Die Zeit: Spiele im Sturm

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  • 8/8/2019 Die Zeit: Spiele im Sturm

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    7. Oktober 2010 DIE ZEIT N o 41 51FEUILLETON

    Man muss sich in diesen Ta-gen nur an die Fersen des Thea-terregisseurs Volker Lsch heftenund gert unweigerlich in denMittelpunkt bedeutender Kon-

    flikte. Am vorvergangenen Samstag etwa standLsch vor Hunderten Zuschauern auf der Bhnedes Hamburger Schauspielhauses und protestier-te gegen die Krzungen, die der HamburgerKultursenator Stuth diesem Haus, dem grtendeutschen Sprechtheater, jh und unerklrt ver-ordnet: 1,2 Millionen Euro, die Hlfte des knst-lerischen Etats. Eine solche Krzung bedrohtzwei Spielsttten und die knstlerische Potenzdes ganzen Hauses. Er knne sich an keine Zeit

    erinnern, sagte Lsch, in der ein Sparbeschlussemals so radikal durchgezogen worden sei. Er seiOberspielleiter am Schauspielhaus Stuttgart, sag-te er den Hamburger Zuschauern, und einensolchen Umgang mit Kultur sei man in Baden-Wrttemberg nicht gewohnt.

    Sechs Tage spter und 600 Kilometer sdlichvon Hamburg stand Volker Lsch dann wieder voreiner Menschenmenge und hielt eine Rede. Aller-dings war diese Menge viel grer, 50 000 Men-schen seien es gewesen, sagte die Polizei, von100 000 Menschen sprachen die Veranstalter derKundgebung. Lsch befand sich im Herzen Baden-Wrttembergs, im Stuttgarter Schlossgarten, es warder Tag nach dem rabiaten Polizeieinsatz und derBaumabholzung im Park, und Lsch protestiertewieder, auf einer der grten Kundgebungen, dieStuttgart je erlebt hat nun gegen die Regierungs-politik und gegen die staatliche Brutalitt, mit der

    Gegner des Groprojektes Stuttgart 21 aus demWeg gesplt worden waren unter Einsatz von Was-serwerfern und Reizgas.

    In Hamburg hatten am Schluss der VorstellungDutzende von Schauspielern die Bhne besetzt undgerufen: Wir sind das Schauspielhaus Sie auch!,und sie hatten ins Publikum gedeutet. In Stuttgartnun, sechs Tage spter, riefen Zehntausende Men-schen im Chor: Wir sind Stuttgart!

    Dass Volker Lsch bei beiden Zorneskund-gebungen dabei war, ist wohl ein Indiz fr etwas,das die Soziologen schon lnger beobachten: dieTheatralisierung politischer Vorgnge. Dafrspricht auch die Popularitt des Schauspielers Wal-ter Sittler, der zum Sprecher, zum Gesicht der Anti-Stuttgart-21-Bewegung geworden ist: Wrdevoll

    und doch jovial geht er durch die protestierendeMenge, hochaufgerichtet wie Henry Fonda alsYoung Mister Lincoln, ein Mann, der, wie es inStuttgart heit, sofort Brgermeister werden wr-de, wenn er sich nur, etwa als Kandidat der Grnen,zur Wahl stellte.

    Doch noch einmal zurck zu Volker Lsch:Diesem Regisseur ist Theater ein Mittel zum Zweck,und der oberste Zweck ist: Erzeugung von Rageber die Verhltnisse. Er holt Laien aus sogenann-ten stdtischen Problemgebieten auf die Bhne,stellt sie ins Licht und stellt sie aus und lsst sie inSprechchren aus ihrem Alltag berichten. So tat eres nun am Hamburger Schauspielhaus in seinemjngsten StckHnsel und Gretel gehen Mmmel-mannsberg. Es geht um die Schere zwischen Armutund Reichtum in Hamburg, und der RegisseurVolker Lsch hat Schulkinder, darunter viele Mi-grantenkinder, mit professionellen Schauspielernzusammengebracht, die alle zusammen das Mrchenvon den Kindern spielen, die von den Eltern (derGesellschaft) im Wald ausgesetzt werden. Diereiche Mitte der Stadt begegnet ihrer Peripherie das ist ein Effekt, wie ihn im Theater derzeit so nurLsch setzen kann.

    Lsch kann mit dem rtselhaften Einzelmen-schen nichts anfangen, wohl aber mit dem Men-schen als klarem Fall, dem Menschen im Plural inder Konfrontation von Ttern und Opfern (oder:von Menschen auf gegenberliegenden Schneidender groen Schere). Jeder Einzelne gert ihm auf derBhne zum Teil einer prekren Masse und zumIndiz fr die Skandale, die sein Theater in den Blicknimmt: den wachsenden Reichtum weniger und diezunehmende Verarmung von vielen, die Gleichgl-tigkeit der Mittelschicht, die Chancenlosigkeit derImmigrantenkinder, die Korruptheit der Politik, dieFestungsideologie der Asylpolitik und

    die Abgrn-de des Strafvollzugs.

