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Die Zeitwoge

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SeewölfeSeewölfeKosaren der Weltmeere

Nr.700

Fred McMason

Die ZeitwogeSeeabenteuer-Roman

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Das Unheilvolle fand im Oktober1943in der amerikani-schen Hafenstadt Philadelphia statt und wurde das Phil-adelphia-Experiment genannt.

Dieser Versuch wurde vom Office of Naval Research, dem Forschungsbüro der US-Marine, unternommen und später als geglückt bezeichnet.

Ziel des überaus geheimen Experimentes war es, den Ef-fekt eines starken Magnetfeldes auf ein bemanntes Schiff zu testen. Das Resultat, so hatten Spezialisten vorausge-sagt, sollte die völlige Unsichtbarkeit eines Schiffes vom Typ Zerstörer und seiner gesamten Besatzung sein.

Als Versuchsobjekt war der Zerstörer, die ›U.S.S. Eldridge D-173‹, bestimmt worden. Sie war gerade vor ei-nem Monat in Dienst gestellt worden. Als zweites Objekt, diesmal bei dem Experiment auf See, war der Zerstörer ›Norfolk‹ bestimmt worden. Die anwesenden Physiker wa-ren zuversichtlich…

Die Hauptpersonen des Romans:

Dr. Ernest Hagman – der Physiker des Forschungsbüros der US-Marine leitet das Philadelphia-Experiment, bei dem einiges völlig verkehrt läuft.

Floyd Patterson – der Kommandant des US-Zerstörers ›Norfolk‹ schießt zwei Geräusch-Torpedos auf einen Drei-mast-Segler, der seiner Meinung nach mit kommunisti-schen Spionen bemannt ist.

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Old Donegal O'Flynn – hat ein dumpfes Gefühl, was auf fürchterliche Dinge schließen läßt.

Der Kutscher – stellt Theorien auf, die jenseits dessen sind, was die Arwenacks noch begreifen.

Philip Hasard Killigrew – glaubt sich dem Wahnsinn nahe, weil Dinge passieren, die mit dem Verstand nicht mehr zu begreifen sind.

1.

Der 6. Oktober 1943 war ein freundlicher Tag, wenn man von dem kühlen Wind absah, der vom Atlantik her-überwehte.

Es war der Tag, an dem das geheimnisumwitterte Expe-riment beginnen sollte. Leiter des Experimentes war der Physiker Dr. Ernest Hagman, ein bebrillter Vierziger, mit-telgroß, mit gerader Nase und einem energischen Kinn. Sein dunkelblondes Haar war schon etwas schütter. Hag-man hatte in Pittsburgh promoviert und galt als Kory-phäe auf dem weitverzweigten Gebiet magnetischer Feld-linien.

Unter den Gästen auf dem erbauten Podium befanden sich etliche hochgestellte Persönlichkeiten. Der Verteidi-gungsminister der Vereinigten Staaten war anwesend, ein Admiral der US-Navy, ein Konteradmiral, ein weiterer Staatsminister sowie eine Reihe Personen, die aus dem Dunstkreis der Geheimdienste stammten.

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Der Minister lehnte sich zurück, kniff die Augen schmal und blickte zu dem Schiff, das vor dem Dock lag. Der Ha-fen war von Marinepolizei abgesperrt Worden. Nicht ein-mal eine Maus würde ungesehen eindringen können.

Auf dem Zerstörer ›Eldrige‹ standen die Seeleute herum. Der Kommandant hatte lockere Formation angeordnet, aber sie standen wie die Puppen – hölzern, steif und un-beweglich. Auf einigen Gesichtern lag ein Grinsen, das Zweifel ausdrückte. Andere schienen etwas verunsichert zu sein. Zu einer lockeren Formation konnten sie sich nicht entschließen.

Die ›Eldrige‹ entsprach den Erwartungen modernster Technologie. Alle Kanonen des Zerstörers waren für See- wie Luftziele eingerichtet. Torpedos und Wasserbomben waren standardisiert. Zusätzlich war die ›Eldridge‹ mit U-Abwehr-Raketen und Lenkwaffen ausgerüstet. Das Schiff war hundertneunzehn Meter lang, zwölfeinhalb Meter breit, bei einem Tiefgang von fast sechs Metern.

Seine Turbinen leisteten sechzigtausend PS bei Marsch-fahrt für fünfunddreißig Knoten.

Achtundzwanzig Kanonen verschiedener Kaliber stan-den an Deck. Dazu kamen fünf Torpedorohre sowie zwei Hedgehogs, eine Art Wasserbombenwerfer zur Bekämp-fung von U-Booten.

Die Techniker unterhalb des Podiums legten letzte Hand an. Acht große, magnetohydrodynamische Genera-toren, sogenannte MHD-Generatoren, sollten für die Sta-bilisierung des Feldes sorgen und den Rotationsellipsoi-den aufbauen.

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»Bin mir immer noch nicht klar darüber, wie das funk-tionieren soll«, sagte der Minister. »Die Vorteile einer sol-chen Technik für die maritime Kriegsführung liegen zwar auf der Hand. Aber sind Sie sich sicher, daß das Schiff so getarnt wird, daß es wirklich verschwindet?«

Dr. Hagman nickte überzeugt.»Ich bin davon überzeugt, Sir. Die MHD-Generatoren

sind das Stärkste, was wir auf diesem Gebiet haben. Das letzte Experiment im Modell hat bewiesen, daß es funk-tioniert.«

»Irgendwelche Nebenwirkungen?« fragte der Minister interessiert.

Hagman schien ein wenig mit der Antwort zu zögern.»Es war ein unbemanntes Modell. Nebenwirkungen tra-

ten nicht auf.«»Und es verschwand?«»Es verschwand in dem Feld. Lediglich im Wasser blieb

ein Hauch von einem Umriß zurück. Der Umriß war al-lerdings nicht zu orten.«

»Interessant, höchst interessant.Und man kann es jederzeit wieder zurückholen?«»Indem man das Feld abschaltet, Sir.«»Das Objekt befindet sich aber trotzdem an derselben

Stelle ?«Das Zögern war so unmerklich, daß es der Minister

nicht wahrnahm.»Das ist stark anzunehmen, Sir. Wir konnten das nicht

genau überprüfen, weil wir in das Magnetfeld nicht ein-dringen konnten.«

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»Hörte was von einer vierten Dimension«, sagte der Mi-nister.

»Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß sich in die-sem Kraftfeld die Molekularstruktur von Menschen und materiellen Objekten so verändern kann, daß sie vorüber-gehend in eine andere Dimension hinüberwechseln, daß also sogenannte Teleportationsphänomene auftreten. Das ist bisher noch nicht erforscht worden. Deshalb wurden auch ausschließlich Freiwillige für diesen Test ausge-sucht.«

»Ich verstehe. Die Funktionsweise dürfte für einen Laien wohl kaum verständlich sein, Doktor?«

»Zunächst mal«, erläuterte der Physiker, »bereiten wir bei dem Zerstörer eine Magnetisierung vor. Das geschieht bereits jetzt und ist nichts anderes als das Hervorrufen ei-nes magnetischen Zustands in einem Material durch An-legen äußerer magnetischer Felder. Dadurch entsteht vor-übergehend ein etwas unangenehmer Wärmeeffekt. Da-nach treten die MHD-Generatoren in Aktion. Sie bauen mittels pulsierender Generatoren ein starkes Magnetfeld auf, das die Form eines Rotationsellipsoiden hat. Es er-streckt sich auf einer Länge von knapp hundert Yards nach beiden Seiten des Schiffes. Bei den vorhergegange-nen Versuchen erschien bereits nach kurzer Zeit ein grün-lichnebliges Licht, eine Begleiterscheinung, für die wir noch keine Erklärung gefunden haben. Es kann auf ioni-sierte Gase zurückzuführen sein. Danach wird das Objekt in den Konturen verschwimmen, bis nur noch seine Was-serlinie sichtbar ist. Schließlich bleibt ein schwacher Ab-

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druck erkennbar, bis auch der verschwindet.«Einschließlich aller an Bord befindlicher Personen?«»Damit ist mit Sicherheit zu rechnen.«»Wenn es klappt, sind die militärischen Möglichkeiten

fast unbegrenzt«, sagte der Admiral neben dem Minister. »Wir hätten einen Vorsprung, der von der anderen Seite kaum mehr aufzuholen ist.«

»Dabei ist der Kostenaufwand geradezu lächerlich ge-wesen.«

Der Physiker nickte ihnen kurz zu. Über einen Lautspre-cher gab er Anweisungen an das technische Personal.

»In einer Viertelstunde werden wir endgültig beginnen«, sagte er noch.

»Bin wirklich sehr gespannt«, sagte der Minister. »Der Präsident persönlich erwartet noch heute meinen Bericht.«

»Etwas schwierig zu begreifen, das Ganze«, äußerte der Admiral. »Aber ich habe mich ein wenig mit Einsteins einheitlicher Feldtheorie beschäftigt.

Sie geht davon aus, daß Grundbegriffe von Raum und Zeit, Materie und Energie keine getrennten Wesenseinhei-ten sind, sondern diese Begriffe unter gewissen Voraus-setzungen ineinander überführt werden können. Das ver-sucht man jetzt mit Hilfe von Magnetfeldern. Dieser Ellip-soid erzeugt ein im rechten Winkel stehendes Magnetfeld, wobei jedes Feld für sich eine Ebene im Raum darstellt. Weil jeder Raum aber von drei Ebenen aufgebaut wird, muß noch ein weiteres Feld existieren, vermutlich in Ko-ordination mit der Schwerkraft. Dieses noch fehlende

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Feld wird jetzt nach dem Resonanzprinzip aufgebaut. So stelle ich mir das in etwa vor.«

»Eine Art Dimension entsteht«, murmelte der Minister. »Aber darüber sollen die Eierköpfe nachdenken. Für mich ist das – ganz ehrlich gesagt – etwas zu hoch.«

Der Admiral nickte.»Wir sind ja auch keine Physiker.«Der Minister lehnte sich wieder zurück. Ganz plötzlich

fühlte er sich etwas unbehaglich.Hoffentlich entfesseln sie keine Kräfte, die nicht mehr zu

bändigen sind, dachte er.

*

Auf dem Zerstörer standen sie immer noch wie Mario-netteniherum.

Einige Seeleute bezeichneten das Experiment als lach-haft. Für sie war es ein Witz, was die Techniker da vor-hatten. Mit Hilfe von ein paar unsichtbaren Strahlen sollte die ›Eldridge‹ einfach verschwinden und unsichtbar wer-den, als hätte man ihr eine Tarnkappe aufgesetzt.

Bei manchen verstärkte sich das Grinsen auch dann noch, als in der Luft ein leises Singen begann.

Anfangs hörte es sich wie Wind an, der leise über die Aufbauten strich.

Schon nach ein paar weiteren Sekunden wurden die Töne höher und durchdringlicher. Sie waren unange-nehm und ließen alles unharmonisch vibrieren.

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Ein Jaulen lag schließlich in der Luft, ein klagendes Win-seln, das auf die Trommelfelle drückte und kurze, schmerzhafte Resonanzen im Körper erzeugte.

Dann war auch das vorbei, die schaurigen Töne verlo-ren sich in einem Bereich, der für menschliche Ohren nicht mehr wahrnehmbar war.

»Jetzt sind wir unsichtbar«, sagte feixend ein Matrose zu seinem Nebenmann, der am Geschützturm mit der 40,6-cm-Kanone lehnte. »Die Burschen haben uns eine Tarn-kappe aufgesetzt, eine Nebelkappe wie in den alten Sa-gen.«

»Oder eine Eselsmütze«, entgegnete der andere lachend. »Bisher hat sich noch nichts geändert, bis auf das unange-nehme Gefühl. Die Bonzen sitzen noch immer da oben, solange wir sie sehen können, sehen sie uns natürlich auch. Oder etwa nicht?«

»Weiß nicht, wie das funktioniert. Falls ich aber wirklich unsichtbar werde, dann nutze ich die Chance auch so-fort.«

»Wie denn?«»Ab in die nächste Bank natürlich, Mann. Da alles an

harten Bucks zusammenraffen, was ich tragen kann und dann die große Flitze. Kann mich doch keiner sehen, oder?«

Sie flachsten weiter – herum und überlegten, was sie al-les anstellen konnten.

»Ich hau dem Commander was aufs Maul.«»Kunststück! Der ist ja auch unsichtbar.«»Hm, das stimmt, Aber irgendwie nutzen wir die Sache

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aus.«»Falls das überhaupt klappt.«Der andere meldete ebenfalls Zweifel an.»Verdammt«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe das

Gefühl, Blei in den Knochen zu haben. Oder die Gicht. Ich kriege die Beine kaum hoch, und vor meinen Augen ver-schwimmt alles. Mir ist übel.«

Der andere stellte fest, daß es auch mit seiner Sehschärfe nicht mehr weit her war. Er sah die Luft plötzlich als fei-nen Nebel, der immer wattiger wurde und wie eine Wol-ke aus Milch auf ihn eindrang. Irgendwo in seinem Kopf war da auch ein Geräusch wie von einer wahnsinnig schnell rotierenden Säge.

Es fiel ihm schwer, den Kopf zu drehen, um sich nach den anderen umzublicken. Er sah sie nur als neblige Um-risse, deren Beine dicht über dem Eisendeck zu schweben schienen.

»Eh, Jonny, was passiert mit uns?« fragte er mühsam.»Keine Ahnung, Rob«, vernahm er ein weit entferntes

Flüstern. Die Stimme war kaum zu verstehen. »Ich stecke im Sirup oder in einem verdammten Morast fest.«

Das Flüstern erstarb, auch alle anderen Geräusche erstarben.

Robert Anderson, genannt Rob, spürte einen niegekann-ten Druck durch seinen Körper ziehen. Eine unsichtbare Riesenfaust quetschte ihn von oben nach unten mit un-heimlicher Gewalt zusammen, bis er dem entsetzlichen Druck nachgab und auf das Deck gewalzt wurde. Er kämpfte verzweifelt gegen das Gefühl an, zermalmt zu

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werden, schnappte nach Luft und versuchte, um sich zu schlagen.

Offenbar hatte er Erfolg.Der Druck ließ unvermittelt nach und schlagartig fühlte

er sich von tonnenschweren Lasten befreit.Dann lernte er ein anderes Gefühl kennen, das anfangs

nicht weniger schlimm und entsetzlich war.Losgelöst von aller Erdenschwere, begann er durch die

Luft zu rasen. Haltlos um sich schlagend, wirbelte er da-von. Ein ungeheurer Sog schien ihn direkt ins All zu zie-hen, eine Macht, die ihn erbarmungslos mit sich forttrug.

Er überschlug sich, rotierte um seine Achse und verlor jegliches Gefühl für oben und unten. Er schien durch ein riesiges Universum zu fallen, immer tiefer hinein in einen unbekannten Mahlstrom, der keinen Anfang und kein Ende hatte.

Sterne rasten an ihm vorbei, gewaltige Sonnen explo-dierten in seiner Nähe. Helligkeit wechselte abrupt mit tiefster Schwärze. Alles ging lautlos vor sich, nichts er-zeugte auch nur den geringsten Ton.

Einmal glaubte er, ein starker Arm umklammere ihn und versuche, ihn festzuhalten. Aber das konnte Einbil-dung sein.

Das Gefühl, nicht mehr auf der Erde zu sein, sondern wie ein Meteor durchs All zu rasen, wurde immer über-mächtiger in ihm.

Da er jegliches Zeitgefühl verloren hatte, wußte er auch nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war. Es konnten ein paar Sekunden, oder aber auch etliche Jahre vergan-

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gen sein, in denen er durch eine unbekannte Dimension geschleudert wurde.

Nach und nach stellte sich ein Gefühl der Gleichgültig-keit ein. Doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Er glaubte zu spüren, daß sein rasender Sturz in die Unend-lichkeit allmählich abgebremst wurde.

Und dann hörte er endlich wieder Geräusche. Stimmen, die aus der Ewigkeit zu stammen schienen, und anfangs noch ein unwirkliches Geflüster waren.

Sein linker Arm schmerzte, als habe sich etwas darin verkrallt.

Sehen konnte er noch nichts, doch er nahm einen düste-ren Schimmer wahr, der durch seine Augenlider drang. Unendlich langsam wurde es um ihn herum heller. Auch die Geräusche waren jetzt deutlicher zu hören.

Es waren Stimmen, laute und offenbar erschreckte. Es schien, als entsetzten sie sich über irgend etwas.

Mühsam versuchte er, die Augen zu öffnen, und war er-staunt, daß es ihm gelang.

Um ihn herum standen Leute mit staunenden und un-gläubigen Gesichtern. Sie waren vor ihm zurückgewi-chen. Jetzt bildeten sie einen Halbkreis und starrten ihn erschreckt an.

Es dauerte noch eine Weile, ehe Rob seine Umgebung bewußt wahrnahm.

Er saß auf dem Boden in einem Raum, und das, was sich in seinen Arm verkrallt hatte, war sein Freund Jonny, der sich mit schmerzerfülltem Gesicht erhob. In seinen Augen stand nacktes Grauen.

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Er und Jonny befanden sich zweifellos in einer Bar, und die Leute in der Bar umringten sie. Er blickte in ihn an-starrende Gesichter. Sie sahen ihn aus der Vogelperspek-tive an. Köpfe wurden geschüttelt, die Stimmen riefen wieder durcheinander.

»Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte er mit einer Stimme, die nur ein heiseres Krächzen war, »Wo sind wir hier? Jonny, sag doch auch mal was!« schrie er dann lau-ter.

Jonny hatte sich ebenfalls erhoben und lehnte sich an den breit ausladenden Tresen. Er hielt eine Hand ins Ge-nick gepreßt und massierte seinen schmerzenden Hals. Er begriff ebensowenig wie Rob, wo sie sich befanden.

»Ich – ich bin in einem Fluß hängengeblieben«, sagte Jonny mit fremdartig klingender Stimme. »Ich schwebte und blieb dann hängen oder stecken. Aber wir waren doch eben noch…«

Er sprach nicht weiter. Ein unsagbares Grauen überfiel ihn. Ihm wurde fast übel vor Angst.

Ein graubärtiger Mann näherte sich ihnen vorsichtig. Er betrachtete die beiden ein paar Sekunden lang und tippte Jonny dann vorsichtig mit dem Zeigefinger auf die Schul-ter.

»Verdammt will ich sein, wenn das hier mit rechten Dingen zugeht«, sagte er erschüttert, »Ihr seid plötzlich wie aus dem Nichts entstanden. Ja, wie aus dem Nichts«, wiederholte er. »Aber ich weiß genau, daß ihr vorher nicht hier wart.«

Die anderen bestätigten das eifrig und immer noch ver-

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stört. Auch der Wirt konnte sich das Phänomen nicht er-klären und trat näher.

»Vorher stand an dieser Stelle niemand«, sagte er un-gläubig. »Dann war ein singendes Geräusch zu hören, und ihr beide lagt plötzlich auf dem Boden.«

Rob und Jonny warfen sich einen Blick zu.»Wo sind wir hier?« fragte Rob verstört.»In Miami natürlich, in Charlys Inn.«»In Miami? Das gibt's doch gar nicht«, sagte Rob fas-

sungslos.»Natürlich seid ihr in Miami, wo denn sonst?«»Nicht in Philadelphia?«Ein paar andere, die ihren Schreck überwunden hatten,

begannen laut zu lachen.»Dürfte ja wohl ein kleiner Unterschied zwischen Phil-

adelphia und Miami bestehen. Geht doch raus und seht euch um.«

Nach einem ungläubigen Blick in die Runde gingen die beiden hinaus.

Sie brauchten nicht lange, um festzustellen, daß sie sich nicht in Philadelphia befanden. Draußen waren Palmen zu sehen, ein warmer Wind blies ihnen in die Gesichter.

Weiter nördlich sahen sie die Beach, wo es in Richtung Fort Lauderdale weiterging. Das Klima war viel wärmer.

Ein paar waren ihnen gefolgt, aber sie blieben in der Tür stehen und sahen ihnen nur nach.

»Unsichtbar sind wir nicht«, sagte Jonny. »Aber mit uns ist etwas Unheimliches geschehen, das mir angst bereitet. Kannst du dich noch an alle Einzelheiten vorher

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erinnern?«»Ja, natürlich. Wir standen auf der ›Eldridge‹ und ganz

plötzlich hätte ich das Gefühl, wie durch zähen Brei zu schwimmen. Es läßt sich überhaupt nicht beschreiben. Aber ich will nicht mehr zurück. Ich weiß genau, daß noch mehr Grauenhaftes mit uns passiert. Ich bleibe hier und suche mir irgendwo einen Job.«

Sie waren alle beide nicht in der Lage, die Geschichte geistig zu verarbeiten. Es war einfach unglaublich, daß sie von einer Sekunde zur anderen einen derartigen Sprung über zweitausend Kilometer hinter sich gebracht hatten.

Ziemlich niedergeschlagen kehrten sie zurück. Der Wirt schob ihnen einen Drink über den Tresen und nickte ih-nen zu.

»Der Teufel mag wissen, was da passiert ist«, sagte er. »Aber trinkt mal einen Schluck. Dann sieht alles ganz an-ders aus.«

Den Drink nahmen sie dankbar an. Rob trank einen Schluck, als sein Blick auf die Kalenderuhr über dem Tre-sen fiel.

Er verschluckte sich fast, als er das Datum sah.»Das Datum stimmt nicht«, sagte er heiser. »Heute ist

der sechste Oktober, Sir.«Die umstehenden Leute begannen wieder ungläubig zu

grinsen. Manche wirkten direkt verlegen.Der Wirt schob ihm die Tageszeitung hin.»Gerade frisch geliefert worden«, meinte er. »Heute ist

der elfte August, Gents. Bis zum sechsten Oktober sind es noch zwei Monate. Hier ist die Zeitung von gestern.

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Scheint so, als sei bei euch was durcheinandergeraten.«Die Zahlen verschwammen vor ihren Augen. Die Jah-

reszahl 1943 stimmte, nur das Datum nicht.Rob hatte das Gefühl, jeden Augenblick müsse sein Ver-

stand aussetzen und er verrückt werden.»Wir – wir sind in einer anderen Zeit«, stammelte er.

»Wir werden nie wieder zurückfinden.«»Das gibt es doch nicht«, ächzte Jonny. »So was liest

man doch nur in utopischen Romanen. Ich wette, das al-les ist nur ein böser Traum, der bald zu Ende geht. Wir wachen auf und lachen darüber. Oder etwa nicht?« fragte er kleinlaut.

Rob sah starr an ihm vorbei. In seinem Gesicht war jeder Muskel verspannt, die Augen schienen ohne Leben zu sein.

