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Die.Sterbenden.Sonnen

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DER DUNCAN-ZYKLUSKesrith – die sterbende Sonne (06/3857)Shon'jir – die sterbende Sonne (06/3936)Kutath – die sterbende Sonne (06/3948)

Die Regul, die mächtige Handelsrasse der Galaxis, hat sich miteinem brutalen Vernichtungsschlag ihrer ehemaligen Söldnerentledigt, der Mri, deren Rache sie fürchteten.

Sten Duncan, ein terrestrischer Soldat, ein ObTak, Einzel-kämpfer und Spezialist für lebensfeindliche Planeten, hat zweiÜberlebende aus dem nuklearen Inferno gerettet – einen Mannund eine Frau, vielleicht die letzten der legendären kriegeri-schen Rasse, deren Angehörige als Söldner in der gesamtenGalaxis gekämpft haben und gefürchtet sind.

Man hat im zerstörten Heiligtum der Mri uralte Sternkartengefunden, die den Weg zum Ursprung der Rasse weisen. StenDuncan, der das Vertrauen der stolzen Mri gewonnen hat, er-hält die Erlaubnis, den Weg durch die Galaxis zurückzuver-folgen, um den Heimatplaneten zu finden und die Gerettetendorthin zu bringen. Es ist ein Weg des Todes und der Zerstö-rung, der vernichteten Planeten und des erloschenen Lebens.

Und Sten Duncan ahnt bald, daß man ihm ein Todeskom-mando gegeben hat, daß er nur als Köder dient, mit dem manletzte Überlebende der Mri aufspüren will, um sie zu vernich-ten.

Caroline Janice Cherryh wurde 1942 in St. Louisgeboren. Sie studierte Altphilologie in OklahomaCity und lehrte 11 Jahre lang Latein und Alte Ge-schichte. Nebenher schrieb sie Romane und Er-zählungen, 1975 gelang ihr der Durchbruch mit»Das Tor von Ivrel« (HEYNE-BUCH 06/3629).Sie erhielt den JOHN W. CAMPBELL AWARDals beste Nachwuchsschriftstellerin und wurde1979 für ihre Erzählung »Kassandra« (in HEY-NE-BUCH 06/3685), sowie 1982 für ihren Roman»Downbelow Station« (»Pells Stern«, HEYNE-

BUCH in Vorb.) mit dem HUGO GERNSBACK AWARD geehrt.

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Von Caroline Janice Cherryh erschienen in der ReiheHEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY:

Brüder der Erde · (06/3648)Weltenjäger · (06/3772)

DIE MORGAINE-TRILOGIE:Das Tor von Ivrel · (06/3629)Der Quell von Shiuan · (06/3732)Die Feuer von Azeroth · (06/3921)

DIE DUNCAN-TRILOGIE:Kesrith – die sterbende Sonne · (06/3857)Shon'jir – die sterbende Sonne · (06/3936)Kutath – die sterbende Sonne · (06/3948)

darüber hinaus:Kassandrain: SF-Story Reader 13

hrsg. von Wolfgang Jeschke · (06/3685)Hestiain: Heyne SF Jahresband 1982

hrsg. von Wolfgang Jeschke · (06/3870)

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C. J. CHERRYH

SHON'JIR –DIE STERBENDE

SONNE2. Band der Duncan-Trilogie

Science Fiction-Roman

Deutsche Erstveröffentlichung

E-Book by »Menolly«

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

Page 5: Die.Sterbenden.Sonnen

HEYNE-BUCH Nr. 06/3936im Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG,

München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE FADED SUN: SHON'JIR

Deutsche Übersetzung von Thomas SchichtelDas Umschlagbild schuf Gino D'Achille

Die Illustrationen im Text sind von John Stewart

Redaktion: Wolfgang JeschkeCopyright © 1978 by C. J. Cherryh

Copyright © 1982 der deutschen Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG,

MünchenPrinted in Germany 1982

Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz,München

Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische BetriebeGmbH, Gütersloh

ISBN 3-453-30862-X

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SHON'JIRDer Gesang des Vergehens

Von der Dunkelheit am AnfangZur Dunkelheit am Ende,Dazwischen eine Sonne,Aber nach ihr Dunkelheit,Ein Ende.

Von Dunkelheit zu DunkelheitGeht die Reise.Von Dunkelheit zu DunkelheitGeht unsere Reise.Und nach der Dunkelheit,O Brüder, o Schwestern,Kehren wir heim.

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Der Mri stand immer noch unter dem Einfluß von Be-ruhigungsmitteln. Er wurde ständig darunter gehal-ten, betäubt und verwirrt an diesem Ort, der vonmenschlichen Stimmen und seltsamen Maschinenwiderhallte.

Sten Duncan kam herbei und blieb neben dem Bettdes Mri stehen, wie er es jeden Tag zweimal machte,unter den Augen des Sicherheitsoffiziers, der außendicht vor dem Fenster des abgeteilten Raumes stand.Er kam, um Niun zu besuchen, was ihm erlaubt war,weil er der einzige in der Kesrith-Basis war, der ihnkannte. An diesem Tag zeigten die goldenen Augenmit der großen Iris eine nebelhafte Bewußtheit. Dun-can hielt diesen Blick für vorwurfsvoll.

Niun hatte Gewicht verloren. Seine goldene Hautwar an vielen Stellen von heilenden Wunden bedeckt,hart und entzündet. Er hatte einen Kampf um seinLeben gekämpft und gewonnen, den er bei vollemBewußtsein sicherlich nicht hätte gewinnen wollen;jedoch bemerkte Niun nach wie vor nicht die Men-schen, die um ihn herum kamen und gingen, die Wis-senschaftler, die ihn in Zusammenarbeit mit seinenÄrzten seiner Würde beraubten.

Sie waren Feinde der Menschheit, die Mri. VierzigJahre des Krieges, der zerstörten Welten und der To-ten, die in Millionen gezählt wurden – und doch hat-ten die meisten Menschen den Feind niemals gese-hen. Noch weniger hatten das unverschleierte Gesichteines lebenden Mri erblickt.

Sie waren ein schönes Volk, groß und schlank und

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golden unter ihren schwarzen Gewändern: goldeneMähnen mit einem Hauch Bronze; feine, humanoideGesichtszüge; lange, schmale Hände. Die Ohrläpp-chen hatten kleine, blasse Flaumbüschel, und die Au-gen hatten die Farbe glänzenden Bernsteins und ver-fügten über eine Nickhaut, eine Membran, die sie vorStaub und blendendem Licht schützte. Die Mri warenmenschenähnlich und gleichzeitig beunruhigendfremdartig. So war es auch mit ihrem Verstand, derdie Wege von Fremden begreifen konnte und es dochstandhaft ablehnte, mit ihnen Kompromisse einzuge-hen.

Im angrenzenden Raum, wo sie ähnlich behandeltwurde, lag Melein, She'pan genannt, Anführerin derMri, eine junge Frau und während Niun barsch undfinster war, ein Krieger seiner Rasse, so war Meleinvornehm und elegant. Beide Mri trugen Narben imGesicht, drei feine Linien aus winzigen blauen Farb-flecken, die schräg über jede Wange verliefen, vominneren Augenwinkel bis zum äußeren Rand desBackenknochens, Markierungen von einer Bedeu-tung, die kein Mensch kannte. In Meleins schlafen-dem Gesicht verliehen die feinen blauen Linien denmit bronzenen Wimpern besetzten Augen eine exoti-sche Schönheit; sie schien zu zerbrechlich zu sein, umAnteil an der Grausamkeit der Mri zu haben oder dieLast der Mri-Verbrechen zu tragen. Von denen, diemit den Mri umgingen, wurden sie freundlich be-handelt; sie senkten sogar die Stimme, wenn sie beiihr im Zimmer waren, berührten sie so wenig wiemöglich und vorsichtig. Sie schien weniger ein gefan-gener Feind zu sein als vielmehr ein liebliches, trauri-ges Kind.

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Es war Niun, den sie für ihre Untersuchungenwählten – Niun, unzweifelhaft der Feind, dessen Ge-fangennahme einen hohen Preis erfordert hatte. Erwar von Anfang an stärker gewesen, die Behandlungseiner Wunden einfacher; und trotzdem erwarteteman offiziell nicht, daß er überlebte. Man bezeichnetedie Untersuchungen als medizinische Behandlungund trug sie als solche in die Berichte ein, aber imNamen dieser Behandlung hatte man Niun hologra-phiert, innen und außen abgetastet, ihm Gewebepro-ben und Blut entnommen, alles, was die Forscher ha-ben wollten, und Duncan hatte mehr als einmal gese-hen, wie er mit gefühlloser Grobheit behandelt wur-de, wie man ihn auf dem Tisch liegenließ, währendsich die Menschen Zeit ließen bei dem, was sie mitihm machten.

Duncan verschloß die Augen davor, fürchtete, daßjeder von ihm vorgebrachte Protest ihn gänzlich ausder Nähe der Mri verbannen würde. Sie waren trotzihrer schweren Verletzungen am Leben gehaltenworden. Sie überlebten; sie heilten; und für Duncanwar dies von größter Bedeutung. Die persönlicheEthik der Mri wies Außenstehende zurück, verab-scheute Medizin, lehnte das Mitleid ihrer Feinde ab;aber in nichts war diesen beiden Mri eine Wahl gelas-sen worden. Sie gehörten den Wissenschaftlern, diedie Mittel gefunden hatten, ihr Leben zu verlängern.Es wurde ihnen nicht erlaubt, aufzuwachen – undauch das geschah zu dem Zweck, sie am Leben zu er-halten.

»Niun«, sagte Duncan sanft, denn der Posten drau-ßen blickte im Moment anderswo hin. Er berührteden Rücken von Niuns langgliedriger Hand, unter-

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halb der Fessel. Der Mri war ständig sorgfältig fest-gebunden, denn man befürchtete, daß Niun an denWunden zerren würde, wenn er die Möglichkeit dazufand. Andere gefangene Mri hatten das gemacht undsich auf diese Weise selbst getötet. Keiner war jemalsam Leben erhalten worden.

»Niun«, wiederholte er, beharrlich in dem, was zueinem zweimal täglichen Ritual geworden war – umdem Mri zu zeigen, wenn schon nichts anderes, daßes noch jemanden gab, der seinen Namen ausspre-chen konnte; um ihn zum Denken zu bringen, anwelch fernen Ort sein Bewußtsein auch wanderte; umeinen Kontakt zu seinem betäubten Verstand herzu-stellen.

Niuns Augen schienen sich kurz auf ihn einzustel-len und gaben es wieder auf, verschleierten sich, alsdie Membran sich über sie legte.

»Ich bin Duncan«, beharrte er und schloß die Handkräftig um die des Mri. »Niun, hier ist Duncan.«

Die Membran glitt zurück, die Augen wurden klar.Die schlanken Finger zuckten und schlossen sich fast.Duncans Herz hüpfte hoffnungsvoll, denn dies warder erste Hinweis darauf, bei Bewußtsein zu sein, dender Mri gegeben hatte, ein Beweis dafür, daß der Ver-stand und der Mann, den er kannte, unversehrt wa-ren. Duncan sah, wie die Augen des Mri durch denRaum wanderten, auf der Tür verweilten, wo der Po-sten war.

»Du bist noch auf Kesrith«, sagte Duncan leise,damit der Posten nichts mitbekam. »Du bist an Bordder Sonde FLOWER, dicht außerhalb der Stadt.Kümmere dich nicht um diesen Mann. Er bedeutetnichts, Niun – es ist alles in Ordnung.«

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Möglicherweise verstand Niun, aber die bernstein-farbenen Augen verschleierten und schlossen sichwieder, und er glitt zurück in den Griff der Drogen,frei von Schmerz, frei von Begreifen, frei von Erinne-rungen.

Sie waren die letzten ihrer Rasse, Niun und Melein– die letzten Mri, nicht nur auf Kesrith, sondernüberhaupt. Das war der Grund, warum die Wissen-schaftler sie nicht gehen lassen wollten. Dies war dieMöglichkeit, das Rätsel der Mri zu lösen, die sichhiernach nie wieder bot. Hier auf Kesrith waren dieMri gestorben, in einer Nacht des Feuers und desVerrats – alle, alle außer diesen beiden, die als trauri-ge Kuriositäten in den Händen ihrer Feinde überleb-ten.

Und sie waren durch Duncan da hineingeraten,durch Duncan, dem sie vertraut hatten.

Duncan drückte Niuns gefühllose Schulter undwandte sich ab, hielt inne, um durch das dunkleGlasabteil in den Raum zu blicken, wo Melein imSchlaf lag. Er besuchte sie nicht mehr, nicht seitdemsich ihr Zustand gebessert hatte. Unter Mri war sieheilig gewesen, unantastbar; ein Außenstehendersprach mit ihr nicht direkt, sondern durch andere.Was sie unter ihren Feinden auch an Einsamkeit undSchrecken ertrug, war nicht schlimmer als die Ernied-rigung. Sie mochte ihre Feinde hassen und mißach-ten; aber ihm gegenüber, dessen Namen sie kannte,der sie gekannt hatte, als sie frei war, empfand sievielleicht tiefe Scham.

Sie schlief friedlich. Duncan betrachtete für einenMoment das sanfte Heben und Senken ihrer Brust,überzeugte sich davon, daß sie es gut und bequem

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hatte, drehte sich dann um und öffnete die Tür,murmelte dem Posten abwesend Dankesworte zu,und der Mann ließ ihn aus dem Bereich, der Restrik-tionen unterlag, in den äußeren Korridor hinaus.

Duncan stieg auf das Hauptdeck des überfülltenForschungsschiffes hinauf, wich weiß-uniformiertenWissenschafts-Techs und blauuniformiertem Stab-spersonal aus, ein Mann, der nicht auf die FLOWERgehörte. Sein eigenes Khaki-Braun war die Uniformder ObTak, der Taktischen Oberflächenwaffe. Wiedas wissenschaftliche Personal der FLOWER war erein Experte; seine Fähigkeiten wurden jedoch nichtmehr benötigt, weder auf Kesrith noch sonstwo. DerKrieg war vorbei.

Er war geworden wie die Mri – überholt, ohneVerwendung.

Er meldete sich von der FLOWER ab, eine klerikaleFormalität. Die Sicherheit kannte ihn gut genug, wiealle Menschen auf Kesrith ihn kannten – den Men-schen, der unter Mri gelebt hatte. Er ging hinaus aufdie Rampe und diese hinab auf den Straßendamm,Teil eines Netzwerks aus Metall, das die Menschenüber die pulverige Erde von Kesrith geworfen hatten.

Nichts wuchs draußen auf der weißen Ebene, so-weit das Auge reichte. Leben war überall spärlich aufKesrith mit seinen alkalischen Ebenen, seinen totenBergketten, seinen wenigen und flachen Meeren. DieWelt wurde von einer roten Sonne beleuchtet, Araingenannt, und von zwei Monden. Kesrith war einervon sechs Planeten des Systems, der einzige wenig-stens teilweise bewohnbare. Die Luft war dünn, imSchatten kalt und in Arains direktem Licht brennendheiß; und der Regen, der sie durchzog, hinterließ die

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Haut brennend und trocken. Pulveriger, brennenderStaub kroch in alles hinein, auch durch die dichtestenVersiegelungen, peinigte die Menschen und zerstörteschließlich die Maschinen. An den meisten Stellenwar Kesrith für Menschen unbewohnbar, abgesehenhier von dem Tieflandbecken um Kesriths einzigeStadt, am Ufer eines giftigen Meeres: ein kleines Ge-biet, in dem es reichlich Feuchtigkeit gab, zwischenGeysiren und dampfenden Teichen und Erdkrusten,die eines Menschen Gewicht nicht trugen.

Es gab keine auf Kesrith geborenen Menschen. DieWelt hatte zuerst den Dusei gehört, großen braunenVierfüßlern von entfernt bärenhafter Erscheinung,samthäutig, mit langsamen Bewegungen und starkenKlauen. Dann waren die Mri gekommen, deren Tür-me sich einst zu den hohen Bergen hin erhoben hat-ten, wo es jetzt nur noch einen Haufen Steine gab, einGrab für die, die darin gestorben waren.

Und dann waren die Regul gekommen, hungrignach Land, Mineralien, und Wohlstand, und hattendie Mri zum Kampf gegen die Menschenrasse ange-heuert.

Es war die Regulstadt, die die Menschheit als letz-ter Erbe von Kesrith übernommen hatte: eine flacheAnsammlung häßlicher Gebäude, deren höchstes nurzwei Stockwerke hatte, und diese Stockwerke warenniedriger, als der menschliche Standard vorsah. DieStadt war rechteckig angelegt: das Nom, das einzigezweistöckige Gebäude, stand ganz außen, und dieanderen Gebäude bildeten die Umrandung des qua-dratischen Platzes vor ihm. Alle Straßen folgten die-sem Bogen um den Nom-Platz – enge, für den Regul-Transport entworfene Straßen, nicht für Menschen-

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fahrzeuge, gekreuzt von Ausläufern weißen Sandes,der überall auf Kesrith fortwährend Einlaß suchte.Links von der Stadt lag das Alkali-Meer, das den Ab-fluß von Kesriths mineralischen Ebenen aufnahm.Vulkanisches Feuer schwelte und brodelte unter derOberfläche dieses Meeres, genauso wie unter demganzen Tal, das einstmals ein zerbrechliches Land ausdünnen Krusten und mineralischen Spitzformationengewesen war – ein Land, das jetzt durch die Narbendes Kampfes zerfurcht und zerstört war.

Es gab eine Wasserwiedergewinnungsanlage, de-ren Türme sich ins Meer hinaus erstreckten. Repara-turen waren dort im Gange, mit denen versucht wur-de, die Stadt von ihrer strengen Rationierung zu be-freien. Auch einen Raumhafen hatte es hier gegeben,an der gegenüberliegenden Seite der Stadt, aber derwar jetzt völlig zerstört, ein Gebiet verbrannter Erdeund mit Ruinen aus verzogenem Metall, die einmalein Regul-Schiff und ein Mri-Schiff gewesen waren.

An Schiffen gab es auf dem Planeten jetzt nur dieFLOWER – eine für hafenlose Landungen entworfeneSonde für Außenweltler –, die sich auf eine Kuppeaus hartem Fels duckte, die sich neben der Straße zurWasseranlage erhob. Neben ihr hatte man durch dasAuslegen von Stahlnetzen, durch Füllungen undHärtung der unstabilen Oberfläche ein Flugfeld im-provisiert – eine Arbeit, die schon bald den ätzendenRegenfällen zum Opfer fallen würde. Auf Kesrith warnichts von Dauer. Alles hielt solange, wie es ständigeWartung und Reparaturen erfuhr; aber das Wetterund der Staub überwanden es am Ende doch immer.Die gesamte Oberfläche Kesriths schien unter denwolkenbruchartigen Regenfällen zu schmelzen und

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zu zerfließen; die gesamte Sturmlage des Kontinentswurde durch Bergbarrieren zu diesem Becken hinkanalisiert und erweckte es zum Leben, machte dasLeben dort jedoch gleichzeitig schwierig.

Dies war eine Umwelt, in der nur die Dusei unddie Mri jemals ohne den Schutz künstlicher Umge-bungen gediehen waren; und die Mri hatten dasdurch Vertrauen auf die Dusei geschafft.

Ein solches Erbe hatte die Menschheit angetreten,späte Invasoren im Krieg gegen die Mri und jetzt imKrieg mit ihrer Welt befindlich, beinahe aus ihremAngesicht vertrieben durch die Stürme, belästigt vonden wilden Dusei, in Freundschaft nur mit den Regul,die die Mri, ihre einstmaligen Verbündeten, ihreSöldner, für die Menschheit ausgerottet hatten, einAkt des Völkermordes, nur um den Eroberern einenGefallen zu erweisen.

Duncan schritt in der ihm eigenen langsamenGangart über den Straßendamm und schmeckte diesaure Luft. Sein nacktes Gesicht und die Hände wur-den durch Arains heftige Strahlung schmerzhaft an-gegriffen, sogar auf diesem vergleichsweise kurzenWeg. Es war Mittag. Wenig regte sich in der Wildniswährend der Stunden von Arains Zenith; die Men-schen jedoch ignorierten die Sonne, geschützt inner-halb ihrer künstlichen Umwelt mit gefilterter und ge-kühlter Luft. Menschliche Autorität auferlegte Kes-riths Tag einen menschlichen Zeitplan, zerteilte ihn inleicht verlängerte Sekunden, Minuten und Stundenzur Bequemlichkeit derer, die in der Stadt wohnten,wo das Tageslicht sichtbar und von Bedeutung war –aber das waren nur wenige. Der Universale Standardlieferte immer noch den Maßstab für die wissen-

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schaftliche Gemeinde der FLOWER und für dasKriegsschiff, das sich in einer Kreisbahn um den Pla-neten befand.

Duncan ging einher mit Augen, die für das Landoffen waren, erblickte den getarnten Körper einesledrigen Jo, eines der fliegenden Geschöpfe von Kes-rith, das, um die Hitze auszuhalten, im Schatten einesgroßen Felsens ruhte – sah auch die Spur einer Sand-schlange, die vor kurzem den Boden neben dem Stra-ßendamm überquert hatte auf der Suche nach derUnterseite irgendeines Felsens, um sich vor der Sonneund vor Raubzeug zu schützen. Das Jo wartete ge-duldig auf die ihm bestimmte Beute. Solche Dinge zusehen, hatte Niun Duncan gelehrt.

Jenseits der mineralischen Ebenen rauchte ein Gey-sir in den Trümmern des Kampfes. Das war ein all-täglicher Anblick. Die Welt reparierte den Schaden,nahm geduldig weitere Äonen des Formens in An-griff; jedoch würden hiernach mehr Menschen inimmer größerer Zahl kommen und eine Möglichkeitfinden, alles wieder rückgängig und Kesrith zu ihrerWelt zu machen.

Am Rand der Stadt wich das Netzwerk dem Beton,eine Grenze, die wandernder Sand teilweise bedeckthatte. Duncan betrat den festen Untergrund, vorbeiam Beobachtungsdeck des Nom, wo ein Überwa-chungssystem montiert worden war, um den Stra-ßendamm zu beobachten, und hinauf zur Hintertür,das zum Haupteingang für das menschliche Personalgeworden war, da sie der FLOWER zugewandt warund dem Flugfeld und dem Landeplatz der Fähren.

Zischend öffnete und schloß sich die Tür. Die Nom-Luft kam wie ein Schock, so duftete sie nach den ihr

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eigenen gefilterten Ausdünstungen von Menschenund Regul, befeuchtet und süßer als die Luft draußen,diese Sonnenlicht-über-Kalt-Hitze, die gleichzeitigbrannte und frieren machte. Hier jedoch gab es Gär-ten, die während der Rationierung teilweise bewäs-sert wurden, botanische Musterstücke von Regul-Welten und deshalb wichtig: eine leberfleckige weißeKletterpflanze, die unter Streß ihre Lavendelblütenverloren hatte; ein traurig aussehender Baum mitspärlichen Silberblättern; ein kräftiges graugrünesMoos. Und die von den Regul errichteten Hallen – imZentrum hoch, zumindest nach Regul-Begriffen – ver-mittelten einem Menschen ein Gefühl der Einschlie-ßung. Die Korridore waren abgerundet und hatteneine Vertiefung, die sich an einer Seite entlangzog,wo schimmernde Geleise den Regul-Schlitten entlangder Seite, die keine Türen hatte, eine schnellere undungefährliche Bewegung ermöglichten. Als Duncansich der Rampe zuwandte, huschte einer vorbei, fastzu schnell, um ihn auszumachen, raste um eine Eckeund war verschwunden. Bei dieser Geschwindigkeithandelte es sich um einen Versorgungsschlitten, derLasten trug, aber kein Personal.

Regul neigten sehr zu Automatisierung. Sie be-wegten sich langsam und bedächtig, ihre kurzen Bei-ne unfähig dazu, ihr Körpergewicht auch nur über ir-gendeine kleinere Entfernung zu tragen. Die Regul,die zu Fuß umhergingen, waren noch Junglinge, ge-schlechtslos und noch beweglich, hatten noch nichtdie Körpermasse eines Erwachsenen erreicht. DieÄlteren, deren Beinmuskeln verkümmert waren, be-wegten sich fast gar nicht, außer mit der künstlichenBeweglichkeit ihrer Schlitten.

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Und Menschen, fremd an diesem Ort, gingen durchdie Korridore des Nom, schreitende Gestalten vonseltsam wirkender Hast zwischen den geduckten,langsamen Regul.

Duncans Privatquatier befand sich auf der zweitenEtage. In einem Sinn war es luxuriös: Alleinsein warein Komfort, den er für sehr lange Zeit nicht gekannthatte, denn er war als Assistent des Gouverneursnach Kesrith gekommen. Er war sich jedoch überausdeutlich dessen bewußt, was dieser kleine, einzelneRaum bedeutete: den Sturz aus der Vertrautheit mitden bedeutenden Mächten von Kesrith, im besonde-ren mit Stavros, dem Ehrenwerten George Stavros,Gouverneur der neuen, von den Menschen erobertenGebiete. Duncan hatte sich auf seinem Posten stilldurch einen militärischen medizinischen Gehilfen er-setzt gefunden, einem Evans, E. Er war aus den Hin-terlanden von Kesrith und dem Lazarett zurückge-kehrt, um diese Situation vorzufinden, und obwohl eres gehofft hatte, hatte er keine Aufforderung dazu er-halten, in sein altes Quartier im Vorraum von Stavros'Apartment zurückzukehren, diesen Posten des Regul-Protokolls, den die Menschen inmitten ihrer unter-worfenen Gastgeber doch noch peinlich genau in derÖffentlichkeit wahrnahmen. Ein Ältester von Stavros'hohem Rang mußte zumindest einen Jungling haben,der sich um seine Bedürfnisse kümmerte und unwill-kommene Besucher abwies; und diese Pflicht oblagjetzt Evans. Duncan wurde auf Abstand gehalten;sein Kontakt mit Stavros, einst eng, war plötzlichformell: ein gelegentlicher Gruß, wenn sie in derHalle aneinander vorbeikamen, das war schon alles.Selbst die Befragung nach seiner Mission war von

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anderen durchgeführt worden, durch die Wissen-schaftler, die Mediziner und die Militärs.

Duncan begriff seine Ungnade jetzt als dauerhaft.Sie war Stavros' Konzession an die Regul, die ihnhaßten und seinen Einfluß fürchteten. Und welchesseine Position auf Kesrith hiernach sein würde, wußteer nicht.

Für seine persönlichen Hoffnungen war es das En-de. Durch die Pflege von Stavros' Gunst hätte er sichin eine Position im kolonialen Stab hinaufarbeitenkönnen. Ihm stand immer noch aufgrund seiner An-stellung für fünf Jahre während des gefährlichen Sta-diums der Kesrithi-Mission eine lukrative Bezahlungzu – Gehalt, Prämie und Transport zu der Welt seinerWahl, oder Niederlassung auf Kesrith selbst, wennder Gouverneur zustimmte. Einst hatten solche Hoff-nungen, die er halb glaubte, ihn kurz angelockt. Erhatte den Posten angenommen, weil er ein Angebotwar, in einem Gebiet und zu einer Zeit, wo Angeboteselten waren; und weil er sich seinem statistischenÜberlebenslimit bei gefährlicheren Missionen genä-hert hatte. Damals war ihm der Posten als Möglich-keit zum Überleben erschienen, wenigstens knapp –wie er immer überlebt hatte.

Er hatte wieder überlebt, war zernarbt, sonnenver-brannt und geistig erschüttert von Stavros' Dienst zu-rückgekehrt, nach einem Marsch durch die Kesrithi-Hinterlande, den die kürzlich angekommenen regulä-ren Truppen nie überlebt hätten. Er hatte Kesrithkennengelernt, wie es kein anderer Mensch nach ihmtun würde; und er war unter Mri gewesen und le-bendig zurückgekehrt, was kein Mensch vor ihm ge-schafft hatte.

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Und in seinem Schmerz hatte er Stavros die Wahr-heit von dem berichtet, was er erfahren hatte, direktund vertrauensvoll.

Das war sein großer Fehler gewesen.

Er ging an der Tür von Stavros und Evans vorbei undöffnete sein eigenes Apartment, spartanisch einge-richtet und ohne den kleinen Vorraum, der für denStatus im Nom wesentlich war, was die Regul anging.Er berührte den Schalter, der die Tür schloß, und öff-nete an derselben Schalttafel die Sturmschilde. DieFenster gewährten Ausblick auf den Weg, den er ge-kommen war, auf die FLOWER auf ihrer Kuppe, eingeducktes halbes Ei auf Stelzen; auf den Himmel, derzumindest im Augenblick wolkenlos war und von ro-stigem Blaßrot. Seit Tagen hatte es keinen Sturmmehr gegeben. Wie die verschiedenen Bewohner vonKesrith schien auch die Natur ihre Gewalt verausgabtzu haben; es lag eine erschöpfte Ruhe über der Welt.

Duncan zog sich aus und wusch sich mit einer Spe-zial-Lotion ab, eine Praxis, die wegen des ätzendenStaubes von Kesrith ratsam war, auf der sein Arztnach wie vor bestand, und zog sich dann seine leich-tere Uniform an. Er wollte in die Bibliothek gehen, indas Gebäude jenseits des Nom-Platzes, das durch ei-nen unterirdischen Tunnel zu erreichen war, ein Teildes Universitätskomplexes der Regul, den jetzt dieMenschen hielten.

