untersuchungsthema 13
4. Schlussbetrachtung 15
Literaturverzeichnis 17
Erklärung der Eigenständigkeit 18
Die Wissenskluft-Hypothese 4
1. Einleitung
Die Welt wächst zusammen, alles wird vernetzter und irgendwie steht jeder mit jedem
und viele mit vielen anderen in Verbindung. Unsere Welt ist global und auch wenn es
natürlich schon früher große Probleme gab, so zeigt sich doch immer deutlicher, dass es heute
trotz neuster Techniken immer noch große Probleme gibt, nur dass diese jetzt eben alle
betreffen.
Es muss keine direkte Betroffenheit vorliegen, aber durch die Globalisierung und den
technischen Errungenschaften ist es uns möglich, jederzeit und von überall auf der Welt
Informationen zu erhalten. Die Welt ist groß und es gibt quasi ununterbrochen neue
Meldungen, Erkenntnisse und Neuigkeiten, sodass es uns theoretisch möglich ist, die ganze
Zeit neues Wissen aufzunehmen und vorhandenes auszubauen. Mehr Information bedeutet
also mehr Wissen. Doch laut der Wissenskluft-Hypothese bedeutet mehr Information auch
eine steigende Ungleichverteilung des Wissens in der Bevölkerung. Sie sagt aus, dass besser
gebildete Personen bei steigender Informationsmenge die Informationen schneller aufnehmen
und verarbeiten können als weniger gebildete Personen. Dadurch entsteht eine Wissenskluft
zwischen den Bevölkerungsschichten.
In meiner vorliegenden Arbeit stelle ich zuerst (Kapitel 2) die Ausgangshypothese des
Kommunikationswissenschaftlers Philipp J. Tichenor und der beiden Soziologen George A.
Donohue und Clarice N. Olien aus dem Jahre 1970 vor. Es gibt viele Weiterentwicklungen
der Hypothese, die ich allerdings nicht näher betrachte, da sie den Rahmen dieser Arbeit
sprengen würden. Ich konzentriere mich auf die Begründung der Ausgangshypothese und die
von Tichenor et al. durchgeführten Untersuchungen, mit denen sie ihre Hypothese
überprüften. Im Anschluss daran fasse ich die Kritik an der Ausgangshypothese zusammen
um danach auf drei unabhängige Studien einzugehen (Kapitel 3). Zum einen ist dies eine
Studie von Heinz Bonfadelli aus den Jahren 1986 und 1987, der eine Erhebung in der
Die Wissenskluft-Hypothese 5
Schweiz zum Zusammenhang von Mediennutzung und politischer Informiertheit durchführte
(Kapitel 3.1). Bei der zweiten Studie untersuchte Reinhold Horstmann drei
Bevölkerungspanels aus den Jahren 1979 und 1984 mit Blick auf die grundsätzliche
Tragweite der Wissenskluft-Hypothese (Kapitel 3.2). Die dritte Studie ist von Isabella-Afra
Holst, die die Wissenskluft-Hypothese anhand von drei politischen Konflikten (35-Stunden-
Woche, Lage in Mittelamerika, Ausländerproblematik in der Bundesrepublik Deutschland)
und mehreren Bevölkerungsumfragen untersucht (Kapitel 3.3).
In Kapitel 3.4 stelle ich die Ergebnisse der oben genannten Autoren zu drei
verschiedenen Untersuchungsfragen (Rolle der formalen Bildung, Langfristigkeit von
Wissensunterschieden, Einfluss der geographischen/psychologischen Nähe der Bevölkerung
zum Untersuchungsthema) zusammen und vergleiche sie.
2. Die Wissenskluft-Hypothese
2.1 Ausgangshypothese
Der Kommunikationswissenschaftler Philipp J. Tichenor und die Soziologen George
A. Donohue und Clarice N. Olien von der Universität Minnesota formulierten 1970 in ihrem
Artikel „Media Flow and Differential Growth in Knowledge“, der in der amerikanischen
Fachzeitschrift Public Opinion Quarterly veröffentlich wurde, folgende Hypothese:
As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of
the population with higher socioeconomic status tend to acquire this information at a
faster rate than the lower status segments, so that the gap in knowledge between these
segments tend to increase rather than decrease. (Tichenor et al., 1970, S. 159-160, zit.
n. Holst, 2000, S. 20).
