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Die Wissenskluft-Hypothese Running head: DIE WISSENSKLUFT-HYPOTHESE Die Wissenskluft-Hypothese Eine Überprüfung durch drei unabhängige Studien Larissa Grodke-Bried Matrikelnr.: 3725476 Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. Dr. Guido Zurstiege Dr. Tino G. K. Meitz Tutor: Elena Pelzer 16.03.2012

Die Wissenskluft-Hypothese Eine Überprüfung durch drei ... · Artikel „Media Flow and Differential Growth in Knowledge“, der in der amerikanischen Fachzeitschrift Public Opinion

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Die Wissenskluft-Hypothese

Running head: DIE WISSENSKLUFT-HYPOTHESE

Die Wissenskluft-Hypothese

Eine Überprüfung durch drei unabhängige Studien

Larissa Grodke-Bried

Matrikelnr.: 3725476

Eberhard Karls Universität Tübingen

Prof. Dr. Guido Zurstiege

Dr. Tino G. K. Meitz

Tutor: Elena Pelzer

16.03.2012

Die Wissenskluft-Hypothese

Abstract

Nach der allgemeinen Vorstellung der Gesellschaft sollen die Massenmedien für die

Informationsverbreitung in der Bevölkerung sorgen. Mehr Informationsmenge bedeutet dann

mehr Wissen und auch mehr Demokratie für jeden einzelnen Bürger. Die Wissenskluft-

Hypothese stellt diese Vorstellung von der Funktion der Medien in Frage, da sie aussagt, dass

höher Gebildete besser in der Lage sind, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten als

geringer Gebildete. Die Studie von Tichenor, Donohue und Olien stammt zwar aus dem Jahr

1970, doch durch die heutigen Diskussionen über eine Zwei-Klassengeselleschaft und die

Befürchtung einer auseinandergehenden Schere zwischen gering und hoch Gebildeten ist die

Studie mehr als aktuell. In meiner Arbeit gehe ich zuerst auf die Studie von Tichenor et al.

und die Begründung der Wissensklüfte ein. Um die oben genannte Vorstellung weiter zu

untersuchen vergleiche ich die Studien von Heinz Bonfadelli, Isabella-Afra Holst und

Reinhold Horstmann, die die Allgemeingültigkeit der Hypothese in Frage stellen und daher

eigene Analysen durchgeführt haben. Im Vergleich von mehreren Fragstellungen, kommen

sie zu teilweise unterschiedlichen Ergebnissen, die darauf hindeuten, dass die Hypothese von

Tichenor et al. nicht generell gültig ist. Vielmehr ist es wichtig, vielschichtige

Differenzierungen für die Betrachtung des Phänomens einzuführen und individuelle

Eigenschaften zu beachten.

Die Wissenskluft-Hypothese

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 4

2. Die Wissenskluft-Hypothese 5

2.1 Ausgangshypothese 5

2.2 Begründung der Ausgangshypothese 6

2.3 Ursachen des Wissensklufteffekts 7

2.4 Kritik an der Ausgangshypothese 8

3. Untersuchung der Aussagen durch Bonfadelli, Horstmann und Holst 10

3.1 Heinz Bonfadelli 10

3.2 Reinhold Horstmann 10

3.3 Isabella-Afra Holst 11

3.4 Drei Untersuchungsfragen 11

3.4.1 Rolle der formalen Bildung 11

3.4.2 Langfristigkeit von Wissensunterschieden 12

3.4.3 Einfluss der geographischen und/oder psychologischen

Nähe der Bevölkerung zum Untersuchungsthema 13

4. Schlussbetrachtung 15

Literaturverzeichnis 17

Erklärung der Eigenständigkeit 18

Die Wissenskluft-Hypothese 4

1. Einleitung

Die Welt wächst zusammen, alles wird vernetzter und irgendwie steht jeder mit jedem

und viele mit vielen anderen in Verbindung. Unsere Welt ist global und auch wenn es

natürlich schon früher große Probleme gab, so zeigt sich doch immer deutlicher, dass es heute

trotz neuster Techniken immer noch große Probleme gibt, nur dass diese jetzt eben alle

betreffen.