Dort verbrachte er seine Nachmittage und Abende;und jeder, der Sten Duncan zu Hause in den Hei-matterritorien der Menschheit gekannt hatte, hättedas unglaublich gefunden. Er war kein Gelehrter. Erwar in seinem Beruf gut ausgebildet: er kannte die

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Mechanik von Schiffen und Waffen, verstand etwasvon Geologie und Ökologie und der Arbeitsweisevon Computern – von allen Gebieten, die für wirk-samen Kampf notwendig waren, und in denen er voneiner Kriegszeitjugend an ausgebildet worden war,elternlos, bezüglich der Richtung seines Lebenswegesmit nur einem Ziel im Kopf. Sein ganzes Wissen warpraktisch, bei Bedarf angesammelt, in seinen Kopf ge-stopft von Ausbildern, die nur daran interessiert wa-ren, daß er überlebte und den Feind tötete.

So war es gewesen, bis er gesehen hatte, daß seinKrieg zu Ende war, bevor er gesehen hatte, wie seinFeind von den Regul hinterrücks ermordet wurde;und mit den Überlebenden ein Lager geteilt hatte;und gesehen hatte, wie die stolzen Mri von menschli-cher Barmherzigkeit abhingen.

Zweitausend Jahre in Berichten, Karten und Bän-dern lagen in der Regul-Bibliothek, Wahrheiten, ver-schlossen hinter Regul-Sprache und Regul-Unverständlichkeiten. Duncan studierte. Er erforsch-te, was die Mri auf Kesrith gewesen waren, was sieanderswo gewesen waren, mit einem Interesse, un-endlich persönlicher als das der Wissenschaftler vonder FLOWER.

Stavros mißbilligte das. Es trug Einstellungen undInteressen zur Schau, die die Regul fürchteten unddenen sie mißtrauten. Und die Regul zu beleidigen,lief der neuen Annäherungspolitik der Menschheitentgegen. Es brachte Stavros in Verlegenheit; es är-gerte ihn, der auf Kesrith und in seinen neuen Terri-torien enorme Autorität besaß.

Aber immer noch blieb die Bibliothek das, wofürsich Duncan in seinen freien Stunden entschied und

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die seine nutzlose Existenz weitgehend ausfüllte. Erwurde bald zu einem Ärgernis für das wissenschaftli-che Personal der FLOWER, das selbst die Bibliotheknach dem untersuchte, was daraus gewonnen werdenkonnte, und unterschiedslos Bänder und Berichte ko-pierte, damit sie später zu Hause in den Laboratorienvon Elag/Haven und Zoroaster ausgewertet werdenkonnten. Duncan suchte sich die speziellen Berichteheraus, die mit den Mri zu tun hatten, und machtesich für bestimmte Leute von der FLOWER nützlich,die überredet werden konnten, sein Interesse zu tei-len. Mit seiner eigenen stockenden Beherrschung derRegul-Sprache konnte er selbst nur wenig dafür tun,die Bänder zu verstehen oder die Karten zu interpre-tieren; aber er sprach mit den Wissenschaftlern, die eskonnten. Er diskutierte mit ihnen; er versuchte mit allseiner Beharrlichkeit, sie begreifen zu machen, was erselbst nicht begriff. Zu lernen, was das gewesen war,mit dessen Zerstörung er sein Leben verbracht hatte,was er vollständig auszutilgen gewünscht hatte.

Er raffte seine Aufzeichnungen zusammen undsein handgeschriebenes Wörterbuch und machte An-stalten, den Raum zu verlassen.

Das Licht auf der Schalttafel blitzte.»Kose Sten Duncan«, sagte eine Regul-Stimme, gab

ihm immer noch seinen alten Titel als Stavros' Assi-stent, was ihn überraschte. »Kose Sten Duncan.«

Er drückte den Antwortknopf und verspürte einvages Unbehagen darüber, daß jemand im Nom sichentschieden hatte, ihm dazwischenzukommen, seineVerborgenheit zu stören. Seine ernsthafte Absicht warjetzt einfach: alleingelassen zu werden, solche Aufga-ben zugeteilt zu bekommen, die ihm untere Kanäle

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geben konnten, und bei den höheren vergessen zuwerden.

»Ich bin hier«, berichtete er dem Regul.»Die Verehrung Bai Stavros übermittelt Ihnen den

Befehl, ihn sofort in seinem Büro aufzusuchen.«Duncan zögerte, das Herz verkrampft durch das

Vorauswissen, daß seine Zeit der Gnade vorüber war.Irgendwo im Labyrinth der FLOWER mußten Papiereunterzeichnet worden sein, die ihn als dienstfähig er-klärten; irgendwo im Nom wurden Papiere vorbe-reitet, die ihn in ähnlicher Weise für jemandes Diensteinteilten. Auf dem kolonialen Kesrith konnte nichtsohne einen bestimmten Nutzen bleiben.

»Teilen Sie der Verehrung mit«, sagte er, »daß ichsofort komme.«

Der Regul erwiderte eine kurze Silbe und beendetedie Verbindung; das zeigte Mangel an Respekt. Dun-can schleuderte seine Aufzeichnungen auf den Tisch,öffnete die Tür und schritt auf den Korridor hinaus.

Es war kein Zufall, daß Stavros ihn zu dieser Stun-de zu sich gerufen hatte. Duncan war in seinen Ge-wohnheiten minutiös geworden und damit berechen-bar: von seiner Behandlung am Vormittag dann mit-tags zu seinem Apartment, und nach einer Viertel-stunde vom Apartment zur Bibliothek. Und was dieBibliothek anging, hatte er seine Warnung erhalten.

Fiebrig in seiner Ängstlichkeit fing er an, dieschlimmsten Dinge vorwegzunehmen, die ihn er-warten mochten: einen Verweis; einen direkten Be-fehl, seine Besuche in der Bibliothek aufzugeben –oder eine Ausschließung von der FLOWER und denMri. Er hatte Stavros' angedeutetem Mißvergnügenbereits getrotzt; und wenn er einen direkten Befehl

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erhielt und mißachtete, würde er sich als dauerhaftauf die Station überführt wiederfinden, auf der SA-BER, Kesriths militärischer Bewachung.

Wo Sie hingehören, konnte er sich Stavros' Stimmevorstellen. Überlassen Sie die Mri den Wissenschaftlern.

Er schritt steifbeinig durch den Korridor, der sichdie Rampe hinabwand, stieß in der Kurve einenschwerfälligen Regul-Jungling mit der Schulter zurSeite und entschuldigte sich nicht dafür. Auch würdesich der Regul nicht bei ihm entschuldigen, einemMenschen, den er nicht zu fürchten brauchte. Einwütendes Zischen folgte ihm, und andere Junglingeblieben stehen und funkelten ihn an.

Stavros' Büro befand sich im Erdgeschoß des trep-penlosen Nom – wieder eine Statusfrage innerhalbeiner Regul-Gemeinschaft –, hinter breiten Türen, dieden Regul-Schlitten leichten Zugang gewährten.

Die Bürotüren standen offen. Der Sekretär inStavros' Empfangszimmer war ein Mensch, wiederjemand vom Personal der SABER, ein KomTech, des-sen spezialisierte linguistische Fähigkeiten auf diesemPosten vergeudet waren; aber letztlich dachte Stavrosan die Sicherheit und setzte keinen Regul-Junglingauf diesen äußerst empfindlichen Posten, wo zuvielmitgehört werden konnte. Der Tech räkelte sich inseiner Langeweile, erkannte Duncan mit einem Aus-druck plötzlicher Zurückhaltung. Als ObTak standDuncan außerhalb des regulären Militärs, jedoch ge-bührte ihm der Respekt eines KomTech.

»Der Gouverneur sagt hineingehen«, sagte derTech; und mit dem Zucken eines kurzen Blicks zurgeschlossenen inneren Tür und wieder zurück: »DerBai ist da drin, Sir.«

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Hulagh! Ältester der Regul auf Kesrith.»Vielen Dank«, sagte Duncan mit zusammengebis-

senen Zähnen.»Sir«, sagte der KomTech. »Mit Entschuldigung:

der Gouverneur empfiehlt Ihnen, leise hineinzuge-hen. Seine Worte, Sir.«

»Ja«, sagte Duncan und zügelte seine Gereiztheitmit einer sichtbaren Anstrengung zugunsten desKomTech. Er wußte, wie man ihn auf der Kesrith-Basis einschätzte – als unbesonnen und von offiziellerUngnade gezeichnet. Er kannte auch den Umgangmit Diplomaten besser als jeder Schreibtischtech.

Dies war nicht der Augenblick für Gereiztheit. Sei-ne Überführung auf die SABER würde ein vollstän-diger Sieg des Regul-Bai sein. Er konnte auch nochden letzten verbleibenden Einfluß wegwerfen, den erbezüglich der Mri hatte, mit nur wenigen schlecht-gewählten Worten zwischen sich und Stavros oderzwischen sich und dem Bai, und er war entschlossen,sie nicht auszusprechen. Die Regul würden irgendei-ne Meinungsverschiedenheit zwischen Älterem undJungling nicht verstehen; jede Andeutung einer ande-ren Meinung würde auf Stavros zurückfallen, unddas würde Stavros nicht hinnehmen, nicht auf einerpersönlichen Basis und nicht auf einer offiziellen.

Der Sekretär öffnete durch Fernbedienung die Tür,und Duncan trat mit sanftem und leisem Schritt ein,mit einer Verbeugung und angemessener Ehrerbie-tung gegenüber den beiden Herrschern von Kesrith.

»Duncan«, sagte Stavros laut und nicht unfreund-lich. Beide, der Mensch und der Regul Bai, waren vonschimmerndem Metall umschlossen, glichen einan-der, bis das Auge auf dem Fleisch ruhte, das im Zen-

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trum der Schlittenkonstruktion enthalten war.Stavros war von außerordentlich fortgeschrittenemAlter, teilweise gelähmt, und sein Leiden – das ihmauf Kesrith zugestoßen war – behinderte sein Spre-chen immer noch in solchem Ausmaß, daß er denKommunikationsschirm des Schlittens benutzte, umsich mit den Regul in ihrer komplizierten Sprache zuunterhalten. Menschen gegenüber hatte er jedochwieder angefangen zu sprechen. Die betroffenenGlieder hatten wieder etwas Kraft gewonnen, aberStavros blieb nach wie vor im Schlitten, von den Re-gul gefertigt, das Prestige eines Regul-Älteren. Ge-schwindigkeit, Kraft, sofortiger Zugang zu jederSchlittenbahn im Nom: Duncan verstand die prakti-schen Überlegungen, aus denen heraus es Stavrosablehnte, die Maschine aufzugeben, aber er haßte diePolitik, die sie repräsentierte – menschliche Anpas-sung an die Regul, menschliche Nachahmung derRegul-Wege.

»Sir«, sagte Duncan ruhig, erwiderte den Gruß,wandte mit dem nächsten Atemzug das Gesicht BaiHulagh zu, höflich und gelassen und innerlich vorWut zitternd, lächelte, während er in die kleinendunklen Augen des Regul-Ältesten blickte. Ein gro-ßes ungeschlachtes Monster in feiner Gaze mit silber-nen Rändern, das Fleisch vor lauter eingelagertemFett zu Wülsten aufgeworfen, unter dem die Muskelnfast völlig verkümmert waren, besonders in den unte-ren Gliedern. Duncan verabscheute seinen Artblick.Das Gesicht des Regul war eine knochige Platte, sodunkel wie der Rest seiner Haut, und glatt, unähnlichdem Rest der Haut. Die Zusammensetzung der Ge-sichtszüge, ihre Symmetrie, vermittelte eine Illusion

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der Menschlichkeit; einzeln genommen entsprach je-doch kein Zug dem Menschen. Die Augen warenbraun und rund, versunken in Vertiefungen der falti-gen Haut. Die Nase bestand nur aus Schlitzen, dieaufgebläht oder völlig geschlossen werden konnten.Die Lippen waren nach innen gewandt, im Momentnur ein fest zusammengepreßter Schlitz, von derKnochenplatte gesäumt. Hulaghs Nasenlöcher warengegenwärtig eng zusammengezogen, abgesehen vomraschen Aufblähen beim Ausatmen, ein Zeichen desMißvergnügens über die Begegnung, so bedrohlichwie ein menschliches Stirnrunzeln.

Hulagh drehte seinen Schlitten abrupt zur Seite, ei-ne scharfe Abweisung eines anmaßenden Junglings,und lächelte Stavros an, wobei sich Augen und Na-senlöcher entspannten und sich der Mund leicht öff-nete. Es war ungewiß, ob eine solche Geste für Regulnatürlich war oder den Versuch darstellte, einemenschliche Geste nachzuahmen.

»Es ist gut«, sagte Hulagh in seinem polterndenBasic, »daß der Jungling Duncan wiederhergestelltist.«

»Ja«, sagte Stavros laut in der Regul-Sprache. DerKom-Schirm des Schlittens drehte sich Duncan zuund blitzte in Basic auf, in menschlichen Symbolenund Buchstaben. Setzen Sie sich! Warten Sie!

Duncan entdeckte an der Wand einen Stuhl, setztesich und lauschte, fragte sich, warum er zu dieserKonferenz gerufen worden war, warum Stavros sichentschlossen hatte, ihn zu Hulaghs Nutzen vorzufüh-ren. Duncans unvollkommene Beherrschung der Re-gul-Sprache machte es ihm unmöglich, viel von demaufzuschnappen, was der Regul Bai sagte, und er

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konnte nichts von dem verstehen, was Stavros ant-wortete, denn obwohl er den Kom-Schirm aus diesemWinkel sehen konnte, konnte er nur wenige Worteder komplizierten Schriftsprache lesen, welche die ei-detischen Regul selbst fast nie benutzten.

Einmal etwas hören, so komplex es auch war, unddie Regul vergaßen es niemals wieder. Sie benötigtenkeine Aufzeichnungen. Ihre Berichte waren mündli-cher Natur, auf Bändern aufgezeichnet, nur dann aufGeschriebenes reduziert, wenn als von dauerhafterBedeutung eingeschätzt.

Duncan spitzte die Ohren, als er seinen Namen er-wähnt hörte und die Wendung vom Dienst befreit. Ersaß still, die Hände um die Kante des dicken Regul-Stuhles geklammert, während die beiden Diplomatenendlos Höflichkeiten austauschten, bis Hulagh end-lich Anstalten machte, sich zu verabschieden.

Der Schlitten des Bai drehte sich. Diesmal widmeteHulagh sein falsches Lächeln Duncan. »Guten Tag,Jungling Duncan«, sagte er. Duncan war geistesge-genwärtig genug, aufzustehen und sich zu verbeu-gen, was die höfliche und angemessene Antwort ei-nes Junglings an einen Älteren war; und der Schlittenhuschte die offene Tür hinaus, während er dastand,die Fäuste geballt, und auf Stavros hinabblickte.

»Setzen Sie sich!« sagte Stavros.Die Tür glitt zu. Duncan kam herein und setzte sich

auf den Stuhl, der Stavros' Schlitten am nächstenstand. Die Fenster wurden schwarz, schlossen dieAußenwelt aus. Nur noch die Zimmerbeleuchtungspendete Licht.

»Meinen Glückwunsch«, sagte Stavros. »Gut ge-spielt, wenn auch offensichtlich unaufrichtig.«

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»Werde ich hinaufgeschickt?« fragte Duncan di-rekt, eine Abruptheit, die ein Flackern des Mißver-gnügens in Stavros' Augen brachte. Duncan bedau-erte sie sofort – ein weiterer Beweis seiner Unsicher-heit, den Stavros lesen konnte. Vor allem diesen Ein-druck hatte er vermeiden wollen.

»Geduld«, riet ihm Stavros. Dann sprach er mitdem KomTech draußen, gab den Befehl, daß Anrufeweiterhin zurückgehalten werden sollten, und ent-spannte sich seufzend, wobei er Duncan immer nochaufmerksam musterte. »Hulagh ist überredet wor-den«, sagte Stavros, »auf Ihren Kopf zu verzichten.Ich habe ihm erzählt, daß Ihre Entbehrungen in derWüste Ihren Verstand aus dem Gleichgewicht ge-bracht haben. Hulagh scheint das als eine Möglichkeitder Entschuldigung zu akzeptieren, die seinen Stolznicht beeinträchtigt. Er hat sich entschlossen, IhreGegenwart wieder zu akzeptieren; es gefällt ihm je-doch nicht.«

»Dieser Regul«, sagte Duncan und wiederholtehartnäckig die Behauptung, die ihn ruiniert hatte,»hat Völkermord begangen. Wenn er den Knopf nichtselbst gedrückt hat, so hat er dem, der es tat, den Be-fehl dazu gegeben. Ich habe Ihnen berichtet, was injener Nacht dort draußen passiert ist. Sie wissen, daßich die Wahrheit sage. Sie wissen es.«

»Offiziell«, sagte Stavros, »weiß ich es nicht. Dun-can, ich werde versuchen, vernünftig mit Ihnen zureden. Die Dinge sind nicht so einfach, wie Sie siegerne haben möchten. Hulagh selbst erlitt Schadendurch diese Aktion: er verlor sein Schiff, seine Jung-linge, seinen gesamten Wohlstand, sein Prestige unddas Prestige seines Doch. Vielleicht kommt ein Regul

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Doch zu Fall, eines, das für die Menschheit von Be-deutung ist. Begreifen Sie, was ich Ihnen sage? Hu-laghs Doch ist die Friedenspartei. Wenn sie stürzt,wird es für alle von uns gefährlich, nicht nur für die,die sich auf Kesrith befinden. Wir sprechen über denFrieden, verstehen Sie das?«

Sie befanden sich wieder auf vertrautem Grund.An diesem Punkt setzten die Argumente an undführten zu den bekannten Positionen. Duncan öffneteden Mund, um zu reden, um beharrlich neu zu for-mulieren, was Stavros wußte, was er seinen Befragernunzählige Male berichtet hatte. Stavros schnitt ihmmit einer ungeduldigen Geste das Wort ab, bewahrteihn vor der Mühe, deren Vergeblichkeit er bereitswußte. Duncan stellte fest, daß er müde war, seineHoffnungen und sein Glaube an die Mächte, die Kes-rith regierten, waren erschöpft, zum größten Teil seinGlaube an diesen Mann, dem er einmal gedient hatte.

»Hören Sie«, sagte Stavros scharf, »auch Menschensind gestorben – bei Haven.«

»Ich war dabei«, erwiderte Duncan, voll bittererErinnerung. Er fügte nicht hinzu, was ebenfalls derWahrheit entsprach, daß Stavros nicht dort gewesenwar. So mancher ObTak hatte seine unbegrabene Lei-che auf Elag/Haven zurückgelassen und auf zehnanderen Welten dieses Sternsektors, während sich dieDiplomaten sicher hinter den Linien befanden.

»Menschen starben«, fuhr Stavros fort, versessendarauf, seinen Punkt vorzubringen, »da und hier, vonMri-Hand. Menschen wären in Zukunft gestorben –werden sterben, wenn der Frieden zusammenbrechensollte, wenn irgendwo die Regul, die den Krieg wol-len, politische Macht erlangen und noch mehr solcher

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Söldner wie die Mri finden. Oder kann das in IhrenÜberlegungen keine Rolle spielen?«

»Es spielt eine Rolle.«Stavros schwieg für eine Weile. Er bewegte seinen

Schlitten, um nach einer Tasse Soi zu greifen, die ander Kante eines Tisches stehengelassen worden war.Er trank und starrte Duncan über den Rand der Tassehinweg an, setzte sie wieder ab.

»Ich weiß, daß es eine Rolle spielt«, sagte erschließlich. »Duncan, ich habe es bedauert, Sie erset-zen zu müssen.«

Es war das erstemal, daß Stavros so etwas gesagthatte. »Ja, Sir«, sagte Duncan. »Ich weiß, daß es not-wendig war.«

»Es gab verschiedene Gründe«, meinte Stavros.»Erstens, weil Sie Bai Hulagh direkt ins Gesicht hin-ein beleidigt haben, und Sie wissen, daß Sie Glückhatten, als Sie dabei lebend davonkamen. Zweitenswurden Sie mit einer unbestimmten Prognose ins La-zarett gebracht, und ich brauchte Hilfe...« Er wies aufseinen eigenen, in Metall eingefaßten Körper. »Siesind kein Arzt. Dazu hatten Sie sich nicht verpflichtet.Evans ist in dieser Hinsicht nützlich. Ihre Fähigkeitensind anderswo wertvoll.«

Duncan hörte zu und war sich schmerzhaft dessenbewußt, daß mit ihm gespielt wurde, daß er auf et-was vorbereitet wurde. Man machte keine Schachzü-ge mit George Stavros; Stavros machte mit anderenZüge. Darin war er ein Profi; und der Verstand indieser gefesselten Schale hatte nur sehr wenigemenschliche Abhängigkeiten, ein alter Mann, derlänger mit weltenumspannenden Krisen umgegangenwar, als ObTaks zu leben pflegten, der Familie und

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einen bequemen Ruhestand weggeworfen hatte, umeinen Gouverneursposten auf einem Frontplanetenwie Kesrith zu bekleiden. Für eine kurze Zeit hatteDuncan eine gewisse Bindung an Stavros empfunden;er hatte Stavros verschwenderisch Mühen und Treuezuteil werden lassen – hatte sogar genug an ihn ge-glaubt, um ihm die Wahrheit anzubieten. Aber ande-re mit Gerissenheit zu steuern, sogar mit Rücksichts-losigkeit, das war die Fähigkeit, für die Stavros seineErnennung erlangt hatte. Duncan entschied sich da-für, ihm weder zu glauben noch wütend darüber zusein, daß er benutzt worden war – und er wußte, daßselbst so Stavros die Fähigkeit besaß, ihn wiederumanzulügen.

»Ich habe Ihr Vorgehen entschuldigt«, sagteStavros, »und es gedeckt, soweit ich konnte. Aber Siehaben Ihre Nützlichkeit für mich in der Stellung ver-loren, für die Sie sich verpflichtet haben. Hulaghkann dazu überredet werden, Ihre Anwesenheit hin-zunehmen; aber der Verdacht, Sie seien in eine Posi-tion zurückgekehrt, die Ihnen direkten Einfluß ver-leiht, wäre mehr, als er ertragen könnte, und erkönnte Ihr Leben gefährden. Ich will diese Art vonSchwierigkeiten nicht haben, Duncan, und auch nichtdie Komplikationen, die durch Ihre Ermordung auf-treten würden. Regul sind einfach nicht in der Lagezu glauben, daß die Tötung eines Junglings unter unsMenschen ebenso ernst ist wie die Tötung eines Älte-ren.«

»Ich will nicht vom Planeten geschickt werden.«»Das wollen Sie nicht.«»Nein, Sir, das will ich nicht.«Stavros starrte ihn an. »Sie haben diese persönliche

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Bindung an die beiden Mri. Bindung? – Besessenheit!In dieser Sache sind Sie kein rational denkenderMann mehr, Duncan! Denken Sie nach! Erklären Siees mir! Was hoffen Sie zu tun oder zu finden? Was istder Punkt bei dieser plötzlichen – Gelehrsamkeit vonIhnen, dieser Stunden in der Bibliothek, voll im Blick-feld der Regul? Wonach suchen Sie?«

»Ich weiß es nicht, Sir.«»Sie wissen es nicht. Aber es umfaßt jeden Mri-

Bericht, den Sie finden können.«Duncan preßte die Kiefer zusammen, lehnte sich

zurück und zwang sich zu flachem Atmen. Stavrosbewahrte Schweigen, wartete auf ihn. »Ich möchtewissen«, sagte Duncan schließlich, »was sie gewesensind. Ich habe sie sterben gesehen. Ich habe eine gan-ze Spezies dort draußen sterben sehen. Ich möchtewissen, was das war, das ich zerstört sah.«

»Das ergibt keinen Sinn.«»Ich war dort. Sie nicht.« Duncans Geist war erneut

von der Nacht erfüllt, der Dunkelheit, dem blenden-den Licht der Zerstörung. Ein Mri-Körper drücktesich an seinen, zwei Männer, die gleichermaßen vorden Gewalten erzitterten, die eine Lebensform, eineintelligente Rasse ausgelöscht hatten.

Stavros starrte ihn lange an. Sein Gesicht wurdesachlich, sogar mitleidsvoll, und das war ungewohntbei Stavros. »Was denken Sie? Daß Sie es gewesensein könnten, der ihnen den Angriff einbrachte? Ist esdas, was an Ihnen frißt – daß Sie verantwortlich seinkönnten für den Völkermord, so sehr wie Hulagh?«

Das traf den Punkt nah genug. Duncan saß still,wußte, daß er nicht in der Lage sein würde, vernünf-tig darüber zu sprechen. Stavros ließ das Schweigen

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für einen Moment im Raum hängen.»Vielleicht«, sagte er schließlich, »wäre es besser

für Sie, wenn Sie eine Zeitlang hinauf zur SABER ge-hen würden, in eine Umgebung, die Ihnen vertrauterist und wo Sie mit Ihrem Nachdenken ins Reinekommen können.«

»Nein, Sir, das wäre nicht besser. Sie haben michaus meiner Stellung bei Ihnen entlassen. Gut, ich ak-zeptiere das. Aber geben Sie mir etwas anderes dafür.Ich verzichte auf meine Rückführung nach Hauseund auf meine Entlassung. Geben Sie mir einen ande-ren Posten hier auf Kesrith.«

»Das ist ein Ersuchen, nehme ich an.«»Ja, Sir, das ist ein Ersuchen.«»Da Sie mir zugeteilt waren, wird alles, was Sie

machen, von den Regul beobachtet und als Zeichenverstanden. Sie haben die Situation beharrlich ver-schärft. Sie sind hierhergekommen, um zu assistieren,ObTak Duncan, nicht, um Politik zu machen.«

Duncan hatte keine Antwort darauf. Sie wurdeauch nicht erwartet. Stavros' Mund arbeitete unterder Anstrengung, die lang andauerndes Sprechenvon ihm forderte; er holte schwer Atem und Duncanverspürte Betroffenheit, erinnerte sich daran, daßStavros ein kranker Mann war, daß er versuchte, sichinmitten all der anderen Anforderungen an etwasvon seinen persönlichen Schulden zu erinnern. Dun-can legte seiner Gereiztheit Zügel an.

»Sie haben es sich selbst zugezogen«, sagte Stavrosendlich, »als Sie Bai Hulagh des Mordes anklagten.Sie haben einen Zwischenfall provoziert, der fast diegesamten diplomatischen Mühen um Kesrith zumScheitern brachte. Vielleicht denken Sie, daß Sie im

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Recht waren. Nehmen wir einmal an...« Stavros rau-he, angespannte Stimme wurde einen Hauch freund-licher. »Nehmen wir zum Zweck der Argumentationeinmal an, daß Sie völlig im Recht wären. Man trifftjedoch so keine Entscheidungen, ObTak Duncan, undSie müssen das wissen, irgendwo am Grund IhrerSelbstgerechtigkeit.«

»Ja, Sir«, sagte er sehr ruhig.»Wie die Sache steht«, meinte Stavros, »zweifle ich

nicht an Ihnen. Und ich bin sicher, daß der Bai trotzall meiner Bemühungen, ihn zu beruhigen, versuchthat, sie zu töten. Als er Sie zwischen Mri fand, wardas zuviel für ihn. Ich denke, Sie wissen das. Ich den-ke, daß Sie diese Möglichkeit beschäftigt, und ichwünschte, ich könnte Ihren Verstand erleichtern undsagen, daß es nicht so war. Ich kann es aber nicht.Hulagh hat wahrscheinlich genau das getan, dessenSie ihn beschuldigt haben. Aber das sind Beschuldi-gungen, die zu verfolgen für mich im Augenblick ab-solut nicht erfolgversprechend wäre. Ich habe Sie le-bend zurückgewonnen. Das war das äußerste, wasich tun konnte, bei all dem, was passiert ist. Ich habeauch Ihre Mri gerettet, ganz zufällig.«

»Was von ihnen geblieben ist. Die Ärzte...«»Ja. Was von ihnen geblieben ist. Aber Sie können

das nicht ungeschehen machen. Sie können nichts da-zu tun!«

»Ja, Sir.«»Die Ärzte haben mir berichtet, daß Sie geheilt

sind.«»Ja, Sir.« Duncan holte tief Atem und entschied

schließlich, daß Stavros versuchte, ihn zu erleichtern.Er beobachtete, wie der Gouverneur ungeschickt ver-

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suchte, eine saubere Tasse in den Spender zu setzen,stand auf und übernahm selbst diese Aufgabe, fülltedie Tasse, die der Gouverneur ihm anbieten wollte.Stavros erwies ihm die Gunst eines schiefen Lächelnsin seinem halb gelähmten Gesicht.