»Ich glaube nicht, daß es für uns noch mal ein Zurück gibt, Jonny. Wir scheinen ganz einfach verschwunden zu sein.«

2.

Den Betrachtern auf dem Podium, Wissenschaftlern und Militärs, bot sich ein ganz anderes Bild.

Unangenehm war allerdings die Geräuschkulisse, vor der sie der Physiker Dr. Hagman jedoch gewarnt hatte. Sie würde aber schnell vorübergehen.

Der Minister verzog ein bißchen das Gesicht. Zuerst

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hörte es sich an, als würde eine Turbine hochgefahren. Singen und Heulen lag in der Luft.

Der Rotationsellipsoid begann sich allmählich aufzu-bauen.

Das Stromnetz von Philadelphia lief auf voller Last und brach trotzdem fast zusammen, als immer mehr Energien gebraucht wurden.

Gebannt starrten Wissenschaftler und Militärs zu dem Zerstörer vor dem Dock. Eine sichtbare Veränderungtrat vorerst noch nicht ein. Die Szene blieb so stationär, wie sie vorher gewesen war.

Das Geräusch ging in ein hohes Singen über, bis es sich irgendwo jenseits der Hörgrenze verlor.

Jetzt konnte man eher von einem Knistern in der Luft sprechen, einem Flüstern und Raunen, das aus der Un-endlichkeit kam.

Alle Blicke waren jetzt auf den Zerstörer konzentriert. Ein paar Leute an Bord bewegten sich zaghaft, aber kei-ner tat mehr als nur einen kleinen Schritt.

Lediglich der Kommandant bildete eine Ausnahme oder glaubte, sich bewegen zu müssen. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen wanderte er langsam hin und her.

»Feldstärke erreicht«, meldete ein Techniker über Mega-phon.

Hagman hatte sich auf das Podium zurückgezogen, wo ein weiteres Schaltpult montiert war.

Er drückte ein paar Knöpfe und betrachtete eine Anzei-ge mit leichtem Kopfschütteln, als verlaufe etwas nicht nach Plan.

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»Schwierigkeiten, Doktor Hagman?« fragte der Minis-ter, der ein aufmerksamer Beobachter war.

»Nein, Sir«, erwiderte Hagman. »Ich fürchte nur, daß das Stromnetz überlastet wird. Der Energieverbrauch ist beträchtlich. Doch der Ellipsoid stabilisiert sich bereits.«

Der Minister notierte sich etwas und schaute hoch.Durch die Reihen der Wissenschaftler und Militärs ging

ein leises Raunen.Vor ihren Augen lief jetzt ein Schauspiel ab, wie sie es

nie zu sehen geglaubt hatten.Um den Zerstörer ›Eldridge‹ herum begann die Luft zu

flimmern, als sei sie von glutender Hitze durchsetzt. An-fangs sah es aus wie eine Luftspiegelung in der Wüste.

Flimmernde Linien hüllten den großen Zerstörer ein. Die Mannschaften an Deck verbogen sich zu grotesken Fi-guren, durch die langgestreckte

Wellenmuster liefen. Die Männer schwankten, als seien sie alle ausnahmslos betrunken.

Kurz darauf trat der Effekt ein, den der Physiker vor-ausgesagt hatte.

Die gewaltige Masse des Schiffes begann, in den Kontu-ren instabil zu werden. Linien flimmerten wie Wellen-muster. Die Konturen verschwammen immer mehr.

In der Nähe der Marinedocks begann es grünlich und düster aufzuglosen.

Es war ein unheimliches, nie gesehenes Licht, fluoreszie-rend, dann wieder metallisch spiegelnd, bis es allmählich in ein sanftes Grün überging.

Diese Masse pulsierte jetzt wie in einer riesigen Blase.

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Kleinere Entladungen tobten aus dem Feld und schleu-derten Blitze nach allen Himmelsrichtungen.

Gleichzeitig schien sich die Eisenmasse aufzulösen. Das Pulsieren des Feldes wurde stärker und schneller. Das helle Grün verwandelte sich in fahles Licht von unbe-stimmbarer Farbe.

»Faszinierend«, stammelte der Minister, als man schon fast durch das Schiff hindurchsehen konnte. »Ein un-glaublicher Anblick.«

Seine Worte wurden von einem grellen Schrei überla-gert, einem Schrei, der in der höchsten Tonlage abrupt ab-brach, als sei dem Verursacher des Schreies ganz plötzlich etwas zugestoßen. Noch zwei oder drei verzerrte Schreie waren zu hören.

Die Richtung ließ sich jedoch nicht bestimmen, aber der Minister nahm an, daß die Schreie vom Zerstörer herrühr-ten.

Angestrengt versuchte er etwas zu erkennen. Neben ihm saß mit blassem Gesicht der Admiral.

Es gab nichts, mehr zu erkennen. Die Mannschaften, eben noch wie verwehende dünne Nebelfetzen zu sehen, lösten sich auf, als wenn Wind in Nebel fuhr.

Von den Aufbauten und Waffentürmen war ebenfalls nichts mehr zu sehen. Der Zerstörer wurde von einer un-sichtbaren Gewalt langsam von oben nach unten abgeta-kelt.

Mal verstärkte sich das grünliche Licht, mal wurde es schwächer oder konzentrierte sich auf einen Punkt. Und es fraß das Schiff mit tödlicher Gier immer weiter von

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oben nach unten.Dieser wabernde Nebel war wie ein wanderndes Nichts,

das alles schluckte oder eliminierte, was in seine Nähe ge-riet. Es stoppte weder vor Menschen noch vor Stahllegie-rungen. Alles wurde unaufhörlich verschlungen, aufgeso-gen, aufgelöst.

Allerdings begann sich jetzt das Heulen in der Luft wie-der zu verstärken. Töne wie von stark beanspruchten Glocken waren zu vernehmen, das Singen straff gespann-ter Saiten oder das klägliche Winseln langsam auslaufen-der Turbinen.

Der Minister wandte mühsam den Kopf. Er konnte sich von dem Anblick des immer schneller verschwindenden Zerstörers nicht losreißen.

Aber er wollte einen möglichst realistischen Bericht an den Präsidenten liefern, und so riß er sich sekundenlang gewaltsam los.

Weiter drüben, an der Ostseite des Marinehafens, lag der schwere Zerstörer ›Norfolk‹, der für das Experiment auf offener See vorgesehen war.

An Bord herrschten Hektik und rege Betriebsamkeit. Die Radarantennen für Navigation und Luftbeobachtung drehten sich pausenlos. Männer waren an Deck zu sehen, die mit Ferngläsern auf das Schauspiel blickten.

»Kein Radarecho mehr«, sagte der Physiker zufrieden. »Die ›Eldridge‹ ist von den Radarschirmen verschwun-den.«

»Nichts mehr?« fragte der Admiral fassungslos. »Aber es muß doch noch einen Impuls geben.«

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»Kein Echo«, wiederholte Hagman triumphierend. »Jetzt werden wir versuchen, das Phänomen noch eine Weile zu erhalten.«

»Aber wo sind die Leute geblieben?«»Auf dem Schiff natürlich«, versicherte Hagman. »Aber

fragen Sie mich nicht, wo das Schiff geblieben ist. Es wird erst dann wieder erscheinen, wenn das Feld erlischt.«

Im Wasser war ganz schwach ein Abdruck zu sehen. Aber er war nur noch halb so läng wie der Zerstörer, und auch dieser Abdruck verschwand ganz langsam, bis das Wasser spiegelglatt wurde.

Vom Zerstörer ›Norfolk‹ löste sich eine Barkasse, die mit einem halben Dutzend Männer besetzt war.

Im Bug der Barkasse hatten sie ein Maschinengewehr aufgebaut, das jetzt zu feuern begann. Es schoß auf jene Stelle, wo die ›Eldridge‹ eben noch gelegen hatte. Sie hiel-ten ein Yard über die Wasseroberfläche.

Pausenlos zuckten Blitze aus dem Rohr. Das Belfern war überdeutlich zu hören.

Im Wasser vor dem Dock sprangen Fontänen hoch. Die Kugeln fanden den einzigen Widerstand nur im Wasser selbst. Da schlug keine einzige Kugel gegen Eisenplatten.

»Es ist nicht nur optisch verschwunden«, sagte der Ad-miral mit einem leisen Stöhnen, »es hat sich auch stoff-lich, rein materiell, in Nichts aufgelöst. Scheint sich also doch um eine Art Teleportationsphänomen zu handeln. Aber das Schiff muß irgendwo sein.«

Die Männer auf der Barkasse stellten ihren Beschuß ein. Es gab nichts zu beschießen, jedenfalls nichts, was man

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sehen oder wahrnehmen konnte.Sie hielten jetzt aber genau auf das Feld zu, was den

Physiker sichtlich nervös werden ließ.»Nicht in das Feld fahren!« brüllte er durch das Mega-

phon dem Barkassenführer zu. »Halten Sie sich außerhalb der Markierungsbojen. Wir wissen nicht, welcher Effekt sonst auftritt. Ich lehne jede Verantwortung für Ihr Han-deln ab.«

Kurz bevor die Barkasse das Feld erreichte, drehte sie hart nach Backbord ab und nahm wieder Kurs auf den Zerstörer ›Norfolk‹.

Dr. Hagman nahm es erleichtert zur Kenntnis.»Vielleicht wäre gar nichts passiert«, murmelte er. »Die

Barkasse ist schließlich nicht magnetisiert worden. Aber da ich selbst dieses starke Feld noch nicht genau kenne und immer wieder Nebenwirkungen auftreten können, kann ich nicht zulassen, daß das Feld während des Expe-rimentes gestört wird.«

»Wie lange soll der Versuch durchgeführt werden?« er-kundigte sich der Admiral sachlich.

»So lange wie möglich«, lautete die Antwort. »Ich den-ke, daß wir das Feld noch mindestens eine halbe Stunde halten können. Danach wird der Zerstörer nach unseren Berechr nungen wieder hier an derselben Stelle auftau-chen.«

»Möchte wissen, was das für ein Gefühl für die Besat-zung ist«, murmelte der Admiral. »Ob wir vor ihren Au-gen auch verschwanden und uns in Nebel auflösten, Dok-tor?«

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»Darauf bin ich selbst gespannt«, sagte Hagman. »Wir werden es hoffentlich bald erfahren.«

*

Für Commander Baker, der den verschwundenen Zer-störer befehligte, sah die Sache wieder ganz anders aus.

Nachdem eine Weile lang absolut nichts geschehen war, zog er sich auf die Brücke zurück, um dort die Instrumen-te zu beobachten. Der LI befand sich ebenfalls dort oben als Beobachter.

»Was halten Sie davon, Sir?« fragte der Leitende Inge-nieur. »Glauben Sie an einen Erfolg?«

Der Commander war ziemlich skeptisch. Er blickte von der Brücke zu den Kameras am Kai hinüber, die das Ex-periment in allen Phasen filmten.

»Es paßt schlecht in meine Vorstellungswelt«, erwiderte er. »Immerhin klingt es unwahrscheinlich.«

Sie zogen sich von der Brücke in den Kommandostand zurück, um den Kompaß zu beobachten. Nach Meinung des LI würde der Kompaß verrückt spielen, wenn er so starken magnetischen Feldern ausgesetzt war. Aber nicht nur der Kompaß, auch andere elektronische Geräte wür-den dran glauben müssen.

Es folgte das, was die Techniker und Wissenschaftler Phase eins nannten.

Das Feld baute sich auf. In der Luft lag ein hohes, unan-genehm in den Ohren klingendes Singen auf einer Fre-

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quenz, bei der Hunde jaulten.Baker beobachtete alles gleichzeitig. Die Leute auf dem

Podium, die Wissenschaftler an den Generatoren und schließlich die Mannschaft eines Schiffes, die mit ge-mischten Gefühlen an Deck stand.

Die Veränderung ging unmerklich vor sich.Baker hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Aber der

Chronometer an seinem Handgelenk zeigte ihm, daß erst sechs oder sieben Minuten vergangen waren, seit Phase eins lief.

Die Luft begann sich zu trüben. Feiner Nebel schien aus allen Ecken des Zerstörers zu dringen. An Land waren die Gestalten nur noch schemenhaft zu erkennen, und die Mannschaften schwankten wie betrunken hin und her.

Baker selbst verspürte nur ein Ziehen im Körper wie leichtes Gliederreißen. Der Schmerz kam und ging sofort wieder.

Er glaubte zu sehen, daß einige Männer über das Deck liefen. Jedenfalls hatten sie das vor. Aber sie bewegten sich kaum von der Stelle, obwohl sie sich alle Mühe ga-ben.

Ihre Gesichter wurden zu nichtssagenden, flachen Schei-ben, in denen nur die Augen übergroß wirkten. Und in diesen Augen erkannte er Angst, dann Panik, schließlich bei einigen unbeschreibliches Grauen.

Münder öffneten sich in den weißen Scheiben zu Entset-zensschreien. Arme hieben durch die Luft, doch das alles geschah im Zeitlupentempo.

Zwischendurch schien der Zerstörer zu sinken. Er sack-

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te immer tiefer ins Wasser, ruhig und gelassen. Ganz langsam ging er unter.

Noch ein merkwürdiges Gefühl trat auf. Baker wußte nicht, ob er es nur auf sich beziehen konnte, oder ob es auch für andere galt.

Es war alles unwirklich. Er konnte nicht mit Bestimmt-heit sagen, was wirklich geschah. Er glaubte immer nur zu wissen, aber er wußte es nicht absolut. Es war wie ein unwirklicher Traum, in dem sich alle Dinge surrealistisch vermischten.

Das Land war jetzt verschwunden. Es hatte sich aufge-löst mit all seinen Gestalten, dem Podium, den laufenden Kameras. Auch das Dock, vor dem sie lagen, existierte nicht mehr.

Der Zerstörer selbst glitt ins Wasser, als tauche er in eine andere Welt, die irgendwo zwischen Meeresgrund und Himmel lag.

Es war kein eigentliches Sinken, es war, wie Baker an-nahm, ein Hinabtauchen oder Uberwechseln in eine ande-re Sphäre – oder eine andere Dimension.

Er blickte auf den optischen Entfernungsmesser. Er zeig-te nichts an. Ein Radarbild gab es ebenfalls nicht. Die Funkmeßgeräte arbeiteten nicht, obwohl sie unter Saft standen.

Noch ein letztes Mal sah er Männer seiner Besatzung, die sich in unmittelbarer Nähe befanden. Zwei standen in der Nähe der Funkmeßantenne, gesichts- und fast körper-lose Gestalten, die wie Geister zerfaserten.

Sie wollten rennen, in grotesken Bewegungen, doch eine

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unsichtbare Kraft hinderte sie darin. Schließlich versan-ken sie zwischen den Stahlplatten des Decks.

»Feuer!« hörte er eine Stimme schreien. Es mußte der LI sein, der da mit seltsam verzerrter Stimme brüllte.

Aus dem Kompaßgehäuse schlug eine Flammensäule. Sie fuhr unter leisem Zischen in die Höhe, flackerte ein-mal auf, erlosch dann. Eine zweite Feuersäule zuckte auf. Es roch nach verschmortem Isolationsmaterial. Irgendwo barsten knallend ein paar Röhren. Rauch wölkte hoch, doch es war gleich wieder vorbei. Das Feuer erlosch von selbst. Nur der Gestank blieb penetrant in der Luft hän-gen.

Baker hatte das Gefühl, frei in der Luft zu schweben. Ob es stimmte, wußte er nicht, aber das Gefühl blieb.

Sein Zeitgefühl schwand völlig. Mal lief alles im Zeitraf-fer ab, dann wieder dehnte sich alles bis zu Ewigkeiten.

Er sah nur noch verschwommen die Brücke und den LI, der dicht neben ihm stand. Seine Gestalt war nicht zer-flossen, aber sie schwebte ein Yard hoch über dem Boden und bewegte sich linkisch. Mal fielen diese Bewegungen so schnell aus, daß er sie mit den Augen nicht verfolgen konnte, mal waren sie träge und unendlich langsam.

Es war ein ständiger Wechsel von unendlicher Lang-samkeit bis zu wirbelnder Hektik. Alles schien verrückt zu spielen.

Nach und nach nahm der LI feste Konturen an. Sein Ge-sicht wirkte leer, ausgebrannt und tot, und seine Stimme war ein Flüstern.

»Es ist vorbei, Sir. Wir sind wieder da.«

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Baker sah sich ernüchtert um. Er versuchte zu begreifen, was soeben geschehen war. Er konnte es nicht. Die Ein-drücke waren zu fremdartig.

Er sah eine große Brücke, Wolkenkratzer, ein paar Docks und die üblichen Hafenanlagen. Und er sah noch etwas: Auf einem dicht vor der Brücke liegenden Frachter bemerkte er entsetzte Gestalten, die fast einer Hysterie nahe waren. Sie starrten so ungläubig herüber, als seien im Hafen Außerirdische, gelandet.

»Ja, wir sind da«, sagte Baker schluckend. »Aber nicht in Philadelphia. Wir sind in Boston, Massachusetts, dicht vor der Mündung des Charles River, in der Massachu-settsbai. Ich kenne diesen Hafen wie meine Hosentasche.«

Der Leitende stöhnte fassungslos. Er glaubte, jeden Au-genblick müsse sein Verstand aussetzen.

»Aber das – das ist doch nicht möglich«, stammelte er.»Natürlich nicht, aber wir sind in Boston.«In der Zeit, die inzwischen vergangen war, hatten etli-

che Männer von der Besatzung ihre Positionen verlassen. Zwei lagen verrenkt an Deck. Einer raste wie ein Irrer auf der Back entlang und schrie unverständliche Worte. An-dere standen mit stupiden Gesichtern herum. Sie begrif-fen nicht, was hier vorgefallen war. Baker selbst begriff es auch nicht.

Aber wo waren die Männer, die ihre Positionen verlas-sen hatten? Sie konnten unmöglich so schnell verschwun-den sein.

»Sir – was ist passiert?« schrie der Leitende mit überkip-pender Stimme. »Sind – sind hier alle verrückt

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geworden?«Baker gab keine Antwort. Stumm vor Grauen starrte er

auf ein entsetzliches Bild an Deck.Am Turm der 40-mm-Flak standen zwei Männer, die

sich nicht bewegten. Sie blickten scheinbar zu dem Scheinwerfer hinauf, der sich rechts oberhalb der Platt-form befand.

Die beiden Männer waren mit einer dicken Schicht Rauhreif überzogen. Kleinere Eiszapfen hingen auf ihren Gesichtern. Dem einen wuchs ein Eiszapfen im Bart. Ihre Augen waren Weit aufgerissen, die ebenfalls offenen Münder voller Eis oder Schnee. Ihre Glieder waren starr.

»Mein Gott«, stammelte der Kommandant, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »Das ist ja entsetzlich!«

Er verließ die Kommandozentrale, um die Gestalten aus der Nähe zu betrachten. Dabei hatte er ständig das Ge-fühl, dicht über dem Deck zu schweben. Er hatte auch er-hebliche Schwierigkeiten mit dem Vorankommen. Ihm war, als zöge ihm jedesmal einer die Beine weg.

Nach einer Unendlichkeit erreichte er die beiden.Sie standen immer noch starr und unbeweglich da, als

sei jedes Leben aus ihnen gewichen.Als Baker die Hand ausstreckte und einen berührte,

zuckte er zurück. Der Mann war hart wie Glas und stand, obwohl er offensichtlich tot war, fest auf dem Deck. Der andere auch. Er schien ihn mit seinen großen, eisigen Au-gen anzusehen, als wollte er ihn flehend um etwas bitten.

Schaudernd wandte sich der Kommandant ab. Die Ei-seskälte, die von den beiden ausging, übertrug sich auch

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auf ihn.Als er entnervt auf die Brücke zurückkehrte, begann

sich alles um ihn her wie in einem Wirbel zu drehen.

*

Das Bild veränderte sich. Erst langsam, dann immer schneller.

Der Hafen von Boston wurde zu einer schemenhaften Kulisse.

Die Wolkenkratzer schmolzen dahin, die Brücke ver-schwand in einer trüben Substanz, und die Hafen- und Kaianlagen losten sich wie bei einem feinen Nebel in ih-ren Konturen auf.

Baker, der LI und ein paar Offiziere wurden blaß. Sie hatten immer noch nicht begriffen, was hier vorgefallen war. Einige glaubten ganz einfach zu träumen.

Erneut begann der Zerstörer auf die seltsame Art lang-sam zu sinken und in etwas hineinzutauchen, das vom Verstand her nicht erfaßbar war.

Ihre Rückkehr, falls es überhaupt eine war und nicht eine unbegreifliche Illusion, stand offenbar bevor. Einge-leitet wurde sie durch absolute Stille, die schmerzhafter war als alle anderen lauten Geräusche.

Es wurde geisterhaft still.Der LI wollte diese Stille durch ein paar Worte brechen,

aber er Öffnete nur den Mund, ohne einen einzigen Ton hervorzubringen. Auch Bakers Antwort war schweigend,

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obwohl er zu brüllen glaubte.Alles wurde übergangslos grau in grau. Sie schwebten

wieder in einer watteartigen Substanz, steckten im Sirup oder blieben in der Luft hängen. Es gab viele Ausdrücke dafür, denn jeder interpretierte das Geschehen auf seine Art. Einige froren sogar ein oder wurden stofflich instabil.

Etliche andere verschwanden allerdings spurlos und wurden auch später nie wieder gesehen. Vielleicht waren sie zum modernen Ahasverus geworden, Wanderern zwi-schen unbekannten Dimensionen. Man fand es jedenfalls nie heraus.

Wie lange das Gefühl anhielt, konnte später keiner sä-gen. Es begann abermals mit der Festigung der Konturen. Gleichzeitig wurde die unheimliche Stille durchbrochen und erste Geräusche klangen auf.

Baker, der LI und zwei Offiziere empfanden die Ein-drücke, die jetzt auf sie einstürmten, alle gleich.

Der Zerstörer schoß scheinbar aus einer unergründli-chen Tiefe nach oben, ohne daß auch nur ein Tropfen Wasser von ihm abperlte.

Das Grau verwandelte sich in ein schmutziges Grün, bis es heller und klarer wurde.

Das Dock wurde sichtbar, die vertrauten Umrisse stabi-lisierten sich, und die Männer auf dem Podium wurden zu festen Gegenständen.

Alles war wie zuvor,, nichts schien sich verändert zu ha-ben. Und doch war etwas Unheimliches geschehen, et-was, das sich jedem Vorstellungsvermögen entzog, etwas, das auch die Physiker nicht begriffen und nur sehr vage

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umschreiben konnten.Als der Rotationsellipsoid zusammenbrach und das ma-

gnetische Feld instabü wurde, stürmten die Wissenschaft-ler das Schiff. Allen voran Doktor Hagman.