Es muss keine direkte Betroffenheit vorliegen, aber durch die Globalisierung und den

technischen Errungenschaften ist es uns möglich, jederzeit und von überall auf der Welt

Informationen zu erhalten. Die Welt ist groß und es gibt quasi ununterbrochen neue

Meldungen, Erkenntnisse und Neuigkeiten, sodass es uns theoretisch möglich ist, die ganze

Zeit neues Wissen aufzunehmen und vorhandenes auszubauen. Mehr Information bedeutet

also mehr Wissen. Doch laut der Wissenskluft-Hypothese bedeutet mehr Information auch

eine steigende Ungleichverteilung des Wissens in der Bevölkerung. Sie sagt aus, dass besser

gebildete Personen bei steigender Informationsmenge die Informationen schneller aufnehmen

und verarbeiten können als weniger gebildete Personen. Dadurch entsteht eine Wissenskluft

zwischen den Bevölkerungsschichten.

In meiner vorliegenden Arbeit stelle ich zuerst (Kapitel 2) die Ausgangshypothese des

Kommunikationswissenschaftlers Philipp J. Tichenor und der beiden Soziologen George A.

Donohue und Clarice N. Olien aus dem Jahre 1970 vor. Es gibt viele Weiterentwicklungen

der Hypothese, die ich allerdings nicht näher betrachte, da sie den Rahmen dieser Arbeit

sprengen würden. Ich konzentriere mich auf die Begründung der Ausgangshypothese und die

von Tichenor et al. durchgeführten Untersuchungen, mit denen sie ihre Hypothese

überprüften. Im Anschluss daran fasse ich die Kritik an der Ausgangshypothese zusammen

um danach auf drei unabhängige Studien einzugehen (Kapitel 3). Zum einen ist dies eine

Studie von Heinz Bonfadelli aus den Jahren 1986 und 1987, der eine Erhebung in der

Die Wissenskluft-Hypothese 5

Schweiz zum Zusammenhang von Mediennutzung und politischer Informiertheit durchführte

(Kapitel 3.1). Bei der zweiten Studie untersuchte Reinhold Horstmann drei

Bevölkerungspanels aus den Jahren 1979 und 1984 mit Blick auf die grundsätzliche

Tragweite der Wissenskluft-Hypothese (Kapitel 3.2). Die dritte Studie ist von Isabella-Afra

Holst, die die Wissenskluft-Hypothese anhand von drei politischen Konflikten (35-Stunden-

Woche, Lage in Mittelamerika, Ausländerproblematik in der Bundesrepublik Deutschland)

und mehreren Bevölkerungsumfragen untersucht (Kapitel 3.3).

In Kapitel 3.4 stelle ich die Ergebnisse der oben genannten Autoren zu drei

verschiedenen Untersuchungsfragen (Rolle der formalen Bildung, Langfristigkeit von

Wissensunterschieden, Einfluss der geographischen/psychologischen Nähe der Bevölkerung

zum Untersuchungsthema) zusammen und vergleiche sie.

2. Die Wissenskluft-Hypothese

2.1 Ausgangshypothese

Der Kommunikationswissenschaftler Philipp J. Tichenor und die Soziologen George

A. Donohue und Clarice N. Olien von der Universität Minnesota formulierten 1970 in ihrem

Artikel „Media Flow and Differential Growth in Knowledge“, der in der amerikanischen

Fachzeitschrift Public Opinion Quarterly veröffentlich wurde, folgende Hypothese:

As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of

the population with higher socioeconomic status tend to acquire this information at a

faster rate than the lower status segments, so that the gap in knowledge between these

segments tend to increase rather than decrease. (Tichenor et al., 1970, S. 159-160, zit.

n. Holst, 2000, S. 20).