»Immer noch nicht wieder das, was ich früherwar«, meinte Stavros wehmütig. »Die Ärzte machenkeine verschwenderischen Versprechungen, aber dieÜbungen sind hilfreich. Zumindest erleichtern sie dieHandhabung dieses Metallungeheuers. Hier, füllenSie bitte auch meine Tasse auf, ja?«

Duncan tat wie gebeten, reichte sie ihm und setztesich wieder, die eigene Tasse mit den Handflächenumfaßt. Nach einem Moment nahm er den erstenSchluck und genoß die angenehme Wärme. Soi warleicht anregend. In diesen letzten Tagen hatte er mehrdavon getrunken als wahrscheinlich gut für ihn war,aber seit seinem Aufenthalt in der Wüste war ihm derGeschmack an Speisen vergangen. Er nippte an derheißen Flüssigkeit und entspannte sich, wußte dabei,daß er Stavros' talentierten Manipulationen zum Op-fer fiel, erleichtert, bewegt und dirigiert wurde. Erwurde jedoch auch gehört, und das war es immerhinauch wert. Er glaubte, wenn auch nichts anderes, daßStavros anfing, zuzuhören – und sich den Regul ausGründen widmete, die nichts mit Naivität zu tunhatten.

»Es war ein Fehler, als ich es ausgesprochen habe«,gab Duncan zu, was er zuvor noch nie zugegebenhatte, nicht gegenüber seinen verschiedenen Befra-gern oder in einem der geschriebenen Berichte, die erzu den Akten gegeben hatte. »Nicht, daß ich nichtgewußt hätte, was ich sagte; ich wußte es. Aber ich

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hätte es nicht vor den Regul sagen dürfen.«»Sie befanden sich im Zustand des Zusammen-

bruchs. So verstehe ich es.«Duncans Mund zuckte. Er setzte die Tasse ab. »Die

Sicherheit hat mir ein Sedativ verabreicht, damit ichden Mund halte, und Sie wissen das. Ich bin nicht zu-sammengebrochen.«

»Sie haben von einem heiligen Ort gesprochen«,sagte Stavros. »Aber in der Befragung haben Sienichts mehr davon gesagt, nicht einmal, um die Fragezu lenken. War das, wo Sie das Artefakt gefundenhaben, das Sie mitbrachten?«

Duncans Blick wurde abwesend, sein Herz be-schleunigte sich. Seine Hände zitterten. Er versuchte,dies zu verbergen, indem er die Plastiktasse mit bei-den Händen fest umklammerte.

»Duncan?«Dunkelheit und Feuer, ein schimmerndes Metallo-

void in Niuns Armen, kostbar für die Mri, mehr alsihr Leben, die die letzten ihrer Rasse waren. Tuenichts! hatte Melein ihm befohlen, als er an jenem fürdie Mri heiligen Ort stand. Berühre nichts! Sieh nichts!Er hatte dieses Vertrauen verletzt, die verwundetenMri menschlichem Gewahrsam ausgeliefert, um ihreLeben zu retten, indem er das Metallovoid inmenschliche Hände legte, damit selbst es vonmenschlicher Willenskraft untersucht würde. Er hatteim Delirium gesprochen. Er blickte auf Stavros,schaffte es nicht, die Sache mit einem Achselzuckenabzutun; er wußte nicht, wieviel er gesagt hatte oderwelche Details er erwähnt hatte. Es gab das Artefaktselbst, in den Laboratorien der FLOWER, um jedesAbleugnen Lügen zu strafen.

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»Am besten überarbeite ich die Berichte«, sagteDuncan. Er wußte nicht, was er sonst sagen sollte. EinKolonial-Gouverneur verfügte über diktatorischeMacht in diesem Stadium, bevor es Parlamente undGesetze gab. Er, Duncan, war selbst kein Zivilist, undvor jeder Instanz ohne Schutz. Es gab wenig, dasStavros nicht tun konnte – einschließlich der Exekuti-on, sicherlich einschließlich seiner Verschiffung zueiner Station irgendwo, fort von den Mri, fort von al-len Hoffnungen des Zugangs zu ihnen oder zu Kes-rith, für immer.

»Ihr Bericht war demzufolge nicht genau.«Duncan warf alles in die Waagschale. »Ich war er-

schüttert. Nachdem ich die erste Zeit zum Schweigenverurteilt war, war ich mir nicht sicher, wieviel wirk-lich aufgezeichnet werden sollte.«

»Erzählen Sie mir nicht diesen Unsinn!«»Ich war zu der Zeit nicht bei Verstand. Um ehrlich

zu sein – um ehrlich zu sein, Sir, ich hatte das Gefühl,daß Sie alles über die Mri begraben wollten, alles,was passiert ist. Ich war mir nicht sicher, ob ich nichtvon Kesrith verwiesen werden würde, weil ich zuvielwußte. Ich bin mir immer noch nicht dessen sicher,daß das nicht passiert.«

»Sie kennen die Ernsthaftigkeit dessen, was Sievorbringen?«

»Dies ist eine Grenze«, sagte Duncan. »Ich weiß,daß Sie machen können, was Sie wollen. Sogar micherschießen lassen. Ich kenne den Umfang dessennicht, was ich weiß – oder wie wichtig es ist. Wenneine ganze Rasse vom Tisch gefegt und vergessenwerden kann – was bin dann ich?«

Stavros runzelte die Stirn, nippte an seinem Ge-

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tränk, verzog das Gesicht und setzte die Tasse wiederab. »Duncan, die Regul leben; ihre Opfer nicht. Alsobeschäftigen wir uns mit den Regul, die immer nocheine gefährliche Macht sind – und die Mri...« Er setzteseinen Schlitten in Bewegung, drehte ihn und be-trachtete Duncan aus geringerem Abstand. »Sie ha-ben Ihre Ansichten über die Mri, ganz offensichtlich.Was würden Sie mit ihnen machen?«

»Sie freilassen. In Gefangenschaft werden sie nichtlang überleben.«

»So einfach? Aber danach ist es nicht mehr ganz soeinfach. Was ist mit den Regul?«

»Die Mri werden nicht mehr für die Regul kämpfen– und es gibt nur noch zwei von ihnen. Nur zwei...«

»Ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben sind selbstzwei Mri ein beachtlicher Faktor. Und sie haben einenbeachtlichen Groll gegen Bai Hulagh – den Kopf derRegul-Friedenspartei, ObTak Duncan.«

»Ich kenne diese beiden Mri«, sagte Duncan. »Siehaben niemandem auf dieser Welt etwas getan, au-ßer, daß sie sich selbst verteidigt haben. Sie haben nurversucht, sich in Sicherheit zu bringen, und wirwollten sie nicht lassen. Lassen Sie sie jetzt frei, undsie werden gehen. Das ist alles, was sie wollen.«

»Für jetzt.«»Für sie gibt es kein Morgen«, meinte Duncan, und

daraufhin betrachtete Stavros ihn seltsam. »Es wirdkeine weiteren Generationen geben. Es gibt ein Tabuzwischen diesen beiden. Aber selbst dann, wenn demnicht so wäre, würden selbst zehn, sogar zwanzigGenerationen aus ihnen keine ernstzunehmende Be-drohung machen.«

Stavros runzelte die Stirn, setzte den Schlitten zu-

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rück, öffnete die Tür. »Gehen Sie mit mir!« sagte er.»Nach oben. Ich vertraue darauf, daß Sie nirgendwoanders hingehen.«

»Ja, Sir«, stimmte Duncan zu. Stavros hatte unzwei-felhaft vorgehabt, ihn aus dem Gleichgewicht zubringen, und er hatte es erreicht. Er war aufgefordert,Stavros in der Öffentlichkeit zu begleiten, vor denRegul. Es war eine Demonstration von etwas, eineWiederherstellung des Vertrauens: er war sich nichtsicher, welches. Vielleicht wurde er auf subtile Weisebestochen, wurde ihm ein Status angeboten – und dieAlternative war die Überführung auf die SABER.Stavros machte es sehr schwierig, die Debatte fortzu-setzen.

Der Schlitten fuhr gemächlich durch die Bürotür,vorbei an dem KomTech, durch die äußere Tür in denKorridor. Duncan holte ihn ein, als Stavros auf ihnwartete. Stavros setzte den Schlitten nicht auf dieGeleise, auf denen er mit einer Geschwindigkeit ein-herschießen konnte, der kein Mann zu Fuß gewach-sen war, sondern rollte in einem sehr gemächlichenTempo neben Duncan her.

»Das erste ist«, sagte er, »keine Bibliothek mehr!«Und als Duncan sofort den Mund zum Protest öffne-te: »Da drüben müssen Sie sich zwischen Regul be-wegen, und das möchte ich lieber nicht. Der Stab derFLOWER kann finden, was Sie benötigen, wenn Siees beschreiben. Verstehen Sie mich?«

»Nein, Sir.«Sie legten eine gewisse Entfernung schweigend zu-

rück, bis eine Gruppe von Regul an ihnen vorbei war,und sie nahmen die Kurve zum aufwärtsführendenKorridor. »Ich möchte«, sagte Stavros, »daß Sie soviel

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wie möglich von Ihrer Zeit auf der FLOWER zubrin-gen. Bleiben Sie den Regul völlig fern. Gehen Sie Ihrerprivaten Besessenheit durch Kanäle nach, und schrei-ben Sie mir einen anständigen Bericht – diesmal einenvollständigen!«

Duncan blieb auf der Rampe stehen. »Ich versteheSie immer noch nicht.«

Stavros drehte seinen Schlitten, um ihn zu be-trachten, eine Seitwärtsbewegung der Augen. »Doch,das tun Sie! Ich möchte, daß Sie Ihre Talente einsetzenund mir einen vollständigen Bericht über die Mri an-fertigen. Geben Sie jeden Befehl, den Sie wollen, dernicht erfordert, die Mri selbst zu berühren.«

»Welchen Wert hat das?« fragte Duncan. »Ich binkein Wissenschaftler.«

»Ihre praktische Erfahrung«, meinte Stavros,»macht solch einen Bericht wertvoll: nicht für die For-scher, aber für mich.«

»Ich werde dort drüben freien Raum benötigen.«Stavros machte ein finsteres Gesicht. »Ich werde

Ihnen etwas sagen, Duncan, und Sie hören mir zu! Ichteile nicht Ihre Begeisterung für die Erhaltung derMri. Sie waren eine Plage im Universum, eine Pest,bestenfalls ein Anachronismus zwischen Lebensfor-men, die ihre Lektionen an Zivilisation zu besseremVorteil gelernt hatten. Sie sind wahrscheinlich die ef-fizientesten Killer in der gesamten Schöpfung; aberwir haben sie nicht ausgelöscht, noch taten es die Re-gul – noch Sie. Sie sterben, weil sie kein Interesse dar-an haben, irgendeine andere Lebensart zu verstehen.Kein Pardon, keine Gefangenen, keine Verhandlun-gen, keine Kompromisse: in ihren Augen ist allesschwarz und weiß, nichts ist grau. Sie sind absolut

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unflexibel. Ich mache ihnen deswegen keine Vorwür-fe; aber ihre Lebensart war die Zerstörung, und siesterben jetzt nach demselben Muster, das sie auf an-dere angewandt haben. Eine Neigung der Natur,wenn Sie so wollen, nicht meine. Überzeugen Siemich vom Gegenteil, wenn Sie können! Und seien Sievorsichtig mit ihnen! Wenn Sie sie nicht als das re-spektieren, was sie sind, sondern als die Erinnerun-gen Ihres Deliriums, dann werden diese beiden Mridamit enden, daß sie jemanden töten: sicherlich sichselbst; Sie, wahrscheinlich; andere, durchaus mög-lich.«

»Dann wird mir der Zutritt zu ihnen erlaubt sein.«»Vielleicht.«»Geben Sie mir die Erlaubnis jetzt, und ich kann

mit ihnen reden, wie es der Stab nicht kann. HaltenSie die Ärzte und ihre Drogen von ihnen fern, solangesie noch einen Rest von Geist übrig haben.«

»Duncan...« Stavros setzte sich wieder in Bewe-gung, langsam, fuhr um die Ecke am oberen Ende derRampe. »Sie waren die eine Ausnahme ihrer Keine-Gefangenen-Regel, die einzige Ausnahme in vierzigJahren. Natürlich haben Sie das Bewußtsein, daß dortein gewisses irrationales Gefühl der Abhängigkeit er-zeugt worden sein könnte, in der Wüste, in ihrerUmwelt, in Ihrem unerwarteten Überleben. Sie habenIhnen Nahrung und Wasser gegeben, Sie am Lebenerhalten, entgegen Ihrer eigenen natürlichen Erwar-tung; Sie haben jede Lebensnotwendigkeit aus ihrenHänden erhalten. Wenn Sie Schlechtes erwarten undstattdessen Gutes erhalten, hat das einen gewissenemotionalen Effekt, selbst wenn Sie in Wirklichkeitnichts über die Motive der beteiligten Leute wissen.

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Wissen Sie, wovon ich rede?«»Ja, Sir. Ich bin mir dieser Möglichkeit bewußt. Sie

könnte zutreffen.«»Und das ist es, was Sie herausfinden wollen, nicht

wahr?«»Das, unter anderem.«Sie erreichten die Tür von Stavros' Apartment.

Stavros öffnete sie durch Fernbedienung, glitt hineinund riß den Schlitten herum, betrachtete Duncan, derim Eingang stand. Evans befand sich im Zimmer undschien über ihre Ankunft überrascht zu sein: Er warein junger Mann, Evans – Duncan betrachtete ihn, derBrennpunkt einer bitteren Eifersucht gewesen war,und entdeckte einen ruhigen, nicht besonders stattli-chen jungen Mann.

»Nehmen Sie sich den Nachmittag frei«, sagteStavros zu Duncan. »Bleiben Sie im Nom. Ich werdeeinen Befehl ausarbeiten, der Sie auf die FLOWERüberstellt und die Gefühle der Zivilisten da drübenbeschwichtigt. Ich werde Ihnen eine Kopie davonschicken. Und ich erwarte von Ihnen, zu erkennen,daß es mir nicht recht ist, wenn dort drüben beimwissenschaftlichen Stab Gefühle verletzt werden; siemögen das Militärische nicht sonderlich. Seien Sietaktvoll. Damit werden Sie mehr aus ihnen herausbe-kommen.«

»Ja, Sir.« Duncan zitterte fast vor Eifer, denn fastalles, was er sich gewünscht hatte, hatte er nun inHänden, alles. »Und Zugang zu den Mri selbst...«

»Nein. Noch nicht. Noch nicht. Geben Sie mirZeit.«

Duncan versuchte, irgendeine Geste zu machen,ein Zeichen der Höflichkeit; aber das war selbst zu

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den besten Zeiten zwischen ihm und Stavros nie ein-fach gewesen. Schließlich murmelte er nur etwas Un-artikuliertes, verabschiedete sich unbeholfen undging.

»Sir?«Stavros drehte den Schlitten herum, erinnerte sich

daran, daß er das Mittagessen für den Zeitpunkt sei-ner Rückkehr bestellt hatte. Er akzeptierte den ange-botenen Becher mit Suppe und runzelte die Stirn überEvans Versuch, ihm dabei zu helfen, nahm ihn in dieeigenen Hände. Die zurückkehrende Funktionsfähig-keit der beeinträchtigten Glieder machte ihn arrogantin seiner wiedergewonnenen Unabhängigkeit. Eranalysierte seinen Ärger als Ungeduld mit seinen ei-genen teilnahmslosen Muskeln und Evans als einenbloßen bequemen Brennpunkt. Er brummte mürri-sche Dankesworte.

»Akten über die Mri«, befahl er Evans, »und überSten Duncan.«

Evans ging gehorsam. Stavros lehnte sich zurückund trank die Suppe, genoß etwas, das nur von Men-schen zubereitet worden war, gewürzt mit menschli-chem Gewürzverständnis. Es war ein Luxus, zu neunach dem langen Aufenthalt in Regul-Gewahrsam,um als völlig selbstverständlich aufgefaßt zu werden,aber nach einem Moment ruhte der Becher vergessenin seiner Hand.

Es war eine Tatsache, daß er Duncan vermißte.Er vermißte ihn bitter, und hielt ihn immer noch

für besser verwendet, als wenn er ihn sich einfachvom Hals geschafft hätte. Der ObTak war in seinenDienst getreten als Leibwächter, der als Diener ver-kleidet war, am Ende des Krieges aus dem Kampf

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abgezogen, um einem Diplomaten aufzuwarten.Duncan war ein junger Mann, sofern man überhaupteinen Mann, der das Geschehen bei Elag/Haven er-lebt hatte, jemals wieder als jung bezeichnen konnte.Berichten zufolge, die Duncan wahrscheinlich nie zuGesicht bekommen hatte, war er bemerkenswert in-telligent – auch einer der jungen Männer, die derKrieg aufgeschnappt und verschluckt hatte, bevor siejemals gewußt hatten, was aus ihnen hätte werdenkönnen. Duncan hatte gelernt, Befehle entgegenzu-nehmen, aber nach ObTak-Art: die Männer diesesDienstes waren Einzelgänger, nicht an unmittelbareFührung gewöhnt. Gewöhnlich nannte man ihnen einAngriffsziel von begrenztem Umfang und wies sie an,es zu erreichen: der Rest lag beim ObTak selbst, ei-nem Spezialisten für fremde Umwelten, für Überle-ben und die Kriegführung hinter den feindlichen Li-nien.

Stavros hatte den ObTak selbst ausgeschickt, umKesrith kennenzulernen.

Und Kesrith hatte Duncan beinahe getötet. Selbstsein Anblick hatte sich verändert, neugeformt unterder Gewalt der Wüste von Kesrith. Etwas war ver-schwunden, das dagewesen war, bevor Duncan indiese Wildnis hinausging – vielleicht seine Jugend;möglicherweise sein Menschsein. Er trug die Narbendavon, das Gesicht halbgegerbt durch das Tragen vonMri-Schleiern im sengenden Sonnenlicht; Runzeln,eingebrannt in die Augenwinkel, machten seine Au-gen hart und fremdartig. Er war mit schmerzendenLungen durch die dünne Luft und den ätzendenStaub zurückgekehrt, mit beträchtlich gesunkenemKörpergewicht und einem seltsamen, vorsichtig ta-

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stenden Schritt, als ob er stets dem Boden mißtraute.Während der Tage im Lazarett waren seine körperli-chen Verletzungen behandelt worden, war er mitdem gesamten Aufgebot an fortschrittlicher Ausrü-stung, das auf dem Forschungsschiff zur Verfügungstand, wiederhergestellt worden. Aber es gab einenSchaden, der niemals repariert werden konnte, derden jungen ObTak zum Fanatiker geprägt hatte.

Der Regul-Bai hatte recht, wenn er Sten Duncan alsFeind empfand. Die Lebensform der Regul hatte kei-nen tödlicheren Feind als ihn – außer den Mri selbst.Duncan haßte sie, und Duncan kannte die Regul bes-ser als jeder andere lebende Mensch außer Stavros,denn sie beide waren mit den Regul hierhergekom-men, die ersten Menschen, die hier auf Kesrith dieGrenzen des Kontaktes zwischen Regul und Men-schen durchbrochen hatten.

Und im besonderen haßte Duncan den Bai HulaghAlagn-ni: Hulagh, der genau das getan hatte, wessenihn Duncan beschuldigte, der die Mri getötet hatte,die der Regulrasse als Söldner dienten, der eine ver-nunftbegabte Lebensform ausgelöscht hatte. Hulaghhatte das aus verzweifelter Angst und aus Gier getan,was beides ineinander verschlungen war. Aber denBai Hulagh bewegte jetzt die Furcht vor der Ungnadeseiner eigenen Rasse, und die dämmernde Hoffnungauf Gewinn durch die Menschen. Er war auf der Weltgestrandet, die zu plündern er gehofft hatte, unterMenschen, die zu betrügen und zu entehren er ge-hofft hatte. Und so wurde Bai Hulagh verletzlich undwertvoll.

Tatsache war, daß man nicht, wie Duncan es ver-suchte, Regul sagen und mit diesem Wort die Motive

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und Handlungen eines bestimmten Angehörigen derRegulrasse meinen konnte. Die Regul waren eineQuasi-Nation von Händlern und Gelehrten; aber ihreDocha, ihre Verbindungen der Geburt und des Han-dels, waren in den meisten Belangen wie gesonderteNationen unabhängig. Hulagh gehörte zum DochAlagn; und Alagn, eine neue Macht in der Regul-Politik, hatte den Krieg beendet. Die Auftraggeberder Mri-Söldner, die im Gebiet der Menschheit sovielZerstörung angerichtet hatten, waren vom DochHoln, dem großen Rivalen und Feind der Alagn.

Doch Holn hatte Kesrith gegen Kriegsende abge-treten, genötigt durch das Abkommen; und währendder Übergabe von Kesrith an die Herrschaft der Men-schen war Holn unter Alagn gefallen. Aber Holnhatte seine Rache gehabt: es hatte Hulagh Alagn-niden Befehl über Kesrith überlassen, ohne daß dieseretwas über die Mri und die Natur Kesriths gewußthatte. Der Wind hatte gedreht: Alagn war mit demZusammenbruch seiner Bemühungen konfrontiertworden, Kesrith zu evakuieren und zu plündern; undals die Menschen ankamen, war Hulagh in Panik ge-raten. In dieser Panik und dem Versuch, den Zornder Menschen von sich abzulenken, hatte Hulaghgemordet.

Es war möglich, daß Hulagh durch diesen Mord,diese Vernichtung der Mri, die Leben dieser ankom-menden Menschen gerettet hatte, die Besatzungender SABER und der FLOWER, der FOX und derHANNIBAL. Möglicherweise schuldete die Mensch-heit Bai Hulagh Dankbarkeit für eine Säuberungsak-tion, die die menschliche Politik niemals hätte durch-führen können.

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Duncan, der an eine absolute Gerechtigkeit glaubte,konnte solch einen Gedanken nicht akzeptieren; aberes entsprach der Wahrheit, daß Doch Alagn und seinHerrscher, Hulagh, in jener Beziehung für Kesrithnützlich waren, vor allem durch ihr Vertrauen in dieMenschheit und ihren brennenden Haß auf DochHoln, das sie in diese unglücklichen Umstände ge-trieben hatte. Für Duncan, wie für die Mri, gab es nurSchwarz und Weiß, richtig und falsch. Es war un-möglich, Duncan zu erklären, daß Alagn gehegt undgestärkt werden mußte und auf Holn gezielt, ein Pro-zeß, zu langfristig und zu wenig ehrlich für den Ob-Tak.

Und mehr: die Mri waren von Holn angeheuertund gelenkt worden, ihre ganze Geschichte hindurch– und es war vor allem erforderlich, daß endgültigblieb, was Bai Hulagh auf Kesrith getan hatte: daß dieMri-Rasse tatsächlich vergessen wurde, und daßHoln nicht an einem geheimen Ort eine weitereStreitmacht dieser Brut unterhielt, dieser äußerst wir-kungsvollen und geschickten Killer, für die Duncaneine so innige Sympathie empfand. Ohne die Mri wa-ren die Regul nicht zum Krieg befähigt, konstitutio-nell und körperlich unfähig. Mit den Mri waren dieRegul dazu in jedem Ausmaß fähig. Wenn irgendeinMri überlebte, würde er keine Liebe zu Doch Alagnempfinden können, wegen dem, was Hulagh seinerRasse zugefügt hatte. Und persönlicher Eintritt derMri in einen Krieg, aus ihren eigenen Motiven herausund nicht als Söldner, war ein Gespenst, das sowohlüber Alagn als auch der Menschheit hing.

Die Suppe wurde sauer in Stavros' Mund, währender darüber nachdachte, was sich schließlich mit den

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beiden verbliebenen Mri an Maßnahmen als notwen-dig erweisen mochte – mit Duncans Mri. Duncan warein Mann von gerader Sicht und geradem Vorgehen,auf seine Art unschuldig; und das war etwas, das zutun Stavros nicht wünschte – den ObTak zu vernich-ten, der ihm einst ein wertvoller Ratgeber und ver-läßlicher Agent gewesen war.

Er liebte Duncan wie einen Sohn.Bei einem seiner Söhne hätte er weniger Reue emp-

funden.

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2

Der Befehl wurde am Abend ausgegeben. Duncan lasdie Fotokopie wieder und immer wieder über einemeinsamen Abendessen in seinem Quartier im Nom,auf einem mit anderen Aufzeichnungen übersätenTisch, seinen handgeschriebenen und sorgfältig zu-sammengetragenen Materialien.

Besonderer Verbindungsoffizier: das war der Titel,den Stavros ausgesucht hatte, um seinen Wechsel indie enge Gemeinschaft der FLOWER zu erleichtern.Der Befehl wies ihn dem unentbehrlichen zivilen Stabdes Gouverneurs zu, und nicht der militärischen Prä-senz, die sich in Verbindung mit der Station im Orbitbefand, und Duncan verstand diese Unterscheidungzu würdigen, die ihm größere Gunst beim Personalder FLOWER verschaffen würde. Es wurden ihm be-stimmte Vollmachten zugestanden, Nachforschungenanzustellen, aber nicht, über Gegenstände, Berichteoder Personen zu verfügen. Er konnte tatsächlich be-stimmen, in welche Richtung andere nachzuforschenhatten: größtmögliche Kooperation bei der Verfolgung sei-ner Untersuchungen... fing dieser Absatz des Befehlsan. Er las diesen letzten Teil immer wieder und fanddarin keine Ausnahme, und er war verblüfft darüber,daß so etwas von Stavros stammte.

Und er begann, sich zu fragen, warum, und fandkeine Antwort darauf.

Noch in derselben Stunde kam ein Paket mit Do-kumenten an – nicht auf Film, und demzufolge auchnicht dazu vorgesehen, die Rezeptoren des Nom zufüttern, wo sie vielleicht für die Regul zugänglich

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geworden wären. Sie kamen durch Boten, und Dun-can unterzeichnete dafür und setzte sich, verschiede-ne Hefter in seinem Schoß. Es handelte sich um um-fangreiche Akten, die alles zu umfassen schienen,was bezüglich der Mri-Gefangenen bekannt war undgemacht worden war. Duncan las sie immer wieder,nahm alles auf, das er auch nur entfernt begreifenkonnte.

Dann kamen Botschaften, von der einen oder ande-ren Abteilung innerhalb der FLOWER – von der Si-cherheit, der Biologie, von Dr. Luiz, dem weißhaari-gen Chef der Chirurgie, der während Duncans Auf-enthalt auf der FLOWER für ihn Sorge getragen hatte.Luiz' Nachricht war warm: Es war Luiz gewesen, deres ihm stillschweigend erlaubt hatte, seine täglichenBesuche auf der FLOWER durchzuführen, währendseine Behandlung genauso einfach im Nom, weitabvon den Mri, hätte durchgeführt werden können. Eswar Luiz, der die Behandlung der Mri so anständiggehalten hatte, wie sie war, der sie am Leben gehaltenhatte, als man es für unmöglich hielt; und diesemMann vertraute Duncan. Von anderen gab es mehrformale Anerkennungen, in Höflichkeiten einge-packte Kälte.

Der vom Gouverneur Ernannte brachte die Machtmit, Dinge zu ändern, die gewissen Herzen lieb wa-ren. Er begann, sich zu überlegen, als was die Wis-senschaftler ihn betrachteten, als Eindringling, dernichts über die Untersuchungen und Operationenwußte, für die diese Zivilisten zu einer so fernenGrenzwelt gekommen waren. Er fand es nicht überra-schend, daß er abgelehnt wurde. Er wünschte, daßihm die Macht gegeben worden wäre, die Verhältnis-

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se der Mri zu ändern, und weniger Macht, andereProjekte zu bedrohen. Das eine wünschte er sichernsthaft; dem anderen mißtraute er, weil es übermä-ßig und unvernünftig war; und er kannte Stavrosnicht als Mann ohne Maß, und sicherlich nicht als ei-nen Mann, der ohne Grund handelte.

Er wurde auf jemanden oder etwas gezielt; er be-gann zu fürchten, daß das der Fall war. Er war wie-der passend für Stavros geworden, eine Waffe, dieerneut benutzt werden sollte, in einer neuen Art derKriegsführung gegen einen von Stavros' Feinden, obdas nun die Regul waren oder es um einen Befehls-streit zwischen Zivilisten und dem Gouverneursbüroging oder um komplexere Pläne, die sie alle ein-schlossen.

Er befand sich jetzt außer Stavros' unmittelbarerReichweite und konnte nachdenken – außerhalb die-ser Aura der Vertraulichkeit, die einen Mann so leichtin Stavros Hände treiben konnte – und fand heraus,daß er immer noch willens war, jeden Verdacht zu-rückzustellen und den Köder zu schlucken, denn derwar alles, was er wollte, alles, das für ihn eine Rollespielte.

Besessenheit, hatte Stavros es genannt.Er stimmte dem zu und ging.

Am Morgen warteten auf dem Dienstschreibtisch inder FLOWER mehr Nachrichten, jede von einem Ab-teilungsleiter, der darauf wartete, mit ihm zu spre-chen. Duncan fing an, sich unbehaglich zu fühlen. Erschob es auf, sich damit zu beschäftigen, und gingzuerst hinunter in die medizinische Sektion, am mei-sten von allem auf die Mri versessen, darauf, sich

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täglich zu vergewissern, daß es ihnen gut ging undsie es so bequem hatten, wie unter diesen Umständenmöglich – und jetzt vor allem, daß kein übereifrigerForscher sich entschlossen hatte, sich als erster um siezu kümmern, eine Untersuchung zu beenden odereinzuleiten, bevor sie verboten werden konnte.

Aber bevor er mehr getan hatte, als nur die Tür zudieser Sektion zu durchqueren, grüßte ihn Dr. Luiz,und er fand sich von den Mri abgelenkt und zu einereinberufenen Konferenz der verschiedenen Abteilun-gen der FLOWER gedrängt.