Die Hypothese sagt aus, dass der Wissenszuwachs bei Personen mit einem höheren
soziökonomischen Status relativ gesehen größer ist, als bei Statusniedrigeren und es
dementsprechend bei steigendem Informationsangebot zu einer Wissenskluft zwischen den
Die Wissenskluft-Hypothese 6
verschiedenen Bevölkerungsschichten
kommt. Als Grund wird hierbei angeführt,
dass Statushöhere Informationsangebote
der Medien schneller und auch effektiver
aufnehmen können als Statusniedrigere.
Diese Aussage widerspricht der bis dahin
gängigen Vorstellung, dass es zu einem
allgemeinen Wissensanwachs kommt,
sobald das Informationsangebot qualitativ
und quantitativ steigt.
Die zentralen Variablen der
Hypothese sind die „steigende
Medienberichterstattung, sozioökonomischer Status, Wissenszunahme und Zeit.“ (Holst,
2000, S. 20).
2.2 Begründung der Ausgangshypothese
Tichenor, Donohue und Olien beschränkten ihre empirischen Überprüfungen auf drei
Bedingungen: Das Untersuchungsthema bezieht sich auf Politik- und Wissenschaftsbereiche,
die Berichterstattung des Untersuchungsthemas ist ansteigend und die Untersuchung bezieht
sich auf Printmedien. Ihre Hypothese begründeten sie zum einen mit älteren Untersuchungen
der empirischen Medienwirkungsforschung und zum anderen überprüften sie ihre Hypothese
mit folgenden Untersuchungsanlagen:
1. Frühere Diffusionsstudien, die sich mit der Schnelligkeit der
Nachrichtenverbreitung beschäftigten, zeigten, dass „die Erhöhung des Informationsangebots
nicht immer zu einer gleichmäßigen Rezeption der Information führte.“ (Holst, 2000, S. 22).
Abbildung 1: Visualisiertes Paradigma der
Wissenskluft-Hypothese nach Bonfadelli,
1987, S. 307
Die Wissenskluft-Hypothese 7
2. Bei der Trendstudie werteten Tichenor et al. drei Fragen des American Institute for
Public Opinion, die mehrmals im Zeitraum von 1949 bis 1969 gestellt wurden, zum Thema
Möglichkeit einer Mondlandung, Identifikation von Erdsatelliten und Rauchen als Ursache
von Lungenkrebs aus. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Informationsstand absolut
zunahm und sich gleichzeitig „die Korrelation zwischen Bildung und Wissensstand bei jedem
der drei Themen im Zeitverlauf [vergrößerte]“ (Bonfadelli, 1994, S. 68), die Wissenskluft
also zunahm.
3. Durch das Quasi-Experiment sollte die Komplementärhypothese, also die
Umkehrung der Wissenskluft-Hypothese, überprüft werden. In einer Gemeinde, die von
einem Zeitungsstreik betroffen war, verringerte sich die Wissenskluft, im Gegensatz zur nicht
vom Streik betroffenen Nachbargemeinde, bei der die Wissenskluft stärker auftrat. Die
Untersuchung bestätigte die Erwartungen, dass sich Wissensunterschiede verringern, wenn
der Informationsfluss der Medienberichterstattung abnimmt.
4. Tichenor et. al untersuchten 1967 mit einem Feldexperiment das Verständnis von
Artikeln zu medizinisch-biologischen und sozialwissenschaftlichen Themen. Dabei sollten
600 Personen aus Minneapolis jeweils zwei Artikel lesen und danach wiedergeben. Durch
eine Inhaltsanalyse wurden die Artikel in geringe und starke Medienbeachtung unterteilt. Das
Ergebnis des Experiments bestätigte die Aussage der Wissenskluft-Hypothese, dass die
Wissensklüfte bei stärkerer Medienbeachtung größer sind und umgekehrt.