Die Hypothese sagt aus, dass der Wissenszuwachs bei Personen mit einem höheren

soziökonomischen Status relativ gesehen größer ist, als bei Statusniedrigeren und es

dementsprechend bei steigendem Informationsangebot zu einer Wissenskluft zwischen den

Die Wissenskluft-Hypothese 6

verschiedenen Bevölkerungsschichten

kommt. Als Grund wird hierbei angeführt,

dass Statushöhere Informationsangebote

der Medien schneller und auch effektiver

aufnehmen können als Statusniedrigere.

Diese Aussage widerspricht der bis dahin

gängigen Vorstellung, dass es zu einem

allgemeinen Wissensanwachs kommt,

sobald das Informationsangebot qualitativ

und quantitativ steigt.

Die zentralen Variablen der

Hypothese sind die „steigende

Medienberichterstattung, sozioökonomischer Status, Wissenszunahme und Zeit.“ (Holst,

2000, S. 20).

2.2 Begründung der Ausgangshypothese

Tichenor, Donohue und Olien beschränkten ihre empirischen Überprüfungen auf drei

Bedingungen: Das Untersuchungsthema bezieht sich auf Politik- und Wissenschaftsbereiche,

die Berichterstattung des Untersuchungsthemas ist ansteigend und die Untersuchung bezieht

sich auf Printmedien. Ihre Hypothese begründeten sie zum einen mit älteren Untersuchungen

der empirischen Medienwirkungsforschung und zum anderen überprüften sie ihre Hypothese

mit folgenden Untersuchungsanlagen:

1. Frühere Diffusionsstudien, die sich mit der Schnelligkeit der

Nachrichtenverbreitung beschäftigten, zeigten, dass „die Erhöhung des Informationsangebots

nicht immer zu einer gleichmäßigen Rezeption der Information führte.“ (Holst, 2000, S. 22).

Abbildung 1: Visualisiertes Paradigma der

Wissenskluft-Hypothese nach Bonfadelli,

1987, S. 307

Die Wissenskluft-Hypothese 7

2. Bei der Trendstudie werteten Tichenor et al. drei Fragen des American Institute for

Public Opinion, die mehrmals im Zeitraum von 1949 bis 1969 gestellt wurden, zum Thema

Möglichkeit einer Mondlandung, Identifikation von Erdsatelliten und Rauchen als Ursache

von Lungenkrebs aus. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Informationsstand absolut

zunahm und sich gleichzeitig „die Korrelation zwischen Bildung und Wissensstand bei jedem

der drei Themen im Zeitverlauf [vergrößerte]“ (Bonfadelli, 1994, S. 68), die Wissenskluft

also zunahm.

3. Durch das Quasi-Experiment sollte die Komplementärhypothese, also die

Umkehrung der Wissenskluft-Hypothese, überprüft werden. In einer Gemeinde, die von

einem Zeitungsstreik betroffen war, verringerte sich die Wissenskluft, im Gegensatz zur nicht

vom Streik betroffenen Nachbargemeinde, bei der die Wissenskluft stärker auftrat. Die

Untersuchung bestätigte die Erwartungen, dass sich Wissensunterschiede verringern, wenn

der Informationsfluss der Medienberichterstattung abnimmt.

4. Tichenor et. al untersuchten 1967 mit einem Feldexperiment das Verständnis von

Artikeln zu medizinisch-biologischen und sozialwissenschaftlichen Themen. Dabei sollten

600 Personen aus Minneapolis jeweils zwei Artikel lesen und danach wiedergeben. Durch

eine Inhaltsanalyse wurden die Artikel in geringe und starke Medienbeachtung unterteilt. Das

Ergebnis des Experiments bestätigte die Aussage der Wissenskluft-Hypothese, dass die

Wissensklüfte bei stärkerer Medienbeachtung größer sind und umgekehrt.