Es verdroß ihn, bei dieser Zusammenkunft beteiligtzu sein. Er haßte Prozeduren dieser Art. Er wurdedenen formell vorgestellt, die ihn bisher eher als einMuster wie die Mri gekannt hatten, als Objekt einigerihrer Forschungen, als er halb am Leben aus der Wü-ste gerettet worden war, in der an und für sich keinMensch hätte überleben dürfen. Er zwang ein Lächelnauf sein Gesicht, antwortete auf ihre Einführungen,lehnte sich dann in seinem Sessel zurück und berei-tete sich auf die kommende Langeweile vor, denlangwierigen Austausch von Daten und Wortklaube-reien über Absichten und Einzelheiten der Versor-gung. Er hielt es für vorsätzlich, für eine kleine admi-nistrative Rache, daß er zu solchen Vorgängen zuge-zogen worden war, von denen er keine Ahnung hatteund für die er noch weniger Interesse aufbrachte. Ersaß da und studierte heimlich die Verhaltensweisenund Gesichter der übrigen Teilnehmer, lauschte denkleinlichen Auseinandersetzungen und zeichnete sieinnerlich auf, um sich an die Anzeichen von Eifer-süchteleien und Freundschaften erinnern zu können,die sich als nützlich herausstellen mochten.

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Aber die zentrale Angelegenheit berührte plötzlichsein Interesse: die Neuigkeiten vom militärischenFlügel, daß es Ankünfte an der Station gegeben hatte.Dieser Teil der Neuigkeiten machte ihm zunehmendSorgen, während er zuhörte. Das ForschungsschiffFOX war zusammen mit dem Kriegsschiff HANNI-BAL und dem Beiboot SANTIAGO von Gurgain zu-rückgekehrt, einer Welt des Sterns Lyltagh in derNachbarschaft von Arain, einer Minenkolonie mitluftlosen Monden und reichen Ablagerungen, vonden Regul nur dürftig erschlossen. Neue Informatio-nen kamen herein, von besonderem Interesse für dieGeologen: die FLOWER schickte eine Mannschaft zurFOX hinauf. Personal wurde umgeschichtet und un-ter neuen Prioritäten neu eingeteilt; das Mri-Projektverlor einiges Schlüsselpersonal. Duncan, der anfing,die neue Organisation zu erkennen, empfand unbe-haglich, daß seine Befehlsgewalt ausreichen mochte,um die Verschiebung zu beeinflussen. Er dachte, daßer etwas sagen sollte, daß man von ihm erwartete,etwas zu tun und in Fragen des Stabes und der Politikund der Wünsche Stavros' gut informiert zu sein. Erwar es nicht.

Er saß da und blickte finster, während die Angele-genheiten zur Zufriedenheit der bestehenden Mächteauf der FLOWER geregelt wurden, und erkannteelend, daß er für die Stellung, die man ihm gegebenhatte, ungeeignet war, daß er zumindest zum NutzenStavros' hätte Notizen machen sollen – und er hattenichts getan, war sich erst zu spät dessen bewußt ge-worden, was geschah, daß ein größerer Teil des Di-rektoriums sich um ihn herum aufgelöst hatte, viel-leicht unzufrieden mit der Einmischung des Gouver-

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neurs in ihre Untersuchungen. Kräfte, die ihre Unab-hängigkeit von Stavros geltend machen wollten,zielten damit auf ihn, während andere Abteilungenvergeblich auf seine Unterstützung warteten.

Universität und Politik: er war für beide nicht ge-eignet. Er war sich der Gestalt bewußt, die er unterden anderen abgab, Khaki zwischen ihrem Blau undWeiß, ein rauhbeiniger Soldat außerhalb seines Ele-mentes, eine gehaßte und lächerliche Gegenwart. Siekamen mit ihren Angelegenheiten in seinem ärgerli-chen Schweigen zum Abschluß und vertagten sich.Ein paar blieben noch, um oberflächliche Höflichkei-ten mit ihm auszutauschen diejenigen, die für dieFOX bestimmt waren, mißachteten gezielt solche Lie-benswürdigkeiten und gingen hinaus, ohne von sei-ner Anwesenheit Notiz zu nehmen. Er akzeptierte dieHöflichkeiten, die ihm angeboten wurden, ohne je-doch Freund und Feind bereits zu kennen, verbittertin seiner Unwissenheit. Er war freundlich, hatte vonStavros gelernt, zu lächeln, ohne es freundlich zumeinen.

Danach jedoch, als er gehen wollte, fand er Luiz'Hand auf seiner Schulter, und Dr. Boaz von der Xe-nologie, die mit mehr als nur beiläufigem Interesse zuihm herauflächelte, eine behäbige Frau, die mit demAkzent von Haven sprach und deren Kopf mit grau-blonden Flechten gekrönt war.

»Stavros«, sagte Boaz, »hat sich daran erinnert, daßSie einen Mri-Schrein erwähnt haben.«

Er betrachtete sie, dieses Paar, das bereits die Exi-stenz der Mri in Händen hielt, den medizinischenStabschef und diese kleine plumpe Frau, deren Ab-teilung über den gesamten ehemaligen Besitz der Mri

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verfügte. Boaz' Interesse war ihren Augen deutlichabzulesen: Lust an der Gelehrsamkeit. Ihre kleineAbteilung hatte die Auflösung tatsächlich intakt undvoll funktionsfähig überstanden, während Luiz' bio-medizinischer Stab durch die UmschichtungenSchlüsselpersonal verloren hatte, wütendes medizini-sches Personal, das sich für das bequemere Leben derStation entschieden hatte, unter dem Vorwand, Sy-steme für weitere Forschungsmissionen auszuarbei-ten.

Boaz und Luiz blieben auf der FLOWER und nah-men jetzt in deren geschrumpftem Stab die Positio-nen von Dienstältesten ein.

Und Luiz schloß sich ihr an. Duncan suchte dasGesicht des Chirurgen und blickte dann wieder zuBoaz.

»Ich war an solch einem Ort«, gab er vorsichtig zu.»Ich weiß nicht, ob es möglich wäre, ihn wiederzu-finden.«

»Am besten unterhalten wir uns in meinem Büro«,meinte Boaz.

»ObTak Duncan«, sagte der Lautsprecher zum zwei-tenmal, »Sie werden an der Schleuse erwartet.«

Das Flugzeug wartete. Es konnte warten. Duncandrückte den Kom-Knopf auf der Schalttafel undbeugte sich vor. »Hier Duncan. Teilen Sie ihnen mit,daß ich in einigen Minuten da bin.«

Dann ging er, wozu Luiz ihm die Erlaubnis erteilthatte, in die bewachte Sektion des Krankenreviers,nicht mehr durch eine Übertretung der Bestimmun-gen, sondern mit einer roten Marke, die ihm Zugangzu allen Bereichen des Schiffes gewährte, außer de-

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nen mit einem Stimmschloß. Es befriedigte ihn, denUnterschied in der Reaktion der Sicherheit auf ihn zusehen, die Schnelligkeit, mit der Türen für ihn geöff-net wurden.

Und als er Niuns Zimmer betrat, hatte ihm der Po-sten davor den Rücken zugewandt und damit einUngestörtsein gewährt, dessen er sich nur selten er-freut hatte.

Er berührte den Mri, beugte sich hinab und riefseinen Namen, wünschte sich ein letztesmal, andereMöglichkeiten gehabt zu haben. Er hatte wieder einePosition mit einiger Macht gewonnen; er hatte Gunstzurückerlangt, wo es darauf ankam; er hatte mit jederVerschlagenheit gekämpft, die er kannte; aber als erin das dünne, nackte Gesicht des Mri blickte, ver-spürte er keinerlei Triumph.

Er wünschte, sie würden Niun die Bedeckung sei-nes Gesichts erlauben; die Mri lebten hinter Schleiern,ein bescheidenes, stolzes Volk. Nach einigen Tagenmit ihm hatte sich Niun schließlich in seiner Gegen-wart befreit genug gefühlt, ihm das Gesicht zu zeigenund direkt mit ihm zu sprechen, ein Mann zu einemMann von ähnlicher Berufung.

Für uns gibt es keinen anderen Weg, hatte Niun ihmgesagt, die angebotene Hilfe zurückgewiesen, zu ei-ner Zeit, in der der Mri in der Lage gewesen war, fürsich selbst Entscheidungen zu treffen. Entweder über-leben wir, wie wir waren, oder wir sind im Überleben ge-scheitert. Wir sind Mri; und das ist mehr als der Name ei-ner Rasse, Duncan. Es ist ein sehr alter Weg. Es ist unserWeg. Und wir werden ihn nicht ändern.

Es gab immer weniger Wahlmöglichkeiten für sie.Nur ein Freund, dachte Duncan bitter, konnte sie

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mit solcher Gründlichkeit verraten. Er hatte entschie-den, daß sie überleben sollten: ihre Freiheit würdewieder etwas anderes kosten; und auch dessen Be-gräbnis hatte er vorbereitet, ein weiterer Verrat... anDingen, die die Mri als heilig erachteten. Mit solcherMünze hatte er die Kooperation von Leuten wie Boazund Luiz erkauft; und er fragte sich schließlich, zuwessen Wohl er handelte, ob Niun seine Gründe auchnur begreifen konnte, oder ob es nur Selbstsucht war,die ihn, Duncan, antrieb.

»Niun«, drängte er ihn, sehnte sich nach irgendei-ner Berührung des Erkennens, nach einer Bestätigungfür das, was er tat. Aber an diesem Mittag war Niunviel weiter weg: es gab keine Reaktion auf seinenNamen oder die Berührung seines Arms.

Duncan konnte nicht länger zögern. Er zog sich zu-rück, hoffte immer noch.

Da war nichts.

Er hatte mit keinem Piloten gerechnet, hatte erwartet,selbst zu fliegen. Aber als er an Bord kletterte, fand erdie Kontrollen von einem Mann mit sandfarbenemHaar besetzt, der die Bezeichnung der SABER aufdem Ärmel trug. GALEY, besagte der Taschenauf-satz, LT.

»Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagteDuncan, denn die Luft war durch die Mittagshitzeaufgeheizt. »Wußte nicht, daß jemand mitfliegt.«

Galey startete, zuckte die Achseln, während dieMotoren pochend zum Leben erwachten. »Machtnichts. Es ist heiß hier, aber bei der Reparaturabtei-lung unten an der Wasseranlage auch. Da ist mir dasFlugzeug lieber, danke.«

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Duncan setzte sich auf den Platz des Copiloten,brachte seine Ausrüstung, mit der Boaz ihn versorgthatte, zwischen den Füßen unter und legte die Gurtean.

Das Flugzeug stieg senkrecht empor und drehte so-fort mit einer scharfen Wendung in Richtung derBerge ab. Kühle umwehte sie jetzt, wo sie sich in derLuft befanden, ein herrlicher Luxus nach der Ofenhit-ze im geparkten Flugzeug.

»Wissen Sie, wohin es geht?« fragte er Galey.»Ich kenne die Route. Ich fliege Sie dort hinaus.«Duncan widmete ihm einen zweiten Blick, ver-

suchte, sich an ihn zu erinnern, und konnte es nicht.Es war dunkel gewesen, und es war auf zuviele ande-re Dinge angekommen. Er blinzelte und bemerkte,daß Galey ihm etwas gesagt hatte, während er in Ge-danken gewesen war.

»Tut mir leid«, sagte er. »Haben Sie etwas gefragt?«Galey zuckte wieder die Achseln. »Spielt keine

Rolle. Macht nichts. Wie steht es mit den Kel'ein?Noch am Leben, wie ich höre.«

»Sie leben noch, ja.«»Hat dieser Ort, wo wir hinfliegen, etwas mit ihnen

zu tun?«»Ja.«»Gefährlich?«»Ich weiß nicht«, sagte er und dachte zum ersten-

mal darüber nach. »Vielleicht.«Galey verarbeitete diesen Gedanken in einem für

mehrere Kilometer anhaltenden Schweigen, währenddie weiße Wüste, mit Felsen durchsetzt, unter ihnendahinglitt. Duncan blickte hinaus und machte untenschwarze Punkte aus.

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»Dusei«, sagte er. Galey drehte die Maschine undhielt Ausschau.

»Scheußliche Biester«, meinte er.Duncan antwortete nicht und stritt nicht mit ihm.

Die meisten Menschen würden dasselbe sagen, wür-den sich die übriggebliebenen Mri tot wünschen, ausgerechtfertigtem Grund. Duncan sah zu, wie die Wü-ste unter die Nase des Flugzeugs glitt und sich dieLandschaft zum rauheren Hügelland wandelte, das erunter hohem Preis und großen Schmerzen durch-quert hatte – es war wie im Traum, diese Geschwin-digkeit, das Herabblicken auf eine Welt, in der dieZeit langsamer verstrich und die Wirklichkeit anderswar, unmittelbar, und wo er gelernt hatte, für eineZeit zu leben.

Sie drehten hinaus über Sil'athen, das lange T-förmige Tal, fern im Hochland, ein Schlitz in derHochebene, stark erodiert, eine Schlucht voll seltsa-mer Formen, die der ätzende Regen gestaltet hatteund der ständige Wind, der der Länge nach hin-durchfuhr. Es gab dort Schiffstrümmer, die man nochnicht geborgen hatte, Flugzeuge, die Niun zum Preisfür seine Gefangennahme gemacht hatte; und auchTrümmer der Natur, denn viele der äonen-altenSandsteinformationen waren vom Wind zu bizarrenFragmenten geformt worden.

Als sie an der Kreuzung des hohen Tales landetenund an diesem Ort aus dem Flugzeug traten, in dievolle Hitze von Arains rotem Licht, überfiel beide ur-plötzlich die Stille, ein Gewicht, das den Atem raubte.Duncan spürte die Luft sofort, eine heftige Änderungnach der gefilterten Druckluft im Flugzeug, und fingan, so schmerzhaft zu husten, daß er sofort Zuflucht

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zur Feldflasche nehmen mußte. Filtermasken undSonnenbrillen waren Teil ihrer Ausrüstung; Duncanlegte seine an und zog die Uniformkapuze über, umden Kopf vor der Sonne zu schützen. Galey tat des-gleichen. Die Maske beseitigte jedoch nicht den Hu-stenreiz; er nahm wieder einen kleinen Schluck.

»Alles klar mit Ihnen?« Galeys Stimme klang ver-ändert durch die Maske. Duncan blickte in das breite,sommersprossige Gesicht und fühlte sich in jemandesGesellschaft besser in solch einer Stille. Galey gehörtejedoch nicht hierher, in keiner Weise. Duncan warfsich die Feldflasche über die Schulter, sammelte seineAusrüstung und versuchte, nicht auf die Stille zu hö-ren.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte er. »HörenSie, es ist ein langer Weg die Schlucht hinab unddann in diese Felsen hinauf. Sie müssen nicht mit-kommen.«

»Meine Befehle lauten anders.«»Vertraut man mir hierbei nicht?« Duncan bedau-

erte den Ausbruch sofort, als er sah, wie Galey ihnanblickte, erschrocken und bestürzt. »Kommen Sie!«sagte er daraufhin. »Passen Sie aber gut auf, wo Siehintreten!«

Duncan ging los, so langsam, wie es die dünne Luftnötig machte, während Galey mit schweren Schrittenneben ihm herging. Die Mri lagen mit der von ihnengewählten Kleidung richtig: es war nicht weise, indiesem Sonnenlicht irgendeine Hautstelle unbedecktzu haben; aber als Galey anfing, dem einladendenSchatten der Klippen zuzustreben, folgte Duncan ihmnicht, und Galey kehrte zu ihm zurück.

»Gehen Sie nie im Schatten«, riet Duncan. »Sie

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könnten dort Dinge übersehen, die Sie vielleicht nichtübersehen. Es ist dunkel genug, wo wir noch ent-langgehen müssen, ohne unnötige Risiken einzuge-hen.«

Galey betrachtete ihn unbehaglich, stellte aber kei-ne Fragen. Der Wind sang sein seltsames Lied durchdie Felsnadeln aus Sandstein.

Es war ein Ort der Geister: Sil'athen, Begräbnis-stätte der Mri. Duncan lauschte dem Wind und sahsich im Gehen um, betrachtete die hohen Klippenund die Höhlen mit ihren Geheimnissen.

Ein totes Volk, eine tote Welt. Uralte Gräber umga-ben sie hier, die im Osten durch verwitterte Säulenmarkiert, die im Westen ohne solche. Dort gab es In-schriften, von denen man viele bereits nicht mehr le-sen konnte, abgeschmirgelt durch den Sand, und somanche Säule war in dem Kampf, der auf und abdurch Sil'athen getobt hatte, umgestürzt und zerstörtworden.

Und im Sand fanden sie die nackten Knochen einesgroßen Dus.

Traurigkeit überfiel Duncan, als er sie sah, denndiese Tiere waren die treuen Gefährten der Mri gewe-sen, und so gefährlich sie auch sein konnten, sofreundlich konnten sie auch sein: mit traurigen Ge-sichtern, langsame Beschützer ihrer Meister.

Auch dies fügte sich zur Zerstörung einer Spezies.Galey trat gegen den Schädel. »Die Aasfresser ar-

beiten schnell«, meinte er.»Lassen Sie das!« sagte Duncan scharf. Galey blin-

zelte, richtete sich auf und verhielt sich ihm gegen-über jetzt formeller.

Trotzdem stimmte die Beobachtung, daß es in der

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anscheinend leblosen Öde Aasfresser in großer Zahlgab; nichts fiel in den Sand, ohne daß etwas Nutzendaraus zog. Nichts zauderte oder irrte sich, ohne daßirgendein Raubzeug auf diesen Irrtum lauerte. Selbstdie Mri gingen nachts nicht durch die Wüste, ohnedaß die Dusei sie führten. Selbst bei Tag war es un-umgänglich, zu beobachten, wo man hintrat, und einAuge auf die Felsen zu halten, die einen Hinterhaltverbergen mochten. Duncan kannte die kleine Sen-kung, die die Lauer eines Gräbers kennzeichnete, undwußte, wie man stets die Sonne zwischen sich undden Felsen hielt, um die giftigen Stränge von Anemo-nen zu vermeiden. Er wußte auch, wie man Wasserfand, wenn man es brauchte, oder wie man sich ver-stecken konnte – das letztere in Sil'athen eine leichteAufgabe, wo der ständige Wind die Spuren jedesVorübergehenden verwischte und die Sandflächebeinahe im selben Moment glättete, da der Fuß vonihr abhob. Schrill klingende Staubwirbel zogen wieNebel über den Boden hinweg und wurden gelegent-lich von pfeifenden Windböen aufgerührt, die denSand in Wolken davontrugen.

Solch einen pfadlosen, abgelegenen Ort hatten dieMri gewählt... solch ein Ende hatte Niun gewählt, alsob sie selbst im Dahingehen jede Spur zu verwischenwünschten, daß es sie gegeben hatte.

Sie waren, so hatte er durch sein langes Studiumgelernt, durch sein Beschwatzen der Übersetzer, seitvielen Jahrhunderten hier gewesen und hatten denRegul gedient. Hier und in der Umgebung hatten siegekämpft – gegeneinander, denn zu Anfang hattendie Regul sie gegen die Söldner anderer Regul ange-heuert, Söldner, die, wie es sich ergab, ebenfalls Mri

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waren. Die Konflikte standen in den Regul-Berichtenendlos aufgezählt, nur die Namen änderten sich: DerMri des Doch Holn besiegte die beiden Mri des Doch Ho-rag; Horag (nicht zu entziffern) floh aus dem (nicht zuentziffern)-Gebiet.

So hatte es hier begonnen – bis Holn die Mri nicht mehrgegen Mri warf, sondern gegen die Menschheit. Einsame,seltsame Kämpfer: die Menschheit hatte erlebt, wie einzelneMri menschliche Außenposten verhöhnten, um eine Reak-tion zu provozieren, die manchmal dazu führte, daß dieMenschen bei ihrer Tötung weit höhere Verluste erlitten,als sie verkraften konnten. Weise Befehlshaber, die dieselbstmörderische Wildheit dieser Mri-Berserker kannten,hielten ihre Männer von einer Antwort zurück, egal, wieschamlos die Provokation war, bis der Mri in großartigerArroganz in sein eigenes Gebiet zurückgekehrt war.

Vielleicht eine Herausforderung zu einem gleichartigenGegenzug?

Niun war zu solch unbesonnenem Verhalten fähig.Niun, dessen Waffen, an zwei Gürteln über Brust und

Hüfte getragen, von einem Laser bis zu einem dünnenKrummschwert reichten, ein Anachronismus in dem Krieg,in dem er kämpfte.

Ein sehr alter Weg, hatte Niun ihn genannt.Hier war alles, was davon geblieben war.Dieser Ort flößte aus seinen tieferen Schatten her-

aus ein Gefühl der Bedrohung ein, dort, wo die Sand-steinklippen sie enger einzuschließen begannen, einGefühl von Heiligkeit und Geschichte und eines To-des, der der Menschheit unbekannt war. Und es gabtiefere Stellen, wo Mri-Wachen beobachtet hatten undgestorben waren, treu ergeben in eine Pflichterfül-lung, wie sie nur ihnen bekannt war, und wo die Fel-

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sen Dinge verbargen, die bedrohlicher waren als derTod.

Duncan hatte sie erblickt.Dort lag es, weit über den Klippen am Ende der

Schlucht, wo Steinhaufen in einer gewaltigen Zerstö-rung niedergestürzt waren.

»Wie weit müssen wir noch gehen?« wollte Galeywissen, der die Klippen vor ihnen mit nervösem Blickbetrachtete. »Klettern wir da hinauf?«

»Ja«, sagte Duncan.Galey blickte ihn an, wurde wieder still und ging

vorsichtig hinter ihm her, als er anfing, nach demWeg zu suchen, den er kannte, oben zwischen denFelsen, ein Dus-Pfad und wenig mehr.

Dort war es, erinnerte er sich, der Weg hinauf, ver-borgen in gefährlichem Schatten. Er folgte ihm sorg-sam mit den Augen und fing an, langsam hinaufzu-gehen.

Während des Anstieges war er gezwungen, oft an-zuhalten, hustete, trank ein wenig und wartete, denndie Luft war in den höheren Regionen noch dünner,und er litt trotz der Maske. Auch Galey fing an zuhusten und trank zuviel von ihrem Wasser. Duncanüberlegte, ob Galey, der nicht wie er einen Laza-rettaufenthalt hinter sich hatte, einen größeren Teilder Ausrüstung tragen sollte; aber Galey, der aus dersterilen und automatisierten Umwelt der SABERkam, mühte sich qualvoll.

Endlich erreichten sie den Kamm und das Sonnen-licht zwischen hohen Felsspitzen, einem weglosenIrrgarten, in dem es kein Anzeichen mehr davon gab,daß Mri hier gegangen waren: an diesem Ort verteilteder Wind den Sand, wie in Sil'athen.

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Duncan stand da, erwog das Sinken des rotenArain hinter den Spitzen, sog vorsichtig die Luft einund spürte die Gegend mit all seinen Sinnen. Er hatteeinen Sinn für Landschaften, entwickelt in zwanzigweglosen Umwelten, und der nagte jetzt an ihm,schleichend und unterhalb der Vernunftschwelle.Galey wollte etwas sagen, aber Duncan befahl ihmknapp, zu schweigen, stand für eine Weile da undlauschte. Der allgegenwärtige Wind zerrte an ihnen,trieb seine Possen, sang zwischen den Felsspitzen.Duncan wandte sich nach links.

»Folgen Sie mir!« sagte er. »Sprechen Sie nicht mitmir! Letztesmal bin ich den Weg in der Dunkelheitgegangen. Die Gegend sieht jetzt anders aus.«

Galey brummte zustimmend, atmete immer nochheftig. Danach schwieg er, und Duncan schaffte es,seine Anwesenheit zu vergessen, während sie weiter-stapften. Er hätte Galey gerne verlassen; er war nichtgewöhnt, auf einer Mission Gesellschaft zu haben,war nicht an Pläne oder Berichte gewöhnt oder anBetroffenheit über eine im Freien verbrachte Nacht –und ein ObTak wie er hatte wenig Respekt vor denRegulären, wenn sie ihrer schützenden Schiffe undihres Kontaktes zu Vorgesetzten beraubt waren.

Es fiel ihm ein, daß der Stab der FLOWER nicht dieBefehlsgewalt besaß, ihm einen Regulären von der SA-BER als Begleitung zuzuteilen. Aber Stavros besaß sie.

Auf dem Plateau holte sie die Dunkelheit ein, wie esDuncan im voraus gewußt hatte, an einer Stelle, woes nur wenig Felsspitzen gab und sich eine großeSandfläche zwischen ihnen und den ferneren Klippenerstreckte.

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»Wir könnten weitergehen«, schlug Galey freiwilligvor, obwohl seine Stimme bereits erschöpft klang.

Duncan schüttelte den Kopf, suchte eine sichereStelle aus und ließ sich nieder, um dort bis zur Däm-merung zu bleiben, eingewickelt in eine Wärmedeckeund weit bequemer als in seiner letzten Nacht an die-sem Ort. Sie setzten die Masken ab und aßen, obwohlGaley nur wenig Appetit hatte; dann setzten sie siezum Schlaf wieder auf und für die abwechselndenWachen.

Ein Jo flog kurz durch die Luft, ein Schatten vordem Nachthimmel. Einmal erwachte Duncan vonGaleys beharrlichem Flüstern, er habe etwas in denFelsen sich bewegen gehört. Er hielt daraufhin sit-zend Wache, während Galey schlief oder zu schlafenvorgab, und weit über den Sand hinweg erkannte erden dunklen Schatten eines jagenden Dus, das sich inden tieferen Schatten der Felsspitzen hineinbewegteund verschwand.

Er lauschte dem Wind und betrachtete die Sterneund kannte jetzt unzweifelhaft seinen Weg.

Sobald die Landschaft wieder Farbe anzunehmen be-gann, falteten sie ihre Decken zusammen und mach-ten sich wieder auf den Weg, zitterten in der frühenDämmerung. Galey war steif und hinkte durch dieAnstrengung des vorigen Tages.

Die Felsnadeln umschlossen sie wieder, vom Lichtder rötlichen Sonne mit Farbe übergossen, und dasGefühl der Vertrautheit dauerte immer noch an. Siewaren auf dem richtigen Weg; keine Spur eines Zwei-fels blieb in Duncans Geist, aber er genoß die Stilleund brach sie nicht durch ein Gespräch.

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Und schließlich lag dort vor ihm diese Lücke in denFelsen, unscheinbar wie ein Dutzend andere rings-herum, abgesehen von der kennzeichnenden Fels-platte, die zur Linken schräg abfiel, und der Tiefe desSchattens, der dahinter lag.

Duncan blieb stehen; es fiel ihm ein, daß er selbstjetzt noch Zeit hat, um zu bereuen, was er tat; daß erGaley in Kreisen herumführen konnte, bis ihnen dieVorräte ausgingen; die anderen überzeugen konnte,daß sein Gedächtnis versagte, daß der Ort für ihnverloren war. Es würde Boaz' kleinem Stab große An-strengung und Geschicklichkeit kosten, die Stelle oh-ne ihn zu finden. Sie mochte für Generationen derMenschen auf Kesrith unauffindbar bleiben.

Aber Relikte leisteten einem toten Volk keine Dien-ste. Daß alles vergehen sollte, was es gewesen war,daß eine intelligente Lebensform aus dem Universumverschwinden sollte, ohne etwas zu hinterlassen – daswar nicht richtig.

»Hier«, sagte er und führte Galey den Weg entlang,an den er sich erinnerte, den er später in seinen Alp-träumen gesehen hatte, dieser lange, enge Durchgangzwischen Sandsteinklippen, die sich aneinander-lehnten und den Himmel ausschlossen. Der Durch-gang war gewunden und schien in Spiralen zu ver-laufen, hinab in Dunkelheit und Kälte. Duncan be-nutzte seine Taschenlampe, und ihr winziger Strahlzeigte die Schlangenlinien von Inschriften auf denWänden, Kurve um Kurve hinab in die Tiefen.

Blendend und sichtverschleiernd brach das Tages-licht herein, als sie die Sackgasse erreichten, wo ihrAbstieg zu Ende war. Sie standen in einem tiefenSchacht aus lebendem Stein, der zum Himmel hin of-

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fen war. Auch hier waren die Wände mit Symbolenbeschrieben und geschwärzt durch die Spuren vonFeuer, sowohl der Stein als auch die Metalltür, die ander gegenüberliegenden Seite der Vertiefung offen-stand.

Galey fluchte; das Geräusch der menschlichen Ehr-furchtslosikeit schmerzte in Duncans Ohren, und erblickte nach links, wo Galey hinstarrte. Eine unor-dentliche Masse aus Knochen und verbrannten Fet-zen aus schwarzem Stoff lag in einer Nische im Ge-stein. Es war der Wächter des Schreins. Niun hatteihm Respekt gezollt; Duncan fühlte sich bewegt, das-selbe zu tun, und wußte nicht, wie.

»Berühren Sie nichts«, sagte er und erinnerte sichsofort an ähnliche Worte, die Melein an ihn gerichtethatte, ein Echo in dem tiefen Schacht, das in fröstelnließ.

Er versuchte, den Verstand anderen Dingen zuzu-wenden – kniete im Sonnenlicht auf dem Sand niederund packte die Ausrüstung aus, die er mitgebrachthatte: photographische Instrumente, und vor allemein Signalgerät. Er aktivierte es und wußte, daß vondiesem Moment an menschliche Anwesenheit an die-sem Ort unvermeidlich war. Suchende Flugzeugewürden ihn schließlich finden.