Was sie vorfanden, war erschreckend.Sechzehn Männer der Besatzung waren spurlos ver-

schwunden. Zwei befanden sich in einem Zustand, den man nur als tiefgefroren bezeichnen konnte. Vier waren übergeschnappt und hatten den Verstand verloren. Auf dem Zerstörer war während des

Experiments zweimal Feuer aus unerklärlichem Grund ausgebrochen.

Die Kameras zeigten das Verschwinden des Zerstörers an, genauso, wie die Männer es gesehen hatten. Es gab keine optischen Täuschungen, denn die hochwertigen Linsen ließen sich nicht betrügen.

Als Baker behauptete, sie seien kurz- oder langfristig in Boston ganz plötzlich im Hafen aufgetaucht, wollte das niemand glauben.

Vom amerikanischen Flottenkommando wurde das je-doch bestätigt. Es gab unzählige Augenzeugen, die gese-hen hatten, wie urplötzlich im Hafen von Boston der Zer-störer, die ›U.S.S. Eldridge D-173‹, auftauchte, dort fast zehn Minuten deutlich sichtbar für alle Augen lag und dann auf geheimnisvolle Weise wieder verschwand.

Ein Amateur hatte zufällig zwei Fotos geschossen, die er der Admiralität überließ.

»Eine Zeitverschiebung muß stattgefunden haben«, sag-te Hagman tief erschüttert. »Anders ist das nicht zu erklä-

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ren.«»Wir haben da etwas beschworen«, sagte der Minister,

»das absolut neu und rätselhaft ist. Aber ich glaube, die Experimente sollten trotz oder gerade wegen dieses Rück-schlages wiederholt werden. Wir befinden uns in einem absoluten Neuland der Forschung. Und die Leute müssen ja auch irgendwo geblieben sein. Oder nicht?«

»Ja, irgendwo«, gab Hagman zu. »Irgendwo stecken sie. Nur wo?«

»Hoffentlich hat es nicht noch Auswirkungen gegeben, die uns bis jetzt unbekannt sind«, sagte der Admiral. »Ex-perimente mit der Zeit oder den Dimensionen können die ganze Welt durcheinanderbringen. Das ist aber nur meine persönliche bescheidene Meinung.«

»Ich werde anfragen, ob die Versuche fortgesetzt wer-den sollen«, sagte der Minister. »Halbe Sachen sind schließlich auch nichts Ganzes.«

Damit gab er eine sehr tief gründige Weisheit von sich.Hagman kümmerte sich zunächst um die Details und

ließ auch das Filmmaterial auswerten.Irgendwo in seinem Gehirn aber saß die Angst, etwas

angestellt zu haben, das nicht mehr in den Griff zu krie-gen war. Es war wie das bevorstehende Experiment mit der Atombombe, von der man auch nicht genau wußte, ob sie nicht schlagartig die ganze Welt vernichten konnte, wenn sie erst mal im Einsatz war.

Der Zerstörer ›Eldridge‹ wurde jetzt bis in den letzten Winkel genau durchsucht. Aber die Männer blieben ver-schwunden. Es gab sie einfach nicht mehr, diese sechzehn

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Mann.Die beiden Tiefgefrorenen wurden an Land und umge-

hend in ein Marinehospital gebracht. Dort stellte man ent-gegen jeder Logik fest, daß sie nicht tot waren. Aber sie lebten auch nicht, was die Ärzte und eingeflogenen Spe-zialisten vor ein Rätsel stellte.

Den Männern, die den Verstand verloren hatten, konnte man allerdings nicht helfen. Zwei von ihnen starben noch am nächsten Tag. Die beiden anderen waren nicht mehr ansprechbar.

Trotzdem bezeichnete man im Flottenkommando und dem Office of Naval Research den Versuch als gelungen oder geglückt.

Der Versuch erhielt die Bezeichnung Philadelphia-Experi-ment.

3.

Zeitlich betrachtet oder zeitlich gerechnet, waren die Ar-wenacks unter Philip Hasard Killigrew von diesem Expe-riment dreihundertvierundvierzig Jahre getrennt oder entfernt.

Räumlich gesehen waren es nur ein paar tausend Mei-len. Und doch hatte es erstaunlicherweise Auswirkungen, die sich weder die eine, noch die andere Seite erklären konnte.

Die Leute des zwanzigsten Jahrhunderts hätten es viel-

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leicht eher begriffen. Die des sechzehnten Jahrhunderts hingegen hatten nicht die geringste Vorstellung davon. Sie kannten weder einen Zerstörer noch ein Schlacht-schiff, weil es ihre Phantasie ganz einfach überstieg.

*

6. Oktober 1599.Die Schebecke der Arwenacks segelte an diesem frühen

Morgen dicht unter der indischen Coromandelküste zwi-schen Karikal und Cuddalore auf nordnordöstlichem Kurs Richtung Madras, ihrem Ziel, entgegen.

An Bord herrschte, wenn man das so bezeichnen wollte, Hochstimmung.

Nach vielen Zwischenfällen hatten sie es jetzt so gut wie geschafft. In ein paar Tagen würden sie die Gold- und Sil-berladung in Madras dem Sultan von Golkonda überge-ben können, eine Ladung, um die es nichts als Ärger ge-geben hatte und die mehrmals geraubt worden war.

Jetzt ruhte alles wieder im Stauraum der Schebecke und konnte über den Sultan an den Herrscher Akbar weiterge-geben werden.

Der Küstenverlauf wechselte nur sehr langsam.Weit an Backbord voraus war ein Gebirgsmassiv zu er-

kennen. Es lag in Dunst gehüllt etliche Meilen vor ihnen.Aber hier war das Land hoch flach und grün mit riesi-

gen Kokoshainen bewachsen. Ein Fluß mit kleinem Delta plätscherte aus dem Landesinnern ins Meer und brachte

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lehmiges Wasser mit sich, das sich wie ein schmutziger Fleck im Türkisblau des Küstenwassers ausnahm.

Ortschaften waren nicht zu sehen. Auch kein kleines Fi-scherdorf, wie sie hier an der Ostküste üblich waren.

Die Arwenacks hatten wieder mal das eigenartige Ge-fühl, allein auf der Welt zu sein, denn nirgendwo zeigte sich eine Menschenseele. Nur hin und wieder stoben an Land ein paar Seevögel auf.

Die gute Laune an Bord wurde nur durch Old Donegals Anblick etwas getrübt. Der Alte sah heute so trübe drein wie ein Sargträger und stand damit Mac Pellew in nichts nach.

Smoky hatte sich nach der Ursache der miesen Laune er-kundigt, doch der alte Knurrhahn hatte ihn ärgerlich ab-geschmettert und sein Befinden lediglich mit dumpf ange-geben, was immer das auch bedeuten mochte.

»Laß ihn, Smoky«, sagte der Profos zum Decksältesten. »Der begnadete Jubelmeister hat heute seinen schlechten Tag. Wahrscheinlich tanzen wieder die Prielwürmer hin-ter der Kimm, und da mag er nicht gestört werden, der alte Zausel, Der verdirb uns nur die Laune.«

»Er sagt, er habe ein dumpfes Gefühl«, erwiderte Smo-ky. »Vielleicht wird jetzt aus ihm ein Dumpfbeutel.«

Der Alte ging nicht darauf ein. Er ließ sich von den fröh-lichen Kerlen auch nicht provozieren, denn er hatte ent-setzliche Kopfschmerzen, die ihn schon seit der Nacht er-bärmlich plagten. So stand er abseits von den anderen und stierte ins Wasser.

Aber alle wußten, daß mit ihm etwas nicht stimmte.

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Vielleicht hing das mit seinem Zweiten Gesicht zusammen. Möglicherweise sah er wieder mal Dinge, die preiszuge-ben er sich schämte. Die Kerle lachten ihn ja doch nur aus.

Ferris Tucker ging zum Wasserfaß an Deck, streifte Old Donegal mit einem Blick und zuckte mit den Schultern.

Er trank einen langen Schluck und schüttelte sich. Das Wasser war lauwarm und schmeckte nicht gut.

»Erbärmlich«, sagte Ferris und reichte die Kelle an Nils Larsen weiter. »Dabei haben wir das Wasser erst vor kur-zer Zeit an Bord genommen.

Aber es schmeckt wie drei Wochen alte Brühe.«Nils Larsen konnte das nur bestätigen, und auch der

Kutscher gab das schließlich zu.»Na ja, extreme Hitze, feuchtwarme Luft«, erklärte er,

»da kriegt das Wasser schnell so einen üblen Nachge-schmack. Aber leider haben wir kein anderes und müssen damit vorliebnehmen.«

»Müssen wir nicht«, sagte der Profos entschieden. »Wir können ja in einer Bucht anlegen und uns ein bißchen umsehen. Quellen haben wir schließlich schon jede Men-ge gefunden.«

»Der Sir wünscht aber keinen weiteren Aufenthalt mehr. Wir wollen unverzüglich nach Madras segeln, um endlich die Ladung loszuwerden. Unangenehme Zwischenfälle haben wir zur Genüge hinter uns.«

»Gibt noch eine Möglichkeit«, entgegnete der Profos un-gerührt und mit einem gewissen hinterhältigen Grinsen.

»Welche denn?«»Wir könnten das Wasser veredeln.«

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Jetzt grinsten auch die anderen. Schließlich kannten sie ihren Profos und dessen glorreiche Ideen.

»Mit Rum – wie?«»Du sagst es, Kutscher!« Carberry strahlte. »Rum hat

uns vor der Pest bewahrt, Rum ist gut gegen die Cholera, Rum heilt alle Leiden, und Rum ist – na, eben für alles gut. Nicht, daß wir hier Saufgelage an Bord abhalten wol-len, da sei Gott vor. Wir schwängern nur das Trinkwasser ein wenig mit Rum.«

»Ein seltsamer Vergleich – und so treffend«, meinte, der Kutscher. »Aber dagegen ist nichts einzuwenden,«

Der Profos fackelte nicht lange. Er holte ein kleines Fäß-chen Rum und goß es unter den erwartungsvollen Bli-cken der anderen in das große Faß, das immer an Deck stand.

Es war schon seltsam, aber kaum war die neue Mi-schung fertig, da kriegten sie alle Durst und stöhnten über die Hitze.

»Los, Donegal, stell dich nicht so an!« rief Mac Pellew. »Wenn du von dem Wässerchen trinkst, bessert sich dei-ne Laune.«

»Ich habe keine Laune, mir brummt der Schädel«, wi-dersprach der Alte.

»Dann ist es erst recht gut.«Old Donegal trank schließlich auch, und auch aufs Ach-

terdeck wurde Rum a la Carberry gebracht.Der Seewolf trank durstig eine Muck leer.»Ausgezeichnet«, lobte er. »Das überdeckt den merk-

würdigen Nachgeschmack des Wassers. Schmeckt jetzt

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sozusagen gewürzt.«Eine Stunde später begann für die Arwenacks ein Alp-

traum, und zum erstenmal in ihrem Leben empfanden sie eine niegekannte Angst, die sie fast in den Wahnsinn trieb.

Der Spanier Juan de Alkazar bemerkte das Phänomen zuerst.

»Sieh dir mal den Himmel an, Sir«, sagte er. »So eine ei-gentümliche Farbe habe ich noch nie gesehen. Ist das nicht seltsam?«

Der Himmel war immer noch so blau wie am frühen Morgen, und doch hatte er sich irgendwie verändert. Es war ein merkwürdiges fahles Blau, ohne Saft und Kraft. Die Sonne, die an diesem Himmel stand, war ein eben-falls kraftlos glosender Ball von verwaschener, gelblicher Farbe. Sie schien nicht die geringste Wärme abzustrahlen, obwohl es immer noch drückend heiß und schwül war.

»Sieht wirklich seltsam aus«, sagte der Seewölf. »An der Kimm geht der Himmel schon nahtlos in die See über.«

Das Phänomen übertrug sich ganz langsam auch auf das Wasser und schließlich auf das Land.

Was vorher noch in kräftigen Farben geleuchtet hatte, verwandelte sich unmerklich in immer blasser werdende Pastelltöne.

Den Arwenacks war dieses Naturschauspiel ebenfalls nicht entgangen, seit man sich auf dem Achterdeck so in-tensiv damit beschäftigte. Jetzt sahen sie sich aufmerksam und gespannt um.

»Das wird sich doch wohl hoffentlich nicht wieder in ei-

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nem Seebeben austoben«, sagte Blacky besorgt. »Meist deuten solche Anzeichen darauf hin – wie erst kürzlich.«

»Oder ein höllisches Gewitter mit Sturm«, meinte Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia.

Sie blickten zum Land hinüber und stellten fest, daß es dort ebenfalls eigenartige Veränderungen gab.

Das Land war nähergerückt, und auch das Landesinne-re hatte sich verkürzt. Entfernungen, waren unmerklich zusammengeschmolzen. Die Kimm war keine zwölf Mei-len mehr entfernt, sondern höchstens noch vier oder fünf.

Das war es aber nicht, was sie so verwunderte. Es gab noch ein weiteres Phänomen, das ihnen wesentlich mehr Kopfzerbrechen bereitete.

»Es weht kein Wind mehr«, sagte Big Old Shane. »Wir stecken übergangslos in einer Kalme.«

Daß ihnen das entgangen war, ließ sie fassungslos wer-den. Tatsächlich bewegte sich kein Lufthauch.

Aber die Segel standen voll und bei, als fülle sie der Wind.

Carberry tippte mit ausgestrecktem Finger gegen das Tuch, das hart wie ein Brett war, sich aber nicht bewegte.

»Uns ist doch nicht etwa das bißchen Rum zu Kopf ge-stiegen?« fragte er unruhig. »Das gibt's doch gar nicht. Oder spinne ich?«

Smoky stürzte zum Schanzkleid. Vor Aufregung hatte er knallrote Ohren. Er beugte sich hinüber und sah ins Wasser, das auf eine merkwürdige Art fahl schimmerte.

Der Rauschebart vor dem Bug war verschwunden. Die See lag spiegelglatt vor ihnen. Und nicht die geringste

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Spur vom Kielwasser war zu sehen, das vorhin noch bla-senwerfend wie ein langgezogener Schweif dem Schiff gefolgt war.

»Besoffen«, stellte der Profos lakonisch fest, und dabei tippte er wieder gegen das brettharte Segeltuch. »Wir ha-ben einen im Kanal hängen, oder?«

Die Heiterkeit war verflogen. DieArwenacks sahen sich verstört und fassungslos an.Die Schebecke lief keine Fahrt mehr. Sie stand wie fest-

genagelt vor der Küste, die sich ihnen auf unerklärliche Art und Weise immer weiter näherte.

Ganz langsam und fast andächtig blickten ein paar nach oben, wo der Aracanga-Papagei Sir John immer hockte.

Er hockte auch jetzt noch da und hatte den Schnabel aufgesperrt, als wollte er ein paar seiner ordinären Lieb-lingssprüche absetzen. Ein Bein hatte er angezogen, die Augen geöffnet und das Gefieder noch ein wenig ge-sträubt. Diese Stellung veränderte er auch dann nicht, als ihn die Männer längere Zeit scharf fixierten. Es sah so aus, als sei der bunte Schreihals ganz plötzlich erstarrt.

»Hier passiert irgend etwas Entsetzliches«, ließ sich Old Donegal dumpf vernehmen. »Der Teufel ist an Bord er-schienen.«

»Dann müßte er ja auch zu sehen sein«, murmelte der Kutscher unbehaglich. »Nein, hier geht etwas anderes vor, etwas, das unseren Verstand überfordert.«

Plötzlich sah sich der sonst so ruhige Mann wild nach allen Seiten um.

»Alles rückt sprunghaft näher!« rief er. »Sucht euch ein

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paar geschützte Stellen!«

*

Die anfängliche Verblüffung schlug in Ratlosigkeit und Verwirrung um. Angst war noch nicht dabei, aber bis da-hin war es nur noch ein kleiner Schritt.

Hasard verließ das Achterdeck der Schebecke. Dort be-fanden sich jetzt nur noch Ben Brighton und Pete Ballie als Rudergänger, der allerdings absolut nichts zu tun hat-te.

Sie lagen wie festgefroren dicht unter der immer mehr verblässenden Küste des indischen Kontinents in einem Meer, das diese Bezeichnung kaum noch verdiente.

»Ganz ruhig bleiben«, sagte der Seewolf gelassen. »Ich weiß zwar noch nicht, was das alles zu bedeuten hat, aber bisher haben wir für fast alles immer eine Erklärung ge-funden. Hier läuft etwas ab, das ich noch nicht begreife, und ihr begreift es auch nicht. Ich bin aber sicher, daß der Teufel nicht an Bord erschienen ist, allen Unkenrufen zum Trotz nicht. Wir müssen jetzt vor allem Ruhe bewäh-ren.«

»Was ist mit Sir John passiert?« fragte der Profos rauh und krächzend. »Er ist wie erstarrt. Soll ich mal auf en-tern?«

»Nein, ich habe es schon bemerkt. Es ist mir unerklär-lich, aber du solltest jetzt auf gar keinen Fall aufentern. Wir wollen nichts verändern, gar nichts.«

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Hasard war selbst unbehaglich zumute, doch er ver-suchte es zu verbergen.

Sir John saß immer noch in derselben Position da, ohne sich auch nur zu rühren. Die beiden anderen Tiere an Bord, der Schimpanse und die Wolfshündin Plymmie wa-ren davon ausgenommen. Sie bewegten sich so normal wie immer, schienen sich aber ebenfalls unbehaglich zu fühlen.

Das Phänomen begann sich auszuweiten.Die Farbtöne verblaßten zusehends. Die Wipfel der Pal-

men am Strand waren hellgrau und hatten keine Farbe mehr, Die vormals braunen Stämme nahmen die gleiche Farbe an. Auch die Hügel weiter im Landesinnern waren verblaßt und trugen einheitliches Grau.

Ein weiterer Effekt kam noch hinzu, den alle deutlich spürten.

Die Luft wurde schwer wie Blei und lastete wie eine De-cke auf und über ihnen. Jeder Atemzug fiel immer schwe-rer.

Hasard tippte ebenfalls an die Segel und stellte fest, daß sie ab einer gewissen Höhe bretthart waren. Es war dicht über seinem Kopf.

Eine Weile blickten sie sich stumm an. Hier und da be-gann es in den Augen einiger Männer aufzuflackern, wie Hasard registrierte.

»Noch ist nichts passiert«, sagte er und merkte, daß ihm das Sprechen schwerfiel. »Nur die Luft ist dichter oder di-cker geworden, wie immer man das nennen will.«

»Kann es sein, daß wir unter Halluzinationen leiden?«

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fragte der Kutscher in die entsetzliche Stille hinein.»Halluzinationen?« Der Seewolf lauschte dem Wort

nach und schüttelte dann schwach den Kopf. »Was soll der Auslöser sein? Ich kann mir das nicht vorstellen.«

»Ich weiß es nicht, Sir. Ich weiß nur, daß wir nicht mehr in unserer gewohnten Umgebung sind. Utopisch ausge-drückt möchte ich meinen: Wir befinden uns in einer an-deren Welt.«

»Das klingt. allerdings sehr utopisch«, entgegnete Ha-sard und versuchte ein Lächeln. Es mißlang und wurde ein bloßes Verziehen seiner Lippen.

Alle Geräusche waren verstummt. Es war eine Szene, die einschläfernd und ermüdend wirkte.

Um sie her war jetzt nichts. Alle Farben waren endgültig verblaßt und verschwunden. Es war eine triste Welt ohne jeden Farbtupfer. Aber es war auch nicht wie Nebel.

Die Palmen am Strand wirkten wie dünne Rauchfahnen, kaum wahrnehmbar, von Schleiern überzogen, die sie im-mer mehr verschwinden ließen.

Die Gesichter der anderen waren grau. Das Land, das sie mehr ahnten als sahen, schien direkt vor ihren Augen zu hängen.

Die Sonne zeigte nicht mal einen fahlen Abglanz ihrer Leuchtkraft.

Es war nicht dunkel, aber es war auch nicht hell, und man konnte es selbst bei einigem guten Willen nicht als düsteres Zwielicht bezeichnen. Es ähnelte auch keiner Dämmerung. Es war eher wie ein stiller, sang- und klang-loser Weltuntergang.

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»Das ist das Ende«, murmelte Old Donegal.Hasard ging langsam auf ihn zu. Er wollte ihm sagen, er

solle jetzt nicht orakeln oder sich in düsteren Vorahnun-gen ergehen.

Er konnte kaum die Beine bewegen. Sie waren schwer wie Blei, irgend etwas hielt ihn mit aller Macht zurück.

Er watete mehr, als daß er ging, und zwar wie durch zä-hen Brei; wie durch Sirup oder Kleister, der ihn nicht mehr freigab.

»Was ist, Sir?« fragte Carberry.Seine Worte tropften langgezogen und gedehnt in ein

Meer der Ewigkeit, das keinen Anfang und kein Ende hatte. Die drei Worte schienen vor seinem Gesicht greif-bar in der Luft zu hängen.

Auch er versuchte ein paar Schritte, doch er bewegte sich nur wie in Zeitlupe extrem langsam. Vergeblich ver-suchte er gegen diesen zähen Brei anzukämpfen, der ihn von allen Seiten umklammerte. Es ging nicht. Nur sehr mühsam und unter Aufbietung aller Kräfte konnte er einen Schritt tun. Dann blieb er zu seiner grenzenlosen Verblüffung mitten in der Luft stecken.

»Das ist doch heller Wahnsinn«, sagte er ächzend.Jetzt versuchte er, mit den gewaltig gen Armen zu ru-

dern, um nicht auf der Stelle zu treten.»Ich hänge irgendwo fest!« brüllte er aus vollen Lungen.Die anderen verstanden ihn nicht mehr, obwohl er aus

Leibeskräften brüllte. Und er hatte wirklich eine Stentor-stimme, der Profos.

Die anderen vernahmen nur noch ein schwaches, ganz

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weit entferntes Flüstern, eine Stimme, die sich irgendwo in einer ungewissen Unendlichkeit verlor.

Der Profos wurde aus der Sicht einiger anderer immer kleiner. Seine riesige Figur schrumpfte vor ihren Augen zusammen. Obwohl er keinen

Schritt tat, sah es aus, als bewege er sich auf einer schie-fen Ebene blitzartig abwärts. Er wurde kleiner und klei-ner, bis er in die Planken wuchs und plötzlich ver-schwand.

Hasard versuchte, seine Leute zu beruhigen. Aber sie waren nur noch wie leblose Marionetten, die ihn aus-druckslos anstarrten. Er hörte auch seine eigenen Worte nicht.

Einige verschwanden einfach und sackten in die Plan-ken, als hätte ein Magier sie verzaubert.