2.3 Ursachen des Wissensklufteffekts

Tichenor, Donohue und Olien benennen als Resultat ihrer Forschungen folgende

Faktoren, die ihrer Meinung nach die Ursachen der Wissenskluft darstellen:

1. Medienkompetenz/communication skills: Personen mit besserer Bildung verfügen

über bessere Lese- und Verstehensfertigkeiten, die dafür sorgen, dass politisches und

Die Wissenskluft-Hypothese 8

wissenschaftliches Wissen schneller gelernt und komplexe Zusammenhänge schneller erfasst

und verarbeitet werden können.

2. Vorwissen/stored information: Höher Gebildete verfügen über mehr Vorwissen.

Dieses wird durch Schulbildung oder durch Mediennutzung erworben und erhöht zum einen

die Aufmerksamkeit für weitere Informationen zu diesem Thema und ermöglicht es zum

anderen, leichter Verbindungen zwischen verschiedenen Wissensbereichen herzustellen.

3. Relevante soziale Kontakte/relevant social contact: Personen mit einer höheren

Bildung verfügen über eine größere Anzahl an personalen Kontakten, haben ein breiteres

Spektrum an Alltagsaktivitäten und besitzen eine größere Referenzgruppenanzahl, die dafür

sorgen, dass ein hoher Informationsaustausch zustande kommt.

4. Selektive Zuwendung, Akzeptanz und Behalten von Informationen/selective

exposure, acceptance: Medienangebote werden von Personen mit einem höheren

Bildungsniveau sehr selektiv genutzt, um freiwillig und aktiv nach bestimmten Informationen

zu suchen. Im Gegensatz dazu konsumieren niedriger gebildete Personen Medienangebote

eher passiv.

5. Mediensystem: Die Printmedien vermitteln den größten Teil an Informationen über

das öffentliche und politische Geschehen sowie über die neusten wissenschaftlichen

Fortschritte. Sie orientieren ihren Inhalt am stärksten an den Interessen der status- und

bildungshöheren Mediennutzer und werden auch von diesen am meisten genutzt.

2.4 Kritik an der Ausgangshypothese

Bereits im Namen der Wissenskluft-Hypothese steckt die erste Kritik: So kritisiert

Holst die Verwendung des Begriffes „Wissenskluft“ in der Wissenskluftforschung und

fordert die Einteilung des Begriffes einerseits in eine zeitliche Dimension und andererseits in

die Ursachen der Wissenskluftentstehung (vgl. Holst, 2000, S. 41). Stöbers Kritik schließt

Die Wissenskluft-Hypothese 9

sich hieran an: Er bemängelt unter anderem die „Präzision der Wissensbegriffe“ (2008, S.

157) und die „unzureichende […] Datenlage“ (2008, S. 157).

Die unter 2.3 genannten empirischen Befunde der Untersuchungen bestätigen die

Hypothese der Wissenskluft. Allerdings handelt es sich hierbei – das Feldexperiment

ausgenommen – „nur um Sekundäranalysen von Studien […], die im Zusammenhang mit

anderen Fragestellungen entwickelt worden waren“ (Bonfadelli, 1994, S. 70). An diesen

Kritikpunkt setzt Holst an, die der Meinung ist, dass die fünf Faktoren (siehe 2.3), die von

Tichenor et al. als ausschlaggebende Gründe für die Entstehung der Wissenskluft angeführt

wurden, „eher intuitiv ermittelt [wurden]“ (2000, S. 42). Die zentralen Variablen der

Hypothese sind nach Holsts Ansicht nicht eindeutig klassifiziert worden (vgl. Holst, 2000, S.