Dann stand er mit der Kamera auf und photogra-phierte alles um sie herum, die Schriften, den Wäch-ter, den Eingang mit dem zerbrochenen Siegel, dieSpuren des zerstörerischen Feuers.

Und als letztes wagte er sich in die Dunkelheit, inden Schrein, den selbst Niun sich nicht zu betretenerlaubt hatte. Nur Melein hatte das getan, und Niunhatte die Tür bewacht. Galey machte Anstalten, ihm

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zu folgen, trat ein.»Gehen Sie zurück«, befahl Duncan. Seine Stimme

hallte fürchterlich wider in der metallenen Kammer,und Galey blieb unsicher im Eingang stehen – zogsich zurück, als Duncan ihn anstarrte. Duncan holtedaraufhin vorsichtig Luft, aktivierte die Kamera undihre Lampe, in deren Licht er die Zerstörung ringsumbegutachtete.

Schrein – es war eher ein Ort feuergeschwärztenStahls, zerstörter Vertäfelungen, Bänke lebloser Ma-schinen, nüchtern und lieblos. Er hatte gewußt, waser hier finden würde, hatte den Klang davon gehört,das Arbeiten der Maschinen in der Nacht, in der die-ser Ort gestorben war, vernichtet durch die Mri.

Und doch hatten die Mri, die Maschinen sehr gutbegriffen, ihn verehrt – verehrten auch den Gegen-stand, den sie von hier weggebracht hatten.

Mißtrauen kehrte in ihn zurück, menschlichesMißtrauen, die Erinnerung daran, daß die Mri ihmniemals Zusicherungen gemacht hatten: sie hatten le-diglich keine Hand an ihn gelegt.

Maschinenbänke, keine Spur von Heiligkeit. DasDing, das Niun so liebevoll von hier weggetragenhatte, das jetzt im Bauch der FLOWER ruhte, schienplötzlich unheimlich und bedrohlich zu sein... viel-leicht eine Waffe, die durch Sondierung ausgelöstwerden konnte. Die Neigung der Mri, bei ihrerSelbstvernichtung Feinde mitzunehmen, machte diesdurchaus möglich, machte ebenfalls verständlich, daßNiun dieses Ding wie einen Schatz gehütet hatte. Unddoch schienen Boaz und die Sicherheit offensichtlicheiniges Vertrauen darin zu haben, daß es sich umkeine Waffe handelte.

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Sein Ursprung befand sich hier – hier, vielleicht indiesem Gestell ruhend, das jetzt entblößt und leerwar. Duncan hob die Kamera und vollendete seineArbeit zwischen den toten, verbrannten Bänken, er-forschte Nischen, wo das Licht tiefe Schatten durch-schnitt und wo der Wind die Asche noch nicht weg-gefegt hatte. Als nächstes würden Boaz' Leute hier-herkommen; einige der Computerspezialisten wür-den mit wenig Hoffnung die Wracks der Bänke be-gutachten. Melein war gründlich gewesen, hatte die-sen Ort vor den Menschen geschützt, was auch im-mer er einst gewesen war.

Er hatte alles, was er brauchte, alles, was er habenkonnte. Er kehrte zum Eingang zurück und zögertedann doch wieder, nahm den Ort mit einem letztenBlick in sich auf, als ob dadurch alles in seinem Geistfestgehalten wurde, alles in sein Herz eindrang, wasMri war.

»Sir?« sagte Galey aus dem Schacht.Duncan drehte sich abrupt um und gesellte sich im

Tageslicht zu Galey, schob die Atemmaske zur Seite,die ihm plötzlich den Sauerstoff zu rauben schien,war froh, die ätzende, taghelle, windgereinigte Lufteinzuatmen. Galeys breites, ängstliches Gesichtschien auf einmal einer anderen, willkommenerenWelt anzugehören.

»Gehen wir«, sagte er dann zu Galey. »Gehen wirweg von hier!«

Der untere Canyon lag bereits tief im Schatten, als sieden Rand des Plateaus erreichten, diesen Pfad zwi-schen den Felsen, der hinab nach Sil'athen führte.Dort, wo sie standen, war es später Nachmittag, und

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die Dämmerung lag unter ihnen im Canyon.»Die Dunkelheit wird uns wieder einholen, bevor

wir das Schiff erreichen«, sagte Duncan.»Gehen wir trotzdem den ganzen Weg?« fragte

Galey.Duncan schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn es

dämmert, lassen wir uns nieder, wo wir auch sind.«Galey sah nicht erfreut aus. Wer ihm auch seine Be-

fehle gegeben hatte, hatte ihn wahrscheinlich nichtgut auf die Möglichkeit im Freien verbrachter Nächtevorbereitet. Duncans Nase hatte auf dem Rückwegwieder zu bluten begonnen, hervorgerufen durch diedünne, trockene Luft. Galeys Husten war schlimmergeworden, und wenn sie eine weitere Nacht im Frei-en zubringen mußten, würde er dasselbe durchma-chen wie Duncan.

Der Reguläre nahm den Abstieg zuerst in Angriff,verstreute Steinchen, rutschte halb in seiner Ent-schlossenheit zur Eile. Und plötzlich blieb er stehen.

Duncan hörte das Flugzeug im selben Augenblick,ein fernes Brummen, das lauter wurde, über ihnenvorbeizog und wieder abdrehte. Er blickte Galey an,und auch dieser sah verstört aus.

»Vielleicht ein Wetter, das sich über uns zusam-menbraut«, meinte Galey. »Oder vielleicht gibt es amHafen etwas Dringendes.«

Duncan hatte einen Kommunikator; er betasteteihn nervös und überlegte, daß, wenn eine der beidenVermutungen zutraf, ein Anruf vom Flugzeug hättekommen müssen. Es herrschte Schweigen.

»Gehen Sie!« sagte er zu Galey.Es gab kein Zeichen von dem Flugzeug, während

sie sich den gefährlichen Abhang hinabarbeiteten. Sie

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ruhten sich kaum aus; Duncan spürte, wie Blut seineAtmung behinderte, nahm die Maske ab und wischtesich über das Gesicht, schmierte einen roten Streifenüber die Hand. Benommenheit ließ die Felsen ver-schwimmen. Er tastete sich hinter Galey seinen Wegund taumelte auf den Talboden, auf den weichen undhindernden Sand.

»Sie kommen gerade erst aus dem Lazarett«,meinte Galey, faßte an die Riemen und bot damit an,die Last zu übernehmen, die Duncan trug. »Vertrau-en Sie mir zumindest die Ausrüstung an. Sie sind si-cher erschöpft.«

»Nein«, erwiderte Duncan stur. Er setzte blindlingseinen Fuß vor den anderen und stapfte los, vonFurcht überwältigt. Galey mühte sich, mit ihm Schrittzu halten.

Einen weiteren Kilometer die Schlucht hinauf – so-viel schaffte Duncan, bevor er mit seiner Last dieGrenze erreichte und schmerzvoll hustete; er übergabGaley die Ausrüstung, der sich mit ihr voranmühte;selbst er litt unter der kalten Luft und schnappte hef-tig nach jedem Atemzug. Es vermittelte ein nacktesGefühl schrecklicher Verlassenheit, durch dieseschattigen Tiefen zwischen den Gräbern zu gehenund Aufzeichnungen zu tragen, die nicht derMenschheit gebührten, nach denen andere verlang-ten.

Und da kam ein Regul-Fahrzeug schwerfällig denCanyon herabgerumpelt, langsam und bedächtig.Galey fluchte. Duncan sah einfach zu, wie es heran-kam.

Sie konnten nichts tun, nirgendwo hingehen, hat-ten nicht einmal mehr eine Stelle, wo sie die Ausrü-

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stung verstecken konnten. Sie waren weit weg vonden Felsen, inmitten der weiten Sandfläche und unterBeobachtung der Regul.

Der Schlitten rumpelte auf sie zu und hielt an. DerWindschirm fuhr zurück. Ein Regul-Jungling lächeltesie beide mit einem Regul-Lächeln an, eine bloße Öff-nung des Mundes, das den Zahnwulst dahinter zeigte.

»Kose Sten Duncan«, sagte der Regul. »Wir habenuns Sorgen gemacht. Alles in Ordnung? Alles in Ord-nung?«

»Völlig«, sagte er. »Verschwinden Sie! Wir brau-chen keine Hilfe.«

Das Lächeln blieb. Die runden braunen Augenzuckten über sein Gesicht, seine Hand, die Ausrü-stung, die er trug. »Dünne Luft. Schwer zu tragenvielleicht? Steigen Sie hinten ein, Gnade. Ich fahre Sie.Hier sind viele schlechte Dinge, Abend kommt. Ichbin Koi Suth Horag-gi. Bai Hulagh hat mich geschickt.Die Verehrung empfindet tiefe Besorgnis, wünschteiner menschlichen Gruppe, Kose Sten Duncan, kei-nen Unfall hier der Wüste. Wir bringen Sie zurück.«

Es war ein kleines Fahrzeug, ein Schlitten mit einerAblage für Frachten, wo man unbeengt sitzen konnte.Es war nicht unmittelbar bedrohlich, und es wäresinnloser Stolz gewesen, abzulehnen und weiterzu-gehen, wo doch der Schlitten leicht ihre schnellsteGangart erreichen konnte.

Aber Duncan glaubte den Worten des Regul nicht,empfand über die Anwesenheit von Regul tiefstesMißtrauen. Galey ging nicht von selbst, stand da undwartete auf seinen Wink; und mit großen Befürch-tungen kletterte Duncan auf die Ablagefläche deskleinen Fahrzeuges. Er machte Platz für Galey, der

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sich zu ihm gesellte und die Ausrüstung vorsichtigauf seinem Schoß hielt. Das Fahrzeug vollführte hol-pernd eine langsame Drehung auf dem Sand.

»Sie müssen bei unserer Maschine gelandet sein«,brüllte ihm Galey ins Ohr. Duncan begriff, was ermeinte: Regul überall in ihrem Flugzeug, das sie nichtgesichert hatten, weil es hier keinen lebenden Feindgegeben hatte, mit dem sie vernünftigerweise hättenrechnen müssen. Er verfluchte sich selbst für dieseübergroße Zuversicht.

Sie waren beide bewaffnet. Die Regul waren nichtbei Sinnen, wenn sie glaubten, in einer direkten Kon-frontation menschliche Reflexe übertreffen zu kön-nen. Aber es war eine Tatsache, daß die Regul solcheJunglinge wie diese hier bedenkenlos zu opfernpflegten.

Und die Verehrung Bai Hulagh hatte sie geschickt– Hulagh, dessen Furcht vor den Mri eine Besessen-heit war und für Mord ausreichte.

Duncan faßte Galey am Arm, benutzte das Systemvon Handsignalen für Notsituationen im Weltraum.Vorsicht. Feinde.

Freunde, signalisierte Galey zurück, widersprachhoffnungsvoll. Natürlich gab es ein funktionierendesAbkommen, das äußerste an höflicher Zusammenar-beit überall in der Kesrith-Basis. Galey war verwirrt.Die Menschen mochten die Regul nicht, aber ›Feinde‹war ein Begriff, der nicht mehr gebraucht wurde.

Schwierigkeiten möglich, erwiderte Duncan. Aufpas-sen!

Schießen? wollte Galey wissen.Möglich, antwortete Duncan.Der Landschlitten rumpelte mit einer ordentlichen

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Geschwindigkeit dahin, schnell genug, d a ß sie i h r eMühe hatten, auf der Ablage sitzenzubleiben. Aber wasin Kesriths Atmosphäre ein langer und mörderischerGang gewesen wäre – und wahrscheinlich ein Nacht-lager –, wurde eine relativ kurze und bequeme Fahrt.

Duncan versuchte, seine Befürchtungen innerlichwegzurationalisieren, es für möglich zu halten, daßaus den verschlungenen Pfaden der Regul-Motiveheraus diese Regul versuchten, sie zu beschützen, ausFurcht vor Stavros' Mißvergnügen über ihren Verlust.

Er konnte sich nicht überzeugen. Sie waren alleinmit den Regul, weit weg von jeder Hilfe.

Sie umrundeten die Biegung und sahen, daß tat-sächlich ein Regul-Flugzeug neben ihrem eigenengelandet war. Sie fuhren direkt darauf zu. Duncanzog an den Riemen in Galeys Händen, übernahm dieAusrüstung wieder selbst – die gesamte –, rollte sichdann, nachdem er Galey zugenickt hatte, ab und lan-dete auf den Füßen im Sand – eine Bewegung, dieden schweren Regul nicht möglich war.

Sie hatten bereits einen beträchtlichen Teil derStrecke zur Sicherheit ihres Flugzeuges hin zurück-gelegt, bevor der Regul-Fahrer reagierte und denSchlitten umdrehte, um ihnen den Weg zu versper-ren; und weitere Junglinge kamen die Rampe ausdem Regul-Flugzeug herab.

»Alles in Ordnung mit Ihnen? Sind Sie gefallen?«fragte der Regul-Fahrer.

»Nein«, sagte Duncan, »kein Problem. Wir kehrenjetzt zur Basis zurück. Vielen Dank.«

Es funktionierte nicht. Die anderen Junglinge gin-gen schwerfällig um sie herum, schlossen sie ein, lä-chelten mit klaffender Freundlichkeit und versperrten

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ihnen dabei gleichzeitig den Weg.»Ah«, sagte Suth Horag-gi und stieg aus dem

Schlitten. »Sie haben Bilder gemacht. Mri-Schätze?«»Eigentum von Stavros«, sagte Duncan mit schnei-

dener Stimme, und mit der Schnelligkeit, die er alsmenschlichen Vorteil gegenüber den langsamen Re-gul kennengelernt hatte, rammte er einen Junglingmit der Schulter beiseite, durchbrach den Kreis undging rasch auf die Rampe ihres eigenen Flugzeugeszu, mißachtete einen Jungling, der versuchte, ihn zuüberholen.

»Viel Glück«, sagte dieser eine mit der angemesse-nen Junglingsunterwürfigkeit. »Viel Glück bei Ihrersicheren Rückkehr, Kose Sten Duncan.«

»Ja, danke für Ihre Anteilnahme. Meine Empfeh-lungen an die Verehrung Bai Hulagh.«

Er sprach auf Regul, wie der Regul die menschlicheSprache gebraucht hatte. Er rammte den schweren,ungeschickten Jungling mit brutaler Kraft, die für ei-nen Regul fast überhaupt nicht schmerzhaft war. DerStoß warf ihn etwas aus dem Gleichgewicht, undDuncan ging an ihm vorbei. Galey, der fast rannte,holte ihn auf der Rampe ein.

Sie gingen an Bord und entdeckten einen weiterenJungling im Flugzeug.

»Hinaus«, befahl Duncan. »Kehren Sie bitte in Ihreigenes Flugzeug zurück. Wir starten jetzt gleich.«

Der Regul blickte zweifelnd und bequemte sichendlich dazu, an ihnen vorbeizugehen, vollzog dasLufteinsaugen, das unter Regul als Höflichkeit er-achtet wurde, lächelte dieses klaffende Lächeln undwatschelte mit vornehmem Mangel an Eile die Ram-pe hinab.

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Duncan setzte die Ausrüstung auf den Boden undschlug auf den Schalter, der die Rampe einfahren ließ,noch in demselben Moment, in dem der Jungling vonihr war; während Galey die Tür schloß und das Raddrehte, das sie versiegelte.

Duncan entdeckte, daß er zitterte. Er dachte, daß esGaley genauso ging.

»Was wollten sie?« fragte dieser, seine Stimme eineSpur zu schrill.

»Unser Flugzeug durchsuchen, bevor wir starten«,meinte Duncan. »Alles untersuchen, das man sabotie-ren könnte.« Und Galey streifte die Atemmaske abund den Sichtschutz und fluchte leise, starrte ihn an,warf dann beides zur Seite und machte sich an dieArbeit, fing an, die Schalttafeln und ihre inneren Sy-steme mit größter Vorsicht zu untersuchen.

Er fand nichts, das nicht stimmte, auch nicht beisorgfältigster Inspektion. »Ich wünschte, wir könntenetwas finden«, meinte er, und Duncan stimmte deminbrünstig zu. Die Regul warteten immer noch drau-ßen.

Galey startete die Motoren, probierte die Kontrolleaus und drehte das Flugzeug langsam, ließ es einpaar Fuß über den Boden abheben und folgte einemKurs, der das Regul-Flugzeug rachsüchtig mit Staubbedeckte und die außerhalb befindlichen Regul be-dächtig krabbelnd und stolpernd Deckung suchenließ.

Als dienstälterer Offizier hätte ihm Duncan dafüreinen Verweis erteilen sollen, aber er tat es nicht. Erlehnte sich ins Polster zurück, während das Flugzeugemporstieg, biß die Zähne zusammen und hielt diePolsterung mit solcher Kraft im Griff, daß, als er es

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erkannte – lange nachdem sie eine Höhe erreichthatten, die ausreichend war für andere Möglichkei-ten, wenn etwas schiefging –, seine Finger taub warenund tiefe Eindrücke im Polster hinterlassen hatten.

»Nervenkrieg«, sagte er zu Galey. »Nervenkrieg –oder was immer sie vorhatten, sie hatten nicht genugZeit.«

Galey betrachtete ihn. Er hatte Aufkleber von ei-nem halben Dutzend Welten am Ärmel seines An-zugs, so jung er auch war. Aber er war erschreckt,und es war eine Story, die unter dem regulären Mili-tär der SABER die Runde machen würde, dieses Zu-sammentreffen mit Regul.

»Das ist Stavros' Angelegenheit«, unterrichtete ihnDuncan um seinetwillen, nicht wegen der Regul undnicht einmal wegen Stavros. »Je weniger Lärm dar-um, desto besser. Nehmen Sie mich als Beispiel.«

Sein Ruf war, das wußte er, unter den Regulärenweitverbreitet: der ObTak, der den Kopf verlorenhatte, der hysterisch geworden war und einen Ver-bündeten von hohem Rang des Mordes angeklagthatte. Zweifellos würde das für immer in seinem Be-richt stehen, außer, wenn Stavros eingriff oder er aufKesrith so hoch befördert wurde, daß der Bericht ihmnicht mehr schaden konnte – und das war im Mo-ment unwahrscheinlich.

Galey schien ihn zu verstehen und deswegen ver-legen zu sein. »Ja, Sir«, sagte er ruhig. »Ja, Sir.«

Die Lichter der Kesrith-Basis kamen schließlich insBlickfeld. Sie umkreisten das Gebiet nach der Lande-möglichkeit in größter Nähe der FLOWER und setztenauf, riefen die Sicherheit mit dem Dringlichkeitscode.Duncan löste die Schnallen und holte die Photo-

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Ausrüstung aus ihrer gepolsterten Aufbewahrung imSchrank neben der Tür. Galey öffnete die Luke undließ die Rampe ausfahren, und Duncan schritt hinabzur bewaffneten Eskorte von der menschlichen Si-cherheit und verspürte dabei solch eine Erleichte-rung, daß ihm die Knie weich wurden.

Jenseits des Feldes sah er ein anderes Flugzeugherankommen, nahe der Nom-Seite des Flugfeldes,wo die Regul ihrer eigenen Autorität am nächstensein mochten.

Ein Sicherheitsagent versuchte, Duncan die Ausrü-stung aus der Hand zu nehmen. »Nein«, sagte Dun-can scharf, und dieses eine Mal gab die Sicherheitnach.

Irgendwo verlor er Galey, vermißte ihn im Ge-dränge und bedauerte, den Regulären nicht höflichverabschiedet zu haben, ihn, der so fähig gewesenwar. Aber vor ihm lag die Rampe der FLOWER, dieoffene Luke mit ihrem Lichterschein in der umgeben-den Nacht. Er ging zwischen den Männern von derSicherheit ins Schiff und die Korridore entlang zurWissenschaftssektion.

Boaz wartete dort, im weißen Kittel und unruhig.Da die Ausrüstung schwer war, reichte er sie ihr nichtdirekt, sondern legte sie auf den Tisch.

Danach gab es für ihn nichts mehr damit zu tun. Erhatte seinen Auftrag für die menschliche Macht aufKesrith vollendet und das verkauft, was für die Mridas Kostbarste auf der Welt war. Das Wissen davon,auch von dem Ovoid, das hier hinter Türen mitStimmschlössern lag, war in menschlichen Händenund nicht in denen der Regul, und das war unter denUmständen das Beste, was er hatte tun können.

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Die Mehrheit des Personals der FLOWER hatte sichnach der ersten Aufregung durch den Erhalt der Auf-zeichnungen zur Nacht begeben. Die Laboratorien wa-ren wieder geschlossen, die reduzierte Nachtmann-schaft war im Dienst. Das Schiff zeigte sich nachtsvon einer anderen Seite, eine geisterhafte Ruhe außerdem Flüstern der Maschinen und der Ventilation,ganz anders als die hektische Aktivität in seinen en-gen Korridoren bei Tag.

Duncan fand die Aussicht auf ein Bett, eine ruhigeNacht in seinem eigenen sicheren Quartier und einBad (selbst das chemische Abschrubben, das unterder Rationierung erlaubt war) außerordentlich at-traktiv nach einer dreistündigen Befragung. Es war0100 Uhr nach lokaler Zeit, der Zeit, nach der er lebte.

Die späte Stunde hinderte ihn nicht daran, in diemedizinische Sektion hinabzusteigen und in NiunsZimmer stehenzubleiben. Es gab weder Tag nochNacht für den Mri, der schlaff dalag und trotz der anseinen Gliedern angewandten Therapie durch denEinfluß der Beruhigungsmittel verfiel. Luiz hatte ver-sprochen, eine Verringerung der Sedation in Erwä-gung zu ziehen; Duncan hatte mit ihm über diesenPunkt hitzig gestritten.

Er erhielt jetzt keine Antwort, als er den Mri an-sprach. Er packte Niuns Schulter und schüttelte ihnsanft, haßte es, zu fühlen, wie hinfällig der Mri wur-de.

Spannung kehrte in die Muskeln zurück. Der Mriatmete tiefer, bewegte sich gegen die Gurte, die ihn

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ständig festhielten, und seine goldenen Augen öffne-ten sich, halb bedeckt durch die Nickhaut. Die Mem-bran zog sich zurück, aber nicht gänzlich. Die Ein-stellung der Augen war unkoordiniert und ihr Blickverwirrt.

»Niun«, flüsterte Duncan – dann laut: »Niun!«Der Kampf dauerte an, und doch schien der Mri

seiner Anwesenheit kaum bewußt zu sein, trotz desGriffes seiner Hand. Es war etwas anderes, etwas In-neres, das Niun beschäftigte, und die großen golde-nen Augen waren erschreckt geweitet.

»Niun, hör auf! Ich bin Duncan. Duncan ist bei dir.Sei ruhig und sieh mich an!«

»Duncan?« Der Mri war plötzlich ohne Kraft, dieBrust hob und senkte sich heftig vor Erschöpfung, alssei er von einem unmöglich fernen Ort hergelaufen.»Die Dusei sind verloren.«

Solche Phantasterei war mitleiderregend. Niun warein Mann von klarem Verstand und mit schnellen Re-flexen. Jetzt sah er völlig verstört aus. Duncan hieltseinen Arm, und da er den Stolz der Mri kannte, zoger eine Ecke der Bettdecke über dessen untere Ge-sichtshälfte, eine Verhüllung, hinter der sich der Mristets sicherer fühlte.

Langsam, langsam kehrte der Verstand in diesenfremden Blick zurück. »Laß mich gehen, Duncan!«

»Ich kann nicht«, sagte er elend. »Ich kann es nicht,Niun.«

Die Augen fingen an, wieder ihren Brennpunkt zuverlieren, wegzugleiten. Die Armmuskeln fingen an,sich zu lockern. »Melein«, sagte Niun.

»Sie ist in Sicherheit.« Duncan preßte die Hand zu-sammen, bis sie sicherlich schmerzte, versuchte, ihn

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zum Zuhören zu zwingen. Aber der Mri war wiederin seinen Traum zurückgesunken. Sein Atem gingrasch. Sein Kopf wandte sich im Delirium von einerSeite zur anderen.

Und schließlich wurde er wieder ruhig.Duncan ließ Niuns Arm los und ging, zuerst lang-

sam, dann schneller. Das Seltsame an diesem Vorfallschmerzte ihn; aber Niun kämpfte gegen die Sedati-on, kam immer stärker aus ihr heraus, hatte ihn er-kannt, hatte mit ihm gesprochen. Vielleicht hatte Luiz– der Gedanke kam ihm – die Höhe der Sedation demfremden Stoffwechsel angepaßt, war vernünftigergewesen, als er sich im Streit über dieses Thema ge-zeigt hatte.

Er ging zur Hauptschleuse, zu dem Wachtposten,der das Kommen und Gehen aller beobachtete, diedas Schiff betraten und verließen. Er unterschrieb imLogbuch und reichte den Stift zurück.

»Anstrengende Sitzung, Sir?« fragte die Nachtwa-che, aus Sympathie, nicht aus Neugier. Tereci kannteihn.

»Ein bißchen, ein bißchen«, sagte er und blinzelteTereci mit Augen an, die, wie er wußte, rot waren,und betastete sein Kinn, das unrasiert war. »Nach-richt für Luiz, sobald er aufwacht: ich möchte sorasch wie möglich mit ihm sprechen.«

»Aufgezeichnet, Sir«, sagte Tereci und kritzelte esauf das Nachrichtenblatt.

Duncan ging auf die Schleuse zu, erwartete, daßTereci sie für ihn öffnete. Er tat es nicht.

»Sir«, sagte Tereci, »Sie sind nicht bewaffnet. DieBestimmungen.«

Duncan fluchte erschöpft, erinnerte sich an den

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gültigen Befehl für Personal, das nachts hinausging.»Können Sie mir Handwaffen heraussuchen?«

»Unterzeichnen Sie«, sagte Tereci, öffnete einenSchrank und reichte ihm eine Pistole, wartete, wäh-rend Duncan seinen Namen auf ein anderes Formularsetzte. »Es tut mir leid«, meinte Tereci, »aber hier warin der Nacht einiges los. Auch abgesehen von den Be-stimmungen ist es besser, etwas bei sich zu tragen.«

»Regul?« wollte Duncan wissen, aufgeschrecktdurch diese Neuigkeit, die er in den Berichten nichtgelesen hatte. Regul war alles, das ihm unmittelbareinfiel, und wäre er nicht so müde gewesen, wäre erdiplomatischer vorgegangen.

»Tiere, die um die Grenzen der Wachstrahler her-umgeschlichen sind. Sie kommen niemals in derenBereich, aber ich würde nicht unbewaffnet dort hin-ausgehen. Wollen Sie eine Begleitung, Sir? Ich könntejemanden vom Nachtdienst der Sicherheit auftrei-ben...«

»Nicht nötig«, erwiderte Duncan müde. »Nicht nö-tig.« Er war aus dem Freien gekommen, und obwohldamals bewaffnet, hatte er niemals an den Einsatzvon Waffen gedacht. Er war in Gesellschaft von Mridurch das Land gegangen. Er beachtete keine War-nungen von seiten dieser Menschen, die auf die Si-cherheit der FLOWER und des Nom angewiesen wa-ren, die niemals das Land gesehen hatten, das zu be-setzen sie gekommen waren.

Sie konnten inmitten von Sil'athen stehen und esdoch niemals sehen, die Menschen von Galeys Art –solide, anständige Menschen. Die nicht staunenkonnten.

Er schnallte sich die Pistole um, ein schweres Ge-

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wicht, ein Angriff auf den müden Rücken, widmeteTereci ein müdes Dankeslächeln und ging hinaus indie kalte, ätzende Luft. Ein Geysir war respektlos na-he an der FLOWER ausgebrochen. Der Dampfmachte die Luft feucht und neblig. Duncan sog sie tiefein, kümmerte sich nicht um ihren fauligen Geruch,war dankbar dafür, seinen Weg allein zurückzulegen,schweigend, ohne Galey. Er hatte Kopfschmerzen,stellte er gerade fest. Er ließ sich Zeit und empfandnichts als Freude an der Nacht unter dem größerenvon Kesriths Monden, mit kalter Luft und glitzerndenSternen; und weit, weit jenseits der Ebenen beleuch-teten Lampen die Geysire, die fast ständig spien. DasLand hatte sich in ein kochendes und unbegehbaresHindernis verwandelt, das die Zugänge zu den Rui-nen der Mri-Türme bewachte, die bisher nur die un-erschrockensten von Boaz' Forschern aus der Luft ab-getastet hatten.

Stahl klang unter seinen Stiefeln, die Vergitterung,die die Oberfläche des Straßendammes befestigte. Eswar das einzige Geräusch. Er blieb stehen, nur um füreinen Moment völlige Stille zu erleben, und ließ denBlick über den gesamten Horizont schweifen, dasglitzernde Wasser des Alkali – Meeres, die Lichter derStadt, die dampfenden Geysire, die Kämme jenseitsder FLOWER.

Etwas schlurfte über Stein und röchelte. Das Ge-räusch ergriff sein Herz und hielt es eingeschnürt. Erhörte es wieder, wirbelte herum und sah einen vier-füßigen Schatten, der von einem Kamm herabwat-schelte.