Er zerbrach sich den Kopf über das seltsame Phänomen. Doch er hatte noch nichts von hyperenergetischen Zwi-schenräumen gehört, von Zeitfronten, die sich überlapp-ten oder berührten und sämtliche physikalischen Gesetze auf den Kopf stellten.

Alles war jetzt merkwürdig verbogen und verzerrt. Die noch sichtbaren Konturen der Schebecke veränderten sich zu abstrakten Mustern, die keinen deutbaren Sinn gaben. Sie befanden sich in einer völlig verbogenen und verzerr-ten Welt mit ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit. Keine Per-spektive stimmte mehr, überein.

Die entsetzliche Stille erdrückte sie fast. Sie hörten we-der das vertraute Ächzen und Knarren des Schiffes, noch das Raunen des Windes oder das leise Plätschern der

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Wellen, die gegen den Rumpf klatschten. Sie hörten nichts mehr, kein Geräusch.

Der Seewolf konnte sich jetzt auch nicht mehr bewegen. Eine unerklärliche Lähmung hatte seinen Körper erfaßt und ihn erstarren lassen. Er konnte nur noch sehr müh-sam denken, aber diese Gedanken brachten ihn keinen Schritt weiter.

Der Boden unter ihm, den er jetzt nicht mehr sehen konnte, stand schief, während er gerade auf der unsicht-baren Fläche stand.

»Kutscher!« rief er in die Unwirklichkeit hinein, in das Phänomen aus Nichts oder grauer, nicht erfaßbarer Sub-stanz.

Er sah sie nicht mehr, den Kutscher nicht, Don Juan nicht und auch nicht die anderen, die eben noch vor ihm gestanden und sich auf geheimnisvolle Weise entfernt hatten.

Er war so allein wie noch nie in seinem Leben.Daß es den anderen genauso erging, wußte er nicht. Er

bezog das alles nur auf seine Person.An dem Zustand änderte sich auch nichts. Die Erstar-

rung blieb, und es schienen Jahrhunderte zu vergehen, bis es wieder einen kleinen, aber furchtbaren Lichtblick gab.

4.

Es begann mit leisen, undeutbaren Geräuschen in dieser

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entsetzlichen Zone des Schweigens.Zuerst war das ein leises Knistern und Raunen. Stim-

men wisperten sich etwas zu, deren Bedeutung absolut fremd blieb. Es waren fremde und verzerrte Stimmen, und es ließ sich auch nicht feststellen, aus welcher Rich-tung sie erklangen.

Der zweite Eindruck war der, daß sieh das Grau lang-sam veränderte. Es wich einer fahlen Farbe, die auf ir-gendeine Art zu leben schien und alles überzog.

Aus dieser fahlen Farbe wurde ebenso langsam ein schwefliges Grün, das von überallher zu leuchten begann. Gleichzeitig verstärkten sich die Geräusche in der Luft.

Ein singender Ton war zu hören, ein Ton der anschwoll und sich zu einem Kreischen steigerte. Danach ging es Schlag auf Schlag, und die Erstarrung wich fast über-gangslos von ihnen.

Wie Geister aus ferner Vergangenheit tauchten Arwen-acks an Deck auf. Sie schienen so aus den Planken ihres Schiffes zu wachsen, wie sie auch verschwunden waren. Manche stiegen einfach auf, ohne sich zu bewegen.

Hasard fiel es schwer, Gelassenheit zu bewahren, denn jetzt kehrten sich die rätselhaften und unheimlichen Vor-gänge anscheinend ins Gegenteil um.

Das Singen und Kreischen schien ihre Köpfe zu spren-gen.

An Deck bewegten sie sich plötzlich und schrien durch-einander.

Das Geschrei vermischte sich mit der Kakophonie der schaurigen Töne zu einem höllischen Konzert, in dem

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tausend Teufel um die Wette kreischten.Die Bewegungen der Arwenacks wurden hastig, hek-

tisch, nervös und schließlich gehetzt. Sie rannten in einem Tempo durcheinander, daß dem Seewolf angst und bange wurde. Dabei bewegte er sich – für die anderen – ebenso ruckhaft und schnell.

Mac Pellew schlug mit den Armen um sieh wie mit Windmühlenflügeln. Er bewegte sich mindestens hun-dertmal schneller als sonst, eckte aber seltsamerweise nir-gendwo an.

Jeder sah den anderen aus seinem speziellen Blickwin-kel und fragte sich ernsthaft, ob der andere verrückt ge-worden sei.

Jede Geste, jede Bewegung war rasend schnell. Sie alle schienen einer völlig sinnlosen Beschäftigung nachzuge-hen. Sie rannten und rannten wie aufgescheuchte Amei-sen, die es furchtbar eilig hatten.

Dabei trat ein neuer, unangenehmer Effekt auf. Es muß-te Reibungshitze sein, und es wurde unerträglich heiß, wobei die gesamte Umgebung immer noch in dieses fahle Grünlicht getaucht war. Irgendwo hinten, wo es nichts zu erkennen gab, wurden gelbe Ränder sichtbar, und aus diesen gelblichen Rändern leckten immer wieder rötliche Flammenzungen von nie gesehener Intensität.

Sagte jemand ein Wort, dann bewegten sich seine Lip-pen rasend schnell, und aus dem Wort wurde ein langge-zogenes Kreischen, ein irrer Schrei der Verzweiflung oder Angst.

Und sie schrien wild durcheinander.

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Hasard wollte sie beruhigen, auf sie einreden, doch er hatte sich selbst nicht mehr in der Gewalt.

Ganz langsam flaute die Hektik ab. Aber jetzt hatten sie das Gefühl, als befänden sie sich unter einer riesigen, glä-sernen Glocke, aus der es kein Entrinnen gab.

Gewaltige Lichtfinger zuckten über die gläserne Kuppel. Von oben regnete es dunkle Gegenstände herab, die nicht zu definieren waren. Grelle Explosionen leuchteten auf. Nur die Geräusche blieben aus, bis auf die schrillen Töne in der Luft.

Einer dieser Lichtfinger hielt sich besonders lange und geisterte von einem Ende der gläsernen Kuppel zum an-deren. Nach einer Weile bohrte er sich lautlos wie ein gleißender Wurm irgendwo in den Boden.

Die Kuppel aus trübem Glas begann sich langsam zu drehen und erzeugte dabei einen rotierenden Wirbel, in dem auch die Schebecke auf den Kopf gestellt wurde.

Ein Arm griff nach Hasard. Der Seewolf sah das angst-verzerrte Gesicht des Schweden Stenmark.

»Tu etwas, Sir!« schrie Stenmark. »Hilf uns aus diesem Grauen. Wir werden sonst noch verrückt.«

Die Stimme klang normal, und Hasard horte sie auch sehr klar und deutlich, aber er sah den blonden Schweden nur hilflos an.

»Ich weiß nicht, was hier passiert«, sagte er stöhnend. »Ich weiß auch nicht, wie ich euch helfen soll. Gegen sol-che Gewalten sind wir alle machtlos.«

»Aber, wo sind wir nur?«»Auch das weiß ich nicht. Vielleicht doch in der Hölle,

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wie Donegal schon sagte. Langsam glaube ich fast daran.«Weit entfernter Donner überlagerte seine Worte.Sie legten die Köpfe schief und lauschten. Der Donner

verstärkte sich, und über der gläsernen Kuppel geisterten wieder die Lichtfinger.

»Ein Gewitter«, sagte Sam Riskill. »Wir sind, in ein ex-tremes Gewitter von unglaublicher Heftigkeit geraten.«

»So ein Gewitter gibt es nicht«, erwiderte Don Juan, der an Hasards Seite getreten war und sich vorsichtig um-blickte.

Das war der Augenblick, in dem alles in einem riesigen Wirbel zu rotieren begann. Es sah aus, als werde die Schebecke jetzt endgültig untergehen oder sich in Luft auflösen.

Sie schwebten. Jeder spürte das überdeutlich, aber sie schwebten in dem höllisch rotierenden Wirbel.

Carberry lehnte sich haltsuchend gegen den Großmast. Auf seinem Gesicht mit dem Amboßkinn standen dicke Schweißperlen, Seine Haare standen wirr vom Kopf ab, und in seinen Augen lag Entsetzen.

»Ich will hier raus!« brüllte er. »Verdammt, ich will hier raus! Ich springe über Bord!«

»Versuch es«, sagte Hasard. »Aber du kannst nicht über Bord springen, ich weiß das genau. Wir können nichts mehr tun.«

»Ich halte das nicht mehr aus, Sir. Ich würde gegen hun-dert Mann antreten, aber nicht gegen dieses Grauenhafte. Man kann es nicht fassen, und das ist das Schlimme da-bei.«

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»Es scheint ein naturabhängiger Vorgang zu sein, den ich mir nicht erklären kann. Aber wir müssen hier durch, mit offenen Augen.«

Jemand, den Hasard nur schemenhaft erkennen konnte, versuchte in seiner Angst, über das Schanzkleid zustei-gen.

Aber er gelangte nicht darüber hinweg, so sehr er sich auch Mühe gab und verzweifelt anstrengte. Er erreichte immer eine gewisse Höhe, dann ging es nicht mehr wei-ter.

Der Profos wollte wieder etwas sagen, doch der Heulton war jetzt so laut geworden, daß ihn niemand mehr hörte. Das grelle Jaulen peinigte ihre Ohren und dröhnte schmerzhaft in den Trommelfellen.

Die Schebecke samt ihrer Besatzung hörte schlagartig auf zu existieren. Einem zufälligen Beobachter vor der in-dischen Küste wäre nur aufgefallen, daß sie plötzlich nicht mehr da war. Im Wasser entstand lediglich ein Ab-druck, wie wenn ein Stein in einen Teich fällt.

Ein paar Ringe breiteten sich aus. Danach glättete sich das Meer an dieser Stelle wieder, als sei nichts geschehen.

*

Die Übergänge erfolgten immer spontan und so schnell, daß niemand darauf gefaßt war.

Den Arwenacks erschien es, als hätten sie ein paar Se-kunden lang die Augen geschlossen.

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Der Schmerz verklang, und alles schien wie vorher zu sein, als sie dicht unter der Küste segelten.

Der Himmel war von seidigem Blau mit einer Sonne, die höchstens eine Stunde lang an der Kimm stand.

Es war anscheinend noch früher Morgen.Aber was für ein Morgen!In der Luft lag wieder dieses entsetzliche Heulen, Die

Arwenacks sahen ein Bild vor sich, wie sie es noch nie er-lebt hatten.

Die Insel, die sie sahen, wies zwei vertraute Gebirgszü-ge auf und erinnerte den verblüfften Seewolf an die Insel der sieben Augen. Jedenfalls kam ihm diese Insel vertraut und bekannt vor, als sei er schon einmal dort gewesen.

Was ihm absolut nicht vertraut erschien, war eine ande-re riesige, unheimliche Insel, die hoch aus dem Wasser ragte, aber keinerlei Vegetation aufwies.

Eine dort seltsam geformte Insel hatte noch keiner der Arwenacks im Leben gesehen.

Sie ragte hoch aus dem Meer wie eine gigantische Platt-form. An einem ihrer Enden befand sich ein hoher Aus-sichtsturm. Offenbar war diese Insel schon in Besitz ge-nommen, denn über dem seltsam geformten Turm wehte eine Flagge. Sie war weiß und trug in der Mitte einen ro-ten Ball.

Hasard hatte sich einigermaßen wieder in der Gewalt. Diese Insel weckte jetzt seine Neugier. Auch die anderen starrten sie verwirrt an.

»Wir scheinen doch verrückt zu sein«, sagte Hasard. »Eben noch drehte sich die Welt um uns, und jetzt sind

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wir plötzlich ganz woanders. Was haltet ihr von dieser In-sel?«

»Sieht aus, als sei sie aus Metall«, erwiderte Dan lahm. »Sie ähnelt ein bißchen der künstlichen Insel Nan Madol im Pazifik. Aber was hat dieser merkwürdige Turm zu bedeuten? Außerdem liegen auf der Insel seltsam geform-te Dinger herum,«

Sie rätselten herum, ohne die Insel aus dem Auge zu las-sen.

Hasard inspizierte sie schließlich durch das Spektiv. Als er es absetzte, malte sich Verblüffung auf seinem Gesicht.

»Hier scheint wirklich alles total verrückt zu sein«, mur-melte er. »Die Insel bewegt sich und scheint auf das Land zuzuhalten. Wenn mich nicht alles täuscht, zieht sie Kiel-wasser hinter sich her.«

Tatsächlich bewegte sich die Insel, wie sie feststellten, denn deutlich war jetzt ein breiter Streifen Kielwasser zu sehen.

Die Schebecke hielt auf die seltsame Insel zu. Hasard wollte sie gern einmal aus der Nähe sehen. Dieses un-heimliche Ding reizte ihn auf eine eigentümliche Weise,

Aber mit der Insel ging eine merkwürdige Veränderung vor. Sie drehte langsam ab und nahm zur Verblüffung der Arwenacks ziemlich schnell Fahrt auf. Achteraus der Insel begann das Wasser blasenwerfend und schaumig zu kochen, als sei die ganze See aufgewühlt.

»Die Insel ist aus Eisen«, sagte Don Juan kopfschüttelnd, »Und sie bewegt sich. Das kann nur ein Traum sein,«

»Das glaubt uns kein Mensch«, sagte Carberry. »Ich

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werde mich hüten, das später mal zu erzählen. Eine Insel aus Eisen, die davonschwimmt, einen hohen Turm und eine unbekannte Flagge führt. Das ist wirklich ein guter Witz. Wenn sie wenigstens Segel hätte. Und fast viereckig ist sie auch noch. He! Das sind ja Leute drauf!« rief er.

Es wurde immer unheimlicher mit dieser Insel, die sich jetzt sehr rasch von ihnen entfernte. Dennoch waren ein paar weitere Einzelheiten zu erkennen.

Auf der vegetationslosen Oberfläche der Insel standen seltsam geformte Gebilde herum. Es waren mindestens zwanzig. Die Gebilde bestanden aus schlanken Rümpfen und hatten flügelähnliche Dinger an ihren Seiten. Ganz vorn an ihrer Spitze trugen die Dinger ein Windrad. Je-denfalls sah es so aus, denn es drehte sich ein paarmal sehr schnell.

Die Insel änderte wieder ganz überraschend ihren Kurs und hielt jetzt fast genau auf sie zu.

Den Arwenacks wurde mulmig zumute, zumal jetzt auch noch seltsame Geräusche erklangen. Da war ein be-ständiges tiefes Summen, aber da lag auch ein Singen in der Luft, das an wütene Hornissen erinnerte.

Hornissen! Das war es. Übergroße Hornissen standen auf der Insel. Sie bewegten sich anfangs träge zwischen den Menschen und wurden in eine lange Reihe gestellt. Sie nahmen regelrecht Aufstellung, als wollten sie los-schwirren.

Fasziniert, nichtbegreifend und restlos verblüfft sahen sie dem seltsamen und unheimlichen Schauspiel zu.

Als die Insel sich ihnen überraschend schnell näherte,

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vollführte sie abermals einen Schwenk nach Steuerbord. Auf ihren hoch aus, dem Wasser ragenden und glattpo-lierten

Seiten waren seltsame Schriftzüge zu erkennen, die den Arwenacks unbekannt waren.

Was den Seewolf beunruhigte, war die Tatsache, daß sich dieses gewaltige Ding aus Eisen so mühelos und schnell durch das Wasser bewegte. Dabei war jedem be-kannt, daß Eisen nicht schwimmen konnte. Warf man es ins Wasser, dann versank es sofort.

»Das muß ein Trugbild sein, ein Spuk«, sagte Ben Brighton, »Vielleicht eine Ausgeburt der Hölle.«

»Oder unserer Phantasie«, sagte Hasard. »Das Ding ist unheimlich und faszinierend zugleich. Von ihm geht eine Drohung aus, eine fürchterliche und beunruhigende Be-drohung.«

»Was mögen das für Kerle auf dieser Insel sein?«Die Antwort gab Dan, als er durch den Kieker, blickte.»Ziemlich kleine Eingeborene mit gelblichen Gesichtern

und leicht geschlitzten Augen. Sehen ein bißchen aus wie die Leute im Land des großen Khan. Aber ob es Eingebo-rene sind, weiß ich nicht. Möglicherweise haben sie die Insel nur besetzt.«

»Und wie bringen sie das gewaltige Ding zum Fahren?« fragte Blacky. »Nein, nein, das ist ein Blendwerk des Teu-fels. So eine Eisenmasse kann nicht schwimmen und erst recht nicht fahren. Sie könnte eventuell segeln, aber dann müßte sie mindestens zwanzig Masten haben und soviel Tuch setzen, wie es auf der ganzen Welt nicht gibt.«

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Die Insel hatte aber noch mehr Überraschungen aufzu-weisen.

Sie verstummten, als sich plötzlich eine dieser riesigen Hornissen in Bewegung setzte.

Das Windrad drehte sich blitzschnell. Dann wölkte ein bißchen Rauch auf, und die Hornisse wurde mit unge-heurer Wucht von der Insel in den Himmel geschleudert. Mit lautem Brummen flog sie davon und nahm Kurs auf eine weit am Horizont liegende andere Insel.

Die Arwenacks sahen mit offenen Mündern und ratlo-sen Gesichtern zu. Ihre Augen waren entsetzt aufgerissen.

Eine zweite Hornisse ging auf die Reise. Ein paar Män-ner schoben das gefährlich brummende Riesentier in eine offenbar günstige Position, damit es besser fliegen konn-te. Sie hantierten an einem Ding, das von hier aus nicht zu erkennen war.

Wieder war Dampf zu sehen, und schon kreischte der seltsame Vogel wild los und erhob sich in wahnwitzigem Tempo in die Luft.

»Was kann das nur sein?« fragte der Kutscher voller Entsetzen. »Ich habe zwar schon eine Menge gesehen, aber so was noch nie. Es widerspricht jeder Logik. Diese seltsamen Hornissen scheinen ebenfalls aus Eisen zu sein, obwohl das natürlich unmöglich ist.«

»Wenn ich das wüßte«, sagte Hasard entsagungsvoll. »Ich kapiere überhaupt nichts mehr, bei mir hat jeder ver-nünftige Denkprozeß einfach ausgesetzt. Ich sehe nur et-was, was es nicht gibt und ich auch nicht begreifen kann. Vor unseren Augen geschieht ein Wunder nach dem an-

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deren. Alles, was wir je gesehen haben, ist nichts im Ver-gleich zu diesem eigenartigen Zauber.«

»Zauberei? Aber wer sollte uns hier etwas vorzaubern?«Der so gelehrte und kluge Kutscher war ebenso ratlos

wie alle anderen. Er war allem neumodischem Kram gegen-über aufgeschlossen, aber das hier konnte auch er nicht akzeptieren.

Inzwischen fuhr die seltsame Eiseninsel unglaublich vie-le und schnelle Manöver. Sie hielt erneut auf sie zu, schi-en sich um die Schebecke jedoch nicht zu kümmern.

Ein paar der kleinen gelben Männer sahen zwar mal herüber, und einer griff sogar zu einem recht seltsamen Spektiv, das aus zwei nebeneinanderliegenden Rohren bestand. Er schob es nicht mal auseinander und gab es schließlich einem anderen. Damit war ihr Interesse an der Schebecke aber bereits erloschen, und sie kümmerten sich wieder um die Vögel oder Hornissen, die an Deck stan-den. Aus dem Bauch der Insel erschienen wie aus dem Nichts immer mehr dieser Vögel.

Als sich die riesige Insel ihnen bedrohlich näherte, ent-schloß sich Hasard, den Kurs zu wechseln.

Fasziniert blickte er auf das Hinterteil der Insel mit dem hohen Turm darauf. Dieser Turm wirkte aus der Nähe gi-gantisch, und er erkannte auch deutlich wieder die weiße Flagge mit dem roten Ball.

»Diese Insel wird auf geheimnisvolle Weise von den gel-ben Leuten bewegt«, sagte er nachdenklich. »Es scheinen alles Zauberer zu sein. Wir sollten wohl besser aus ihrer Nähe verschwinden.«

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»Ist es vielleicht möglich, daß diese Kerle uns auch alles andere vorgegaukelt haben?« fragte Matt Davies. »Ich meine das, was wir gerade so eben an der Grenze des Wahnsinns erlebt haben?«

»Durchaus möglich. Aber welches Interesse sollten sie an uns haben? Sie kümmern sich gar nicht um uns.«

»Kann ja sein, daß sie einen makabren Humor haben und sich ein kleines Späßchen mit uns leisteten.«

»Kann ich mir nicht vorstellen, Matt. Diese seltsamen Leute scheinen nicht den geringsten Humor zu haben. Sie geben sich allerdings einer unbegreiflichen und sinnlos scheinenden Tätigkeit hin.«

»Vielleicht sind das Männer vom Mond«, sagte Mac Pel-lew entsetzt.

Niemand wußte es.Sie sahen nur den riesigen Wirbel im Wasser, die aufge-

peitschte See und den kochenden Sprudel, den die Insel hinter sich herzog. Obwohl sie noch weit entfernt waren, wurde die Schebecke von dem aufgewühlten Kielwasser kräftig durchgeschüttelt.

Hasard nahm Kurs auf die Insel am Horizont. Sie wuß-ten nicht, wo sie waren, und sie wollten Land sehen, aber kein Land aus Eisen mit gelben, geheimnisvollen Leuten. Sie wollten sich erst mal orientieren, um dann zu ent-scheiden, wie es weitergehen sollte.

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5.

Die Insel aus Eisen war mittlerweile am Horizont ver-schwunden. Sie bewegte sich mit einem beängstigenden und irrsinnigen Tempo.

An Deck der Schebecke ertönte ein Schreckensschrei. Die Arwenacks warfen sich bäuchlings auf die Planken und zogen die Köpfe ein.

Mitten aus dem Blau des Himmels rasten zwei der Rie-senhornissen genau auf sie zu.

Die Vögel, oder was immer das sein mochte, brüllten zornig, und ihre Windräder an der Nase drehten sich wild.

Hasard ging ebenfalls in Deckung, als die Luft um sie herum von diesem wilden Gebrüll widerhallte. Er riskier-te noch schnell einen Blick und zog angstvoll das Genick ein.

Flüchtig erkannte er am Bauch des brüllenden Vogels eine aufgemalte Flagge. Sie war ebenfalls weiß und trug in ihrer Mitte einen feuerroten Ball.

Dann setzte sein Denkprozeß für lange Augenblicke aus.

Die Schebecke schoß in den Wind, weil Pete Ballie eben-falls fluchtartig die Ruderpinne verlassen hatte. Der See-wolf konnte es ihm nicht verübeln, denn jeder empfand

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Angst vor dem Unbekannten.Die eisernen Vögel donnerten mit urweltlichem Gebrüll

tief über die Schebecke hinweg. Dabei wackelten sie mit den Flügeln und verschwanden blitzschnell in Richtung Kimm.