253). Auch Horstmann ist der Ansicht, dass die „methodischen Anforderungen für die

empirische Prüfung der Hypothese […] nicht angemessen [sind]“ (1991, S. 25). Außerdem

hält Horstmann die Formulierung der Hypothese für unpräzise und die Rolle der

Einflussfaktoren für ungeklärt (vgl. Horstmann, 1991, S. 21). Er führt an, dass es außer der

„Differenzierung von Information bzw. Wissen („Knowledge of“ und „Knowledge about“)

[…] keine weitergehende Strukturierung (z.B. nach Struktur-, Fakten-, Hintergrundwissen

[…]), keine Differenzierung im Sinne von Zentralität (lokal bis international) [gibt]“

(Horstmann, 1991, S. 22). Bonfadelli führt zudem an, dass für „jede Operationalisierung bzw.

konkrete Umsetzung der Wissenskluft-Hypothese nur ein empirisches Beispiel präsentiert

wird, wobei es sich in den meisten Fällen erst noch um kleine Untersuchungen, die auf

geringen Fallzahlen basieren, handelt“ (1994, S. 70).

Alle drei Autoren stimmen nicht uneingeschränkt mit der Hypothese von Tichenor,

Donohue und Olien überein und haben daher eigene Studien zur Untersuchung der

Wissenskluft-Hypothese durchgeführt.

Die Wissenskluft-Hypothese 10

3. Untersuchung der Aussagen durch Bonfadelli, Horstmann und Holst

3.1 Heinz Bonfadelli

Bonfadellis Studie richtete sich nach der Fragestellung, wie stark Wissensklüfte

hinsichtlich der Kommunikationsdimension, bezüglich welcher Themen und zwischen

welchen sozialen Segmenten ausgeprägt sind (vgl. Bonfadelli, 1994. S. 373). Dafür

verwendete er eine Panelstudie, die vom Institut für praktische Sozialforschung IPSO

durchgeführt wurde: Zuerst wurden die Teilnehmer persönlich befragt (Oktober bis

Dezember 1986), danach gab es zwei telefonische Nachbefragungen, die im März 1987 und

im Juni/Juli 1987 stattfanden. Die Grundgesamtheit „ist definiert als die 25-54jährige aktive

Schweizer Wohnbevölkerung in den beiden Lokalräumen Zürich und Basel [repräsentieren]“

(Bonfadelli, 1994, S. 374). Sie setzt sich aus 512 Befragten zusammen, wobei jeweils die

Hälfte Frauen und Männern sind. Die Bildung entfällt zu je rund einem Drittel auf die Mittel-

/Hochschule, die Sekundarschule und die Volks-/Realschule.

3.2 Reinhold Horstmann

Horstmann bezieht sich bei seiner empirischen Überprüfung der

Wissenskluft-Hypothese auf drei Panelbefragungen, die aufgrund von Wahlen durchgeführt

wurden. Die erste Umfrage war zur Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979, die

zweite zur Europawahl 1984 und die dritte war eine lokale Umfrage in Dortmund zur

Kommunalwahl 1984. Der untersuchte Wissensbereich liegt laut Horstmann

dementsprechend im Bereich wichtigen politischen Wissens. Zudem ist „ein entscheidendes

Kriterium für die Untersuchung der Entwicklung von Wissensklüften […] gegeben […]: ein

Anstieg der Medienberichterstattung über das jeweilige Untersuchungsthema“ (Horstmann,

1991, S. 57).

Die Wissenskluft-Hypothese 11

3.3 Isabella-Afra Holst

Bei Holst erfolgte die Überprüfung der Wissenskluft-Hypothese anhand von drei

politischen Konflikten: Dabei handelt es sich um „die 35-Stunden-Woche, die Lage in

Mittelamerika und die Ausländerproblematik in der Bundesrepublik Deutschland“ (Holst,

2000, S. 254). Grundlage war eine Sekundäranalyse von Daten, die eine Inhaltsanalyse der

Medienberichterstattung von Januar bis November 1984, vier repräsentative

Bevölkerungsbefragungen und eine Journalistenbefragung beinhaltet. In ihrer Studie

unterscheidet Holst zwischen Fakten- und Strukturwissen.