2.3 Ursachen des Wissensklufteffekts
Tichenor, Donohue und Olien benennen als Resultat ihrer Forschungen folgende
Faktoren, die ihrer Meinung nach die Ursachen der Wissenskluft darstellen:
1. Medienkompetenz/communication skills: Personen mit besserer Bildung verfügen
über bessere Lese- und Verstehensfertigkeiten, die dafür sorgen, dass politisches und
Die Wissenskluft-Hypothese 8
wissenschaftliches Wissen schneller gelernt und komplexe Zusammenhänge schneller erfasst
und verarbeitet werden können.
2. Vorwissen/stored information: Höher Gebildete verfügen über mehr Vorwissen.
Dieses wird durch Schulbildung oder durch Mediennutzung erworben und erhöht zum einen
die Aufmerksamkeit für weitere Informationen zu diesem Thema und ermöglicht es zum
anderen, leichter Verbindungen zwischen verschiedenen Wissensbereichen herzustellen.
3. Relevante soziale Kontakte/relevant social contact: Personen mit einer höheren
Bildung verfügen über eine größere Anzahl an personalen Kontakten, haben ein breiteres
Spektrum an Alltagsaktivitäten und besitzen eine größere Referenzgruppenanzahl, die dafür
sorgen, dass ein hoher Informationsaustausch zustande kommt.
4. Selektive Zuwendung, Akzeptanz und Behalten von Informationen/selective
exposure, acceptance: Medienangebote werden von Personen mit einem höheren
Bildungsniveau sehr selektiv genutzt, um freiwillig und aktiv nach bestimmten Informationen
zu suchen. Im Gegensatz dazu konsumieren niedriger gebildete Personen Medienangebote
eher passiv.
5. Mediensystem: Die Printmedien vermitteln den größten Teil an Informationen über
das öffentliche und politische Geschehen sowie über die neusten wissenschaftlichen
Fortschritte. Sie orientieren ihren Inhalt am stärksten an den Interessen der status- und
bildungshöheren Mediennutzer und werden auch von diesen am meisten genutzt.
2.4 Kritik an der Ausgangshypothese
Bereits im Namen der Wissenskluft-Hypothese steckt die erste Kritik: So kritisiert
Holst die Verwendung des Begriffes „Wissenskluft“ in der Wissenskluftforschung und
fordert die Einteilung des Begriffes einerseits in eine zeitliche Dimension und andererseits in
die Ursachen der Wissenskluftentstehung (vgl. Holst, 2000, S. 41). Stöbers Kritik schließt
Die Wissenskluft-Hypothese 9
sich hieran an: Er bemängelt unter anderem die „Präzision der Wissensbegriffe“ (2008, S.
157) und die „unzureichende […] Datenlage“ (2008, S. 157).
Die unter 2.3 genannten empirischen Befunde der Untersuchungen bestätigen die
Hypothese der Wissenskluft. Allerdings handelt es sich hierbei – das Feldexperiment
ausgenommen – „nur um Sekundäranalysen von Studien […], die im Zusammenhang mit
anderen Fragestellungen entwickelt worden waren“ (Bonfadelli, 1994, S. 70). An diesen
Kritikpunkt setzt Holst an, die der Meinung ist, dass die fünf Faktoren (siehe 2.3), die von
Tichenor et al. als ausschlaggebende Gründe für die Entstehung der Wissenskluft angeführt
wurden, „eher intuitiv ermittelt [wurden]“ (2000, S. 42). Die zentralen Variablen der
Hypothese sind nach Holsts Ansicht nicht eindeutig klassifiziert worden (vgl. Holst, 2000, S.
253). Auch Horstmann ist der Ansicht, dass die „methodischen Anforderungen für die
empirische Prüfung der Hypothese […] nicht angemessen [sind]“ (1991, S. 25). Außerdem
hält Horstmann die Formulierung der Hypothese für unpräzise und die Rolle der
Einflussfaktoren für ungeklärt (vgl. Horstmann, 1991, S. 21). Er führt an, dass es außer der
„Differenzierung von Information bzw. Wissen („Knowledge of“ und „Knowledge about“)
[…] keine weitergehende Strukturierung (z.B. nach Struktur-, Fakten-, Hintergrundwissen
[…]), keine Differenzierung im Sinne von Zentralität (lokal bis international) [gibt]“
(Horstmann, 1991, S. 22). Bonfadelli führt zudem an, dass für „jede Operationalisierung bzw.
konkrete Umsetzung der Wissenskluft-Hypothese nur ein empirisches Beispiel präsentiert
wird, wobei es sich in den meisten Fällen erst noch um kleine Untersuchungen, die auf
geringen Fallzahlen basieren, handelt“ (1994, S. 70).