    Lsch hat fr Stuttgart denSchwabenstreich erfunden, eine Aktion,die darauf beruht, dass jeden Abend Punkt 19Uhr die Stuttgarter ihre Fenster ffnen sollen undmit Lrm gegen die S-21-Politik demonstrieren.

    Es gab so eine hnliche Szene auch mal in einemHollywoodfilm, in Networkvon Sidney Lumet: Zueiner bestimmten Zeit traten auf Weisung eines TV-Stars alle Brger an ihre Fenster und brllten hinaus:Wir lassen uns das nicht mehr gefallen. Ihr knntuns alle am Arsch lecken! Diese Energie sprt mannun auch in Stuttgart, immer um 19 Uhr.

    Und whrend in den Theatern zum Beginn derHerbstsaison in vielen Stcken die trostlose Ver-einzelung des Individuums beklagt wird (Ich er-

    warte ein Kind von mir; ich bin eine einsame Frau,heit es im neuen Stck von Ren Pollesch, DreiWestern), strmen sie in Stuttgart in ungeahntenMassen jene Bhne, in welche sich die ganze Stadtverwandelt hat.

    Lngst sind alle Demonstranten auch Mitgliedereines groen Volkstheater-Ensembles, Menschenvon einer nicht grostdtischen, sondern eher bu-erlich-zhen Hartnckigkeit (von einer neuenDimension des Widerstands spricht auch die Po-lizei), die lngst begriffen haben, dass sie berregio-nal gesehen werden, dass sie etwas darstellen, dasber ihre Einzelexistenz hinausgeht; sie sind dabei,eine Marke zu setzen, einem bestimmten Verhaltenihren Namen einzuprgen; schon reden die Men-schen in anderen Stdten ber umstrittene Projekte,

    indem sie diese mit einem 21-Label behngen.Man hrt in der Menge alle mglichen Dialekte,

    es kommen Leute von berall her, es sind viele l-tere darunter, die nie zuvor demonstriert haben, dieProteste haben den Charakter von euphorischen

    Wutfestspielen angenommen, musikalisch undstimmungsvoll geradezu in ihren friedlichen Mo-menten, schumend antikisch in ihren heftigstenPhasen: Als am vergangenen Freitag frh gegen einUhr die ersten Bume vom Bagger gepackt und inSekunden umgerissen werden, sind noch TausendeMenschen da, es geht ein Emprungsheulen durchdie Menge, wie ich es noch nicht gehrt habe, vieleFrauen weinen, manche raufen sich die Haare.

    Die Macht hat in diesen beiden Tagen, dem30. September und dem 1. Oktober, geradezu exem-

    plarisch alles getan, um als das blindwtig Bse zuerscheinen. Kein Verantwortlicher zeigte sich amSchauplatz (auch nicht in all den Wochen zuvor),nicht der bullig-verbindliche Landesvater Mappus,nicht der gespensterhafte, nur noch als Gerchtexistente, sich in seiner eigenen Stadt offenbarrestlos auflsende Oberbrgermeister Schuster,nicht der Bahnchef Grube. Im Gegenteil: Immerwenn es in Stuttgart ernst wird, genehmigen sichdie Verantwortlichen, als befnden wir uns in einemStck von Horvth, einen Schluck und werdenluschtig:Als vor Wochen der Abriss des nrdlichenBahnhofsflgels begann, sa OberbrgermeisterSchuster abgeschirmt im Alten Schloss und erffnetedas Stuttgarter Weindorf; als nun das Fllen derParkbume im Schlossgarten vorbereitet wurde, sader Ministerprsident Mappus auf dem Volksfestbeim Bier.

    Am Ort des Geschehens aber wurde die Machtreprsentiert von: Baggern, Wasserwerfern, einge-rsteten Polizisten. In dieser verhltnismig kleinenStadt hatte die Verantwortung kein Gesicht undkeinen Kopf.

    Man hat Schler, Teilnehmer einer angemeldetenSchlerdemonstration, mit Wasserwerfern umge-blasen, als sie ein Polizeiauto erkletterten. Man hatmit Wasserwerfern und Pfefferspray im Herzen derStadt auch alteingesessene Stuttgarter Brger atta-ckiert, welche keinerlei Anstalten machten, diePolizei zu behelligen, sondern die nur fassungslos dastanden und mit ansahen, was geschah (wer anderesbehauptet: ich habe es gefilmt und fotografiert), mansah anschlieend in den Linienbussen der StadtLeute, die buchstblich wasserwerfernasswaren.