Faktenwissen bezieht sich dabei auf relativ einfache, intersubjektiv überprüfbare

Objekte bzw. Tatbestände (z.B. ‚wie hieß der erste Bundeskanzler der

Bundesrepublik?‘). Strukturwissen bezeichnet dagegen Entwicklungen, Ursachen und

Konsequenzen, die mit Objekten bzw. Tatbeständen verbunden sind. Es kann oft

nicht mehr auf seine objektive Richtigkeit überprüft werden (‚woran scheiterte die

sozialliberale Koalition?‘) (Horstmann, 1991, S. 30).

Eine weitere Unterscheidung erfolgt in Bezug auf das Wissen, das danach

unterschieden wird, „ob es sich auf Pro- oder Contra-Meldungen der Berichterstattung

bezieht“ (Holst, 2000, S. 253).

3.4 Drei Untersuchungsfragen

3.4.1 Rolle der formalen Bildung. Horstmann kommt bei seiner Untersuchung auf die

Frage nach der „Rolle der formalen Bildung als alleinigem Erklärungsmerkmal für die

unterschiedliche Wissensaufnahme in der Bevölkerung, wie es die ursprüngliche

Formulierung der Hypothese von Tichenor, Donohue und Olien (1970) behauptet“ (1991, S.

193) auf ein klares „Nein“ als Antwort. Für ihn ist die geringe Bedeutung der Bildung bereits

daran zu erkennen, dass es zu den Messzeitpunkten kaum Unterschiede zwischen den

verschiedenen Bildungsschichten gab. Außerdem scheidet laut Horstmann mit diesen

Die Wissenskluft-Hypothese 12

Befunden „auch der sozioökonomische Status als Merkmal zur Erklärung“ (1991, S. 193)

aus. Eine definitive Aussage zur Beschreibung und Erklärung des unterschiedlichen

Wissenserwerbs will Horstmann zwar nicht geben, allerdings plädiert er „eher gegen eine

Beschränkung auf Motivation und Interesse als Einflußfaktoren in der Hypothese“ (1991, S.

193f).

Holst ist dagegen der Meinung, dass „Rezipienten mit hoher Bildung […] generell

schneller als Rezipienten mit niedriger Bildung [lernen]“ (2000, S. 258, Hervorhebung wie

im Original). Der Grund hierfür liegt ihrer Meinung nach darin, dass besser Gebildete im

Lernen geübter sind und über ein größeres themenspezifisches Vorwissen verfügen. So

können sie sich sowohl Fakten- als auch Strukturwissen schneller aneignen, komplexe

Informationen besser verarbeiten und neue Informationen gezielter in einen differenzierten

Wissensstand einordnen. Aufgrund dieser Faktoren kommt es gerade dann zu

Wissensklüften, wenn „Medien mit hoher Informationsdichte und geringer Intensität über

einen Konflikt berichten.“ (Holst, 2000, S. 258). Allerdings schränkt auch Holst – ebenso wie

Horstmann – die Bedeutung der Bildung als alleiniges Erklärungsmerkmal ein. Vielmehr

plädiert sie dafür, weitere Faktoren wie Interesse, Wissensart, Medienberichterstattung und

Mediennutzung zu berücksichtigen.

3.4.2 Langfristigkeit von Wissensunterschieden. Laut Tichenor et al. verringert sich

die Wissenskluft bei abnehmender Aufmerksamkeit für das Untersuchungsthema. Horstmann

stellte für den Zeitraum zwischen den Europawahlen von 1979 und 1984 genau diesen Effekt

fest. Allerdings schränkt er die Bedeutung des Ergebnisses als ungesichert ein, da sich der

Abstand zwischen den Bildungsschichten zwischen den beiden Wahlen beträchtlich

vergrößert. Zudem ist der Abstand der Befragungen so groß, dass es möglicherweise mehrere

Auf und Abs des Wissensunterschiedes gegeben haben könnte (vgl. Horstmann, 1991, S.

195).

Die Wissenskluft-Hypothese 13

Bonfadelli fand bei seiner Studie heraus, dass sowohl die Informiertheit als auch die

Wissensklüfte im Verlauf der drei untersuchten Monate nur leicht zugenommen haben.