Alle drei Autoren stimmen nicht uneingeschränkt mit der Hypothese von Tichenor,
Donohue und Olien überein und haben daher eigene Studien zur Untersuchung der
Wissenskluft-Hypothese durchgeführt.
Die Wissenskluft-Hypothese 10
3. Untersuchung der Aussagen durch Bonfadelli, Horstmann und Holst
3.1 Heinz Bonfadelli
Bonfadellis Studie richtete sich nach der Fragestellung, wie stark Wissensklüfte
hinsichtlich der Kommunikationsdimension, bezüglich welcher Themen und zwischen
welchen sozialen Segmenten ausgeprägt sind (vgl. Bonfadelli, 1994. S. 373). Dafür
verwendete er eine Panelstudie, die vom Institut für praktische Sozialforschung IPSO
durchgeführt wurde: Zuerst wurden die Teilnehmer persönlich befragt (Oktober bis
Dezember 1986), danach gab es zwei telefonische Nachbefragungen, die im März 1987 und
im Juni/Juli 1987 stattfanden. Die Grundgesamtheit „ist definiert als die 25-54jährige aktive
Schweizer Wohnbevölkerung in den beiden Lokalräumen Zürich und Basel [repräsentieren]“
(Bonfadelli, 1994, S. 374). Sie setzt sich aus 512 Befragten zusammen, wobei jeweils die
Hälfte Frauen und Männern sind. Die Bildung entfällt zu je rund einem Drittel auf die Mittel-
/Hochschule, die Sekundarschule und die Volks-/Realschule.
3.2 Reinhold Horstmann
Horstmann bezieht sich bei seiner empirischen Überprüfung der
Wissenskluft-Hypothese auf drei Panelbefragungen, die aufgrund von Wahlen durchgeführt
wurden. Die erste Umfrage war zur Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979, die
zweite zur Europawahl 1984 und die dritte war eine lokale Umfrage in Dortmund zur
Kommunalwahl 1984. Der untersuchte Wissensbereich liegt laut Horstmann
dementsprechend im Bereich wichtigen politischen Wissens. Zudem ist „ein entscheidendes
Kriterium für die Untersuchung der Entwicklung von Wissensklüften […] gegeben […]: ein
Anstieg der Medienberichterstattung über das jeweilige Untersuchungsthema“ (Horstmann,
1991, S. 57).
Die Wissenskluft-Hypothese 11
3.3 Isabella-Afra Holst
Bei Holst erfolgte die Überprüfung der Wissenskluft-Hypothese anhand von drei
politischen Konflikten: Dabei handelt es sich um „die 35-Stunden-Woche, die Lage in
Mittelamerika und die Ausländerproblematik in der Bundesrepublik Deutschland“ (Holst,
2000, S. 254). Grundlage war eine Sekundäranalyse von Daten, die eine Inhaltsanalyse der
Medienberichterstattung von Januar bis November 1984, vier repräsentative
Bevölkerungsbefragungen und eine Journalistenbefragung beinhaltet. In ihrer Studie
unterscheidet Holst zwischen Fakten- und Strukturwissen.
Faktenwissen bezieht sich dabei auf relativ einfache, intersubjektiv überprüfbare
Objekte bzw. Tatbestände (z.B. ‚wie hieß der erste Bundeskanzler der
Bundesrepublik?‘). Strukturwissen bezeichnet dagegen Entwicklungen, Ursachen und
Konsequenzen, die mit Objekten bzw. Tatbeständen verbunden sind. Es kann oft
nicht mehr auf seine objektive Richtigkeit überprüft werden (‚woran scheiterte die
sozialliberale Koalition?‘) (Horstmann, 1991, S. 30).