Er traf auf die Wachstrahler und scheute zurück,brüllte vor Angst. Dann stieg er vor dem Himmel auf

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die Hinterbeine, erreichte die doppelte Höhe einesausgewachsenen Menschen, ein großes Tier mit lan-gen Klauen.

Die Dusei sind verloren, hatte Niun gesagt.Duncan stand mit klopfendem Herzen still. Er ver-

suchte, die von diesen großen Allesfressern, diesenEingeborenen von Kesrith ausgehende Gefahr einzu-schätzen. Die Klauen waren giftig und stark genug,um einen Menschen in Fetzen zu reißen. Dieses Tierprobierte den Strahl erneut, dann noch einmal,mochte das vermittelte Gefühl nicht, hatte aber nurein Ziel im Sinn.

Ein zweites Tier erschien oben vor dem Abhangund kam herab. Die Scheinwerfer der FLOWERleuchteten auf und fügten sich zu dem Durcheinan-der, die Luke ging auf und Menschen strömten her-aus.

»Halt!« schrie Duncan. »Nicht weiter! Nicht schie-ßen!«

Das Dus warf sich wieder in den Strahl, schob seineMasse vorwärts, und diesmal spielten die Energiendes Abwehrsystems nutzlos über seine mächtigenFlanken. Es brach durch, richtete sich auf und schriestöhnend, ein hohler Schrei, der an den Wänden vonKesriths Nom widerhallte.

Ein Gewehrstrahl durchschnitt die Dunkelheit.»Nicht schießen!« schrie Duncan.Das zweite Tier brach durch, Lichter prasselten

über seine Flanken, und es stank nach angesengtemFell. Sie drängten sich aneinander, die beiden Ein-dringlinge, ein Rumpf am anderen, und fuhren fort,sich nervös hin- und herzuwiegen. Niuns Tiere.

Duncan sah, wie sie auf die Rampe zugingen, auf

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die offene Tür, wo Menschen standen – sah das Feuervon Schüssen. Die Tiere scheuten zur Seite.

»Nein!« rief er, und die Tiere zogen sich zurück,drehten sich um und kamen auf ihn zu, schnüffeltenin der Luft. Hinten an der Luke schrien ihm Männeretwas zu. Sie konnten nicht schießen; er war zu nahbei den Tieren. Scheinwerfer fuhren über sie hinwegund blendeten. In ihrer neugierigen Sturheit küm-merten die Dusei sich nicht darum. Sie kamen heran,die Klauen schabten über das Netzwerk des Bodens,die Köpfe gesenkt – bärenartige Monster mit schrä-gen Schultern, beinahe komisch in ihrem abwesendenVerhalten.

Das größere Dus stieß ihn mit der Nase an,schnaufte geräuschvoll durch seine Boxernase. Dun-can stand reglos, das Herz klopfte so heftig, daß ihmdas Blut durch die Adern raste. Das Tier stieß ihn an,keineswegs freundlich, und er fiel nicht um. Es stießmit der Nase an seine Hand und untersuchte sie mitdem beweglichen Inneren der Lippe.

Und sie drehten vor ihm Kreise, erst das eine, danndas andere, veränderten ihre Stellung in einem selt-samen Ballett, immer zwischen ihm und den Män-nern mit den Gewehren, wobei sie tiefe, stöhnendeSchreie hervorstießen. Er verpfändete sein Leben undsetzte sich in Bewegung, entdeckte, daß sie mit ihmgingen. Er blieb stehen, und sie taten dasselbe.

Es waren sicherlich Niuns Tiere, die den langen,harten Weg von Sil'athen bis hier zurückgelegt hatten– ein Weg, der für sie viel viel weiter war als für dieMaschinen der Menschen. Und mit unheimlicher Ge-nauigkeit hatten sie Niun gefunden, über Hundertevon Meilen Wüste hinweg, und hatten den Ort her-

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ausgefunden, wo er eingesperrt war.Duncan hatte Mri mit Dusei arbeiten sehen, hatte

die Reaktionen der Tiere beobachtet, so empfänglichfür die Stimme und die Gesten eines Mri. Er hatte ge-sehen, wie der Mri das Tier anblickte und das Tierreagierte, als bestünde ein unausgesprochenes Über-einkommen zwischen ihnen.

Er spürte, wie sie ihn berührten, die Hitze ihrer ge-waltigen, samtpelzigen Körper an ihn weitergaben. Eswar fast unmöglich, sie zu töten, die Dusei, die immunwaren gegen d ie Gifte von Kesriths Raubzeug, unge-heuer stark, freundlich und komisch bei ihrem schein-bar gedankenverlorenen Umgang mit Schwierigkeiten.Er fühlte sich für einen Moment benommen durch dieNähe der Tiere, ihre Wärme, seine so große Erschöp-fung; für einen Augenblick fürchtete er sich vor denMännern mit den Gewehren, vor den Lichtern.

Er dachte an Niun, und wieder trat eine Benom-menheit ein, ein Begehren, überwältigend stark,warm, bestimmt.

Die Männer, die Lichter, die Gewehre.Schrecken/Begehren/Schrecken.Er blinzelte und legte eine Hand auf einen der

warmen Rücken, entdeckte, daß er unkontrolliertzitterte. Er fing an, langsam zu gehen, auf den offe-nen Eingang zu, auf die Crew von der Sicherheit, dieihre Gewehre im Anschlag hielt, Gewehre, die demmassiven, langsamen Körper eines Dus nur wenigantun konnten, seinem aber viel.

Er fühlte den Geschmack von Blut und Hitze.»Nein!« sagte er zu den Dusei. Sie wurden ruhig.Er blieb in müheloser Rufweite vom Sicherheits-

personal stehen.

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»Gehen Sie da weg!« rief ihm einer zu. »Gehen Sieda weg!«

»Gehen Sie wieder hinein«, sagte er, »und ver-schließen Sie alle Korridore außer denen, die hinab zuden Frachträumen führen! Geben Sie mir einen Wegzu einem sicheren Abteil für sie! Beeilen Sie sich!«

Sie blieben nicht stehen, um darüber zu diskutie-ren. Zwei eilten hinein, zweifellos, um sich mit Vor-gesetzten zu beraten. Duncan blieb bei den Dusei, je-dem eine Hand auf den breiten Rücken gelegt, undberuhigte sie. Sie spürten Niun und Melein. Siewußten Bescheid. Sie wußten Bescheid.

Er war bei ihnen sicher. Es waren die Männer mitden Gewehren, die er fürchten mußte. »Machen Siedie Tür frei!« forderte er die verbliebenen Männervon der Sicherheit auf. »Sie sind keine Gefahr fürmich. Sie gehören den Mri.«

»Duncan?« Das war Boaz' weibliche Stimme, schrillund ängstlich. »Duncan, verflixt, was geht hier vor?«

»Sie sind wegen Niun gekommen. Es sind seineDusei. Diese Geschöpfe – sind halbintelligent, viel-leicht mehr als nur halb. Ich möchte die Erlaubnis ha-ben, sie hineinzubringen, bevor sie jemand erschießt.«

Es gab ein wildes Durcheinander von Besprechun-gen. Duncan wartete und streichelte die beidenmächtigen Rücken. Die Dusei hatten sich gesetzt, sa-ßen wie Hunde. Auch sie warteten.

»Kommen Sie!« rief Boaz. »Bug-Frachtraum Num-mer Eins, Abteilung für Ausrüstungen. Er ist frei.«

Duncan stieß für die Dusei den tiefen Laut hervor,den er Niun hatte äußern hören, und ging weiter. DieDusei erhoben sich wieder auf die Füße und gingenweiter, ganz beiläufig, als wäre es für sie eine alltägli-

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che Sache, menschliche Schiffe zu betreten. Aber keinMensch war geblieben, um ihnen gegenüberzutreten:selbst Boaz floh, als die Neugier von der Klugheitüberwältigt wurde, und nichts grüßte sie außer ver-schlossenen Türen und leeren Korridoren.

Sie gingen, sie drei, einen sehr langen Weg hinab,ohne Lifts zu benutzen, einen Weg, der für die Duseischwer zu begehen war – gingen vorbei mit einemlangsamen, gemessenen Klicken der Klauen auf demBoden. Duncan hatte keine Angst. Es war unmöglich,Angst zu haben, wenn man solche Wesen als Beglei-ter hatte. Sie hatten ihn gesucht und fürchteten ihnnicht; und obwohl im Hintergrund seines Bewußt-seins der Verstand versuchte, ihm einzuschärfen, daßer zu recht Angst vor den Tieren gehabt hatte, fing eran, sich dessen sicher zu sein, daß die Tiere völligeinverstanden mit dem waren, was er tat.

Er betrat den Frachtraum und liebkoste die zu ihmhingestreckten Nasen, die stoßenden schweren Köp-fe, die ihm mit weniger Freundlichkeit die Rippenzerschmetterten oder das Rückgrat brechen konnten;und wieder überkam ihn dieses Schwindelgefühl,diese Sicherheit, daß er ihnen etwas gegeben hatte,was ihnen gefiel.

Er zog sich zurück und verschloß die Türen undzitterte danach, als er daran dachte, was er getanhatte. Nahrung, Wasser, andere Bedürfnisse hattensie im Moment nicht. Sie hatten hereingewollt, unddurch ihn hatten sie es erreicht.

Er floh, als die Furcht ihn überflutete. Er keuchte,als er die letzte Strecke zum medizinischen Flügelrennend zurücklegte. Er sah die Tür, durch die erwollte – verschlossen, wie alle anderen Türen wäh-

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rend der Alarmsituation. Er öffnete sie von Hand undschloß sie wieder.

»Sir?« fragte der diensthabende Posten.»Sind sie wach?« fragte Duncan, rauh und heftig.

Der Posten sah verwirrt aus.»Nein, Sir, ich glaube nicht.«Duncan schob sich an ihm vorbei, öffnete die Tür

und blickte auf Niun. Die Augen des Mri waren aufdie Decke gerichtet. Duncan trat ans Bett und packteheftig Niuns Arm.

»Niun. Die Dusei sind gekommen.«Feiner Schweiß bedeckte die Stirn des Mri. Die gol-

denen Augen blickten in die Unendlichkeit.»Sie sind hier!« schrie Duncan ihm fast zu. Niun

blinzelte.»Ja«, sagte er. »Ich spüre sie.«Und danach antwortete Niun auf nichts mehr, rea-

gierte auf nichts, und die Augen gingen zu, und erschlief mit entspanntem und ruhigem Gesichtsaus-druck.

»Sir!« fragte der Posten und betrat den Raum ent-gegen gültiger Befehle. »Soll ich jemanden rufen?«

»Nein«, sagte Duncan rauh. Er drängte sich an demMann vorbei, ging hinaus auf den Flur und machtesich auf den Weg zu den oberen Schiffsdecks. DasInterkom meldete sich, der Alarm wurde aufgehoben.Er hörte, daß Boaz dringend nach ihm rief.

Er erinnerte sich hinterher nicht mehr an den Weghinauf, zur Gänze eine leere Stelle in seinem Bewußt-sein, als er den Bereich der Schleuse erreichte und dieängstlich wartende Boaz fand. Er fürchtete solcheZeitspannen, erinnerte sich an das Verschwimmender Wahrnehmungen, das ihn zuvor überfallen hatte.

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»Sind das Haustiere?« wollte Boaz von ihm wissen.»Es – scheint so. Für die Mri sind sie es. Sie sind...

ich weiß nicht... Ich weiß es nicht.«Boaz musterte ihn kritisch. »Für heute sind Sie fer-

tig«, sagte sie. »Keine weiteren Fragen. Wenn sie si-cher untergebracht sind, keine Fragen.«

»Niemand soll da runtergehen. Sie sind gefähr-lich.«

»Niemand wird sich ihnen nähern.«»Sie sind halbintelligent«, sagte er. »Sie haben die

Mri gefunden. Über die ganze Wüste hinweg undunter all diesen Bauwerken hier haben sie sie gefun-den!«

Er zitterte. Sie berührte seinen Arm, die blonde,plumpe Boaz, und in diesem Moment war sie dasschönste und freundlichste Geschöpf auf ganz Kes-rith. »Sten, gehen Sie nach Hause!« sagte sie. »GehenSie in Ihr Quartier und ruhen Sie sich aus! Einer derSicherheitsoffiziere wird Sie begleiten. Gehen Sie hierhinaus!«

Er nickte, maß seine Kraft gegen die Entfernungzum Nom und kam zu dem Schluß, daß ihm genugverblieben war, um sein Zimmer zu erreichen, ohneins Taumeln zu geraten. Er wandte sich um, blind-lings, ohne ein Dankeswort für Boaz, erinnerte sich annichts, bis es zur Tür hinaus und halb die Rampe hin-ab war, an seiner Seite ein Mann von der Sicherheitmit einem Gewehr in der Armbeuge.

Die mentalen Lücken erschreckten ihn. Müdigkeit,vielleicht. Er wünschte, das glauben zu können.

Aber er hatte sich nicht bewußt dazu entschlossen,die FLOWER mit den Dusei zu betreten.

Er hatte sich nicht entschlossen.

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Er zog sein Bewußtsein weg, weit weg von denDusei, kämpfte gegen eine schwindelnde Rückkehrzu der Wärme ihrer Berührung.

Ja, hatte Niun gesagt, ich spüre sie.Ich spüre sie.Er redete mit dem Mann von der Sicherheit, etwas,

um die Stille zu überwinden, redete von banalenDingen, von sinnlosen Dingen, mit undeutlicherSprache und ohne spätere Erinnerung an das, was ergesagt hatte.

Daß kein Schweigen herrschte, war nur erforder-lich, bis er in der hellerleuchteten Sicherheit des Nomwar, in dessen echoerfüllten Hallen, wo es nach Regulund Menschen roch.

An der Tür verabschiedete sich die Wache von ihm,drückte ihm ein Plastikfläschchen in die Hand. »EinRat von Dr. Luiz«, sagte er.

Duncan fragte nicht, was die roten Kapseln dar-stellten. Sie töteten seine Träume, betäubten seineSinne, ermöglichten es ihm, zu ruhen, ohne sich anetwas zu erinnern.

Er erwachte am nächsten Morgen und stellte fest,daß er das Licht nicht gelöscht hatte.

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4

Stavros, der außerhalb seines Schlittengehäuses saß, inder Zurückgezogenheit seines eigenen Quartiers, sahwie ein Mann aus, der nicht geschlafen hatte. Auf demSchreibtisch vor ihm lag ein dicker Hefter mit Papieren,zerknittert und zerlesen: die Arbeit von Tagen, ihnanzufertigen; die Arbeit einer Nacht, ihn zu lesen.

Duncan sah ihn und wußte, daß dies eine Ausgabeseiner Arbeit war, der Stunden, die er mit demSchreiben und Überarbeiten dessen verbracht hatte,das nur ein Mann, dessen war er sicher jemals lesenwürde. Berichte, die nicht an Boaz oder Luiz gehenwürden, nicht einmal an die Sicherheit: dies würdeniemals Eingang in die Berichte finden, wenn esStavros' Absichten zuwiderlief.

»Setzen Sie sich!« sagte Stavros.Duncan tat, wie geheißen, Gegenstand der Muste-

rung durch Stavros' blasse Augen, auf einer Höhe mitseinen. Er hatte nicht das Gefühl, etwas vollbracht zuhaben, vielmehr, alles getan zu haben, was ihm zu tunoblag, und daß e r damit wahrscheinlich gescheitertwar, wie alle anderen Dinge es nicht geschafft hatten,bei Stavros etwas zu ändern. Er hatte sich mit diesemBericht mehr abgemüht als mit jeder anderen Aufbe-reitung einer Mission zuvor. Und noch während derArbeit hatte er eine verzweifelte Angst verspürt, daßalles umsonst sein könnte, daß man ihn nur dazuaufgefordert hatte, um seine Proteste zu beschwichti-gen, und daß Stavros es halbgelesen weglegen würde.

»Dieser sogenannte Mri-Schrein«, sagte Stavros.»Sie wissen, daß die Regul darüber beunruhigt sind.

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Sie haben Angst. In ihrem Denken verbinden sie alldiese Mri-Sachen miteinander: den Schrein, das Arte-fakt, die Tatsache, daß wir uns bemühen, zwei Mriam Leben zu halten – und nicht zuletzt Ihren Einfluß.Das alles formt sich zu einem Muster, das ihnen nichtgefällt. Wissen Sie, daß die Regul behaupten, Sie undGaley gerettet zu haben?«

Duncan fluchte fast, erstickte es. »Das stimmt nicht.«»Erinnern Sie sich, daß Ihre Lage da draußen einem

Regul verzweifelt erscheinen mußte. Ein Regul hättediese Strecke nicht gehen können. Es wurde Nacht,und sie haben schreckliche Angst vor der Dunkelheitin der freien Wildnis. Sie behaupten, das gelandeteFlugzeug ausgemacht und sich daraufhin um Ihre Si-cherheit Sorgen gemacht zu haben; daß sie versuchthaben, über unsere Mannschaften bei ihren For-schungsarbeiten zu wachen, aus Furcht, ihnen könnteetwas zustoßen, für das die Regul vielleicht verant-wortlich gemacht würden.«

»Glauben Sie das wirklich, Sir?«»Nein«, sagte Stavros rundweg. »Ich schreibe es

eher der Neugier zu. Im besonderen Hulaghs Neu-gier. Er hat ein mörderische Angst vor dem, was dieMri tun könnten, vor allem, worin sie ihre Hand ha-ben. Ich denke, er ist völlig besessen von der Furcht,daß einige überleben und ihn zur Rechenschaft zie-hen könnten. Ich bin offen zu Ihnen. Dies ist nicht fürOhren außerhalb dieses Zimmers gedacht. Jetzt sagenSie mir eines: gab es einen Zusammenstoß, irgendeineoffenkundige Drohung von Seiten der Regul, die Siegetroffen haben?«

»Sie legten keine Hand an uns. Aber unsere Sa-chen...«

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»Ich habe das gelesen.«»Ja, Sir.«»Sie haben gut genug reagiert«, sagte Stavros mit

einem leichten Stirnrunzeln. »Ich denke jedoch, daßhier ein bestimmtes Interesse an Ihnen persönlich an-gedeutet wird, wie auch an den Mri-Relikten. Ichdenke, daß Ihre Anwesenheit sie dorthin gelockt hat.Und wenn ich Ihnen nicht Galey mitgegeben hätte,hätten Sie einen Unfall haben können. Sie haben Vor-sichtsmaßnahmen vernachlässigt.«

»Ja, Sir.«»Sie werden Sie töten, wenn sie können. Ich kann

mich damit befassen, nachdem es passiert ist, aber ichkann es nicht verhindern. Nicht, solange Sie in be-quemer Reichweite für sie sind. Und warum dieserSchrein, Duncan? Warum dieses Artefakt?«

»Sir?«»Warum glauben Sie, war das so wichtig? Warum

haben die Mri ihr Leben riskiert, um diesen Ort auf-zusuchen und das Ding zu holen?«

Duncan gestikulierte unbestimmt zu dem Berichtauf dem Schreibtisch. »Religion. Ich habe erklärt...«

»Sie waren in diesem sogenannten Schrein. Ich ha-be die Bilder gesehen, die Sie herausgebracht haben.Glauben Sie wirklich, daß das eine Stätte der Anbe-tung ist?«

»Sie ist wichtig für Sie.« Er wußte nichts anderes zusagen. Andere Schlüsse konnten aus den Photos ge-zogen werden: Computerbänke, Waffen, Kommuni-kationsanlagen – all die Möglichkeiten, vor denen sichdie Regul fürchteten, die die Verbündeten der Regulzu fürchten haben würden.

»Sie haben recht: sie ist wichtig für sie. Boaz hat Ihr

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Ei aufgeschlagen, Duncan. Das Ding ist offen.«Das erschütterte ihn. Er hatte das für unwahrschein-

lich gehalten – hatte gedacht, daß wenn e s geöffnetwerden mußte, dazu die Hilfe und Kooperation derMri nötig sein würde; daß darüber verhandelt wer-den könnte. Aber Boaz' plumpe Hände, die mitPunktsonde und Kontaktbürste arbeiteten, mit all denMöglichkeiten der FLOWER-Techs unter ihrem Kom-mando – sie hatten Erfolg gehabt, und jetzt war denMri nichts mehr geblieben, das ihnen gehörte.

»Ich hatte nicht gedacht, daß das so rasch möglichsein würde«, sagte Duncan. »Was sagte der Bericht,war es...?«

»Ist. Was es ist. Boaz sagt, daß es zum Öffnen be-stimmt war, ohne Schwierigkeiten für jemanden mitder richtigen Technik, und es gab einige Gewißheit,daß es keine Waffe ist, was Ihre Bilder für meine Be-griffe bestätigten. Es ist eine Art Aufzeichnungsgerät.Der linguistische Teil ist unklar – es gibt da eine Artgeschriebener Aufzeichnungen; und es gibt keinender die Mri-Sprache fließend beherrscht, der dieSchrift entziffern kann. Aus offenkundigen Gründenwollen wir die Regul nicht konsultieren. Aber es gibtda auch numerische Daten, in Symbolen, die dazuentworfen sind, von jedermann leicht entziffert wer-den zu können; es gibt dazu sogar einen graphischenSchlüssel. Ihr heiliger Gegenstand, Duncan, und die-ser sogenannte Schrein, sind eine Art Aufbewah-rungsstätte für Aufzeichnungen, und die wollten siehaben, waren ihnen wichtiger als ihr Leben. WelcheArt Unterlagen können so wichtig sein?«

»Ich weiß nicht.«»Numerische Aufzeichnungen. Serien von numeri-

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schen Daten. Welche Art von Unterlagen kommt Ih-nen da in den Sinn?«

Duncan schwieg für einen Moment. Aufgrund sei-ner begrenzten Erfahrungen kam ihm nur eine Sachein den Sinn. »Navigationsunterlagen«, sagte er schließ-lich, weil Stavros darauf wartete, solch eine Antwortzu hören.

»Ja. Und ist es nicht merkwürdig, daß sie so einDing haben wollten, wenn sie kein Schiff haben?«

Duncan saß da und bedachte die verschiedenenMöglichkeiten, und nur über wenige davon war dasNachdenken angenehm.

»Dadurch wird ein weiterer Gedanke widerlegt«,meinte Stavros, »daß die Mri ihre ganze Technologievon den Regul hatten, daß sie Analphabeten warenund kein eigenes technisches Wissen hatten.« Ersuchte ein Photo heraus, das mit dem Bild nach untenauf dem Tisch lag, schob es herüber. »Von dem Arte-fakt, zehnfache Vergrößerung.«

Duncan studierte es. Es zeigte eine goldene Plattemit eingravierten Symbolen, im Detail sehr komplex.Es wäre sogar eine sehr feine Arbeit gewesen, wenndas Original so groß gewesen wäre wie das Bild.

»Eine Platte nach der anderen«, sagte Stavros,»wertvoll nur wegen des Metalls. Boaz vertritt dieTheorie, daß sie nicht alle von einer Hand angefertigtwurden, und daß die erste dieser Serie sehr alt ist.Techniken von großer Verfeinerung oder viel Geduld,eines von beiden, und als dauerhaft vorgesehen. Manhat mir berichtet, daß diese Mathematik sehr kompli-ziert ist; man hat auf Computer zurückgegriffen undversucht, die Serie als Navigationsband zu duplizie-ren und einen Bezugspunkt dafür zu finden. Selbst so

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scheint es über unsere Möglichkeiten hinauszugehen,eine sorgfältige Analyse durchzuführen. Wir werdenvielleicht gezwungen sein, auf die Laboratorien vonHaven zurückzugreifen, und das wird Zeit dauern.Sehr viel Zeit. Aber Sie bleiben dabei, nicht gewußtzu haben, was sich da in Ihren Händen befand.«

»Ja, Sir.« Er begegnete Stavros' Blick, ohne zurück-zuweichen was die einzig mögliche Verteidigungwar. »Ich wußte es damals nicht, und ich bin mirnicht einmal jetzt sicher, daß die Mri es wußten.Vielleicht sind sie von eigenen Auftraggebern ge-schickt worden und hatten keine Vorstellung, war-um. Aber ich stimme damit überein, daß sie es sehrwahrscheinlich doch wußten.«

»Können Sie es aus ihnen herausholen?«»Nein. Nein, ich denke nicht.«»Sie scheinen ein Schiff erwartet zu haben – wenn

dieses Band das ist, was es zu sein scheint.«»Ich denke nicht, daß sie das getan haben. Sie

wollten den Planeten verlassen, ja, aber sie habennichts erwartet. Das ist ein Gefühlsmäßiges Urteil,das auf dem allgemeinen Ton dessen beruht, was siesagten und taten, aber ich glaube daran.«

»Möglicherweise ein sehr wertvolles Urteil. Abervielleicht begehen sie nicht Ihren Fehler, Duncan, alleRegul als gleich anzusehen. Die Mri hatten speziellmit Doch Holn zu tun; Alagn ist Holns Rivale; undHoln... Holn hat Schiffe.«

Kälte senkte sich vom Gehirn in den Magen. DasArgument war einleuchtend. »Ja, Sir«, sagte Duncanruhig. »Aber das wäre eine Frage der Kontaktauf-nahme.«

»Der sogenannte Schrein – ist eine Möglichkeit.«

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»Nein.«»Wieder ein gefühlsmäßiges Urteil?«»Dasselbe Urteil. Die Mri sind erledigt. Sie wissen

das.«»Das sagt Alagn; vielleicht sagen es auch Ihre Mri.

Vielleicht lügt keiner von beiden. Aber Regul sagenmanchmal nicht alles, was sie wissen. Vielleicht hal-ten es die Mri genauso. Vielleicht haben wir nicht dierichtigen Fragen gestellt.« Mit zitternder Hand hobStavros eine Tasse und trank, setzte sie wieder ab.»Die Mri sind Söldner. Stehen Ihre zur Anwerbung?«

Die Frage bestürzte ihn. »Möglich. Ich weiß nicht.«»Ich denke, daß alle Regul davor Angst haben. Ich

denke, daß das eines von verschiedenen Dingen ist,vor denen Hulagh verzweifelt Angst hat, daß er, woer die Mri verloren hat, feststellen müßte, daß dieMenschheit sie nun besitzt. Und sie benutzt. Was istihr üblicher Preis. Wissen Sie das?«

»Nein.« Er betrachtete Stavros und entdeckte die-sen merkwürdigen, halb spöttischen Umgang mit derWahrheit. Er legte das Bild auf den Schreibtisch zu-rück. »Was schlagen Sie vor?«

»Gar nichts. Ich frage mich nur, wie gut Sie die Mrikennen.«

»Darüber haben wir nicht diskutiert.«»Nach Ihren Unterlagen sind Sie ein geschickter

Pilot.«Er blickte Stavros ausdruckslos an.»Richtig?« fragte dieser.»Wenn es in den Unterlagen steht.«»Die Operationen bei Elag/Haven erforderten et-

was interstellare Navigation.«»Ich hatte ein völlig automatisiertes Schiff. Ich kann

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mit system-interner Navigation umgehen; aber fürdie Transit-Operationen war alles auf Band.«

»Das ist recht gut für das, mit dem wir es hier zutun haben, nicht wahr?«

Duncan wußte für einige Momente nichts zu sagen.»Läuft das alles irgendwie zusammen?« wollte er

schließlich wissen. »Worauf wollen Sie wirklich hin-aus?«

»Übernehmen Sie die Verantwortung für die Mri.Nehmen Sie das Artefakt, das Ei. Sie sagen, daß Siemit den Mri umgehen können. Oder ist das letztend-lich nicht so?«

Duncan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legteAbstand zwischen sich und den alten Mann undholte mehrmals tief Atem. Er kannte Stavros, aber –fiel ihm plötzlich ein – nicht gut genug.

»Haben Sie Zweifel?« fragte Stavros.»Jeder vernünftige Mensch würde Zweifel haben.

Nehmen Sie die Mri und machen Sie was? Was solldas mit der Navigation?«

»Ich frage Sie, ob Sie wirklich denken, daß Sie mitden Mri umgehen können.«

»In welcher Hinsicht?«»Ob Sie mehr herausfinden können als das, was Sie

mir in Ihrem Bericht sagen. Ob Sie mit Gewißheit fürKesrith feststellen können, daß die Mri kein Problemsein werden oder daß Holn nicht noch mehr von ih-nen in der Hand hat.«

Duncan beugte sich wieder vor, stützte die Armeauf die Vorderseite von Stavros' Schreibtisch, wußtenur zu gut, daß Täuschung im Spiel war. Er blickteStavros in die Augen und war sich dessen sicher, sohöflich und unschuldig Stavros' Ausdruck auch war.

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»Sie lassen sich von meinem Rat nicht beeinflussen.Sie wollen mich blind wegschicken, und da ist nochetwas anderes im Gang. Kann ich erfahren, worum essich da handelt? Oder soll ich raten?«

Sie hatten eng nebeneinander gelebt, hatten geteilt,er und der alte Mann. Er stützte sich verzweifelt aufdiese Tatsache, erkannte Übelnahme und ein langsa-mes Nachgeben in Stavros' Ausdruck. »Zwischenuns«, sagte Stavros.