    Und: Man hat, auchdas eine

    Demonstra-tion der Macht,im ersten gesetzlicherlaubten Moment mitdem Baumfllen angefangen(in der ersten Stunde des 1. Ok-tober). Zu Beginn dieser ersten Stun-

    de hatte es so ausgesehen, als wrde derAbriss der Bume durch ein klassisches (ko-misches) Theaterelement gestoppt, durch einenDeus ex Machina: Kurz nach Mitternacht machtdas Gercht die Runde, die Abholzung der Bumesei bis mindestens 6. Oktober aufgeschoben, die

    Aktion verstoe gegen den Artenschutz und be-drohe den in den Bumen lebenden Juchtenkfer.

    Am Abend nach der Abholzung kam es dann zurgrten Demonstration, die der S-21-Widerstandbisher gesehen hat. 100 000 Leut e sollen es gewesensein. Sie demonstrierten zornig, aber friedlich. Mit-ten aus dem Gewimmel im Tal steige ich am Frei-tagabend hinauf zum Stuttgarter Staatstheater (dieHauptspielsttte, das Kleine Haus, wird von Grundauf renoviert und sieht aus wie ein betonberdach-ter Krater; deshalb spielt das Staatsschauspiel ein

    Jahr lang in einer bergangsspielsttte: Es riechtdort nach Gummi und Abgasen, denn es ist eineehemalige Stuttgarter Mercedes-Niederlassung).Dort gibt es den neuen Pollesch, Harald Schmidtspielt mit und die ganze wieselflinke StuttgarterPollesch-Diskursfingierungsfamilie, und dort, sohoffe ich, findet sich ein wenig erklrende Theorie

    zu der Kommunikationskatastrophe, die sich untenim Tal abspielt.Jedoch, auch hier oben, im Theater, erlebt man

    ein stndiges Sichverhren, -verfehlen, -missver-stehen. Das Stck heit Drei Western, und es beginntdamit, dass Harald Schmidt einen Regisseur spielt,der sich dafr gerstet hatte, Drei Schwestern vonTschechow zu inszenieren, es ist aber das Sch ver-loren gegangen, weshalb man sich nun in einem ausHolz gezimmerten Saloon befindet und nicht inder russischen Provinz: Das hatte ihm, Schmidt,keiner gesagt!

    Bei Pollesch zeichnet sich die Moderne vor allemdadurch aus, dass keiner den anderen hrt, dass keinVersprechen gehalten und keine Frage beantwortetwird und dass kein Zusammenhang den Abgrundzwischen zwei Dialogstzen berlebt. Jeder vertrittseine Sache mit dem Angeberschub des geborenenSiegers, aber es ist eine Sache, die sich im nchstenMoment in Luft auflst. Fr alle, die nie einenPollesch-Abend gesehen haben: Man muss sich nurGroucho Marx vorstellen, wie er ins Restaurantstrmt mit den Worten Herr Ober, gleich die Rech-nung, ich habe heute keine Zeit zu essen, dann wei

    man, wie bei Pollesch gesprochen wird.Immerhin, es fallen groe Stze, die fr Stuttgartwie gemacht sind. Nicht jeder, der gerade malnichts sagt, ist in eine Pantomime verwickelt , heites an einer Stelle, und dieses Wort bezeichnettrefflich das Wirken des Stuttgarter Oberbrger-meisters Schuster.

    Ein anderer groer Satz, der mir im Ohr bleibt,als ich das Theater wieder verlasse, lautet: Es liegtnichts in der Luft. Kein Text ber uns, der unsverbindet.

    Mit diesem Satz steige ich zurck ins Tal, woimmer noch der riesige Demonstrationszug un-terwegs ist. Aber Moment. Kein Text ber uns,der uns verbindet? Oh doch. Es liegt ein Text in derLuft, der von Verschwrung und Intrige spricht:Lgenpack! und Mappus weg! brllen im Chor

    jene Demonstranten, die den Stuttgarter Landtagpassieren.

    Seltsam, wie glcklich viele Individuen an diesemAbend darber sind, im gesamtstdtischen Thea-terspiel namens Volkszorn eine Rolle als Klein- und

    Wutdarsteller zu haben. Es gibt in der Menge offen -bar das tief sitzende Gefhl, das Richtige zu tun. Ein

    Bericht aus dem stern ist in aller Munde, darin istvon unzhligen Fehlplanungen, Pfuschleistungen,Hinterbhnenkmpfen und Unwgbarkeiten imZusammenhang mit S 21 die Rede. Dass der baden-wrttembergische Innenminister Rech an diesemTag sagt, demonstrierende Kinder seien von ihrenMttern und Vtern instrumentalisiert und indie vorderste Linie der Demonstration gebracht

    worden, erbittert viele. So dumm-rabiat ist in Baden-Wrttemberg noch nie gegen die Einwohner einerStadt vorgegangen worden, aber der Innenministerdeutet das alles als Angriffsverteidigung der Staats-macht. Und etliche Kommentatoren, die nichtdabei gewesen sind, schlieen sich dieser Meinungan (man lese nur die Welt). Es geht also jetzt um dieDeutung der Bilder.