Eine weitere Unterscheidung erfolgt in Bezug auf das Wissen, das danach
unterschieden wird, „ob es sich auf Pro- oder Contra-Meldungen der Berichterstattung
bezieht“ (Holst, 2000, S. 253).
3.4 Drei Untersuchungsfragen
3.4.1 Rolle der formalen Bildung. Horstmann kommt bei seiner Untersuchung auf die
Frage nach der „Rolle der formalen Bildung als alleinigem Erklärungsmerkmal für die
unterschiedliche Wissensaufnahme in der Bevölkerung, wie es die ursprüngliche
Formulierung der Hypothese von Tichenor, Donohue und Olien (1970) behauptet“ (1991, S.
193) auf ein klares „Nein“ als Antwort. Für ihn ist die geringe Bedeutung der Bildung bereits
daran zu erkennen, dass es zu den Messzeitpunkten kaum Unterschiede zwischen den
verschiedenen Bildungsschichten gab. Außerdem scheidet laut Horstmann mit diesen
Die Wissenskluft-Hypothese 12
Befunden „auch der sozioökonomische Status als Merkmal zur Erklärung“ (1991, S. 193)
aus. Eine definitive Aussage zur Beschreibung und Erklärung des unterschiedlichen
Wissenserwerbs will Horstmann zwar nicht geben, allerdings plädiert er „eher gegen eine
Beschränkung auf Motivation und Interesse als Einflußfaktoren in der Hypothese“ (1991, S.
193f).
Holst ist dagegen der Meinung, dass „Rezipienten mit hoher Bildung […] generell
schneller als Rezipienten mit niedriger Bildung [lernen]“ (2000, S. 258, Hervorhebung wie
im Original). Der Grund hierfür liegt ihrer Meinung nach darin, dass besser Gebildete im
Lernen geübter sind und über ein größeres themenspezifisches Vorwissen verfügen. So
können sie sich sowohl Fakten- als auch Strukturwissen schneller aneignen, komplexe
Informationen besser verarbeiten und neue Informationen gezielter in einen differenzierten
Wissensstand einordnen. Aufgrund dieser Faktoren kommt es gerade dann zu
Wissensklüften, wenn „Medien mit hoher Informationsdichte und geringer Intensität über
einen Konflikt berichten.“ (Holst, 2000, S. 258). Allerdings schränkt auch Holst – ebenso wie
Horstmann – die Bedeutung der Bildung als alleiniges Erklärungsmerkmal ein. Vielmehr
plädiert sie dafür, weitere Faktoren wie Interesse, Wissensart, Medienberichterstattung und
Mediennutzung zu berücksichtigen.
3.4.2 Langfristigkeit von Wissensunterschieden. Laut Tichenor et al. verringert sich
die Wissenskluft bei abnehmender Aufmerksamkeit für das Untersuchungsthema. Horstmann
stellte für den Zeitraum zwischen den Europawahlen von 1979 und 1984 genau diesen Effekt
fest. Allerdings schränkt er die Bedeutung des Ergebnisses als ungesichert ein, da sich der
Abstand zwischen den Bildungsschichten zwischen den beiden Wahlen beträchtlich
vergrößert. Zudem ist der Abstand der Befragungen so groß, dass es möglicherweise mehrere
Auf und Abs des Wissensunterschiedes gegeben haben könnte (vgl. Horstmann, 1991, S.
195).
Die Wissenskluft-Hypothese 13
Bonfadelli fand bei seiner Studie heraus, dass sowohl die Informiertheit als auch die
Wissensklüfte im Verlauf der drei untersuchten Monate nur leicht zugenommen haben.
Nachdem er die Wissensklüfte zwischen den Mediennutzern, die sich hauptsächlich auf das
Fernsehen stützen und denjenigen Mediennutzern, die sich hauptsächlich an der Presse
orientieren, verglich, kam er zu dem Ergebnis, dass sich hierbei deutliche Wissensklüfte
äußern (vgl. Bonfadelli, 1994, S. 387). Unabhängig vom Bildungssegment „haben nur jene
ihren Wissensstand während der untersuchten Zeitspanne erhöht, die sich hauptsächlich über
die Presse informierten“ (Bonfadelli, 1994, S.387). Es zeigt sich, dass Personen aus dem
tiefsten Bildungssegment, die Printmedien nutzten, im Vergleich zu den höher Gebildeten,
die wenig Printmedien nutzten, ihren Wissensrückstand aufholen konnten.