Nachdem er die Wissensklüfte zwischen den Mediennutzern, die sich hauptsächlich auf das

Fernsehen stützen und denjenigen Mediennutzern, die sich hauptsächlich an der Presse

orientieren, verglich, kam er zu dem Ergebnis, dass sich hierbei deutliche Wissensklüfte

äußern (vgl. Bonfadelli, 1994, S. 387). Unabhängig vom Bildungssegment „haben nur jene

ihren Wissensstand während der untersuchten Zeitspanne erhöht, die sich hauptsächlich über

die Presse informierten“ (Bonfadelli, 1994, S.387). Es zeigt sich, dass Personen aus dem

tiefsten Bildungssegment, die Printmedien nutzten, im Vergleich zu den höher Gebildeten,

die wenig Printmedien nutzten, ihren Wissensrückstand aufholen konnten.

Holst erklärt, dass die „Geschwindigkeit mit der die Wissenskluft entsteht sowie ihre

Dauer […] von mehreren Faktoren [abhängen]“ (2000, S. 259, Hervorhebung wie im

Original). Ihrer Meinung nach kommt es vor allem am Anfang von Konfliktthematisierungen

zu Wissensklüften, da besser Gebildete im Vergleich zu weniger Gebildeten schneller lernen.

Wie Bonfadelli kommt auch Holst zu der Ansicht, dass Wissensklüfte mit der Zeit

geschlossen werden können. Voraussetzung dafür ist, dass die Medien intensiv berichten und

den Sachverhalt einfach darstellen (hohe Intensität, geringe Informationsdichte). Ist die

Intensität der Berichterstattung dagegen sehr gering und die Informationsdichte sehr hoch, ist

es den weniger Gebildeten nicht möglich, ihre Lernbenachteiligung (langsamer Erwerb von

Fakten- und Strukturwissen) zu kompensieren, sodass mit dauerhaften Wissensklüften zu

rechnen ist (vgl. Holst, 2000, S. 259).

3.4.3 Einfluss der geographischen und/oder psychologischen Nähe der Bevölkerung

zum Untersuchungsthema. Horstmann kommt bei seiner Untersuchung bezüglich der Frage,

wie groß der Einfluss auf Wissensunterschiede bei geographischer/psychologischer Nähe der

Bevölkerung zum Thema ist, zu uneinheitlichen Ergebnissen. Bei der Europawahl 1984 und

Die Wissenskluft-Hypothese 14

der Kommunalwahl in Dortmund bleiben die Kenntnisse über die Spitzenpolitiker während

des Wahlkampfes konstant. Nach dem Wahltag steigt die Kenntnis über die lokalen

Spitzenpolitiker an, wohingegen die Kenntnis über nationale Spitzenpolitker abnimmt. Dies

widerspricht der „Erwartung, daß die besondere Nähe zum Untersuchungsgegenstand eine

Gleichverteilung des Wissens fördert“ (Horstmann, 1991, S. 195). In beiden Fällen

berichteten die Medien relativ ausgewogen und ohne besondere Höhepunkte über die

Wahlen. Auch das Interesse an der Wahl stimmt ungefähr mit dem Niveau der tatsächlichen

Wahlbeteiligung überein. Allerdings sind die „Ergebnisse während des Wahlkampfes […]

gleich, […] bei einem ähnlichen zeitlichen Abstand zwischen Vor- und Nachbefragung

dagegen konträr“ (Horstmann, 1991, S. 195). Horstmann gesteht, dass „alle naheliegenden

Erklärungsmöglichkeiten nicht greifen“ (1991, S. 195) und die Gründe für diese Ergebnisse

daher offen bleiben müssen. Im Gegensatz dazu kommt Holst bei ihrer Arbeit zu dem

Schluss, dass die Nähe zum Thema für weniger Gebildete die Möglichkeit bietet, „die

Schwierigkeit bei der Rezeption von Medieninformationen teilweise auszugleichen“ (2000.