    Wer erfahren mchte, dass den Bildern niemalszu trauen ist, dass man dabei sein muss, wenn etwasgeschieht, und dass man selbst dann nicht sicher seinkann, was man gesehen hat, der muss wieder malins Theater, ins echte. Er sollte sich eine Insze-nierung der Englnderin Katie Mitchell an-sehen.

    Mitchells Inszenierungen sindmhsame, feierliche Handlungen,die keinen anderen Zweckhaben als den der Her-stellung von Filmbil-dern. Wir sehenkein Stck,son-

    derndieDreh-arbeiten zurVerfilmungeines Stcks.

    Film bedeutet ja eigentlich dieMontage von vielenEinzelmomenten undTtigkeiten zu einer gro-en flieenden Bewegung.Mitchell nun zerlegt die gro-e Bewegung wieder in ihreEinzelschritte.

    An der Berliner Schaubhnehat sie Strindbergs Frulein Julieinszeniert, eine Dreiecksgeschichte

    zwischen einem Stallknecht, derMagd, die mit ihm verlobt ist, undeinem adligen Frulein, das ihn ver-fhrt. Die Regie zeigt den Vorgang ganzaus Sicht der Magd, welche da betrogenwird. Jedoch, worum es geht, ist fast ne-benschlich. Was hier zhlt, ist die Sub-handlung, die Dreharbeit: Kameraleute,Geruschemacher, Filmmusiker, Beleuch-ter, Tonmeister, die ber die Bhne huschenmit einer Feierlichkeit, wie sie niedere Geist-liche beim Vorbereiten einer sakralen Zere-monie haben.

    Man sieht, wie die Magd an einem Tisch stehtund Wasser in eine Schssel giet: fr die Ganz-krperaufnahme. Ein paar Meter entfernt stehteine Doppelgngerin vor einer Kamera und gietaus einer anderen Kanne Wasser in eine andereSchssel: fr die Groaufnahme der Hnde. Wie-der an einem anderen Ort steht die Geruschema-cherin und giet ihrerseits Wasser in eine Schssel:fr die Tonspur.

    Ereignisse, die in entlegenen Winkeln derBhne hergestellt werden, flieen hier zur Szene

    zusammen. Der Theaterraum ist eine Manu-faktur zur Herstellung und Zerlegung des Film-momentes.

    Jedes falsche Lebenszeichen wird bis zu seinerQuelle zurckverfolgt. Mit einem seidigen StckStoff stellt die Geruschemacherin die Laute ei-ner Schreitenden her, deren Gewand sich imSchrittrhythmus malmend bauscht und rafft,und man glaubt, jeden Faltenwurf zu hren.

    Hier ist immer gleichzeitig Erschaffung undDekonstruktion im Gang, und den drei Schau-spielern stehen eine Vielzahl an dunkel geklei-deten dienstbaren Geistern gegenber, die hartarbeiten fr die Gewinnung, Verdichtung und

    Aufbewahrung eines einzigen reinen Film-augenblicks.

    Wir lernen, welch groe unbewusste Er-gnzungsarbeit wir leisten, wenn wir Filmesehen. Und wir sehen, wie viel Geheimesgeschieht im Schatten eines einzigenffentlichen Bildes.

    Kurz gesagt: Den Bildern ist nichtzu trauen. Man muss dabei sein, wennsie entstehen!

    Als ich die Berliner Schaubh-ne verlie, blickte ich mich un-ruhig um: Volker Lsch warnirgendwo zu sehen. Wo warer nur? Nicht in Berlin!

    Welchen Brandherd um-kreiste er gerade? Ichhatte das deutliche Ge-fhl, am falschen Ortzu sein.

    Hnsel und Gretelin Hamburg

    Frulein Julie in Berlinmit Jule Bwe

    Drei Western in Stuttgart mitHarald Schmidt (Mitte)

    www.zeit.de/

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    SpieleimSturmEin heier eaterherbst hatbegonnen: In Stuttgartbeherrscht er die Stadt, inHamburg erfasst er die

    KulturszeneVON PETER KMMEL

    Stuttgart-21-Protest im Schlossgarten

    Fotos

    (Aussc

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