Holst erklärt, dass die „Geschwindigkeit mit der die Wissenskluft entsteht sowie ihre
Dauer […] von mehreren Faktoren [abhängen]“ (2000, S. 259, Hervorhebung wie im
Original). Ihrer Meinung nach kommt es vor allem am Anfang von Konfliktthematisierungen
zu Wissensklüften, da besser Gebildete im Vergleich zu weniger Gebildeten schneller lernen.
Wie Bonfadelli kommt auch Holst zu der Ansicht, dass Wissensklüfte mit der Zeit
geschlossen werden können. Voraussetzung dafür ist, dass die Medien intensiv berichten und
den Sachverhalt einfach darstellen (hohe Intensität, geringe Informationsdichte). Ist die
Intensität der Berichterstattung dagegen sehr gering und die Informationsdichte sehr hoch, ist
es den weniger Gebildeten nicht möglich, ihre Lernbenachteiligung (langsamer Erwerb von
Fakten- und Strukturwissen) zu kompensieren, sodass mit dauerhaften Wissensklüften zu
rechnen ist (vgl. Holst, 2000, S. 259).
3.4.3 Einfluss der geographischen und/oder psychologischen Nähe der Bevölkerung
zum Untersuchungsthema. Horstmann kommt bei seiner Untersuchung bezüglich der Frage,
wie groß der Einfluss auf Wissensunterschiede bei geographischer/psychologischer Nähe der
Bevölkerung zum Thema ist, zu uneinheitlichen Ergebnissen. Bei der Europawahl 1984 und
Die Wissenskluft-Hypothese 14
der Kommunalwahl in Dortmund bleiben die Kenntnisse über die Spitzenpolitiker während
des Wahlkampfes konstant. Nach dem Wahltag steigt die Kenntnis über die lokalen
Spitzenpolitiker an, wohingegen die Kenntnis über nationale Spitzenpolitker abnimmt. Dies
widerspricht der „Erwartung, daß die besondere Nähe zum Untersuchungsgegenstand eine
Gleichverteilung des Wissens fördert“ (Horstmann, 1991, S. 195). In beiden Fällen
berichteten die Medien relativ ausgewogen und ohne besondere Höhepunkte über die
Wahlen. Auch das Interesse an der Wahl stimmt ungefähr mit dem Niveau der tatsächlichen
Wahlbeteiligung überein. Allerdings sind die „Ergebnisse während des Wahlkampfes […]
gleich, […] bei einem ähnlichen zeitlichen Abstand zwischen Vor- und Nachbefragung
dagegen konträr“ (Horstmann, 1991, S. 195). Horstmann gesteht, dass „alle naheliegenden
Erklärungsmöglichkeiten nicht greifen“ (1991, S. 195) und die Gründe für diese Ergebnisse
daher offen bleiben müssen. Im Gegensatz dazu kommt Holst bei ihrer Arbeit zu dem
Schluss, dass die Nähe zum Thema für weniger Gebildete die Möglichkeit bietet, „die
Schwierigkeit bei der Rezeption von Medieninformationen teilweise auszugleichen“ (2000.
S. 258). Geringer Gebildete können bei regionalen Konflikten mit Bekannten sprechen und
sich so verschiedenes Wissen aneignen, das ihnen einen größeren Überblick über das Thema
ermöglicht.
Bei überregionalen Konflikten ist die Bevölkerung dagegen abhängiger von
Medienberichterstattungen. Dies wiederum führt dazu, dass höher Gebildete im Gegensatz zu
weniger Gebildeten schneller Fakten- und Strukturwissen aufbauen und eine Wissenskluft
entsteht.
Holst bestätigt demnach die Aussagen von Tichenor et al., dass sich die besondere
Nähe zum Thema in gleichmäßigerer Wissensverteilung auswirkt.