Einer kehrte jedoch gleich darauf zurück, um die Schebecke abermals zu überfliegen oder anzugreifen.

Voller Grauen sah Hasard ein fürchterliches Bild. Es dauerte nur Augenblicke, aber er sah es deutlich.

Der Vogel hatte eine Schnauze aus Glas. Bleiglas ver-mutlich, das mit Streifen übermalt war, dachte Hasard. Und hinter diesem gläsernen Schnabel, direkt dahinter, wo sich das Windrad drehte, hockte ein Mann und lenkte den Vogel wie ein Reiter sein Pferd.

Dicht über der Schebecke kippte der Vogel zur Seite. Er heulte einmal wild auf, drehte ab und kurvte mit wahn-witzigem Tempo dem anderen nach.

Beide rasten jetzt auf die eiserne Insel zu und wurden von ihr einfach verschluckt.

Hasard richtete sich auf. Er fühlte sein Herz wie eine Hammerschmiede in der Brust schlagen. Er war benom-men, entsetzt, und – er gab es vor sich selbst zu – er hatte Angst, ganz normale, verfluchte nackte Angst.

Aber diese Angst lag auf allen Gesichtern. Da gab es kei-ne Ausnahme.

»In dem Vogel saß ein Mann«, sagte er stammelnd. »Ich habe ihn deutlich gesehen.«

Es stellte sich heraus, daß auch Shane, Batuti, Bob Grey und Jack Finnegan den Mann im Vogel gesehen hatten. Er

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hatte die Hände um ein zügelähnliches Gebilde geklam-mert und genau auf sie heruntergeblickt Sie, wollten es nur nicht sagen, weil sie fürchteten, von den anderen aus-gelacht zu werden.

»Es wird immer entsetzlicher«, sagte Don Juan. »Fast habe ich das Gefühl, wir befinden uns in einer anderen Welt, oder in einer anderen Zeit, obwohl das natürlich Quatsch ist. Fest steht nur, daß wir nicht mehr vor der in-dischen Küste sind und sich alles so grundlegend geän-dert hat, daß wir es nicht mehr begreifen. Bisher habe ich mir vergeblich den Kopf darüber zerbrochen.«

»Ich auch«, sagte Hasard. »Ich fühle mich, als hätte ich ein Rauschmittel genommen und erlebe« jetzt fürchterli-che Alpträume.«

Dan O'Flynn hatte seinen ersten Schreck einigermaßen überwunden und wurde jetzt sachlich. Er warf noch einen Blick achteraus, doch von dem fürchterlichen Inse-lungetüm und den kreischenden Vögeln war zum Glück nichts mehr zu sehen.

»Wir sollten unseren Standort bestimmen«, sagte er. »Ich werde mal die Sonne anpeilen und versuchen, ob ich das feststellen kann, falls wir nicht gerade auf einem an-deren Stern gelandet sind. Mir kommt die Anordnung der Inseln da drüben jedenfalls bekannt vor.«

»Mir auch«, gab Hasard zu. »Ich hielt es für die Inseln der sieben Augen. Da gab es auch rauchende und feuer-speiende Vulkane. Wir müssen uns aber erst einen Über-blick verschaffen, um das genauer beurteilen zu können.«

Während Dan zusammen mit Don Juan seine Berech-

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nungen anstellte, stand der Kutscher starr am Schanz-kleid.

»Andere Zeit, anderer Stern«, sagte er. »Es ist natürlich eine bloße Theorie oder Vermutung. Aber warum sollte das absolut ausgeschlossen sein? Es gibt Kräfte im Uni-versum, von denen wir keine Ahnung haben. Es gibt phy-sikalische Gesetze, die sich möglicherweise auch umkeh-ren. Ich weiß, daß der Gedanke völlig abwegig ist, doch ich versuche, mich mit ihm vertraut zu machen. Kann ja sein, daß irgendwo Kräfte aufgetreten sind, die uns, äh, na, sagen wir mal – einfach irgendwohin geschleudert ha-ben. Das wäre zumindest eine Erklärung für das, was wir hier nicht begreifen.«

Hasard setzte schon zum Lachen an, doch das erstarb sehr schnell, als er das ernste Gesicht des Kutschers sah.

»Und wohin sollen uns diese Kräfte geschleudert haben?«

»Das kann ich nicht beantworten. Ich suche nur nach ei-ner einigermaßen plausiblen Erklärung. Sie wird aller-dings bloße Spekulation bleiben.«

»Dann spekuliere doch mal«, wurde er vom Seewölf er-muntert.

Während der Kutscher sprach, sahen sich die anderen immer wieder argwöhnisch und mißtrauisch nach allen Seiten um.

Aber die Lage hatte sich anscheinend normalisiert – bis auf den Umstand, daß sie sich irgendwo in einer anderen Ecke der Welt befanden«

»Vor ein paar Stunden«, begann der Kutscher, »oder vor

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ein paar Jahren war alles noch ganz normal. Wir waren auf dem Weg nach Madras, bis plötzlich alles durcheinan-dergeriet. Haben wir etwas Derartiges schon einmal er-lebt?«

Hasard verneinte das entschieden.»Folglich ist es nicht normal. Wir haben ein paarmal die

Welt umsegelt und schaurige und schöne Sachen gese-hen. Aber wir sahen noch nie eiserne Inseln mit Kielwas-ser, die sich rasend schnell bewegten. Und erst recht nie sahen wir Riesenvögel oder Hornissen, in denen Men-schen saßen und sie lenkten.«

»Die Inkas haben früher auch noch keine Reiter gesehen und waren vermutlich so entsetzt wie wir.«

»Was ist schon ein Reiter gegen das hier? Sie hielten sie damals für Fabelwesen. Aber mit uns muß etwas passiert sein, da? alle Grenzen unserer Phantasie sprengt. In der Vergangenheit hat es etwas Ähnliches noch nie gegeben. Logische Folgerung?«

»Wir sind verrückt geworden«, sagte Hasard. »Oder be-finden uns in einem Rauschzustand.«

»Ausnahmslos alle?« fragte der Kutscher spöttisch. »Nein, daran glaube ich jetzt nicht mehr.«

»Woran glaubst du dann?«»Wir sind – wir sind vielleicht in der Zukunft.«Mit dieser Theorie eckte der Kutscher allerdings an. Das

wollte niemand akzeptieren.»Absoluter Blödsinn, Kutscher«, sagte der Seewolf. »Wir

alle wissen, daß du mehr im Kopf hast als jeder von uns. Aber man kann nicht in eine Zukunft gehen, die es noch

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gar nicht gibt. Sie existiert ja noch nicht.«»Es gibt nur Vergangenheit und Zukunft«, sagte der

Kutscher ungerührt. »Das ist meine Theorie.«»Du hast die Gegenwart vergessen.«»Es gibt keine Gegenwart, Sir. Was wir erleben, ist einen

Lidschlag später bereits Vergangenheit, und wir leben praktisch in die Zukunft hinein. Meine Worte sind auch schon Vergangenheit.«

Der Seewolf wollte gerade sagen: »Laß mich bloß mit diesem Quatsch in Ruhe, du Spinner«, aber er brachte die Worte nicht heraus. Er sah den Kutscher nur sehr nach-denklich an.

»Wie stellst du dir das vor, daß man in die Zukunft ge-rät?« fragte Hasard leise.

»Darüber habe ich leider keine Vorstellung, da muß ich passen. Universelle Kräfte vielleicht. Warum zeigt eine Kompaßnadel nach Nord?«

»Weil es da einen magnetischen Pol gibt.«»Stimmt, aber darüber wissen wir auch nichts. Es kann

noch mehr solcher geheimnisvoller Kräfte geben, etwa durch eine Verkettung mehrerer unglückseliger Umstän-de. Und die bewirken eben einen außergewöhnlichen Ef-fekt.«

Dan O'Flynn kehrte mit Don Juan zurück. Beide Männer wirkten etwas verstört und bestürzt. Sie hatten mehr als eine halbe Stunde gebraucht und ihre Ergebnisse mehr-mals überprüft.

»Haltet euch fest«, sagte Dan heiser. »Aber wenn meine Berechnungen stimmen, dann befinden wir uns ein paar

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Meilen südlich des nördlichen Wendekreises in der Nähe der Insel der sieben Augen, wie wir das fast vermutet ha-ben.«

Hasard holte erst mal tief Luft. Dann schluckte er wie an einem Seeigel, der sich in seinen Hals verirrt hat.

»Weißt du, was du da sagst, Dan?« fragte er tonlos. »Wir würden uns demnach im nördlichen Teil des Pazi-fiks befinden. Östlich von uns müßte dann etwa Mexiko liegen und südlich von uns etliche Inseln der Südsee. Das halte ich für einen Witz.«

Die anderen hielten es auch für einen Witz und lachten laut und falsch, um ihre Angst loszuwerden.

Der einzige, der keine Miene verzog, war der Kutscher. Er nahm die Behauptung sehr gelassen zur Kenntnis.

»Es kam nichts Besseres dabei heraus«, sagte Dan tro-cken. »Juan und ich haben uns gegenseitig kontrolliert. Aber wenn du nach den Berechnungen einen Standort an der indischen Küste herausfindest, dann soll mir das nur recht sein, Sir. Wir stehen da, wo es die größeren Inseln mit schwarzen und weißen Stränden gab, wo riesige Wel-len an die Strände laufen und wir vor Jahren schon ein-mal waren. Bitte, du kannst es nachprüfen, Sir.«

»Dan ist ein hervorragender Navigator«, äußerte der Kutscher sanft. »Wenn der sagt, wir befinden uns mit der Schebecke in einer Badewanne, dann glaube ich das.«

Sie stürzten von einem Extrem ins andere, und jedesmal gab es eine neue Überraschung.

Hasard ließ es sich jedoch nicht nehmen, alles noch ein-mal selbst zu überprüfen. Ein bißchen schämte er sich da-

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bei, doch als er alles nachgeprüft hatte, setzte er sich auf die unterste Stufe des Niederganges und legte den Köpf schief.

»Dicht vor Madras an der Coromandelküste, wie?« frag-te Dan O'Flynn etwas tückisch.

»Nein, zum Teufel!« fuhr Hasard auf. »Ihr beide habt tatsächlich recht, die Position stimmt.«

»Dann können wir unsere Gold- und Silberladung ja ir-gendeinem Papalagi in der Südsee schenken«, erklärte Dan und grinste schief. »Von hier bis nach Indien sind es noch ein paar Meilen. O mein Gott, was ist da nur pas-siert?«

So ratlos wie jetzt waren sie noch nie gewesen. Bisher hatte es immer einen Ausweg auf jeder noch so vertrack-ten Lage gegeben. Hier schien das nicht der Fall zu sein.

Inzwischen, – es war jetzt Mittag – rundeten sie die In-sel. Ein hoher Bergrücken war zu sehen. Dahinter vermu-tete Hasard eine große Bucht, bestanden mit Palmen und eingesäumt von einem weißen Strand.

Aber als sie endlich in die Bucht sehen konnten, warf die neue Überraschung sie fast um.

*

Anfangs brachten sie keinen Ton heraus. Sie standen nur stumm da und starrten sich die Augen aus.

Es war wieder ein unglaubliches Bild, und jeder war da-von überzeugt, daß ihm seine Nerven einen üblen Streich

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spielten.Zuerst fielen ihnen die riesigen hohen Häuser auf. Eini-

ge von ihnen schienen direkt in den Himmel zu ragen. Sie waren dicht an dicht gebaut und nahmen den gesamten Strand ein.

Das zweite, was ihnen in die Augen stach, war der gi-gantische Hafen.

In diesem Hafen lagen eiserne Ungetüme von nie gese-hener Größe. Alle trugen lange und starke Rohre auf ih-ren Oberflächen. Türme waren auf diesen Ungetümen zu sehen, verschachtelte Aufbauten, deren Zweck nicht zu enträtseln war.

Den Seewölfen wurde bei diesem Anblick schwindelig.Viele dieser eisernen Inseln hatten entfernt die Form ei-

nes Schiffes. Zumindest war eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, wenn nicht diese merkwürdigen Aufbauten gewesen wären und die Tatsache, daß sie aus Eisen wa-ren, wie ganz deutlich zu erkennen war.

Aber für Schiffe waren sie viel zu groß.Wenn Hasard einen Vergleich zog, dann hätten ein paar

hundert Schebecken in diesen Schiffen Platz gehabt.Manche hatten auch riesige Masten oder hochgezogene

Türme. An etlichen dieser Türme waren siebartige Scha-len befestigt, die sich langsam drehten.

Menschen bewegten sich auf den schiffsähnlichen Unge-heuern, die ganz ruhig dalagen und erstaunlicherweise nicht untergingen, obgleich sie aus einer kompakten Ei-senmasse bestanden.

Jemand begann mißtönend zu lachen. Es war Smoky,

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der mit dem Anblick so wenig fertig wurde wie die ande-ren. Mitten in seinem irren Lachen brach er ab und schnaufte tief.

»Eine Wunderwelt«, stammelte er. »Eine verrückte Welt. Oder sind wir nur die Verrückten? Sollen die riesigen Türme etwa Häuser sein? Und was sind das da für Din-ger im Hafen? Die sehen alle aus wie eiserne Inseln. Mann, das halt' ich nicht aus!«

Am Strand waren ebenfalls viele Leute zu erkennen. Und dann entdeckten sie endlich etwas, das ihnen ver-traut und bekannt erschien.

Ganz rechts im Hafen lag ein Rahsegler, etwas größer als ihre alte ›Isabella‹, aber kein Wahnsinnsschiff, sondern eine absolut vernünftige Konstruktion mit Rahen und aufgetuchten Segeln. Das Schiff schien nur sehr modern gebaut zu sein. Die Linienführung war schlanker.

»Ich empfinde zwar eine hundserbärmliche Angst«, sag-te Hasard. »Aber wir nehmen Kurs auf die Pier, wo die schlanke Galeone liegt. Allerdings hat sie einen völlig an-deren Bug als wir. Wir werden die Leute fragen, mögli-cherweise haben sie das gleiche Schicksal wie wir erlitten, sich aber bereits eingelebt. Kurs auf den Hafen, Pete!«

»Aye, Sir«, sagte Pete keuchend. »Ich hab auch einen mordsmäßigen Bammel, Sir.«

Keiner fühlte sich mehr wohl in seiner Haut, als die Schebecke langsam auf den anderen Kurs ging.

»Die werden uns foltern, vierteilen und fressen«, motzte der Profos. »Gegen die haben wir keine Chance.«

Seltsamerweise schenkte der Schebecke niemand Beach-

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tung. Man sah zwar hin, interessierte sich aber nicht wei-ter für sie. Die Leute gaben sich so, als segelten hier täg-lich Schebecken in den Hafen.

Hasard starrte unentwegt auf die eisernen Ungetüme und stellte sich immer wieder die Frage, ob das wirklich Schiffe waren.

Er fand keine Antwort darauf. Wären sie aus Holz ge-wesen, mit Masten und Rahen, hätte er selbst die Größe noch akzeptiert.

Aber aus Eisen? No, Sir! Da hörte der Spaß endgültig auf.

Ein fürchterliches Heulen in der Luft ließ sie zusammen-fahren. Am Himmel waren Punkte zu sehen, schwarze Punkte wie winzige Holzkohlensplitter, die rasend schnell größer wurden.

»Von mir aus kannst du mich wegen Meuterei an die Rah hängen, Sir!« schrie Pete Ballie. »Ich will damit nichts zu tun haben.«

Er legte Hartruder und wechselte den Kurs.Das Heulen und Brummen wurde lauter. Immer mehr

Punkte waren es jetzt, die durch die Luft rasten.In Hasards Gesicht arbeiteten, die Muskeln. Er gab kei-

nen Kommentar zu Petes eigenwilligem Manöver. Er be-fahl auch keine Kursänderung, als die Schebecke auf See zusegelte.

Wieder mußte er sich eingestehen, daß er die gleiche Angst empfand wie seine Männer. Es war ein erniedri-gendes und beschämendes Gefühl, aber er war dagegen machtlos. Es war die Angst vor dem Unbekannten. Vor

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einer Sache, gegen die sie sich nicht zur Wehr setzen konnten und der sie hilfslos ausgeliefert wären. Daher rührte diese Angst.

Die Luft war jetzt von einem entsetzlichen Brummton erfüllt, der alle anderen Geräusche überlagerte.

Im Hafen und auf den eisernen Plattformen wurde es le-bendig, Plötzlich tauchten überall rennende Menschen auf.

Hasard sah zu seinem Erstaunen, daß auf den eisernen Ungetümen riesige Rohre herumgeschwenkt wurden, Rohre, die länger waren als die gesamte Schebecke. Die Rohre schwankten erstaunlich schnell herum und zeigten dann in den Himmel, wo sich der gewaltige Wespen- oder Hornissenschwarm näherte,

»Die eisernen Vögel!« schrie Batuti in heller Panik. Er zeigte nach oben und verkroch sich dann furchtsam unter einem Niedergang, um das schaurige Bild nicht noch mal sehen zu müssen.

Inzwischen lag die Schebecke auf Kurs und erreichte die offene See.

Hasard konnte sich bei Pete nur bedanken, daß der so eigenmächtig gehandelt hatte, denn jetzt tat sich vor ih-nen eine utopische Hölle auf, gegen die der Weltunter-gang ein Klacks war.

Die brummenden Vögel jagten atemberaubend schnell über den Hafen hin, kippten dann in Schräglage und ras-ten so dicht über die Hügel, daß sie diese fast streiften.

Über dem Hafen ließen sie etwas fallen. Es waren hun-derte kleiner dunkler Stäbchen, die sich aus ihren Bäu-

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chen lösten, und torkelnd zur Erde fielen.Kaum hatten die Eisenvögel mit der weißen Flagge und

dem roten Ball abgedrehte flog erneut eine ganze Meute heulend heran,

Im Hafen blitzte es auf. Kleine, grelle Sonnen entstanden auf den eisernen Ungetümen und ließen sie aufplatzen.

Die Blitze wurden so grell, daß die Arwenacks den An-blick kaum noch ertrugen.

Die Oberflächen der schwimmenden Inseln leuchteten in grellen Farben, manchmal blutrot. Eine Explosion nach der anderen folgte.

Dann erst hörten sie die bestialische Geräuschentwick-lung, Auch dieser Krach war mit nichts zu vergleichen, bestenfalls noch mit dem explosionsartigen Ausbruch ei-nes Vulkans.

»Ein Überfall«, keuchte Hasard. »Die eisernen Vögel überfallen die eisernen Wassermonster. Ich bin heilfroh, daß du abgedreht hast, Pete.«

Die Hölle tat sich über dem Hafen auf. Alles hüllte sich in dunklen, zähen Qualm, und in diesem Vorhang aus Rauch blitzte es alle Augenblicke unter ohrenbetäuben-dem Krachen auf.

Jetzt erkannten die Arwenacks erst den Zweck der lan-gen, eisernen Rohre, die in den Himmel gerichtet waren.

Es waren Geschütze, gegen die sich die Culverinen wie winzige Spielzeugpistolen ausnahmen.

Hasard sah voller Schaudern, aber auch Neugier und ei-ner Art Bewunderung, wie die Rohre Flammen ausspien. Sie zuckten wild zurück, bewegten sich aber auf keinen

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Lafetten und wurden auch durch keine Taue gehalten. Und sie feuerten so schnell, daß er sich verzweifelt fragte, wie sie die Rohre nur nachluden.

Durch das Dröhnen der Explosionen waren Schreie zu hören. Immer noch rannten Menschen in Panik an den Hafenanlagen entlang und versuchten, diese gigantischen Behausungen zu erreichen. Oder sie flohen ganz einfach voller Angst in die Ortschaft mit den weißen Häusern.

Einer der schwimmenden Kolosse explodierte jetzt und schleuderte einen unglaublichen Eisenhagel zum Him-mel.

»Die Pulverkammer«, sagte Ferris Tucker. »Jetzt tut sich die Hölle für uns auf.«

Die Langrohre feuerten weiter durch den Qualm. Am makellos blauen Himmel erschien wie von Geisterhand dunkle Wölkchen, immer mehr, wie Perlen an der Schnur. Hin und wieder jagten feurige Brandsätze aus den Rohren. Sie schossen in den Pulk der angreifenden, eisernen Vögel und traf auch zwei, von denen Hasard wußte, daß Menschen in ihnen steckten.

Am Himmel gab es zwei schaurige Explosionen. Die Vö-gel wurden in der Luft getroffen und in tausend Stücke gerissen. Brennende Trümmer regneten in den Hafen.

Kein Zweifel, daß auf dieser Insel jetzt eine unbeschreib-liche Panik ausbrach. Mit dem plötzlichen Überfall hatte anscheinend auch keiner gerechnet, denn kurz zuvor war noch alles friedlich gewesen.

Immer mehr der eisernen Kolosse wurden getroffen von den Dingern, die unaufhörlich aus den eisernen Vögeln

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regneten. Traf eins dieser dunklen Stäbchen einen Gegen-stand, dann löste er sich sofort in einer wilden und brül-lenden Detonation auf.

Es mußte sich um Waffen handeln, die in der Lage wa-ren, ganze Inseln zu zertrümmern.

Im Hafen kochte und brodelte es. Einer der Kolosse leg-te sich voller Schwung auf die Seite und versank in einem gewaltig aufgewirbelten Trichter. Ungeheure Wassermas-sen strömten in sein zerfetztes Inneres. Das Brausen und Rauschen war bis zur Schebecke zu hören.

Von Furcht und Grauen geschüttelt, sahen die Arwen-acks hilflos mit an, wie ein Koloß nach dem anderen schwerfällig kenterte.

Einer der wütend attackierenden eisernen Vögel hatte offenbar die Kontrolle verloren. Vielleicht konnte der Mann in seinem Innern den wilden Vogel auch nicht mehr bändigen.

Das Teufelsding raste so schnell auf einen der Kolosse zu, daß sie den Vorgang gar nicht so schnell erfassen konnten, wie er ablief.

Er raste genau in den Turm hinein. Beide explodierten in einem gigantischen Feuerball. Menschen wirbelten durch die Luft. Der Feuerball breitete sich zu einem riesi-gen Pilz aus, der erst grell auflohte, dann aber pech-schwarz wurde.

Wieder gab es eine so brüllende Detonation, daß die ganze Insel erschüttert wurde, und die Resonanz sogar die Schebecke auf See heftig schlingern ließ.

Abermals zischte und heulte ein Eisenhagel durch die

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Luft.Heiß orgelte es wenige Augenblicke später über die

Schebecke hinweg. In den Fockmast knallte ein blutroter, glühender Eisensplitter von der Länge eines Fingers, und im Großsegel entstanden ein paar Löcher. Ein weiteres Trümmerstück schlug dumpf an die Bordwand.