»Zwischen uns.«Stavros runzelte die Stirn, seine Lippen zitterten

vor Anspannung. »Ich möchte die Mri von Kesrithweg haben, sofort. Ich werde die FLOWER zur Stati-on hinaufschicken, wo sie ungehindert ihre Arbeitfortsetzen kann. Die Regul sind äußerst nervös wegender Mri seit Ihrem Besuch in Sil'athen. Und es istnicht ausgeschlossen, daß in naher Zukunft ein Re-gul-Schiff ankommt. Hulagh sagt, daß sein Doch be-unruhigt sein wird, da er seinen Plan mit einem Schiffnicht eingehalten hat, das ihm von ihrer zentralenOrganisation anvertraut wurde. Sein Verlust wird einschwerer Schlag für Alagn sein. Und er macht sichSorgen. Er regt sich ständig über das Thema Mißver-ständnisse auf und fordert eine Möglichkeit für sich,den Planeten zu verlassen, um seinen Schiffen entge-genzufliegen. Wenn hier Regul-Schiffe ankommen,möchte ich nicht, daß eines von unseren auf derOberfläche erwischt wird. Ich denke, die FLOWERaufsteigen zu lassen, wird die Chance eines Zwi-schenfalls minimal halten. Die SABER und dieHANNIBAL verfügen über Schilde, die zusammenausreichen, die Station und die Forschungsschiffe zuschützen, wenn es Probleme geben sollte. Aber wenn

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die Mri irgendwo für die Regul erreichbar sind, kannes leicht Schwierigkeiten geben. Die Regul reagierenpanisch, wo es um die Mri geht.«

»Das habe ich erlebt«, sagte Duncan bitter.»Ja«, sagte Stavros. »Der Bai hat wiederholt nach

dem Artefakt gefragt. Ich wage zu behaupten, daß ernicht gut schläft. Wenn Sie ein Schiff, die Mri und dasEi zu Ihrer Verfügung hätten, Duncan, denken Sie,daß Sie die Natur dieser Aufzeichnungen herausfin-den könnten?«

Duncan stieß langsam den Atem heraus. »Allein?«»Sie würden den Originalgegenstand dabeihaben.

Die Mri würden zweifellos darauf bestehen; und wirhaben das Objekt in Holos vervielfältigt – also riskie-ren wir nicht mehr als den Museumswert des Stük-kes, so beträchtlich der auch sein mag. – Unter denUmständen ein vernünftiges Risiko.« Stavros nahmeinen langen Schluck und setzte die Tasse mit einemverräterischen Klappern auf dem Tisch ab. Sein Atemging schwer. »Nun?«

»Sagen Sie mir offen«, meinte Duncan, »worum esdabei geht. Wie weit. Wohin. Welche Wahlmöglich-keiten?«

»Keine Zusicherungen. Keine eindeutigen Verspre-chungen. Wenn die Mri Holn-Unterstützung suchen,werden Sie das Schiff verlieren, Ihr Leben – was auchimmer. Ich bin bereit, auf Ihre Überzeugung zu set-zen, daß sie es nicht tun werden. Sie können heraus-finden, was das für ein Band ist und vielleicht – viel-leicht – mit den Mri verhandeln. Sagen Sie es mir!Wenn Sie denken, daß es unmöglich ist, sagen Sie es!Aber auf die Computer von Haven zurückzugreifen,wird Monate dauern, ein Jahr – während hier auf

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Kesrith die Regul-Mri-Frage über uns hängt und wirkeine Idee haben, was für einer Sache wir da gegen-überstehen. Wir müssen Bescheid wissen.«

»Und wenn ich ablehne?«»Ihre Mri würden sterben. Keine Drohung: Sie wis-

sen, wie das läuft. Wir können sie nicht gehenlassen;sie würden die Regul erwischen oder die Regul sie.Wenn wir sie behalten, wie sie sind, werden sie ster-ben. Das war immer so.«

Das entsprach natürlich der Wahrheit.»Mehr als das«, meinte Stavros, »wir alle sitzen hier

auf Kesrith an der Front. Und da gibt es noch dieVertragsangelegenheit, bei der es um mehr geht alsKesrith. Sie schätzen das richtig ein, da bin ich sicher.Sie sagten, daß Sie vernünftig mit ihnen reden kön-nen. Sie haben das gesagt. Ich gebe Ihnen Ihre Chan-ce.«

»Das stand nicht im Vertrag. Ich habe keinen au-ßerplanetarischen Aufträgen zugestimmt.«

Stavros blieb reglos. Duncan blickte ihm in die Au-gen, war sich voll dessen bewußt, was der Vertragauf kolonialem Gebiet wert war – daß sein Einver-ständnis in Wirklichkeit nur eine Formalität war.

»Es ist eine Aufgabe für einen ObTak«, meinteStavros schließlich. »Aber halten Sie sich raus, wennSie nicht glauben, daß Sie es schaffen können.«

»Ein Schiff«, sagte Duncan.»Da ist das Forschungsschiff FOX. Unbewaffnet.

Auch Einschließmöglichkeiten, wenn es Probleme anBord geben sollte. Aber ein einzelner Mann kann essteuern.«

»Ja, Sir. Ich kenne die Klasse.«»Boaz wird gerade mit den Holos fertig. Die FLO-

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WER startet heute nachmittag zur Station, egal wieSie sich entscheiden. Wenn Sie Zeit brauchen, um zuüberlegen, kann eine Fähre Sie später zur Station hin-aufbringen, aber nehmen Sie nicht zuviel Zeit in An-spruch, um zu einer Entscheidung zu kommen.«

»Ich werde gehen.«Stavros nickte langsam und atmete langsam aus.

»Gut«, sagte er, und das war alles.Duncan stand auf, ging durch den Raum zur Tür,

blickte sich um. Stavros sagte nichts, und Duncanging hinaus mit einer Mischung aus Groll und Be-dauern gleichermaßen.

Er mußte seine Ausrüstung zusammenpacken,mehr nicht. Er hatte sein ganzes Leben unter diesenBedingungen verbracht. Es würde etwa fünf Minutendauern.

Regul starrten ihn an, während er durch die Hallezu seinem Zimmer ging, waren immer noch interes-siert, als er mit seinem persönlichen Gepäck über derSchulter zurückkam – eine Last trug, was weder Re-gul noch Mri tun würden: die Regul nicht ohne eineMaschine, und die Mri – niemals.

Sie alle sperrten den Mund auf, was bei Regul einLächeln sein konnte – und, dachte er, es war ein Lä-cheln der Freude, weil sie erkannten, daß er fortging.

Der Mri-Mensch, hatte er sie ihn nennen hören,und Mri war wie ein Fluch ausgesprochen worden.

»Leben Sie wohl, Mensch!« rief ihm einer zu. Erignorierte es, wußte, daß sie ihm nicht aus Freund-lichkeit Lebewohl wünschten.

Für einen Moment verspürte er Traurigkeit, als erdraußen über den Straßendamm ging. Er blieb stehenund betrachtete die Berge mit der Vorahnung, daß es

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zum letztenmal geschah.Ein Mensch konnte Kesrith nicht gänzlich lieben:

nur die Dusei mochten das tun. Aber hiernach gab esfür Duncan nur die kalte, sterile Umwelt von Schif-fen, wo es keinen giftigen Wind gab, keine Erde unterden Füßen, und wo Arain ein naher und deshalb ge-fährlicher Stern war.

Er hob sein Bündel wieder über die Schulter undging über das hallende Gitterwerk zur herabgelasse-nen Rampe. Er wurde erwartet. Diesmal unterzeich-nete er an Bord als Mannschaftsangehöriger, ein nurdeswegen unvertrautes Gefühl, weil es nicht die Er-wartung bevorstehenden Kampfes gab. Alte Ängsteergriffen von ihm Besitz. Normalerweise würde ihnsein erster Gang zu dem Reiterfahrzeug führen, daser gezogen hatte, um es zu inspizieren und vorzube-reiten für das Hinabstoßen in was auch immer die Be-fehlszentrale für ihn verfügt hatte.

»Kabine 245«, unterrichtete ihn der diensthabendeOffizier und gab ihm seine Plakette als zutrittsbefug-ter Mannschaftsangehöriger. Eine dumme Formalitätdort – hatte er immer gedacht –, wo die Mannschaftso klein war, daß jeder jeden vom Sehen her kannte.Aber jetzt ging es zur Station, einer größeren Welt,wo sich die Mannschaften von zwei großen Kriegs-schiffen, zwei Sonden und einem systeminternenReiter durcheinandermischten. Er steckte sich diePlakette an und begutachtete die Zahlen. Seine Ein-weisung lag in der Nähe der Mri. Zumindest damitwar er voll zufrieden.

Er ging hin, um den Aufstieg bei ihnen zu verbrin-gen.

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5

Die Station war tatsächlich eine andere Welt – regul-gebaut, ein Labyrinth spiralförmig verlaufender Tun-nel, wie sie die schlittenfahrenden Regul bevorzug-ten. Alles war automatisiert.

Und das Seltsamste von allem: es gab dort keineRegul.

Nur zwischen Menschen einherzugehen, ihre Spra-che zu hören, die von anderen Menschen geatmeteLuft einzuatmen und niemals durch das Erscheineneines fremden Gesichtes überrascht zu werden – indiesem ganzen ungeheuren Raum: es war, wie überLichtjahre hinweggeworfen zu sein; und doch warKesriths rostfarbene Oberfläche nur den Flug einesShuttle weit entfernt. Die Schirme zeigten sie, einerote Sichel.

Die Schirme zeigten auch die um die Station ver-sammelten Schiffe – in erster Linie die SABER, einekilometerlange Konstruktion, die überwiegend ausEnergie, Instrumenten und Waffensystemen bestandund eine überraschend kleine Besatzung hatte: nurzweihundert kümmerten sich um dieses monströseSchiff. Schirme machten es stark genug, um Angriffenzu widerstehen, aber es würde niemals auf einer Weltlanden. Die FLOWER und die FOX waren an denSeiten der SABER befestigt hergebracht worden, wiedie SANTIAGO vom Kriegsschiff HANNIBAL getra-gen worden war, wie winzige Parasiten an den Flan-ken der Kriegsschiffe, obwohl die FLOWER und dieFOX auch unabhängig sternflugtauglich waren. Ge-genwärtig hatten die Sondenschiffe fast unbemerkt

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im schwarzen Schatten der SABER angedockt. DieFLOWER hatte sich in die enge Kurve zum Liege-platz direkt unter dem langen Schiff eingeschwun-gen, und ihre Luken und Antennen zeigten wenigmehr als die SABER und die Station selbst.

Und die Station, gewaltig, mit komplexen Spiralen,drehte sich auf ihrer Kreisbahn um Kesrith, einmerkwürdiger Tanz, über den sich Gedanken zu ma-chen der Verstand ins Schwimmen geriet, wenn mandurch das sich drehende Innere ging.

Die meisten Mannschaftsmitglieder benutzten dieSchlitten. Die Entfernungen innerhalb der Station wa-ren beträchtlich, die Schlitten neuartig und furchter-regend schnell, wirbelten mit unbekümmerter Präzi-sion um die Biegungen, vermieden Zusammenstößedurch eine sorgfältige Wegführung mit haarfeinenZwischenräumen.

Duncan ging, soweit gehen möglich war in der we-niger als die normale ge* betragenden Schwerkraftder Station, die für die Bequemlichkeit von Regulentworfen war. Das Schwindelgefühl nährte, zusam-men mit dem fremdartigen Charakter der Korridoreund dem Anblick des unten außer Reichweite be-findlichen Kesrith, seine Depressionen.

»Das ist der, der aus der Wüste zurückkam«, hörteer jemanden hinter seinem Rücken sagen. Daß er so-gar hier als eine Kuriosität galt, noch stärker fehl amPlatz als schon immer unter Regulären, das beendetejeden Anstoß, den er verspürte, sich zu diesen Men-schen zu gesellen. Er war sich der Maske aus ge-

* ge: gravity earth. Erdschwerkraft = Fallbeschleunigung (g) auf

der Erdoberfläche in Meereshöhe.

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bräunter Haut bewußt, des sichtbaren Zeichens einesKel'en-Schleiers, getragen in Arains brennendemLicht. Er empfand sein Gesicht als seltsam nackt unterihren Blicken, spürte, wie sie ihn anstarrten, denMann, der mit den Feinden der Menschheit gelebtund für sie gesprochen hatte.

Am ersten Abend, der für die FLOWER-Besatzungfrei war, ging er in die Messe der Station – und ent-deckte Galey, dessen Gesicht sich bei seinem Anblickdurch ein breites und freundliches Grinsen öffnete;aber Galey, von der SABER, war mit einigen der Offi-ziere von der SABER, seinen Freunden, beisammen,und Duncan fand keinen Platz bei ihnen – der eigen-tümliche Rang eines ObTak war nicht gerade günstigfür den Umgang mit Offizieren der regulären Streit-kräfte. Er aß allein an der automatisierten Bar undging allein zur FLOWER zurück.

Er hatte seine Tour durch die Station gemacht. Daswar genug. Er hatte kein Interesse daran, auch nurdie Merkwürdigkeiten der Regul-Architektur heraus-zusuchen, an denen sich die Männer von den Kriegs-schiffen in ihren Freistunden zu erfreuen schienen.

Er trat in die Schleuse der FLOWER, in die Ver-trautheit, unter Männer, die er kannte, und stieß ei-nen Seufzer der Erleichterung hervor.

»Anschauen gelohnt, Sir?« fragte ihn der dienstha-bende Offizier neidisch: seine Freiheit war verscho-ben worden. Duncan zuckte die Achseln und brachteein Lächeln zustande; seine Stimmung war es nichtwert, an den Regulären der FLOWER ausgelassen zuwerden. »Ein wenig wie das Nom«, antwortete er.»Eine Kuriosität. Sehr regulhaft.«

Und er erhielt aus der Hand des Mannes einen

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Umschlag mit einer Nachricht – von der Art, die häu-fig über diesen Schreibtisch hinwegging.

Er ging zurück zu dem Deck, auf dem sich seinQuartier befand, und öffnete den Umschlag im Ge-hen.

Es war Boaz' Handschrift. Muß Sie dringend spre-chen. Lab Nr. 2.B.

Duncan zerknüllte den Zettel mit der Hand undstopfte ihn in die Tasche, verlängerte seine Schritte:das Mri-Programm und eine Dringlichkeit; wennRennen ihn spürbar früher dorthin gebracht hätte,dann wäre er gerannt.

Labor Nummer Zwei enthielt Boaz' Büro. Sie warda, saß an ihrem Schreibtisch, umgeben von Papierund einem Instrumentenwirrwarr. Sie blickte auf, alser eintrat. Sie war aufgebracht, die blauen Augenwütend auf die Welt gerichtet. Ihr Mund zitterte.

»Setzen Sie sich!« sagte sie, und bevor er es tunkonnte: »Truppen von der SABER sind herüberge-kommen; sie haben die Mri geschnappt, das Artefakt,die persönlichen Dinge der Mri, alles.«

Er sank auf den angebotenen Stuhl. »Sind sie inOrdnung?«

»Ich weiß es nicht. Ja. Ja – sie waren in Ordnung. Siesind für die Überführung in Automeds gelegt wor-den. Wenn sie sie einfach drinlassen, werden sie esfür eine Weile gut genug machen. Stavros' Befehle.Stavros' Befehle, haben sie gesagt.« Sie hob einen ver-schlossenen Zylinder hoch, der mitten auf dem unor-dentlichen Schreibtisch stand und reichte ihn ihm miteinem Blick, der Böses ahnen ließ. »Für Sie. Das ha-ben sie hiergelassen.«

Er nahm die Röhre entgegen, brach das Siegel, zog

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das darin befindliche Papier heraus und las die Nach-richt für sich. Besprochene Voraussetzungen eingetroffen.Besprochene Eventualität eingetreten. Bewahren Sie Ge-duld und Verschwiegenheit. Halten Sie sich bereit. Nach-richt vernichten. Stavros.

Regul-Sorgen: ankommendes Schiff. Die Mri gin-gen fort, weg von der Station, und er mit ihnen, raschgenug. Er blickte Boaz traurig an, rollte die Nachrichtin der Hand zusammen, steckte sie in die Tasche. Erwürde sie später vernichten.

»Nun?« fragte Boaz, die sicherlich wußte, daß siedas nicht fragen sollte; er schwieg. Sie wandte dieAugen ab, schürzte die Lippen und drückte die Fin-ger unter das rundliche Kinn. »Ich gehöre zur Besat-zung eines Schiffes«, sagte sie, »das – unglücklicher-weise – bis zu einem gewissen Grad unter der Kon-trolle der Regierung steht, wenn es darum geht, unsvom Planeten zu schicken oder zu beschlagnahmen,was erklärten Feinden gehört. Zur Zeit und in dieserHinsicht ist diese Kontrolle absolut. Ich persönlichstehe nicht unter Stavros' Befehl, und auch Luiz nicht.Ich sollte das nicht offen sagen: aber ich werde Ihnensagen, daß, wenn Sie persönlich nicht mit der Be-handlung der Mri zufrieden sind, es die Möglichkeitgibt, auf Haven Protest einzureichen.«

Tapfere Boaz. Duncan betrachtete sie mit einemAnflug von Schuldgefühl in seinem Herzen. Sie hattekein Wort verloren über gestrichene Programme,unterbrochene Forschungen, die Beschlagnahme ei-ner Arbeit, die sie mit soviel Sorgfalt und Mühe erle-digt hatte. Die Mri selbst fielen ihr ein. Das war et-was, was er nicht vorhergesehen hatte, und doch sahes ihr ähnlich.

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»Boss«, sagte er – ihr verballhornter Name, wie derStab ihn ihr gegeben hatte. »Ich denke, daß mit ihnenalles in Ordnung ist.«

Sie schnaufte unmutig und lehnte sich zurück. Siesagte nichts, sah aber etwas erleichtert aus.

»Die Dusei haben sie nicht mitgenommen, nichtwahr?« fragte er.

Boaz lächelte plötzlich, lachte grimmig. »Nein. DieTiere wollten sich nicht ruhigstellen lassen. Sie habenes versucht. Es gab keinen Weg für sie, zu den Tierenin den Frachtraum zu kommen. Sie haben den Stabder FLOWER aufgefordert, das zu machen, wurdenziemlich anmaßend dabei. Und Luiz hat ihnen gesagt,sie sollten selbst hinuntergehen und ein Netz über siewerfen. Es gab keine Freiwilligen.«

»Daran zweifle ich nicht«, meinte Duncan. »Ich ge-he besser hinab und sehe nach ihnen.«

»Sie können mir nicht sagen, worum es hier geht?«– »Nein. Es tut mir leid.«

Sie nickte, zuckte die Achseln. »Sie können mirnicht sagen, ob die Dinge sich wohl noch einmal um-kehren.«

»Ich denke nicht, daß sie das tun werden.«Wieder nickte sie. »Na ja«, sagte sie traurig. Das

war alles.Er verabschiedete sich von ihr und ging hinaus,

durch das Labor hindurch, das er in einer Unordnungvorfand, die nichts mit Forschungsarbeit zu tun hatte– kleine Gegenstände, die auf den Regalen gelegenhatten, waren verschwunden; Bücher fehlten.

Die Männer der SABER waren gründlich gewesen.Aber wenn sie die Mri vom Schiff gebracht hatten,

dann mochten die Dusei sich grämen und sterben,

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wie eines, das er sich über einen toten Mri hatte grä-men sehen, das nicht von ihm hatte gehen wollen,wie sehr man es auch drängte.

Er nahm den nach unten führenden Korridor, derihn zum Laderaum führte. Vor lauter Angst hatte erbereits einen Knoten im Bauch, erinnerte sich daran,was sie im Schmerz alles tun konnten. Er war seit je-ner ersten Nacht bei ihnen gewesen, hatte ihnen Nah-rung und Wasser gebracht, und sie hatten mit Zufrie-denheit darauf reagiert. Aber jetzt waren sie vonFremden gestört und angegriffen worden; und dieFurcht vor diesem Gefühl, das ihn schon einmalüberwältigt hatte, war so stark wie jede Furcht vorvergifteten Klauen.

Die Empfindung trat nicht wieder auf. Er betratden Laderaum hoch oben auf der Laufplanke und sahauf die braunen Gestalten hinab, die dort unten kau-erten, und stieg vorsichtig zu ihnen herunter, fürch-tete sie und war doch entschlossen, dem nicht nach-zugeben. Die Regul hatten bekannt, daß die Duseiunter synthetischem Protein gediehen, was unter denVorräten der Station reichlich vorhanden war; daß sietatsächlich alles fressen würden, was man ihnen an-bot – was vermutlich Menschen und Regul einschloß,wie er Luiz hatte bemerken hören.

Die Luft war bemerkenswert frisch, ein sauberes,wenn auch den ganzen Laderaum durchsetzendesAroma, nicht so ausgeprägt wie bei den anspruchs-vollen Regul. Die Tiere waren sehr reinlich in ihrenGewohnheiten und bemerkenswert selten in ihrennotwendigen Funktionen, hatten einen Flüssigkeits-stoffwechsel, den Boaz und Luiz außerordentlich in-teressant fanden, und eine Verdauung, die Flüssig-

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keiten und Nahrungswert allem entzogen, was anpflanzlichen oder tierischen Stoffen erhältlich war,und sie gaben praktisch fast keine Abfallprodukte herim Vergleich mit der Masse, die sie aufnahmen. DieRegul hatten reichlich Informationen über sie, dennauf Regul-Schiffen waren Kel'ein und Dusei für vieleJahre gehalten worden. Dusei schienen während lan-ger Einsperrung zu schlafen, wenn sie sich einmalniedergelassen hatten und zufrieden waren. Im all-gemeinen nahmen Dusei die Lebenserhaltungssyste-me eines Schiffes weniger in Anspruch als Menschen,Mri oder Regul.

Es war ihre furchterregende Größe, die sie zu un-bequemen Gefährten machte – die Gewißheit, daß ab-solut nichts getan werden konnte, wenn eines von ih-nen Amok laufen sollte.

Duncan trat von der letzten Stufe der Treppe undsah, wie beide Dusei mit einem durchdringendenStöhnen aufstanden, das im gesamten Laderaum wi-derhallte. Sie standen Schulter an Schulter, die Nü-stern arbeiteten, rochen den Fremden. Ihre kleinenAugen, die vielleicht nicht allzu scharf waren, glit-zerten im Licht. Das größere von beiden war ein mit-genommenes, zernarbtes Tier – Duncan hielt es fürNiuns eigenes; und er glaubte auch, daß er auch daskleinere, geschmeidigere kannte, eines, das sie einmalbegleitet hatte.

Das größere kam mit seiner taubenzehigen Gangartherbei, betrachtete Duncan von Kopf bis Fuß undstieß rollend ein tiefes Schnurren hervor, das Freudeüber die Begegnung bekundete. Das kleinere kamund stieß mit der breiten Nase drängend gegen Dun-cans Bein.

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Er setzte sich zwischen ihnen auf eine der unterenStufen, und die großen Tiere ließen ihre gewaltigeMasse zu seinen Füßen nieder, so daß sie sich be-rührten. Er streichelte die samtpelzige Haut – bemer-kenswert angenehm, dieser Samt über Muskeln. KeinGeräusch war zu hören außer dem Knurren derDusei, ein monotones, friedliches Geräusch.

Sie waren zufrieden. Sie akzeptierten ihn, akzep-tierten einen Menschen wegen Niun, weil sie ihn inNiuns Begleitung erlebt hatten, dachte er, obwohl sieseine Berührung verabscheut hatten, solange Niundabei war. Als er einmal einen Fluchtversuch unter-nommen hatte, hatten die Dusei ihn gejagt, in die Ek-ke getrieben und die ganze Zeit mit einem Schreckenerfüllt, den er als eine ihrer Waffen zu begreifen be-gann.

Es wundert mich, daß sie dich nicht getötet haben, hatteNiun in jener Nacht gesagt.

Duncan wunderte sich jetzt, daß sie so ruhig wa-ren, nach dem, was ihnen angetan worden war,nachdem Menschen sie gequält hatten bei dem Ver-such, sie ruhigzustellen. Der Stoffwechsel der Duseiabsorbierte jedoch Gifte, und vielleicht auch die Dro-ge, mit der man versucht hatte, sie zu betäuben. Siehatten augenscheinlich keinen Schaden genommen,legten nicht einmal eine Verhaltensstörung an denTag.

Weder Menschen noch gänzlich Tiere waren dieDusei, sondern vierbeinige Halblinge, Geschöpfe desSchattens, die an der Natur von beiden teilhatten –die sich den Mri angeboten hatten, ohne sich zu un-terwerfen: sie waren Gefährten der Mri, nicht derenEigentum. Duncan bezweifelte, daß die Menschheit

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einen solchen Handel akzeptieren konnte. Die Regulkonnten es nicht.

Er saß da, zufrieden damit, zu berühren und be-rührt zu werden, und ruhig; in jener Nacht hatte ernicht gewußt, ob es richtig war, die Dusei auf dasSchiff zu lassen – jetzt schien es sehr richtig zu sein.Er entdeckte plötzlich, daß er voller Wärme war – dieer empfing. Er wußte alles auf einmal, wußte, wel-ches ihn so berührte, das kleine Tier, das kleine, dasimmer noch die dreifache Masse eines ausgewachse-nen Mannes hatte. Es schnurrte in einem stetigen,betäubenden Rhythmus, entzog ihm alle Leiden-schaft, wie das Wasser dem Erdboden von Kesrithdas Salz stahl und es seewärts entführte.

Es ertränkte sie, überwältigte sie.Er zuckte plötzlich erschrocken zurück; und das

mochten die Dusei nicht. Sie schnaubten und wichenzurück. Er konnte sie nicht wiedergewinnen. Ge-trennt standen sie da und betrachteten ihn mit klei-nen und glitzernden Augen.

Kälte strömte in ihn hinein, das Bewußtsein seinerselbst.

Sie waren aus eigenem Antrieb gekommen, hattenihn benutzt: sie hatten es gewollt – und er hatte ihnenZugang verschafft; und immer noch brauchte er sie,sie und die Mri, sie und die Mri...

Er fing sich und kletterte die engen Stufen hinauf,schwitzend und angespannt, als er die Sicherheit desLaufsteges erreichte. Er blickte hinab. Eines von ihnenrichtete sich hoch auf und streckte die Tatzen aus. Alses aufschrie, ließ seine Stimme die Luft erzittern.

Er warf sich durch die Tür, versiegelte und ver-schloß sie mit zitternden Händen. Sie war nicht ratio-

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nal, diese Furcht. Sie war nicht rational. Sie benutztensie. Es war eine Waffe. Und sie waren jetzt dort, wosie sein wollten: auf der Station, die Kesrith umkrei-ste, und in der Nähe der Mri. Er hatte alles getan, wassie wollten. Er würde es wieder tun, weil er siebrauchte, den beruhigenden Einfluß brauchte, den sieauf die Mri haben konnten, die von ihnen Behaglich-keit gewannen, die sich auf sie verließen. Er fing an,über sein Einschätzungsvermögen hinaus Veränder-lichkeiten anzunehmen.

Aber er konnte sie nicht verlassen.Die Gedanken schlichen sich in ihn hinein, die pa-

nische Furcht und die tief im Magen liegende Gewiß-heit, daß etwas nicht stimmte. Er bemerkte, daß ihnvor etwa zehn Schritten im Korridor ein Mann ge-grüßt hatte, drehte sich zerstreut um und versuchte,die Unhöflichkeit wiedergutzumachen, aber es warzu spät; der Mann war weitergegangen. Duncanhüllte sich in seinen inneren Aufruhr und ging wei-ter, Hände in den Taschen, zerknüllte die dort hin-eingesteckten Nachrichten, die von Boaz und die vonStavros, zu immer kleineren Knäueln.

Zur Hölle mit dir, Niun! dachte er heftig und fragtesich, ob er noch ganz beisammen war wegen des blo-ßen Verdachtes, den er hegte. Die Dusei konnten, wasimmer sie auch waren, nicht seine bewußten Gedan-ken erreichen; es war eine tiefe Ebene, auf der sie sichbewegten, eine elementare, sinnliche und empfin-dende Ebene – möglicherweise konnte sich einMensch dagegen wehren, wenn er seine Furcht vorihnen und seine Abhängigkeit von ihnen meisterte:das war sicherlich der Keil, den sie benutzten, umsich Eintritt zu verschaffen, Furcht und Vergnügen,

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entweder das eine oder das andere. Es war ein schö-nes Gefühl, einem Dus zu gefallen; es war bedrohlich,eines aufzubringen.

Und doch hatten die Forscher das nicht mitbe-kommen. Bei ihren Beobachtungen der Tiere hattensie nichts dergleichen aufgezeichnet.

Vielleicht hatten die Tiere nicht zu ihnen gespro-chen.

Duncan schloß die Tür seines eigenen kleinenQuartiers, gegenüber den jetzt leeren Abteilen derMri, und fing an zu packen, faltete die Kleider zu-sammen, von denen er nur wenige ausgepackt hatte.

Als er damit fertig war, setzte er sich auf den Stuhlan seinem Schreibtisch und verschlüsselte einen An-ruf zur SABER über die Kommunikationskanäle derFLOWER.

Überführung der Dusei möglich und notwendig, teilteer dem Kommandanten der SABER mit.

Halten Sie sich bereit, kam die Antwortnachricht.Und einen. Moment später: Vorsprechen bei Saber-Kommando schnellstmöglich.