Die Wissenskluft-Hypothese 15
4. Schlussbetrachtung
Zuerst habe ich in meiner Arbeit die Ausgangshypothese der Wissenskluft vorgestellt.
Tichenor, Donohue und Olien begründeten ihre Hypothese zum einen mit bereits
vorhandenen älteren empirischen Untersuchungen und zum anderen führten sie selbst Studien
durch, die ihre Aussage bestätigten. Sie bezogen sich dabei auf die Diffusionsstudie, die
bestätigte, dass eine Informationserhöhung nicht automatisch dazu führt, dass die Information
auch gleichmäßig bei allen Bevölkerungsmitgliedern ankommt. Durch die Trendstudie kamen
Tichenor et al. zu der Feststellung, dass die Abhängigkeit von Bildung und Wissensstand im
Laufe der Zeit zunahm und sich die Wissenskluft dementsprechend vergrößerte. Auch das
Quasi-Experiment des Zeitungsstreiks bestätigte die Hypothese, da sich die
Wissensunterschiede verringerten, als der Informationsfluss der Medienberichterstattung
abnahm. Daran anschließend zeigte das Feldexperiment, dass die Wissensklüfte bei stärkerer
Medienbeachtung größer und bei geringerer Medienbeachtung kleiner sind. Als Ergebnis der
Forschungen und als Ursachen der Wissensklüfte nennen die Autoren die Medienkompetenz,
das Vorwissen, die relevanten sozialen Kontakte, die selektive Zuwendung, Akzeptanz und
Behalten von Informationen sowie das Mediensystem.
Ein häufig genannter Kritikpunkt der formulierten Hypothese sind die uneindeutigen
Einflussfaktoren. Weitere Kritikpunkte betreffen die durchgeführten Untersuchungen, die
zwar alle die Hypothese von Tichenor et al. bestätigen, aber nicht alle ausschließlich nur für
die Untersuchung der Wissenskluft-Hypothese durchgeführt wurden. Dementsprechend wird
bemängelt, dass die empirischen Prüfungen zur Bestätigung unzureichend und weitere
Differenzierungen sowohl der eingesetzten Variablen als auch der allgemeingültigen
Aussagen notwendig sind.
Aufgrund dieser Kritik wurden weiterführende Studien zur Wissenskluft-Hypothese
betrachtet. Einige Kritikpunkte konnten so genauer erläutert und untersucht werden. Die
Die Wissenskluft-Hypothese 16
Ergebnisse waren allerdings teilweise unterschiedlich und widersprachen sich in wichtigen
Punkten. Insgesamt ist die Wissenskluft-Konzeption sehr offen gehalten, da „es sich nicht um
ein explizit ausformuliertes und geschlossenes theoretisches System handelt, sondern eher um
eine Perspektive, die auf verschiedensten Wirkungsphänomenen anwendbar ist“ (Bonfadelli,
1985, S. 72, zit. n. Horstmann, 1991, S. 18). Aus diesem Grund ist es möglicherweise
sinnvoll, einzelne Aussagen und deren Ursachen noch mehr zu differenzieren um so
detailliertere Ausführungen geben zu können.
Die Wissenskluft-Hypothese 17
Literaturverzeichnis
Bonfadelli, H. (1994). Die Wissenskluft-Perspektive: Massenmedien und gesellschaftliche
Information. In W. Hömberg, H. Pürer & U. Saxer (Eds.), Forschungsfeld
Kommunikation. Konstanz: Ölschläger.
Holst, I.-A. (2000). Realitätswahrnehmung in politischen Konflikten: Grundlagen einer
Theorie der Wissenskluft. Konstanz: UVK.
Horstmann, R. (1991). Medieneinflüsse auf politisches Wissen: Zur Tragfähigkeit der
Wissenskluft-Hypothese. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag.
Schmidt, S. J., & Zurstiege, G. (2000). Orientierung Kommunikationswissenschaft: Was sie
kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. [S. 109-113]
Schmidt, S. J., & Zurstiege, G. (2007). Kommunikationswissenschaft: Systematik und Ziele.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. [S. 80-84]
Stöber, R. (2008). Kommunikations- und Medienwissenschaft: Eine Einführung. München:
C.H. Beck. [S. 156-158]