Die Hölle rumorte weiter, unbarmherzig, wild, völlig außer Kontrolle geraten.

Zwei weitere Eisenvögel zerbarsten knallend in der Luft und regneten glühend ins Meer, wo sie unter Dampfent-wicklung verzischten.

Die Trümmer wirbelten noch dann durch die Luft, als die größeren Wrackteile bereits im Meer versanken.

Sobald die Eisenvögel ihre todbringenden Stäbchen ab-geworfen hatten, kehrten sie in langer Schleife zurück, und vier von ihnen näherten sich dabei auch mit ihrem wilden Brummen der Schebecke.

»Jetzt sind wir dran!« brüllte Hasard.Seine sonst so tapferen und unerschrockenen Mannen

flitzten schlagartig und stöhnend in Deckung. Sie wußten, daß sie nicht in Sicherheit waren, aber sie handelten rein instinktiv, denn gegen diese todbringenden Vögel ver-mochten sie überhaupt nichts auszurichten.

Doch die Vögel wollten nichts von ihnen. Sie donnerten über die Schebecke hinweg und nahmen Kurs auf die of-fene See, wie zornige, wilde Albatrosse, nur daß sie we-sentlich schneller und wendiger waren.

Sie flogen offenbar dorthin, wo die eiserne Rieseninsel im Meer schwamm.

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Die Arwenacks waren restlos bedient, als sie sich wieder aus ihrer fragwürdigen Deckung wagten. Lange standen sie das nicht mehr durch, das wußten sie alle. Dann wa-ren sie nämlich mit ihren Nerven restlos am Ende.

Die Insel war jetzt noch eine rußige Wolke aus dichtem, pechschwarzem Qualm und einem Feuer, das aus der Hölle zu stammen schien und die blühende Insel in ein Inferno verwandelt hatte.

Trotz der verheerenden Niederlage, die die Eisenvögel den anderen bereitet hatten, flogen immer neue Schwär-me und warfen ihre dunklen Stäbe in den Rauch und das Feuer, bis es aussah, als sei ein Vulkan ausgebrochen.

Aber die Töne wurden immer leiser, obwohl sich die Ar-wenacks noch nicht allzu weit vom Kampfgeschehen ent-fernt hatten.

Der Qualm und die dunklen Pilze nahmen langsam ein fahles Grau an.

Die brüllenden Explosionen klangen gedämpft.Der Himmel begann sich auf eigentümliche Weise zu

verfärben, ebenso wie das Meer, das eine leuchtende Far-be annahm.

Es wurde still und immer stiller. Die Insel verblaßte, und der Lärm der wahnsinnigen Schlacht verebbte.

Hasard hatte kein gutes Gefühl. Unbehaglich sah er sich nach allen Seiten um.

»Es liegt wieder was in der Luft«, sagte er atemlos. »Uns steht etwas Neues bevor, ich spüre es ganz deutlich.«

»Gott steh uns bei«, murmelte Old Donegal. »Was kann denn noch Schlimmeres passieren? Wir haben die Hölle

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doch bereits hinter uns und sind mitten hindurchspa-ziert.«

Das Phänomen trat wieder auf, das sie erst kürzlich er-lebt hatten, das alles verzerrte, verbog und schrumpfen ließ.

Sie mußten hindurch, ob sie wollten oder nicht. Da half alles nichts.

Mit der Erfahrung, die sie jetzt schon hatten, konnten sie allerdings noch nicht viel anfangen, weil alles unvorher-sehbar und völlig unberechenbar war.

Sie sahen sich an, stumm, Grauen und Entsetzen in den Gesichtern, und sie ahnten mehr, als sie wußten, daß jetzt wieder Schwierigkeiten auftraten.

Die Konturen lösten sich auf, Gestalten zerflossen zu nichts, und die Welt wurde zusammengepreßt, in der sie jetzt standen wie in einer kleinen Blase, die jeden Augen-blick platzen konnte.

Sie alle verspürten einen ziehenden Schmerz in ihren Köpfen. Dann stürzten sie übergangslos in tiefe Dunkel-heit, und ihr Denken wurde schlagartig ausgelöscht.

6.

Ein paar Tage später fand unter Dr. Hagmans Leitung das zweite Experiment in Philadelphia statt. Die Anord-nung war vom Flottenkommando ergangen.

Über die Verluste wurde Stillschweigen bewahrt. Die

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verschwundenen Männer waren auch bisher nicht aufge-taucht. Über allem lag der Hauch des Geheimnisvollen.

Der zweite Versuch fand auf See statt, knapp drei Mei-len von der Atlantikküste entfernt. Auch diese Zone war hermetisch abgeriegelt worden und stand unter perma-nenter Beobachtung durch amerikanische Kriegsschiffe und Luftaufklärer.

Hagman befand sich an Bord des soeben in Dienst ge-stellten Schlachtschiffes ›Iowa‹, wo auch die MHD-Gene-ratoren aufgebaut waren. Sie befanden sich auf der Back und dem Heck des riesigen Schlachtschiffes.

An Bord befanden sich ursprünglich 2700 Mann Besat-zung. Jetzt, da die ›Iowa‹ vor Anker lag, waren nur siebzig Leute an Bord des gewaltigen stählernen Riesen.

Die ›Iowa‹ war über 280 Yards lang, fast 35 Yards breit, bei einem Tiefgang von fast zwölf Yards. Deplacement rund 58000 tons. Angetrieben wurde das Ungetüm durch 212 000-PS-Turbinen, die ihm eine Geschwindigkeit von fast 35 Knoten verliehen. Die dickste Panzerung betrug 482 mm, die Bewaffnung bestand aus neun 40,6-cm-Ka-nonen, zwanzig 12,7-cm-Kanonen sowie zweiundfünfzig 40-mm-Flak. Als Aufklärer führte das Schiff zwei Heliko-pter mit.

Der Zerstörer ›Norfolk‹, fast vom gleichen Typ wie die ›Eldridge‹, lag dem Schlachtschiff gegenüber. An Bord be-fanden sich wiederum nur Freiwillige unter dem Kom-mandanten Floyd Patterson, einem zum Jähzorn neigen-den Mann.

Die Seeleute an Bord hatten nur eine vage Ahnung, um

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was es ging. Von dem vorherigen Experiment war ihnen nichts bekannt. Auch die Presse hatte nichts davon erfah-ren.

Hagman und zwei weitere Physiker kamen in einer Pi-nasse längsseits und gingen an Bord, Begleitet wurden sie von einem Kapitänsleutnant.

Die aufgestellten Geräte wurden sorgfältig überprüft. Die Magnetisierung des Schiffes konnte beginnen.

»Mich wundert nur, daß die Russen noch keinen Wind von der Sache gekriegt haben«, sagte Patterson. »Die ha-ben doch sonst immer die Ohren am Wind.«

Der Kapitänsleutnant grinste überheblich.»Diesmal nicht«, versicherte er. »Es ist kein Sterbens-

wörtchen nach außen gedrungen. Die Leute von der ›Eldridge‹ sind ausnahmslos in Quarantäne. Reine Vor-sichtsmaßnahme.«

Patterson war ein Kommunistenfresser, der der anderen Seite jede Schandtat zutraute und von Kind auf mißtrau-isch war.

»Sie haben U-Boote und Flugzeuge«, wandte er ein. »Und sie tarnen sich mit harmlos aussehenden Fischkut-tern. Ich wette, die stehen irgendwo ganz in der Nähe.«

»Die Wette verlieren Sie, Commander. Wir haben selbst U-Boote stationiert, und unsere Luftaufklärung sucht pausenlos die See ab. Bisher ist nichts entdeckt worden.«

»Ich traue ihnen trotzdem nicht.«Hagman unterbrach das Gespräch, das doch zu nichts

führte.»Wir sollten uns beeilen, meine Herren. Der Versuch

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soll in einer halben Stunde stattfinden.«»Irgendwelche besonderen Anweisungen?« fragte Pat-

terson.»Nur ein paar, Sir. Halten Sie sich bitte in Brückennähe

auf und beobachten Sie die Geräte. Es besteht die Mög-lichkeit, daß Flammen aus dem Kompaß schlagen oder ganz unvorhersehbar ein kleinerer Brand ausbricht. Hal-ten Sie für alle Fälle ein Löschkommando bereit. Ihre Leu-te können sich ganz zwanglos auf dem Schiff bewegen. Wie viele Männer haben Sie augenblicklich an Bord?«

Der Pedant Patterson zeigte auf eine Liste.»Sechsundneunzig Freiwillige«, sagte er. »Dazu vier Of-

fiziere und ich. Summa summarum hundertundein Mann. Die Leute wissen nur, daß etwas erprobt werden soll, das sich auf eine neue Radartechnik bezieht.«

»Mehr sollen sie auch nicht erfahren.«Noch einmal sahen die Techniker die Geräte durch. Es

war der dritte Check, der stattfand. Alles war in Ord-nung.

Drüben auf dem Schlachtschiff warteten die Beobachter, alle aus höchsten Kreisen wie beim ersten

Versuch. Auch der Minister und der Admiral waren wieder dabei.

Der Minister hatte in seinem Bericht an den Präsidenten erwähnt, daß alles erwartungsgemäß verlaufen sei – bis auf das Verschwinden einiger Leute. Aber ein Risiko war schließlich immer dabei, wenn etwas Neues erprobt wur-de.

Die Pinasse legte ab und kehrte zum Schlachtschiff zu-

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rück. Patterson sah ihnen gedankenvoll nach.Dann wandte er sich an seinen Ersten Offizier.»Aye, Sir, aber damit verstoßen wir gegen…«»Wir verstoßen gegen gar nichts«, polterte Patterson los.

»Ich will, daß die Torpedorohre klar sind, klar zum Ab-schuß,, verstanden? Wir halten kleine Gefechtsbereit-schaft aufrecht. Dies ist ein geheimes Experiment von allergrößter Wichtigkeit, daher rechne ich fast mit dem Auftauchen von Kommunisten, die natürlich längst etwas gemerkt haben.«

»Vor der Küste kreuzen zwei Zerstörer, ein paar Aufklä-rer und Boote der Küstenwache, Sir«, wagte der Erste ein-zuwenden. »Außerdem stehen irgendwo in der Nähe U-Boote auf Horchposten. Ihnen wird nichts entgehen, abso-lut nichts, Sir. Die orten sogar über Sonar einzelne Sardel-len.«

»Weiß ich alles. Die andere Seite wird sich einen Trick einfallen lassen. Darauf können Sie Ihre Pension verwet-ten. Deshalb werden wir zusätzlich dafür sorgen, daß nichts passiert.«

»Aye, aye, Sir.«»Dann sorgen Sie gefälligst dafür«, knurrte der Kommu-

nistenfresser.Von der ›Iowa‹ wurden Blinkzeichen gegeben.Der Magnetisierungsprozeß begann.Niemand spürte etwas davon. Das fing erst dann an, als

die MHD-Generatoren zu laufen begannen, um das Rota-tionsfeld zu stabilisieren.

Die Kraft der Generatoren war noch verstärkt worden.

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Sie begannen beim Anlaufen schrill und mißtönend zu heulen.

Es dauerte nicht lange, dann verloren sich die Töne. An ihre Stelle trat ein geheimnisvolles Leuchten, das die ›Norfolk‹ von zwei Seiten langsam einhüllte.

Der gleiche Effekt trat wieder ein. Das Schiff schien nach einer Weile zu sinken, zerfloß in den Konturen und ver-zerrte sich ins Abstrakte, bis es schließlich unendlich langsam verschwand.

Dr. Hagman und seine Techniker waren zufrieden mit dem Ergebnis. Doch sie freuten sich zu früh.

Irgend etwas war passiert, etwas, das sie in ihre Berech-nungen nicht einbeziehen konnten, weil ihnen die nötige Erfahrung fehlte.

Das jetzt gleichmäßige Summen der Feldgeneratoren wurde unvermittelt grell und kreischend. Dann schlugen Flammen aus den Generatoren yardlarige weißblaue Flammen.

Rauch entwickelte sich. Kreischend fraß sich in den La-gern etwas fest.

Vier Generatoren fielen schlagartig aus. Ein fünfter be-gann aus keinem ersichtlichen Grund zu kokeln.

Hagman war bestürzt. Er konnte es nicht fassen.Ein Löschtrupp erschien und rückte den brennenden

Generatoren mit Trockenlöschern zu Leibe.Entsetzt sah Hagman zur ›Norfolk‹ hinüber.Die erschien jetzt wie ein Torso, der aus dem Meer auf-

stieg. Der Bug des Zerstörers wurde sichtbar und zeigte schräg zum Himmel. Teile der Aufbauten begannen zu

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flimmern, und im Wasser gab es einen tiefen Abdruck, als wüte dort ein riesiger. Strudel.

»Abschalten!« schrie der Physiker. »Sofort abschalten!«Die Beobachter sprangen auf und starrten zu dem Schiff,

das eher einem Wrack ähnelte. Es war an manchen Stellen fast durchsichtig wie dünnes Glas.

Auf der Brücke hatten sich die Konturen noch nicht ge-festigt. Sie schien mitten in der Luft zu hängen. Auch ein paar Waffentürme schwebten über dem Torso.

Mit schrillem Jaulen liefen die Generatoren aus, ehe sie winselnd zur Ruhe gelangten.

Dr. Hagman stieß tief die Luft aus.»Das Schiff stabilisiert sich gleich«, sagte er beruhigend

zu den entsetzt aufgesprungenen Männern. »Sobald der Saft weg ist, erscheint es in voller Größe.«

Der Saft war weg, doch auf der ›Norfolk‹ zeigte sich kei-ne Veränderung.

Sie schien irgendwo zwischen zwei Welten zu hängen – wie ein Schemen, das nur teilweise sichtbar ist.

Der Bug wies immer noch in den Himmel, und im Was-ser waren unklar die Schrauben zu erkennen.

»Mein Gott, was ist passiert?« rief der Minister.Dr. Hagman wußte es nicht. Irgendein Faktor hatte nicht

mitgespielt, doch das herauszufinden, konnte lange dau-ern.

Er sah starr zu den Leuten an Bord des Zerstörers, und das Entsetzen drückte ihm die Luft ab.

Da stand ein Mann nur als Umriß an Deck. Wie gezeich-net als lächerliches Strichmännchen war er zu sehen. Ei-

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nem anderen fehlte der halbe Unterkörper, und weiter links von ihm standen ein paar Beine an Deck, die ober-halb der Knie aufhörten.

In der Luft hing ein Rauschen, das ebenfalls nicht zu er-klären war.

»Es muß sich stabilisieren!« schrie Hagman nervös.Doch das Bild des Grauens blieb vorerst bestehen. Die

Männer auf dem Zerstörer ›Norfolk‹ schienen auf eine un-heimliche Art im Stehen zu schlafen. Keiner rührte auch nur einen Finger. Aus weit aufgerissenen Augen blickten sie zum Schlachtschiff. Vermutlich nahmen sie es gar nicht wahr.

»Wir beschwören hier etwas, das wir nicht mehr in den Griff kriegen«, flüsterte der Minister. »Tun Sie doch et-was, Hagman.«

Hagman war so hilflos wie nie in seinem Leben.Drüben schien die Zeit stillzustehen. Sie lief so langsam

ab, daß eine einfache Handbewegung Tage oderWochen dauerte und damit so gut wie gar nicht zu er-

kennen war.»Wir haben in eine andere Dimension gegriffen«, sagte

ein Techniker neben Hagman. »Zeit und Raum haben sich verändert, oder es sind verschiedene Zeitzonen gleichzei-tig entstanden. Was tun wir jetzt?«

»Warten«, sagte Hagman niedergeschlagen. »Warten und beobachten. Ich bin sicher, daß sie alle noch leben, daß sich für uns aber die Zeit verlangsamt hat, jedenfalls aus unserer Perspektive. Wir wissen noch zu wenig über derartige Vorgänge.«

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»Wie lange kann das dauern?«»Keine Ahnung, wirklich nicht.« Hagman wandte sich

seufzend um und versuchte, ein paar Erklärungen für das Phänomen zu geben.

Aber die Männer hörten kaum zu. Sie blickten nur zu dem Zerstörer und seiner seltsamen Mannschaft.

Ein Kamerateam der Marine filmte unterdessen jede Phase.

7.

Der nächste Schock überfiel die Arwenacks.Ein eigenartiges Zwielicht herrschte. Über ihnen schie-

nen Wolken zum Greifen nahe zu schweben.Die Luft war schwer, und sie leuchtete schwach. Der

Horizont war so weit entfernt, daß er sich nicht mal erah-nen ließ.

Ganz hinten am unsichtbaren Horizont lag die Schebe-cke. Sie lag da, abstrakt, verzerrt, wie eine künstliche Ku-lisse, und sie war von einem fahlen Grün überzogen.

Carberry, Dan und Blacky sahen es mit nacktem Entset-zen.

»Warum sind wir nicht an Bord?« fragte der Profos. »Wir waren doch eben noch an Bord.«

Keiner der drei konnte sich erklären, wie das passiert war. Es war wieder wie in einem unwirklichen Traum, wo Phantasie und Wirklichkeit verwischten, wo alles ab-

Page 86: Die Zeitwoge

strakt, wurde.Selbst der Boden unter ihren Füßen ließ keine Definition

zu, falls es überhaupt ein Boden war und sie nicht in der Luft hingen.

»Wir müssen an Bord«, flüsterte Dan mühsam. »Weiß der Satan, was passiert ist, aber wir sind in einer anderen Welt. Beeilt euch. Ich habe das Gefühl, als würde unser Schiff gleich verschwinden.«

Sie bewegten sich, doch bei der geringsten Bewegung erzeugten sie eine unglaubliche Hitze. Sie atmeten zu-sammengepreßte Luft und mußten sich mühsam voran-kämpfen. Schweiß lief ihnen in Strömen über die Gesich-ter.

Über ihnen wuchs jetzt eine Mauer aus Glas, wie sie es schon einmal erlebt hatten. Es schienen Wolken zu sein, die von unwiderstehlichen Kräften auf den Untergrund gepreßt wurden.

Die Masse wurde immer dichter und kompakter. Ein-mal zuckte ein heller Lichtfinger über sie hinweg. Er geis-terte unendlich langsam weiter und spaltete sich dann.

»Ein Blitz«, keuchte Blacky. »Über uns hängen Regen-wolken.«

»So langsame Blitze gibt es gar nicht«, widersprach Car-berry. »Verdammt, da liegt das Schiff, und wir erreichen es nicht mehr.«

Die Schebecke leuchtete fahl. Sie konnte Meilen entfernt sein, obwohl sie mitunter das Gefühl hatten, unmittelbar vor ihr zu stehen. Und immer noch war das Schiff verzo-gen, verbogen und völlig verzerrt.

Page 87: Die Zeitwoge

Aber es war das einzige Erkennungszeichen weit und breit, und es diente ihnen als Wegweiser durch diese ir-reale Welt, die sie nicht begreifen konnten, die von kei-nem Verstand erfaßbar war.

Über ihnen hingen jetzt dicke gläserne Tropfen. Man konnte sie genau erkennen, und sie senkten sich unend-lich langsam nieder. Auch vor ihnen war diese Wand aus gläsernen Perlen, die ständig weiter herabsackte.

Carberry sah die anderen immer wieder aus einer ande-ren Perspektive. Mal wuchs Dan neben ihm ins Riesen-hafte, mal wurde aus Blacky ein Zwerg, der in Windeseile dahinschoß und dabei immer kleiner wurde.

Wenn er keuchend stehenblieb, kehrten die Alptraum-gestalten zu normaler Größe zurück. Sobald er sich seit-lich von ihnen bewegte, begann sich alles zu verzerren und wurde grotesk.

Nach einer Weile – sie hatten längst jeden Zeitbegriff verloren – konnten sie kaum noch gehen. Die Reibungs-hitze wurde immer stärker.

Gleichzeitig wurde auch die gläserne Wand kompakter und dichter.

Einzelne große Tropfen hingen über ihren Köpfen. Sie konnten sie schon fast mit den Händen greifen.

Die Schebecke begann in den abstrakten Konturen zu zerfasern. Ihr grünliches Licht, das sie einhüllte, wurde schwächer bis zu einem fahlen Glosen.

Und noch immer schien sie so weit entfernt zu sein wie der Mond.

»Das ist Regen über uns!« schrie Blacky. »Das Zeug ist

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naß, es muß Regen sein.«Sie wußten nicht, daß es Regen aus einer anderen Zeit

war, in der sich physikalische Gesetze umgekehrt hatten und Zeitabläufe einem anderen Gesetz unterlagen.

Immer weiter zerfloß der geisterhafte Schein der Schebe-cke. Jetzt war nur noch ein verwaschener Fleck sichtbar, der ihnen als Anhaltspunkt diente.

»Schneller!« rief Carberry. »Verflucht, wenn das Licht weg ist, dann sind wir erledigt. Ich fühle es. Und das ist auch kein verdammter Traum, den wir hier erleben. Es muß Wirklichkeit sein.«

»Aber wo sind wir?«»Im Vorhof zur Hölle.«Sie mußten jetzt schon gebückt laufen, denn die Mauer

aus Glas oder Wasser senkte sich unaufhörlich weiter nach unten und erdrückte sie fast.

Da es immer heißer und unerträglicher wurde, blieben sie einmal schnaufend stehen. Grauen stand in ihren fahl leuchtenden Gesichtern, und sie empfanden unbeschreib-liche Angst.

Carberry streckte die Hand aus. Als er sie wieder zu-rückzog, war sie feucht von Nässe. Über ihnen mußten sich Millionen Tonnen Wasser befinden, die sich stetig senkten.

Einmal versuchten sie, sich gegen diese herabsinkende Wasserfront zu stemmen, doch sie kamen gegen diese ge-waltigen Kräfte nicht an. Ihr Schicksal schien damit besie-gelt zu sein. Bevor sie das Schiff erreichten, würde die Mauer sie erdrücken und zerquetschen.

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Die Mauer komprimierte auch gleichzeitig die Luft, die so zäh wie dickflüssiger Brei wurde. Dabei wurde sie mit jedem Augenblick noch dichter und kompakter.

Noch etwas später konnten sie sich nur noch auf den Knien weiterbewegen, und das Schiff war immer noch endlos weit entfernt.

Carberry bemerkte abermals die seltsame Verzerrung, als er auf den Knien weiterkroch und sich seitlich neben Blacky vorwärtsbewegte.

Blacky entfernte sich erstaunlich schnell. Auf den Knien flitzte er regelrecht dahin. Bei Dan O'Flynn war es ähn-lich, nur umgekehrt.

Er wurde riesengroß und ragte in die Glaswand hinein wie ein monströses Ungeheuer.