S. 258). Geringer Gebildete können bei regionalen Konflikten mit Bekannten sprechen und

sich so verschiedenes Wissen aneignen, das ihnen einen größeren Überblick über das Thema

ermöglicht.

Bei überregionalen Konflikten ist die Bevölkerung dagegen abhängiger von

Medienberichterstattungen. Dies wiederum führt dazu, dass höher Gebildete im Gegensatz zu

weniger Gebildeten schneller Fakten- und Strukturwissen aufbauen und eine Wissenskluft

entsteht.

Holst bestätigt demnach die Aussagen von Tichenor et al., dass sich die besondere

Nähe zum Thema in gleichmäßigerer Wissensverteilung auswirkt.

Die Wissenskluft-Hypothese 15

4. Schlussbetrachtung

Zuerst habe ich in meiner Arbeit die Ausgangshypothese der Wissenskluft vorgestellt.

Tichenor, Donohue und Olien begründeten ihre Hypothese zum einen mit bereits

vorhandenen älteren empirischen Untersuchungen und zum anderen führten sie selbst Studien

durch, die ihre Aussage bestätigten. Sie bezogen sich dabei auf die Diffusionsstudie, die

bestätigte, dass eine Informationserhöhung nicht automatisch dazu führt, dass die Information

auch gleichmäßig bei allen Bevölkerungsmitgliedern ankommt. Durch die Trendstudie kamen

Tichenor et al. zu der Feststellung, dass die Abhängigkeit von Bildung und Wissensstand im

Laufe der Zeit zunahm und sich die Wissenskluft dementsprechend vergrößerte. Auch das

Quasi-Experiment des Zeitungsstreiks bestätigte die Hypothese, da sich die

Wissensunterschiede verringerten, als der Informationsfluss der Medienberichterstattung

abnahm. Daran anschließend zeigte das Feldexperiment, dass die Wissensklüfte bei stärkerer

Medienbeachtung größer und bei geringerer Medienbeachtung kleiner sind. Als Ergebnis der

Forschungen und als Ursachen der Wissensklüfte nennen die Autoren die Medienkompetenz,

das Vorwissen, die relevanten sozialen Kontakte, die selektive Zuwendung, Akzeptanz und

Behalten von Informationen sowie das Mediensystem.

Ein häufig genannter Kritikpunkt der formulierten Hypothese sind die uneindeutigen

Einflussfaktoren. Weitere Kritikpunkte betreffen die durchgeführten Untersuchungen, die

zwar alle die Hypothese von Tichenor et al. bestätigen, aber nicht alle ausschließlich nur für

die Untersuchung der Wissenskluft-Hypothese durchgeführt wurden. Dementsprechend wird

bemängelt, dass die empirischen Prüfungen zur Bestätigung unzureichend und weitere

Differenzierungen sowohl der eingesetzten Variablen als auch der allgemeingültigen

Aussagen notwendig sind.

Aufgrund dieser Kritik wurden weiterführende Studien zur Wissenskluft-Hypothese

betrachtet. Einige Kritikpunkte konnten so genauer erläutert und untersucht werden. Die

Die Wissenskluft-Hypothese 16

Ergebnisse waren allerdings teilweise unterschiedlich und widersprachen sich in wichtigen

Punkten. Insgesamt ist die Wissenskluft-Konzeption sehr offen gehalten, da „es sich nicht um

ein explizit ausformuliertes und geschlossenes theoretisches System handelt, sondern eher um

eine Perspektive, die auf verschiedensten Wirkungsphänomenen anwendbar ist“ (Bonfadelli,

1985, S. 72, zit. n. Horstmann, 1991, S. 18). Aus diesem Grund ist es möglicherweise

sinnvoll, einzelne Aussagen und deren Ursachen noch mehr zu differenzieren um so

detailliertere Ausführungen geben zu können.

Die Wissenskluft-Hypothese 17

Literaturverzeichnis

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