Da sah der Profos plötzlich die Schebecke ganz dicht vor sich. Sie schien verlassen zu sein.

»Wir sind da!« rief er durch den zähen Brei, der kaum noch in die Lungen wollte.

Seine erneute Seitwärtsbewegung begrub seine Hoff-nungen allerdings sehr schnell. Die Sehebecke entfernte sich und wurde zu einem fernen, schwach leuchtenden Punkt.

»Links hinüber!« schrie er die beiden an. »Bewegt euch ganz langsam in meine Richtung.«

»Wo bist du überhaupt?« fragte Dan, der derselben Per-spektivenverzerrung zum Opfer fiel.

»Hier, links.«»Wo ist links? Ich habe überhaupt kein Gefühl mehr.«»Es muß hier so eine Art Trampelpfad geben«, keuchte

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der Profos entsetzt. »Wenn wir auf dem entlangrobben, können wir es schaffen. Trampelpfad hört sich natürlich dämlich an, aber es ist so.«

Dan O'Flynn und Blacky hatten diese Feststellung auch schon hinter sich. Doch der Pfad war nur sehr schwer zu finden, und in ihrer Angst und Panik fanden sie sich so-wieso nicht zurecht.

Die Mauer drückte sie jetzt nieder. Auf den Knien konn-ten sie sich nicht mehr bewegen. Sie mußten robben.

Der Profos hatte den glosenden Punkt wieder im Blick-feld, Die Verzerrung hob sich auf, die Schebecke war kla-rer zu erkennen, und so griff er energisch zu und erwisch-te Blacky am Hosenboden.

»Hierbleiben!« donnerte er, »Du auch. Wenn du nur einen Schritt vom Kurs gehst, wirst du zerquetscht wie eine Laus. Wir dürfen keine Handbreite mehr abwei-chen.«

Die Mauer berührte jetzt bereits ihre Schultern, und sie spürten einen Druck, als lasteten schwere Gewichte auf ihnen. Ihre Köpfe wurden feucht.

Atmen war nur noch mit Mühe möglich.Ein anderer Effekt überraschte sie noch einmal. Inner-

halb eines Atemzuges legten sie eine fast Unglaubliche Entfernung zurück. So jedenfalls erschien es ihnen.

Das Licht wurde heller, die Schebecke lag in ihren Um-rissen vor ihnen. Sie brauchten nur noch die Hand auszu-strecken.

Dann fühlten sie sich von gigantischen Kräften angeho-ben. Nervige Fäuste hievten sie mühelos auf. Die Fäuste

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ließen los, und sie befanden sich übergangslos an Deck.»Ich weiß nicht, was hier vorgeht«, sagte Hasard. »Ich

weiß nur, daß wir dicht an der Grenze zum Wahnsinn stehen. Vielleicht sind wir es längst und glauben es nur nicht.«

Finsternis umgab sie von allen Seiten, und doch war es keine Finsternis im üblichen Sinne. Es war düster und schummrig, aber die Gesichter waren zu erkennen.

Die Schebecke schwamm offenbar in einer zähen dunklen Substanz. Die Segel hingen schlaff herab.

Sie lag dicht vor einer Mauer aus dunklem Glas, einer Wand, die ein Horizont sein konnte, aber ebensogut auch etwas völlig anderes. Diese Mauer schloß sie jetzt herme-tisch von einer anderen Welt ab.

»Wie sind wir von Bord gelangt?« fragte Dan O'Flynn. Seine Lippen zuckten wild, und das panikartige Angstge-fühl überfiel ihn wieder.

»Keine Ahnung«, sagte Hasard. »Man hatte mir nur euer Verschwinden gemeldet, uns so suchten wir euch. Aber durch diese Mauer konnte niemand durch, und so blieben wir hier ratlos liegen und warteten, bis sich in der Mauer ein Spalt öffnete und eure Köpfe erschienen.«

»Ich glaube, die Mauer ist eine Regenwand«, sagte Blacky. »Sie fühlt sich jedenfalls ganz naß an.«

»Die Mauer ist aus einer unbekannten Substanz«, wider-sprach der Seewolf. »Nicht mal ein Bootshaken kann sie durchdringen.«

Jetzt verstanden sie überhaupt nichts mehr und sahen sich nur noch ratlos an.

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»Hoffentlich hat dieser fürchterliche Alptraum bald mal ein Ende«, sagte der Stückmeister Al Conroy. »Unser Mo-ses Clint hat sich vor Angst in Bens Kammer verkrochen, und da kriegt ihn auch vorerst keiner raus, weder mit gu-ten Worten noch mit Drohungen.«

»Ich weiß nicht mal, wie lange dieser Alptraum schon dauert«, erwiderte Hasard. »Manchmal habe ich das Ge-fühl, wir segeln als Verdammte durch alle Weltmeere. Und mitunter nehme ich an, daß wir nicht mehr auf der Erde sind.«

»Vielleicht hat der Kutscher doch recht mit seiner son-derbaren Theorie, daß wir auf einer anderen Welt sind«, meinte Blacky. »Aber das hier ist schlimmer als der Tod.«

»Da kann ich dir nur recht geben.«An der Sanduhr war keine zeitliche Orientierung mög-

lich, obwohl sie es immer wieder versuchten. Sobald sie umgedreht wurde, blieb der Sand in der oberen Hälfte hängen. Er war auch nicht feucht, er rieselte nur nicht durch die enge Öffnung.

»Kann es sein, daß keine Zeit vergeht?« fragte Ben, nachdem er es schon zum x-ten Male versucht hatte.

»Du meinst, wir treten sozusagen auf der Stelle?« fragte der Kutscher. »Nein, das glaube ich nicht. Zeit vergeht immer, irgendwie. Sie muß ja vergehen, sie läßt uns schließlich altern.«

»Aber genau weißt du es nicht?«»Nein«, gab der Kutscher zu. »Genau weiß ich es nicht.

Es ist viel zu kompliziert.«»Die Mauer bewegt sich!« rief Sam Roskill überrascht.

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Sie verschwindet in der See. Seht euch das mal an!«Überrascht fuhren sie herum und sahen auf die seltsame

Mauer.Sie hatte sich offenbar tief ins Wasser gesenkt, und man

konnte mit etwas Mühe ihren oberen Teil erkennen. Der war wellenförmig und bewegte sich in langgestreckten Linien, die zu leben schienen. Entfernt ähnelte es leichter Dünung.

Wieder einmal standen sie fassungslos vor einem Phä-nomen.

Die dunklen Wellen nahmen sie gemächlich auf, und alle hatten das Gefühl, auf einer schiefen Ebene zu liegen, die ins Nichts führte. Aber am Horizont war ein unmerk-liches feines Licht, wie wenn man aus der Tiefe des Mee-res nach oben blickt.

»Scheint so, als würde wieder etwas passieren«, ließ sich Big Old Shane durch die entsetzliche Stille vernehmen. »Aber es ist gewiß nichts Gutes. Ich möchte endlich auf-wachen und feststellen, daß alles nur ein übler Traum war.«

Weiter wünschten sich die anderen auch nichts. Aber die höllische Reise war noch nicht beendet. Sie rutschten weiter auf der schief geneigten Ebene ins Nichts.

8.

Hagman bezeichnete die Lage als einigermaßen normal,

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als der Zerstörer ›Norfolk‹ nach und nach Konturen an-nahm und auch die Leute langsam aus ihrer Erstarrung erwachten. Aber das Experiment wurde abgebrochen, denn damit hatte man offenbar die Geister der Vergan-genheit beschworen. Was jetzt folgte, ließ sie erschauern und setzte allem die Krone auf.

Piraten aus der Vergangenheit erschienen wie aus dem Nichts vor der Atlantikküste, genau in dem Gebiet, das hermetisch abgeriegelt war.

Hagman und die Beobachter glaubten zu träumen.Etwa hundert Yards von dem Zerstörer entfernt, kräu-

selte sich die relativ glatte See, und auf der Wasserober-fläche erschien der Abdruck eines schmalen und schlan-ken Schiffes.

Hagman fror entsetzlich, als das Etwas aus Zeit und Raum Konturen annahm und sich immer mehr stabilisier-te.

Ein Relikt aus dem Mittelalter tauchte auf und begann erstaunlich schnell, lebendig zu werden.

Niemand sprach ein Wort. Diesmal waren sie selbst in eine langanhaltende Starre gefallen.

Der Admiral auf dem Schlachtschiff kriegte den Mund nicht mehr zu. Er wollte etwas sagen, doch kein Ton drang über seine Lippen.

»Filmen Sie das!« rief Hagman dem Team zu, das neben den Kameras stand und verblüfft auf die Szene sah.

Die Kameras begannen zu laufen.»Eine Schebecke«, sagte der Admiral, nachdem er seine

Maulsperre überwunden hatte. Er kannte sich mit alten

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Schiffstypen genau aus. »Eine Mittelmeer-Schebecke tür-kisch-arabischen Ursprungs, die später an der algerischen Küste als Piratenschiff verwendet wurde. Haben Sie das. inszeniert, Doktor, als kleine Überraschung?«

»Nein«, stammelte Hagman. »Weiß Gott nicht. Bei dem Experiment ist etwas schiefgegangen. Es muß eine Raum-zeit-Krümmung stattgefunden haben. Wir haben die Ver-gangenheit ungewollt heraufbeschworen.«

»Mit herrlich alten Relikten«, schwärmte der Admiral. »Jedenfalls betrachte ich das als eine gelungene Überra-schung.«

»Das habe ich nicht beabsichtigt und auch nicht ge-wollt.«

An Deck der Schebecke bewegten sich abenteuerliche Gestalten, deren Anblick dem Minister das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Das ist ja wahrhaftig noch besser als im Film, dachte er. Jedenfalls wirkte es absolut echt. Schaurig Und schön zu-gleich, aber wiederum auch sehr befremdlich. Sein Herz klopfte laut.

Die Segel des Schiffes hingen herab. Es war ein stolzer Anblick, aber die abenteuerlichen Kerle an Deck jagten den Betrachtern einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Da stand einer, der anstelle seiner Hand nur einen Ei-senhaken hatte, der ihm direkt aus dem Arm zu wachsen schien. Auch ein zweiter tauchte neben ihm auf. Er trug ebenfalls einen eisernen Haken, der ihm die linke Hand ersetzte.

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Am Schanzkleid des Schiff es stand ein unwahrschein-lich breitgebauter Mann mit einem riesigen Kreuz und ei-nem Kinn, unter das keine normale Faust paßte. Er sah drohend herüber.

Ein riesiger Neger erschien, der aus großen Augen und ziemlich verblüfft herüberstarrte. Achtern auf dem Deck des seltsamen Schiffes stand ein schwarzhaariger Riese mit silbergrauen Fäden an den Schläfen. Er trug Degen und Bandelier und stemmte die Fäuste in die Hüften.

Der Admiral konnte sich an diesem Anblick nicht satt genug sehen und geriet wieder ins Schwärmen.

»Piraten, Korsaren, vermutlich aus dem sechzehnten Jahrhundert!« rief er begeistert. »Ob die echt sind?«

Dr. Hagman, der das Unheil heraufbeschworen hattet ohne es zu wollen, nickte kläglich.

»Die sind so echt wie wir«, sagte er mit zittriger Stimme. »Die leben alle, und ich wette, daß sie mit ihrer jetzigen Situation nichts anfangen können. Sie sind wahrschein-lich noch verwirrter als wir.«

»Ich kann nicht behaupten, daß ich verwirrt bin«, erklär-te der Admiral gutgelaunt. »Der Anblick ergötzt und er-freut mich in höchstem Maße. Ich werde versuchen, mit den Leuten Kontakt aufzunehmen.«

»Um Gottes willen!« Hagman rang die Hände. »Nur das nicht, Sir. Dadurch kann sich alles in der Vergangenheit ändern. Die Leute sind schließlich nicht fiktiv, sondern stofflich stabil und damit in dieser Zeit verletzlich. Wenn nur einem von ihnen etwas geschieht, sind die Folgen gar nicht auszudenken. Ein Paradoxon könnte entstehen, et-

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was, das die ganze Welt verändert. Diese Leute stammen aus einer anderen Zeit, aus der Vergangenheit.«

»Ist mir klar. Aber was hat ihr Erscheinen bewirkt?«»Wenn ich das wüßte, Sir!«»Der Magnetfeld-Effekt?«»Ja, es müssen raumzeitliche Überlappungszonen sein,

die an dem Auftauchen schuld sind.«»Na schön, jetzt sind die Korsaren hier. Wie aber kön-

nen sie wieder in ihre Zeit zurückkehren?«Hagman mußte kläglich eingestehen, daß er versagt hat-

te und es selbst nicht wußte.»Aber wenn sie in unserer Zeit bleiben, spielt doch alles

verrückt, Doktor. Dann passiert das, was man ein Parado-xon nennt.«

»Ich hoffe, sie verschwinden wieder«, jammerte der Physiker.

»Jaja, die Geister, die man ruft! Jetzt haben wir sie auf dem Hals.«

Fasziniert sahen sie zu, wie die Korsaren sich bewegten. Ein paar von ihnen hielten sich am Schanzkleid auf und musterten ihre neue, für sie absolut fremde Umgebung.

Die Kerle wirkten zwar stark und entschlossen, und sie waren sicher auch ausgezeichnete und mutige Kämpfer. Doch jetzt schien sie all ihr Mut verlassen zu haben.

Manche waren unschlüssig, andere schienen genervt zu sein, und einige hielten sich sehr bescheiden und klein-laut im Hintergrund zurück.

»Ob sie sich unter einem Zerstörer oder einem Schlacht-schiff wie der ›Iowa‹ etwas vorstellen können?« fragte der

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Admiral. Er schien ein bißchen schadenfroh über die ver-datterten Gesichter der Korsaren zu sein.

»Ganz bestimmt nicht. Sie haben keinerlei Bezug zu die-ser Zeit. Sie kennen zwar Eisen, aber keine eisernen Schif-fe, und sie kennen auch keine Flugzeuge. Es muß wie ein Schock für sie sein. Denn nach ihrer Ansicht kann Eisen ja nicht auf dem Wasser schwimmen.«

»Es scheinen englische Korsaren zu sein«, bemerkte der General. »Sie verraten sich durch kleine Einzelheiten. Ich nehme an, daß sie einen königlichen Kaperbrief haben, ausgestellt von Ihrer Majestät Elisabeth von England. Ich schwärme für die Zeit, und ich möchte mich am liebsten mal mit den Burschen unterhalten.«

»Tun Sie es nicht, Sir«, bat Hagman.»Sie wollen mir doch nicht etwa einreden, daß in paar

Worte ganze Welten verändern oder ein Paradoxon schaf-fen können, Doktor? Das halte ich für einen Witz. Sie ha-ben diese Relikte aus der Vergangenheit hierhergeholt, und es wird Ihnen noch verdammt schwerfallen, das zu veranworten, was nun mal geschehen ist. Geben Sie mir Ihre Flüstertüte.«

Der Admiral nahm das Megaphon und setzte es an den Mund.

»Hallo! Könnt ihr mich verstehen?« rief er.Er sah, daß einige der Korsaren zusammenzuckten und

sich wie gehetzt umschauten.Hagman nahm ihm das Megaphon mit sanftem Druck

wieder ab.»Sie erschrecken diese Leute nur. Für sie ist es eine brül-

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lende Stimme, die aus dem Himmel zu stammen scheint. Begreifen Sie das doch endlich, Sir. Wir können hier keine normalen Maßstäbe anlegen.«

»Es ist ja nichts passiert.«»Es könnte aber. Nehmen Sie mal an, einer dieser Män-

ner wäre jetzt in Panik oder vor Angst über Bord ge-sprungen und ertrunken, nur weil er glaubte, aus dem Himmel spräche eine Stimme zu ihm. Nehmen wir weiter an, ein Vorfahre dieses Engländers, sei früher nach Ame-rika ausgewandert, und gehen wir in der Annahme so weit, daß es sich um einen Ihrer Urururgroßväter handelt. Dieser Mann ist eine Art Ahnherr und steht Ihrer Genera-tion vor. Er hat sich fortgepflanzt, Kinder gezeugt, und die haben sich wieder fortgepflanzt. Und eins dieser Kin-der in der weiß Gott wievielten Generation sind ausge-rechnet Sie. Können Sie sich die Folgen überhaupt ausma-len? Sie würden aufhören zu existieren, obwohl es Sie noch gar nicht gibt, Sir. Wäre doch paradox, wie?«

Der Admiral starrte den Physiker an, wurde etwas blaß im Gesicht und räusperte sich verlegen.

»So habe ich es noch gar nicht betrachtet, Doktor Hag-man.«

»So muß man es aber betrachten, auch wenn es noch so unwahrscheinlich klingen mag. Aus diesem Grund dür-fen wir uns mit den Leuten dort drüben nicht befassen, wenn wir nicht ein sorgsam zusammengesetztes Puzzle zerstören wollen, das unabsehbare Folgen hat. Betrachten Sie das Bild, Sir, aber unternehmen Sie nichts.«

»Ich verstehe«, sagte der Admiral tonlos. »Entschuldi-

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gen Sie. Es gibt da ein Beispiel von dem Mann, der die Zeitmaschine erfand, in die Vergangenheit reiste und sei-nen Großvater umbrachte. Demnach hätte es ihn also selbst gar nicht gegeben.«

»Ja, das ist das klassische Paradoxon.«»Wie würde es denn ausgehen?«»Gar nicht, weil es widersinnig ist. Herausgefunden hat

das noch niemand, zum Glück, möchte ich sagen.«Die Korsaren standen immer noch stumm herum. Sie

hatten sich wieder beruhigt, wirkten aber noch nervös, wenn sie ihre neue Umgebung betrachteten.

Zwei von ihnen hantierten an den Kanonen. Offenbar verloren sie doch langsam die Nerven in dieser für sie völlig unbekannten und schockierend wirkenden Welt.

*

Für Floyd Patterson war das Auftauchen der Piraten-schebecke direkt ein gefundenes Fressen, das seine Theo-rie von den allgegenwärtigen Kommunisten untermauer-te.

»Sag ich es doch«, triumphierte er. Sie hatten von den Veränderungen kaum etwas mitgekriegt. Nur ein leichtes Ziehen war zu verspüren und eine kurze Zeit milchiger Dämmerung.

Nach Pattersons Ansicht war das Experiment in die Hose gegangen. Aber jetzt riß es ihn hoch.

»Den verdammten Iwans fällt doch immer wieder was

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ein«, schnaubte er erbost und aufgeregt. »Die tun jetzt so, als drehten sie einen alten Piratenfilm, aber das läuft bei mir nicht. Ich falle auf solche bolschewistischen Tricks nicht herein. Von wegen Piraten! Die Kerle sind getarnte Agenten, Spione, Schnüffler. Ihr alter Kahn ist mit Elek-tronik von oben bis unten vollgestopft, und sie kriegen je-des Wort mit, das aus den Antennen geht. Das kennt man ja mittlerwelle zur Genüge von den überall auftauchen-den Fischkuttern, die noch nie einen Fisch in ihren Netzen hatten.«

Der Erste Offizier sah das etwas anders, obwohl er reichlich verdutzt war. Er fragte sich, von wo das Schiff mit den seltsamen Männern wohl so plötzlich erschienen war. Es war wie aus dem Nichts aufgetaucht.

»Vielleicht hat man uns nichts davon gesagt, daß hier gedreht wird, Sir. Die anderen scheinen sich jedenfalls nicht darüber sonderlich aufzuregen. Wir können ja mal anfragen,«

Patterson sah wütend zu der mehr als hundert Yards entfernten alten Holzgurke, wie er die Schebecke verächt-lich nannte.

»Tun Sie das, aber schnell, sonst handele ich selbst, und dann geht es diesen Kerlen an den Kragen. Hier läuft ein topgeheimes Experiment.«

Der Erste meldete verwirrt, daß eine Kommunikation mit den anderen Schiffen ausgeschlossen war. Sie kamen nicht durch. Vermutlich hing das mit dem Magnetfeld zu-sammen. Nach- oder Nebenwirkungen, meinte er.

»Bedarf es noch weiterer Beweise?« schrie Patterson.

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»Sie haben alle unsere Frequenzen mit ihren starken Sen-dern überlagert, um zu verhindern, daß wir miteinander reden können.«

Schnaufend sah er auf die Szene.Die Kerle, die da als Piraten erster Güte verkleidet wa-

ren, sahen sich immer wieder um. In manchen Gesichtern konnte er Angst erkennen, wenn er durch das Glas blick-te. Aber das war natürlich nur gespielt. Und die anderen, die Techniker, Physiker und Augenzeugen des Experi-mentes, reagierten ganz gelassen und unternahmen nichts.

»Den Burschen verpasse ich eine Zigarre«, sagte er ent-schlossen, womit er einen Torpedo meinte.

»Es ist nur ein harmloses Holzschiff«, versuchte der Ers-te den aufgebrachten Kommandanten zu beruhigen.

»Quatsch! Oben Holz, und unten haben sie eine Schrau-be, und im Heck steht eine Maschine. Erst vor kurzem wurde vor Kanada so ein Ding aufgebracht, das auch so harmlos aussah Und was hatte es im Bauch?«

»Ich habe davon gehört und gelesen, Sir. Es stimmt, es war ein getarnter Trawler, der vor der Küste spionert hat-te.«

Patterson blickte wieder hinüber.»Ist Rohr zwei geladen?«»Ja, Sir.«»Sehr gut. Wir können im Augenblick nicht manövrie-

ren. Aber der Kahn bewegt sich jetzt, obwohl kaum Wind geht und seine Segel nicht gebläht sind. Die Richtung stimmt ungefähr. Er hat wahrscheinlich einen Elektromo-

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tor für unauffällige Schleichfahrt im Heck. Knallen Sie ihm einen Horchtorpedo unters Heck«

»Aye, Sir.«»Dann zögern Sie nicht länger.«An den Torpedoraum wurde der Befehl durch einen

Läufer übermittelt, weil immer noch Funkstille auf allen Kanälen herrschte.

Der Torpedo zog ab und ging auf Kurs, Er war auf Schraubengeräusche eingerichtet und sprach an, sobald er das gewisse Geräusch ortete. Unter der Geräuschquelle explodierte er dann und riß das Schiff von unten her durch den ungeheuren Druck auf.

»Euch Bastarden wird das Schnüffeln vergehen«, sagte Patterson. »Ihr seid schneller in der Hölle, als ihr bis drei zählen könnt. Und ich werde mir einen Orden um den Hals hängen lassen.«

Mit einem sadistischen Grinsen blickte er zu der Schebe-cke. Sie lag zum Atlantik hin, und die buntgekleideten angeblichen Piraten konnten alles gut beobachten.

Patterson sah auch, daß sich jetzt in rasender Fahrt ein Boot der Küstenwache dem vermeintlichen russischen Spion näherte. Jetzt endlich hatte das Küstenkommando auch etwas gemerkt.

»Drei, vier – aus!« sagte er nach einem Blick auf den Chronometer an seinem Handgelenk.

Danach räusperte er sich erst mal die Kehle frei.»Verdammt, der muß doch endlich zünden!« rief er är-

gerlich. »Bei der Kategorie gibt's doch gar keine Versa-ger.«

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Patterson sah nicht, daß der Torpedo unter der Schebe-cke vorbeizog. Er reagierte nicht, weil er nicht auf einen alten Holzkasten programmiert war. Er nahm stur Kurs auf See, denn dort gab es viele Geräusche.

Für den Torpedo mußten sie geradezu ein Leckerbissen sein.

Als nach zwanzig Sekunden immer noch nichts passier-te, griff sich Patterson an den Hals und hustete.

Sein Fluch war nicht salonfähig. Gehetzt warf er einen Blick zu der Schebecke, auf der die Kerle unwissend her-umstanden oder vorgaben, nichts zu merken.

Er sah einen alten, verwitterten Burschen mit einem – Granitgesicht, der neugierig über Bord blickte, dann auf einem Holzbein herumhüpfte und zur anderen Bordseite verschwand, wo er wieder ins Wasser glotzte.

»Herr im Himmel«, sagte Patterson leise und flüsternd. »Laß es nicht wahr sein.«

Er packte den Ersten Offizier bei der Schulter und rüttel-te ihn.

»Mann! Preien Sie das Wachtboot an! Sie sollen sofort ihre Motoren abstellen. Ich ahne Fürchterliches.«

»Wir kommen nicht durch, Sir. Keine Möglichkeit einer Verständigung. Glauben Sie, der Torpedo…?«

Patterson setzte sich mit gequältem Gesichtsausdruck auf einen Klappstuhl und legte beide Hände vor das Ge-sicht. Zwischen den Fingern rann ihm der Schweiß wie Wasser hindurch*

Der Torpedo hatte inzwischen sein Ziel gefunden. Die sich rasend schnell drehenden und Lärm verursachenden

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Schrauben des Bootes zogen ihn geradezu magisch an.Vor der Küste gab es einen gewaltigen Knall, einen riesi-

gen, weißen Blitz und eine dunkle Rauchwolke, als das Boot in die Luft flog. Es wurde regelrecht aus dem Was-ser katapultiert, in die Höhe geblasen und total zerfetzt.

Uberall gab es betroffene Gesichter. Niemand hatte im Augenblick eine Erklärung für die rätselhafte Explosion.

Der Kommandant Floyd Patterson aber, der große Kom-munistenhasser und Besserwisser, hockte auf dem Klapp-stuhl und schluchzte.

Den Orden konnte er sich abschminken, den gab es nur für besondere Verdienste, und daß es ein besonderes Ver-dienst war, ein Boot der Küstenwache zu torpedieren, würde wohl keiner behaupten. Aber darüber konnte er später noch ausführlich mit dem Oberbefehlshaber disku-tieren.

In seiner grenzenlosen Wut wollte er das Feuer aus den Zwillingskanonen auf die Schebecke eröffnen lassen.

Aber er hatte nicht mit den Korsaren aus einer längst versunkenen Zeit gerechnet.

Denen gingen jetzt endgültig die Gäule durch.

9.

Den Schock und das plötzliche Wiedereintauchen in eine andere Welt verdauten die Arwenacks kaum. Es ge-schah immer zu überraschend, und so brauchten sie eine

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Weile, um sich zurechtzufinden.Der neuerliche Anblick erschütterte sie zutiefst.Eben noch waren sie durch eine unerklärliche Welt der

Dunkelheit und des Dämmerlichts gegeistert und auf ei-ner schiefen Ebene in eine andere Zone gerutscht.

Und jetzt war alles ganz anders.Hasard stöhnte leise, als er das Bild sah. Es war so un-

glaublich und wirklichkeitsfremd wie die anderen Szenen auch.

Sie befanden sich dicht vor einer Küste und tauchten wie aus einer Nebelwolke auf.

Vor dieser Küste lag wieder ein eisernes Ungetüm mit riesigen Türmen, den endlos langen Rohren, die so bestia-lisches Feuer verschossen, und den Männern, die diesmal jedoch ganz anders aussahen als die schlitzäugigen klei-nen Kerle auf den eisernen Inseln.

Ein paar hundert Yards vor ihnen lag dieser eiserne Gi-gant im Wasser. An Deck waren merkwürdige Apparatu-ren aufgebaut, und grelle Lichter stachen herüber.

»Ob das auch ein Schiff ist?« fragte der Kutscher.Der Seewolf nickte überwältigt.»Vermutlich ja. Es müssen Schiffe sein, obwohl ich mir

immer noch nicht erklären kann, wie sie sich auf dem Wasser halten können und welche geheimnisvolle Kraft sie bewegt. Da drüben sind noch mehr.«

Ein kleineres Ungetüm lag dem Koloß gegenüber, und dieses kleinere Schiff sah seltsam genug aus.

Es wirkte verbogen, deformiert und verzerrt. Außerdem schienen Teile des merkwürdigen Schiffes in der Luft zu

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hängen oder zu schweben.»Wahrscheinlich ist es noch nicht fertig gebaut«, sagte

der Kutscher. »Sie scheinen die Dinger aus bloßer Luft an-zufertigen. Aber wie kann das funktionieren?«

»Da stellst du mir aber Fragen, mein lieber Kutscher. Ich kann immer noch keine einzige davon beantworten.«

Die Lichter auf dem Riesenschiff faszinierten sie. Es standen auch viele Leute herum, und auf dem Achterdeck gab es eine Art Podium oder Bühne, die von etlichen Männern bevölkert war.

»Sie beobachten uns«, sagte Hasard. »Sie scheinen ge-nauso überrascht zu sein wie wir. Die anderen haben sich nicht um uns gekümmert. Hier ist das wohl anders.«

Er betrachtete die endlos langen und vielen Rohre auf dem Schiff, und er sah dahinter auch den Ort. Es mußte ein riesiger Ort sein mit endlos hohen Häusern und We-gen, die aus der Ferne an tiefe Schluchten erinnerten.

Bei dem Gedanken liefen ihm wieder Schauer über den Rücken.

Von der See her ertönte ein tiefes Brummen. Dort zog ein Gefährt übers Wasser, das nur der Vorstellung eines Verrückten entsprungen sein konnte.

Es war etwa so lang wie die Schebecke und hatte nur zwei kurze Masten, die eher Stummeln glichen. Der Bug des seltsamen Fahrzeuges stach steil aus dem Wasser, und es bewegte sich mit einem Tempo, daß ihnen selbst dabei ganz schwindlig wurde. Hinter sich zog das Ding einen kochenden Schaumstreifen her.

»Auch ein Schiff«, sagte der Kutscher. »Was soll es denn

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sonst sein?«Old O'Flynn faselte was von einem göttlichen Zauber-

wagen, aber das nahm ohnehin keiner ernst. Er hatte oft diese Anwandlungen und sah alles von einer anderen Warte aus.

»Jetzt fahren die eine Halse«, sagte Matt Davis erstaunt. »Mann, da bleibt einem glatt die Luft weg. Die Kerle müßten doch bei der Geschwindigkeit zerfetzt werden.«

»Zumindest müßten ihre Lungen platzen«, bemerkte der Kutscher. »Einen solchen Druck halten die nicht aus. Die würden dir nur so um die Ohren fliegen.«

Die zweite Halse, fast auf dem Teller gedreht, folgte. Heulend und kreischend stob das schnelle Ungeheuer wieder mit gischtender Bugwelle und kochendem Kiel-wasser in den Atlantik hinaus.

Hier gab es eine Menge Überraschungen, Dinge, die ih-nen Angst einjagten, oder Dinge, denen sie wie Kinder staunend nachstarrten.

»Da fliegt wahrhaftig eine Mühle am Himmel«, sagte Carberry mit offenem Mund und herabhängendem Un-terkiefer. »Die Leute sind zweifellos alle Zauberer, wenn sie das zuwege bringen.«

Die Mühle sah seltsam genug aus und beunruhigte sie nicht so sehr. Sie hatte auch nur entfernt mit einer Mühle Ähnlichkeit, und sie brummte in fürchterlichen Tönen und knatterte dazu laut.

Die Mühle hob und senkte sich, und dabei kreisten ihre Flügel unaufhörlich durch die Luft, als würde sie pausen-los mahlen. Aber sie bewegte sich auch ziemlich schnell,

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und als sie in einiger Entfernung vorüberzog, stellte sich heraus, daß sie nicht nur oben Flügel hatte, sondern auch noch welche an den Seiten, die sich wie verrückt drehten.

Die Mühle zog aufs Meer hinaus, was den Profos zu der Bemerkung veranlaßte, es müsse sich um eine fliegende Wassermühle handeln. Sie würde Wasser aus dem Meer ziehen und es in der Luft verarbeiten. Zu was, das konnte er allerdings nicht sagen.

Hasard bemerkte wieder, daß sie von dem Riesenschiff aus beobachtet wurden. Da waren durch das Spektiv ein paar Männer in Uniform zu sehen, die sich offenbar sehr für sie interessierten.

»Das gefällt mir nicht«, sagte der Seewolf. »Wir befin-den uns in einer extrem gefährlichen Situation, wie wir sie gerade einmal heil überstanden haben. Wenn diese Langrohre Feuer spucken, nur einen einzigen Blitz, dann zerblasen sie uns in Staub. Ich weiß, daß unsere Culveri-nen nichts dagegen sind, aber ich will trotzdem nicht so wehrlos dastehen. Bringt die Rohre auf Steuerbord raus und haltet euch bereit. Ich bin nicht gewillt, hier sang- und klanglos unterzugehen.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Al Conroy. »Alle Culveri-nen sind feuerbereit. Mich beruhigt das zumindest ein wenig, auch wenn wir keine Chance haben.«

Der Profos tönte ebenfalls herum, daß er sich bis zum letzten Atemzug zu wehren gedenke.

Die Rohre wurden ausgerannt und zeigten auf das klei-nere der beiden Ungetüme, auf das sich das grelle Licht des großen Schiffes aus irgendeinem unerfindlichen

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Grund konzentrierte.Hasard suchte nach einem empfindlichen Punkt, doch

er konnte keinen entdecken.Einmal drehte sich allerdings an einem Stummelmast

ein Ding, das wie ein abgeschnittenes Sieb aussah. Aber nach einer Weile blieb es stehen und rührte sich nicht mehr.

Hasard betrachtete es ausgiebig. Das Ding sah wirklich wie ein grobes Sieb aus, das zudem noch halbrund gebo-gen war.

»Der Teufel mag wissen, was das ist«, sagte er. »Irgend-ein Windantrieb vielleicht und möglicherweise gefährlich. Visiert das mal unauffällig an, falls sie unfreundlich wer-den.«

Al Conroy unterkeilte die Geschütze, bis die Richtung stimmte.

»Müßte jetzt zu treffen sein, Sir. Wir können ja mal einen Probeschuß abgeben«, setzte er sarkastisch hinzu.

Sie duckten sich, als plötzlich eine Stimme aus dem Himmel ertönte. Bei Old O'Flynn setzte fast das Herz aus, als er die Donnerstimme vernahm. Sie schien direkt von oben zu brüllen und ließ die Schebecke erzittern.

Der Alte setzte sich vor Schreck prompt auf den Hosen-boden.

»Der große Kapitän spricht!« kreischte er. »Geht in euch!«

Abrupt verstummte die fürchterliche brüllende Stimme.Hasard lehnte bleich am Schanzkleid und versuchte den

Sprecher zu identifizieren. Doch das war unmöglich. Die

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Stimme erklang gleichzeitig von oben, unten und von al-len Seiten.

Als es wieder ruhiger wurde, atmeten sie auf.»Was war das?« fragte Ferris entsetzt. »Gottvater per-

sönlich?«»Es hörte sich fremd an«, sagte Hasard mit belegter

Stimme, »aber doch irgendwie ein bißchen vertraut. Hör-te sich so ähnlich an wie: Hallo, könnt ihr nicht sehen. Ich habe es aber nicht genau verstanden.«

Old Donegal rappelte sich auf. Er wollte erst ganz er-bärmlich fluchen, doch dann dachte er an die Stimme und verschluckte seine Flüche. Wer weiß, ob nicht eine Faust aus den Wolken fuhr und ihm eine Kopfnuß verpaßte. Hier mußte man auf alles gefaßt sein.

Er hing noch über dem Schanzkleid, als er wenig später den riesigen Fisch sah, der silbern im Wasser glänzte.

Er hatte schon viele Fische in seinem Leben gesehen und auch gejagt, Aber dieser Fisch war ganz anders. Er war schnell, aber deutlich zu erkennen, und er hielt auf die Schebecke zu. Er hatte nicht mal Flossen, aber dafür einen merkwürdig geformten Schädel, der gar nicht zum Kör-per zu passen schien. Auch sein Schwanz sah merkwür-dig aus.

Schnell zog er unter der Schebecke dahin, und Old Do-negal glaubte schon, er würde an ihre Bordwand don-nern. Deshalb rannte er mit seinem Holzbein schnell zur anderen Seite hinüber.

»Seht euch nur mal den Fisch an!« rief er. »Das ist viel-leicht ein Trumm von Fisch. Sieht wie ein eiserner Fisch

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mit einem goldenen Kopf aus.«Ein paar Mannen wollten den Fisch auch noch sehen,

der aus Eisen war und einen goldenen Kopf hatte. Aber da war der seltsame Fisch schon weitergezogen.

Ihre Aufmerksamkeit wurde von einem neuen Boot ge-fesselt, das wild über die See tobte. In wahnwitzigen Schleifen kurvte es hin und her.

Dann gab es plötzlich einen riesigen Blitz, einen bersten-den Knall und eine dunkle Rauchwolke.

Das Boot wurde aus dem Wasser geschleudert, explo-dierte noch in der Luft und verwandelte sich in einen Trümmerhaufen aus herabregnenden winzigen Splittern.

Sie schluckten, als der Rauchpilz zum Himmel strebte. Und sie schluckten noch heftiger, als kurze Zeit später von dem eisernen Ungetüm zwei Rohre herumschwenk-ten.

Es waren die gleichen Rohre, wie sie sie auch bei den Ei-senschiffen auf den Inseln der sieben Augen gesehen hat-ten. Diese waren nur nebeneinander angeordnet und ein wenig kürzer.

Diese Rohre mit den dunklen Schlünden zielten jetzt ge-nau auf die Schebecke, schwangen noch einmal leicht zu-rück und verblieben in dieser Stellung.

Hasard platzte sozusagen der Kragen.Sie alle hatten die verheerende Wirkung kennengelernt

und wußten, daß ihnen eine Reise in die Hölle bevor-stand.

»Feuer!« schrie er. »Feuer! Oder wollt ihr euch zu Staub zerblasen lassen?«

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In tödlichem Erschrecken fuhr Al Conroy herum. Er hielt den glimmenden Lüntenstock schon seit einer Weile in der Hand. Jetzt preßte er ihn blitzschnell auf das Zünd-loch der ersten Culverine, dann mit einem weiteren auf das Zündloch der anderen.

Die bewährten Rohre brüllten los. Aus dem einen flog mit einem langen Blitz eine Volleisenkugel, aus dem an-deren eine Kettenkugel.

Pulverqualm wölkte auf. Das Deck dröhnte, als die La-fetten zurückpolterten und von den Brooktauen gebremst wurden.

Die Kettenkugel schlang sich um den Mast, an dem das siebartige Ding hing, wickelte sich darum und riß es ab. Noch bevor es durch die Luft flog, traf auch die andere Kugel.

Das grobe Sieb wurde total zerfetzt. Splitter flogen nach allen Seiten wild durch die Luft, und dann geschah etwas Seltsames.

Die Splitter wurden immer langsamer und fielen nur noch sehr zögernd der Schebecke entgegen. Sie ließen sich in der Luft beobachten, wie sie sich überschlugen und tor-kelten.

Gleichzeitig war auch ein feines Singen zu vernehmen, ein den Arwenacks unheimliches und doch schon ver-trautes Geräusch.

Sie sahen noch ein paar rötliche Blitze aus dem Schlund der Waffe fahren und vernahmen ein Zischen über ihren Köpfen. Irgendwo ratschte es auch im Segel.

»Treffer!« brüllte Al Conroy. Aber es war niemand mehr

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da, der es hörte.

*

Auf der ›Norfolk‹ war noch einer mit den Nerven fertig, nämlich Patterson, der nicht glauben konnte, was da pas-sierte. Fassungslos stierte er auf die herumfliegenden Trümmer an Deck, dann brüllte er los und ließ gleichzei-tig das Feuer aus dem Zwilling auf die Schebecke eröff-nen.

»Diese Bastarde aus der Vergangenheit!« schrie er. »Die-se verdammten Bolschewisten! Sie haben mir die ganze Radaranlage zusammengeschossen! Und das mit uralten Eisenkugeln!«

Als der Zwilling losbelferte, war an Stelle der Schebecke nur ein grünliches Licht zu sehen. Die abenteuerlichen Gestalten aus einer längst vergangenen Zeit waren ver-schwunden.

Damit war auch das Philadelphia-Experiment gestorben. Der Rotationsellipsoid war längst zusammengebrochen, die Feldlinien erloschen.

Das Ergebnis konnte nicht als besonders erfolgreich an-gesehen werden, und die Auswirkungen waren zu einem großen Teil völlig unbekannt.

*

Eine gewaltige Woge donnerte über das Vorschiff der

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Schebecke. Von einem blauen Himmel schien strahlend die Sonne.

Sie liefen unter der Küste entlang, die mit Palmen be-standen war, und lagen auf Kurs Madras.

Hasard stieß Pete Ballie an.»He, träumst du, Pete? Schieß gefälligst nicht in den

Wind!«Pete war es, als erwache er aus einem Traum.»Weiß der Teufel, was mit mir los ist. Aber ich hatte

einen fürchterlichen Alptraum – so schrecklich, daß ich ihn nicht beschreiben kann. Geht es euch nicht auch so?«

Hasard nickte, sehr nachdenklich. Die anderen bestätig-ten das ebenfalls mit ernsten Gesichtern. Und dann fiel es ihnen schlagartig wieder ein und kehrte ins Gedächtnis zurück.

»Eiserne Schiffe, Inseln aus Eisen, Häuser, die in den Himmel wachsen und Waffen, die ganze Inseln vernich-ten können«, zählte der Seewolf auf. »Das alles schwirrt mir im Kopf herum. Es war eine schreckliche Vision.«

»Haben wir das nun geträumt?« fragte der Kutscher.Es stellte sich heraus, daß sich jede Aussage mit der der

anderen deckte. Jeder hatte genau dasselbe Erlebnis ge-habt.

»Das ist natürlich Quatsch«, sagte der Kutscher, der im-merhin als gelehrter Mann galt. »Es muß sich um eine so-genannte Massensuggestion gehandelt haben, die uns überfiel. Vermutlich lag es an dem Rum, den Ed ins Trinkwasser geschüttet hat. Das wirkte wie ein Rausch-mittel und hat uns etwas vorgegaukelt.«

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Er ging zum Faß hinüber und holte eine Muck voll Was-ser. Dann roch er daran.

»Pfui Teufel, und das haben wir nicht gemerkt? Das Zeug stinkt so übel, daß einem schlecht wird.«

»Dann sofort über Bord damit«, entschied Hasard.Das Faß wurde über Bord gekippt und brach dabei aus-

einander. Ein paar Splitter blieben an Deck liegen.Hasard blickte auf die Segel und stellte befremdet fest,

daß es da ein paar Löcher gab, die zuvor nicht dagewesen waren.

»Seltsam, sehr seltsam«, sagte er. »Hat jemand dafür eine Erklärung?«

»Vorhin waren die Löcher nicht drin. Aber ich werde das sofort in Ordnung bringen«, erbot sich der alte Segel-macher Will Thorne.

Die Arwenacks sahen sich gegenseitig etwas mißtrau-isch an. Jeder wollte etwas sagen, aber doch brachte nie-mand einen Ton über die Lippen, denn was hinter ihnen lag, war absolut unwahrscheinlich.

Nein, der Kutscher mußte recht haben. Entweder war der Rum verdorben oder das Wasser selbst. Oder die Dauben des Fasses hatten etwas in sich, das berauschend wirkte.

Der einzige, der sich wieder gefangen hatte, war der di-cke Paddy Rogers mit der Knubbelnase. Er hatte ohnehin viel Mühe, derartige unbegreifliche Dinge geistig zu ver-dauen, und so dachte er auch nicht mehr lange darüber nach. Das strengte nur an und führte doch zu nichts.

Er ging über das Deck und bückte sich nach den Holz-

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splittern des Fasses, damit der Profos nicht wieder motz-te, wenn er das sah. Und er ließ sich wie immer reichlich Zeit dabei.

Er fand, daß ein paar Splitter sehr merkwürdig aussa-hen – wie Teile eines riesigen Siebes. Alles war kurz und klein geschlagen, und er sah sie sich sorgfältig an.

»Komisches Faß«, brummte er. »Hab ich noch nie gese-hen.«

Der Profos trat gerade hinzu, als Paddy das Zeug ins Meer warf. Darunter befand sich auch ein tellergroßer, merkwürdig geformter Gegenstand.

»Was ist das?« fragte Carberry und wollte Paddys Arm zurückhalten. Aber da flog das Zeug auch schon über Bord und verschwand vor der indischen Coromandelküs-te.

»Gerumpel«, sagte Paddy. »Irgend so 'n Gerumpel vom Faß, weiter nichts.«

Damit war für ihn der Fall erledigt…

ENDE

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Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 701

Die Gold-Karawane

von Jan J. MorenoDas Trompeten eines Elefanten schreckte die Arwenacks

auf. Augenblicke später trampelte der Dickhäuter heran. Ein zweites Tier mit mächtigen Stoßzähnen folgte ihm. Beide Elefanten wurden von Mahauts gelenkt. Sie walz-ten nieder, was ihnen im Weg stand. Damit hatte nie-mand gerechnet. Ben Brighton riß seine Muskete hoch und legte auf den Führer des vorderen Tieres an, doch sein Schuß ging fehl und peitschte wirkungslos ins Laub-dach. Der Erste schleuderte dem Dickhäuter die nutzlos gewordene Muskete entgegen, warf sich herum und floh zum Fluß. Daß die Waffe wie ein dünner Bambussproß zertrampelt wurde, sah er schon nicht mehr. Die Arwen-acks stoben nach allen Seiten auseinander. Zu spät er-kannten sie, daß sie in eine perfekt aufgebaute Falle gera-ten waren…