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6

Es war nichts Außergewöhnliches daran, wenn einObTak an Bord eines Militärschiffes ging; sollte es ei-gentlich nicht, aber die Gerüchte machten unter derBesatzung rasch die Runde. Duncan vermutete dasaufgrund der Blicke, die ihm zugeworfen wurden,während er zum Kommandanten eskortiert wurde:eskortiert, ohne die Erlaubnis, sich frei zu bewegen,mit Mannschaftsangehörigen Worte auszutauschen.Selbst das Interkom schwieg, eine unübliche Stille aufeinem Schiff wie der SABER.

Er wurde ins zentrale Stabsbüro geführt, keineKommandostation, und direkt vor die Augen desamtierenden Befehlshabers über die militärischenOperationen in der Zone von Kesrith R. A. Koch.Duncan fühlte sich unbehaglich bei der Begegnung.ObTaks hatten auf dem Papier einen Rang, der aus-reichte, den Gehorsam von Seiten der regulärenLaufbahn sicherzustellen, und dieser Umstand wurdebitter übelgenommen, um so mehr, weil die Speziali-sten diese Privilegien mit völliger Verachtung derEtikette und Würde der regulären Offiziere zur Schaustellten: der unter dem Galgen zur Schau gestellteMut ihres meist kurzlebigen Dienstes. Duncan er-wartete keine Höflichkeit; aber Kochs Stirnrunzelnschien von Gedanken herzurühren, nicht von Feind-seligkeit, dem üblichen Ausdruck seines narbigenGesichtes.

»Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, ObTakDuncan.« Der Akzent war der eines Haveners, wiebei den meisten, die nach Kesrith gekommen waren,

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die Flotte des noch jüngst bedrohten Elag/Haven.»Sir«, sagte er. Er war nicht eingeladen worden,

sich zu setzen.»Wir stehen unter Druck«, meinte Koch. »Ein Schiff

der Regul ist im Anflug, die SIGGRAV. Glücklicher-weise scheint es ein Doch-Alagn-Schiff zu sein. BaiHulagh hat die Mannschaft warnend darauf hinge-wiesen, Zurückhaltung an den Tag zu legen; undwahrscheinlich wird es hier andocken. Die Regul sindausgelassen. Sehen Sie zu, daß Sie mit Ihren Mri soschnell wie möglich wegkommen. Sie werden dieSonde FOX erhalten. Wahrscheinlich sind Ihre In-struktionen im Augenblick klarer als meine.« Ein Sta-chel des Mißtrauens an dieser Stelle, des Unmutsüber Stavros: Duncan spürte es deutlich. »Die Mann-schaft der FOX wird im Moment überführt: einigesind da ziemlich aufgebracht. Die SIGGRAV ist nochein Stück entfernt. Der Ausgang dieser Operation istfür Sie eine Frage des Starts, sobald Sie fertig sind.«

»Sir«, sagte Duncan, »ich möchte die Dusei. Ichkann mit ihnen umgehen; ich werde mich darumkümmern, daß sie auf die FOX gebracht werden. Ichmöchte auch die Mri-Handelsgüter, die auf der Stati-on lagern, soviel, wie sie mir zu verladen helfen kön-nen.«

Koch runzelte die Stirn, und diesmal geschah esnicht in Gedanken. »In Ordnung«, sagte er nach ei-nem Moment. »Ich werde sofort eine Abteilung dafüreinsetzen.« Er betrachtete Duncan lange, währenddieser sich wieder dessen bewußt wurde, daß seinGesicht durch die Sonnenbräunung einer Hälfte ge-kennzeichnet war, daß der Admiral jemanden sah,der in mehr als nur einem Sinn ein Fremder war. Hier

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war eine Macht, die der von Stavros gleichkam, einMitarbeiter, der nicht unter Stavros' Befehl stand, au-ßer wo es politische Entscheidungen betraf. Und dieEntscheidung, mit der die FOX Kochs Kommandoentzogen wurde und die zur Überbemannung seineseigenen Schiffes mit unzufriedenen, kürzlich über-führten Mannschaften und Wissenschaftlern führte,paßte Koch nicht. Er sah nicht wie ein Mann aus, derdaran gewöhnt war, solche Einmischung zu akzeptie-ren.

»Ich werde fertig sein, Sir«, sagte Duncan ruhig,»wenn ich gerufen werde.«

»Am besten gehen Sie jetzt zur FOX hinüber undbleiben dort«, sagte Koch. »Wenn sie losfliegt, wirdhier der Druck nachlassen. Sie werden Ihre Vorrätebekommen; wir werden bei den Dusei so gut helfenwie wir können. Höchste Eile wird gewürdigt.«

»Danke, Sir«, sagte Duncan. Er wurde entlassen,verabschiedete sich, nahm von der Tür an seine Es-korte wieder mit.

Koch hatte vierzig Jahre über den Mri zugebracht,rechnete Duncan; er sah alt genug aus, um den Kriegseit dessen Ausbruch miterlebt haben zu können, undzweifellos empfand er nicht die geringste Zuneigungfür diese Rasse. Man konnte von keinem Havener,der erlebt hatte, wie seine Welt von den Regul zurük-kerobert worden war, erwarten, daß er irgendeinMitgefühl für die Regul hegte oder die Mri-Kel'ein,die ihre Befehle ausgeführt hatten.

Dasselbe konnte vielleicht von den Kiluwanern ge-sagt werden, wie Stavros einer war; aber das abgele-gene Kiluwa an der Grenze des menschlichen Sied-lungsbereichs hatte einen anderen Schlag hervorge-

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bracht, keine Kämpfer, sondern ein eigensinnigesVolk, das sich der Vernunft, der Wissenschaft undder Analyse widmete – ein wenig, hatte man anneh-men müssen, wie die Regul selbst. Überrannt, zer-streuten sie sich und suchten vielleicht nie wieder dieRückkehr. Die Havener waren leichter zu verstehen.Sie haßten einfach. Es würde lange dauern, bis sie mitdem Hassen aufhörten.

Und der Krieg hatte auch Menschen wie ihn hin-terlassen, tausende wie ihn, die nicht wußten, was siewaren oder von welcher Welt sie stammten: kriegs-geboren, kriegsorientiert. Der Krieg war sein ganzesLeben; er hatte ihn durch die Flucht vor den Feindenimmer wieder in Bewegung gebracht, eine Serie vonFlüchtlingskinderhorten auf Rückzugsplaneten, mitmüden, überarbeiteten Frauen; und dann in Schulen,die ihn nicht auf Wirtschaft und Handel vorbereite-ten, sondern auf die Front. Sein Akzent war unbe-stimmbar, ein Gemisch aller Orte, an denen er gelebthatte. Er hatte keine Heimat. Jetzt hatte er keine ande-re Bindung mehr als die an seine menschliche Ab-stammung.

Und sich selbst.Und, mit beträchtlichen Vorbehalten, den ehren-

werten G. Stavros.Er verließ die SABER über die Rampe auf das

breite Dock hinab, ließ seine Eskorte zurück, bliebstehen, um sich den Verkehr von Männern und Frau-en zu betrachten, die mit ihren eigenen Belangen be-schäftigt waren.

Havener.Reguläre.

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In der Kommandozentrale der FOX fand sich Duncanzwischen sämtlichen Offizieren des Schiffes wieder,unglücklich dreinblickende Männer und Frauen, diemit pflichtgemäßem Anstand Höflichkeiten aus-tauschten.

»Versiegelte Befehle«, unterrichtete ihn der schei-dende Kapitän. »Mission ohne Besatzung. Das ist al-les, was ich weiß.«

»Es tut mir leid deswegen«, bot ihm Duncan unge-schickt sein Mitgefühl an.

Der Kapitän zuckte die Achseln, was zweifellosweit weniger zeigte, als der unglückliche Mann fühl-te, und streckte die Hand aus. »Man hat uns eine an-dere Sonde versprochen, die im Anflug ist. Die FOXist ein gutes Schiff und in gutem Zustand – ein biß-chen ungewiß, was die Atmosphäre angeht, abertrotzdem ein gutes Schiff. Wir gehören zur SABER,und dieser steht auch die Ersatzsonde zu, sobald siehereingebracht worden ist. Also werden wir sie be-kommen, das ist sicher genug. Ich beglückwünscheSie zu Ihrem Kommando, ObTak Duncan – oder meinBeileid, was eben eher zutrifft.«

Duncan akzeptierte das Händeschütteln und be-schäftigte sich im Geist bereits mit der Frage, was dieversiegelte Kuriersendung enthalten mochte, die miteinem Shuttle heraufgekommen war und jetzt in denHänden des scheidenden Kapitäns der FOX lag – inseinem eigenen Besitz, sobald die Befehlsübertragungabgeschlossen war. Duncan akzeptierte die allseitigenHöflichkeiten, das Logbuch wurde ein letztesmal ak-tiviert, um die Befehlsübertragung aufzuzeichnen;und dann wurden, wie das bei ObTak-Missionen üb-lich war, die Logbänder herausgenommen und dem

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scheidenden Kapitän übergeben. Auf Duncans Flugwürde kein Logbuch geführt werden.

Eine weitere, letzte Runde der Zeremonien: er sahzu, wie die Offiziere und die kleine Besatzung dasSchiff verließen, bis niemand mehr übriggebliebenwar außer der allgegenwärtigen Sicherheitsabteilungan der Luke – vier Männer mit geladenen und tödli-chen Waffen.

Es war still. Duncan ließ sich in das vertraute Pol-ster sinken und schlüsselte das Kommando ein, dasdas Nur-einmal-Band von Stavros abspielte: unterseinem Sicherheitsverschluß zerstörte es sich beimAbspielen selbst.

Solche Maßnahmen stellten sicher, daß die Befehls-geber keine Aufzeichnungen zurückerhielten, die sieverfolgten: so lautete ein stehender Ausdruck wäh-rend des Krieges, als die ObTaks routinemäßig dieVernichtung aller Aufzeichnungen erwarteten, die siezum Gegenstand hatten – nicht nur aus Furcht vordem Feind, sondern, wie sie bitter vermuteten, umdie Namen der Männer zu verschweigen, die sie insFeld schickten, sollte eine Mission scheitern: Befehls-haber, die verloren, verloren auch das Kommando.

Stavros' Gesicht füllte den Schirm aus.»Meine Entschuldigung«, sagte er ruhig, »für das,

was ich fragen werde. Ich mache meinen Vorschlag;und nachdem Sie ihn gehört haben, können Sie –wenn Sie wollen – das Kommando der FOX wiederabgeben und zeitweilige Zuweisung auf die Stationakzeptieren, bis sich die hiesige Situation stabilisierthat.

Inzwischen haben Sie das Kommando über dieFOX. Sie sind ermächtigt, die Mri zusammen mit all

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ihren Besitztümern und dem Artefakt an Bord zunehmen. Die Sonde wird entsprechend Ihren Anfor-derungen ausgerüstet werden. In Ihrem Navigations-speicher gibt es ein Band mit dem Code Null Eins. Esstammt von dem Artefakt. Nehmen Sie einen Kursnach draußen, der am weitesten von den anfliegen-den Regul entfernt liegt, und bewahren Sie Geheim-haltung soweit wie möglich. Sie müssen dem Bandbis zu seinem Ziel folgen. Es gibt keine Wahl mehr,sobald es einmal aktiviert worden ist; das Systemwird hermetisch sein. Sammeln Sie alle Daten, die Sieüber die Mri kriegen können, sowohl militärische wieauch persönliche. Das ist der Inhalt Ihrer Mission.Verhandeln Sie mit ihnen, wenn möglich. Wir sinduns immer mehr dessen sicher, daß es in unseremInteresse liegt, dieses Band zu verstehen. Für diesesInteresse sind wir bereit, ein beträchtliches Risikoeinzugehen. Sie werden Daten sammeln und das Ab-kommen mit den Mri treffen, das möglich ist.

Wenn Sie sich jetzt entschlossen haben, davon Ab-stand zu nehmen, warten Sie bis zum Ende diesesBandes und treten Sie mit der SABER in Verbindung.Wenn Sie sich andererseits entschlossen haben, wei-terzumachen, dann machen Sie so schnell, wie Sie nurkönnen!

In jedem Fall werden Sie nichts vom Inhalt dieseraufgezeichneten Nachricht weitergeben. Bei der An-fertigung von Aufzeichnungen während Ihres Flugeswerden Sie äußerte Vorsicht walten lassen. Wir wol-len nicht, daß zufällig etwas mit Ihnen zurückkommt.Sie verfügen über eine scharfgemachte Selbstzerstö-rung, und Sie werden unter der Priorität operieren,nicht gefangengenommen zu werden. Wenn Sie nach

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Ihrem besten Urteilsvermögen in eine Situation gera-ten sind, in der Ihr Schiff in feindliche Hände gerät,zerstören Sie es! Das ist ein Befehl. Welche Wahl Sieauch treffen, ob Sie diese Mission annehmen oderablehnen, ist eine freie Entscheidung. Sie können oh-ne Nachteil für sich ablehnen.«

Das Band lief aus. Duncan saß immer noch da undstarrte auf den grauen Bildschirm, wußte, daß er ab-lehnen wollte, zurück nach Kesrith gehen wollte, sei-nen Frieden mit den Vorgesetzten machen – ein si-cheres Leben in den Hügeln von Kesrith findenwollte.

Er wußte nicht, welche Verrücktheit ihn daran hin-derte. Vielleicht etwas so Selbstsüchtiges und Sinnlo-ses wie Stolz, vielleicht, weil er sich für danach kei-nen Nutzen für sich vorstellen konnte, ausgenommenmöglicherweise, die Hinterlande für menschliche Be-siedlung zu erschließen. Und die Welt würde sichverändern.

Er schaltete den Bildschirm aus, blickte sich in derkleinen Kommandozentrale um, die ihm vielleicht fürden Rest seines Lebens gehören würde, in der er fürkurze Zeit leben konnte. Das war genug.

Er betrat die FLOWER mit unveränderten Abzeichen,ohne ein sichtbares Zeichen der veränderten Um-stände; aber die Offiziere der FLOWER waren offen-sichtlich über die ihm übertragene Befehlsgewalt un-terrichtet worden, denn es gab keinen Einwand, als erdie Überführung seiner Ausrüstung und Vorberei-tungen auf dem Dock forderte.

Und als er das getan hatte, ging er zu Luiz und zu-letzt zu Boaz.

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Das war das schwerste von allem, ihr die Nachrichtzu überbringen, daß alle ihre Arbeiten ergebnislosbleiben würden, bis auf das, was die Sicherheit siejemals wissen lassen würde; daß er ihr ihre Aufgabennahm, für immer – er, der ihr assistiert hatte, und derjetzt zu dem militärischen Flügel zurückkehrte, densie haßte.

»Die Gründe sind geheim«, sagte er. »Es tut mirleid, Boss. Ich wünschte, ich könnte sie erklären.«

Ihr breites Gesicht zeigte ein leichtes Stirnrunzeln.»Ich denke, ich habe eine Idee, worauf es hinausläuft.Und ich finde, es ist Wahnsinn.«

»Ich kann es nicht diskutieren.«»Wissen Sie, worauf Sie sich eingelassen haben?«»Ich kann es nicht diskutieren.«»Wird mit den Mri alles in Ordnung gehen? Sind

Sie mit den für sie getroffenen Arrangements zufrie-den?«

»Ja«, sagte er, bestürzt darüber, daß sie so genau zuvermuten schien, was vorging. Aber Boaz hatteschließlich die Forschungen an dem Artefakt betrie-ben. Zweifellos hatten viele auf der FLOWER eineVorstellung davon und vermuteten auf die eine oderandere Weise, was das Militär mit den Informationentun würde, die sie gefunden hatten. Duncan erdul-dete Boaz' forschenden Blick für einen Moment,schuldbewußt, als ob er etwas verriete; und er wußtenicht, welche Macht ihn beanspruchte – ob Freundoder Feind von Boaz' Prinzipien – und wem er diente;und auch nicht, ob sie das verstehen würde.

Sie lächelte traurig, eine Maske, die andere Gefühleverbirg. »Na ja«, sagte sie, »schwer für uns, aber dar-an kann man nichts ändern. Sten, seien Sie vorsich-

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tig!« Das Lächeln erstarb. »Passen Sie auf sich auf! Ichwerde mir darüber Sorgen machen.«

Das rührte ihn, denn wenn er irgendwo auf oderum Kesrith einen Freund hatte, dann war es Boaz,Mittvierzigerin und die einzige Frau von Rang im zi-vilen Bereich. Er faßte sie an den Händen und auf ei-nen Impuls hin an den Schultern und küßte sie nebenden Mund.

»Boss, ich werde Sie vermissen.«»Ich werde mir ein paar neue Dusei besorgen müs-

sen«, sagte sie. Sie stand kurz davor, in Tränen aus-zubrechen. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie auch siemitnehmen werden.«

»Ja«, sagte er. »Seien Sie vorsichtig mit diesen Tie-ren, Boss!«

»Achten Sie auf sich!« sagte sie rauh. Für einenMoment schien es, als könnte sie noch etwas sagen.Schließlich blickte sie zu Boden und zur Seite, undgemeinsam machten sie sich an die notwendigenAufgaben für die Überführung der Dusei.

Die gesamte Sektion war für den Fußgängerverkehrgesperrt und alle Fahrten auf den Schienen gestoppt,während die Überführung durchgeführt wurde – zu-erst die der versiegelten Versorgungskanister undvon Duncans eigenem kärglichen Gepäck; und danndie Mri von der SABER in verschlossenen Automeds,die für die Evakuierung von Verwundeten benutztwurden. Es gab nicht einen Menschen auf den Docks,der nicht vermuten konnte, wer unter solch außerge-wöhnlichen Sicherheitsmaßnahmen transportiertwurde. Aber diese Maßnahmen dienten ebensosehrdem Schutz der Mri als auch dem Verbergen ihres

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Transports. Mri wurden bitter gehaßt, und die Blicke,die diesen plombierten Einheiten folgten, waren invielen Fällen mörderisch.

Und zuletzt, nachdem die Docks völlig geräumtworden waren, kamen die Dusei, bei denen eine sol-che schützende Umfassung unpraktisch war. Duncanhatte die Frage ihres Transportes eingehend mit Boazbesprochen, den Einsatz von Frachtkanistern erwo-gen, und schließlich nach dem Verwerfen aller Mög-lichkeiten dieser Art einfach jedermann zum Verlas-sen der Korridore aufgefordert, die Verlademann-schaften hinter verschlossene Türen befohlen und dieLuken öffnen lassen.

Dann ging er hinab zu den Dusei, berührte und be-sänftigte sie, beunruhigt durch ihre Unruhe, be-kämpfte seine eigene Furcht – und spürte auch ihreUngeduld, als er die Tür öffnete, die sie völlig freiließ.

Sie gingen mit ihm, in ihrer watschelnden, rollen-den Gangart, schnupperten die seltsame Luft mit denbreiten Nasen, als sie das Dock betraten. Um sie her-um erstreckte sich die große Ausdehnung des Dock-bereiches, ein ungeheurer Raum für ihr Umherstreu-nen, in dem sie außer Kontrolle geraten und in eineFreiheit ausbrechen konnten, die nur in Schaden fürsie enden würde. Duncan versuchte, nur an die FOXzu denken, an die Mri, an die gehenden Dusei – ver-suchte, sie begreifen zu lassen, wenn sie begreifenkonnten.

Sie gingen, das Große etwas vor ihm und das Klei-ne so dicht neben ihm, daß es ihn ständig berührte.Einmal stieß das Große einen Schrei aus, der im ge-samten riesigen Stationsdock widerhallte, ein Ge-räusch, das Kälte den Rücken hinablaufen ließ.

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In diesem Moment fürchtete Duncan, daß er dabeiwar, die Kontrolle über sie zu verlieren; aber nach ei-nem Moment der Lebhaftigkeit stiegen sie fügsam dieRampe zur FOX hinauf und ins Schiff hinein. Türenstanden offen und gaben den Weg frei, dem sie folgenmußten; unerwünschte Alternativen waren ver-schlossen. Duncan führte sie in den Laderaum hinab,der für sie vorbereitet worden war, ließ sie hinein,zögerte im Eingang, um sicherzugehen, daß sie sichniederließen. Sie waren aufgeregt, zitterten nach Ak-tivität, gingen schnüffelnd umher und schaukeltenihre gewaltigen Leiber in der Erwartung, die siedurchströmte. Eines fing mit diesem rollenden Tondes Behagens an, der betäubte und die Sinne lockte.

Duncan floh davor, schloß die Türen, versiegeltesie, zog sich in die Normalität der Korridore und töd-lichen Ruhe des Schiffes zurück, das von jetzt an sei-nes war.

»Frei«, informierte ihn die SABER-Kontrollstelle. DasBild auf seinem Schirm zeigte rundum freien Raum;ein zweiter Schirm zeigte ein schematisches Bild desSystems, mit einem roten Punkt an dessen Grenze,der die Regul darstellte, und Schwierigkeiten signali-sierte. Ein zweiter Punkt erschien am Rand, gleich-falls rot, und blitzte alarmierend.

»SABER«, fragte er auf dem Kriegsschiff an. »Ist IhrSystem-Schema genau?«

Es gab eine lange Pause, in der jemand ohne Zwei-fel die mögliche Freigabe der Antwort begutachtete.Duncan wartete mit beschleunigtem Puls und wußtebereits, daß der Schirm sich längst selbst berichtigthätte, wenn ein Fehler vorliegen würde.

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»Bestätigung«, informierte ihn die SABER. »NähereEinzelheiten noch nicht verfügbar. Sie unterliegenkeiner Kursbeschränkung, FOX. Offiziell ist außer Ih-nen niemand da draußen. Klar zum Ablegen, schla-gen Sie Kurs Ihrer Wahl ein!«

»Danke, SABER«, erwiderte Duncan und bemerktedas Aufleuchten von Daten auf seinem Schirm. »Be-reithalten.«

Er fing an durchzuchecken, einige Durchgänge,obwohl das wichtigste erst auf der Probe stand, so-bald er unterwegs war. Die FOX war kürzlich von ei-nem Flug durch unsicheren Raum zurückgekehrt,doch ihre Verkleidung war in einwandfreiem Zu-stand.

Er warnte die SABER und löste die letzte Veranke-rung zur Station. Es war ein heikles Gefühl, währender die winzige FOX durch das Nadelöhr des Frei-raums zwischen der Station und der SABER hin-durchsteuerte. Die HANNIBAL versperrte seinenBlick, als er über die obere Kante kam, fiel dann nachunten weg.

Die FOX flog jetzt unter den Hauptsystemen, aus-gerichtet auf den kürzesten Weg fort von Kesrith undArains zermalmender Anziehungskraft. Er hielt denPlaneten zwischen sich und den anfliegenden Regul.Über die Station als Zwischensender hörte er Stim-men: das Regul-Schiff stand in Verbindung, dieStimmen waren rauh und sprachen Dialekt. Er hörtedie Antwort der Station und der SABER. Er bekammit, daß es sich um Doch-Alagn-Schiffe handelte, ge-kommen zur Rettung der Verehrung Bai HulaghAlagn-ni. Zumindest das war eine Erleichterung, zuwissen, daß die ankommenden Schiffe nicht Doch

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Holn gehörten. Er war dankbar dafür, daß man sichentschieden hatte, ihn mithören zu lassen, eine Be-achtung, die er bei seinem Status nicht erwartet hatte.

Er schaffte es, tief Atem zu holen, rechnete damit,daß die Menschen auf der Kesrith-Basis im Momentsicher waren, auf der Messerschneide der Sicherheitbalancierend, die Stavros vorbereitet hatte, indem ersich um die Verehrung Bai Hulagh kümmerte.

Und indem er die Mri wegschickte, die jetzt ge-heimgehalten im Bauch einer sehr verletzlichen undsehr kleinen abfliegenden Sonde schliefen.

Unsichtbar bleiben! las er im Geist den Wunsch, dermit der Relais-Nachricht gekommen war, eine Mit-teilung, die man ihm jetzt nicht auf andere Weise zuschicken wagte. Er hielt sich für sicher, überlegte mitgrollender Bewunderung, daß Stavros im Recht ge-wesen sein könnte. Wenn Stavros' den Frieden ge-fährdete, indem er den Regul zuwiderhandelte, wür-de es auf Haven Aufschreie geben, sobald es bekanntwürde – Forderungen nach seiner Ablösung, selbstwenn Kesrith sicher blieb. Wenn Stavros bei diesemaugenblicklich verrückten Wagnis die Mri und dieFOX verlor, würden Fragen gestellt werden, aberdann wäre der Zwischenfall vorüber und vergessen.Die Mri standen jetzt außerhalb der Vorgänge umKesrith. Sonden widerfuhren Unfälle, und sie wurdenabgeschrieben. Die Mri waren nur zwei Gefangene,und niemals hatte jemand erfolgreich Mri-Gefangenegehalten. Mri-Artefakte waren Kuriositäten, die jetztbedeutungslos waren, denn die Rasse war tot, ausge-rottet: diese Nachricht wäre von Kesrith mit größt-möglicher Schnelligkeit heimwärts geeilt, eine Freudefür die Menschheit, Ruhm für Stavros, der nichts ge-

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tan hatte, um ihn sich zu erringen, und der seineHände in dem Massaker rein gehalten hatte. Berichte,die von Kesrith kamen, waren zweifellos vorsichtigformuliert und würden es auch in Zukunft sein.

Es blieb nur zu sehen, ob Stavros mit den Regul zu-rechtkommen würde. Es war sehr gut möglich, daß erErfolg hatte.

Phänomenales Glück, eine phänomenale Intelli-genz und ein Gedächtnis, das nichts vergaß: nichtsentging Stavros' Aufmerksamkeit, und seine schein-baren Hasardspiele waren weniger Glücksspiel alsvielmehr kalkuliertes Risiko. Während eine Hand zuden Regul ausgestreckt war, dirigierte eine andere dieFOX, nahm auch diese Möglichkeit wahr, vertrauteniemandem vollkommen.

Duncan runzelte die Stirn, fing an, sich unter denvertrauten Anblicken und Geräuschen des Schiffes zuentspannen – ungewohnte Muße, zu wissen, daß ernicht zum Kampf hinabflog, daß Kesriths rötliche Si-chel nicht Bedrohung darstellte, sondern Schutz. Ermachte es sich in der FOX bequem wie in seiner na-türlichen Umgebung, zuhause in Schiffen, auf dunk-len Welten, im Dschungel und den Wüsten und derÖde menschenleerer Welten, im freien Fall und hoherSchwerkraft und an jedem anderen Ort, wo Überle-ben kaum möglich war. Seitdem er zu Spezialdien-sten abgeschoben worden war, in einem kriegszeitli-chen Durcheinander von Transporten und Vernich-tungsbefehlen gesichtsloser Männer von Stavros' Art,hatte er gewußt, daß er an einem solchen Ort seinEnde finden würde, Lichtjahre entfernt von der Si-cherheit von Stavros' König. Auf diese Entfernungwar Stavros nur noch einer in einer langen Reihe.

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Kein besonderer.Auf diese Entfernung, von jetzt an, gab es nur noch

Sten Duncan.Seine Scanner zeigten ihm, daß etwas anderes pas-

siert war, daß ein weiteres Schiff von der Station ab-gelegt hatte. Es war die SANTIAGO, ein system-interner Reiter, bewaffnet, aber nicht sternflugtaug-lich.

Er nahm dieses Wissen ruhig genug auf, ein wenigverärgert darüber, daß man ihn nicht gefragt hatte, obeine solche Eskorte erwünscht war; aber mit Regul imAnflug ins System protestierte er nicht dagegen.

Und er blickte neben sich auf das Deck, wo ein sil-bernes Ovoid auf einem gepolsterten Ständer ruhte,seltsam unbeschädigt nach alldem, das ihm widerfah-ren war. Es sah gar nicht danach aus, als sei es jemalszwischen den Felsen von Sil'athen herumgepurzelt,als sei es jemals geöffnet und untersucht worden.

Aber es war nicht mehr einzigartig. Es war in Ho-los vervielfältigt worden – und würde vielleicht innoch stärker greifbarem Detail eines Tages auf Zoroa-ster mit entwickelterem Gerät vervielfältigt werden,eine Museumskuriosität für Menschen. Duncanlangte hinab und betastete es mit den Fingern, spürteseine Glätte und Kälte, zog die Hand zurück undwarf einen letzten Blick auf die Schirme, wo dieSANTIAGO auf seiner Fährte zu kleben schien.

Er aß, während das Schiff mit Automatik weiterflog,schweigend und sicher vor Alarm. Die Scanner holtendie SANTIAGO von ihrer jetzt gewohnten Entfer-nung herein, und die Maschinen erkannten einander.Kein anderes Schiff befand sich in bedrohlicher Nähe.

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Endlich gab es Muße für menschliche Bedürfnisse.Und es gab auch Muße, um mit dem Nachdenken

über die Mri anzufangen, die bewußtlos in den Labo-ratorien des Schiffes lagen.

Er ging durch die Korridore der FOX, überzeugtesich davon, daß alles in Ordnung war, daß sich beimWechsel von der Steuerung durch die Station zu frei-em Flug nichts losgerissen hatte. Die Teile hatten sichselbst reorientiert, die Transition war reibungslosverlaufen. Die Dusei hatten sie ohne sichtbareSchwierigkeiten überstanden: er beobachtete siedurch die Kamera, wollte diesen Raum jetzt nicht be-treten, so verstört und angespannt wie er war. Auchdie Mri ruhten in ihren getrennten Quartieren. DieÄrzte hatten sie nicht aus den Automeds genommen.

Duncan machte es, zuerst die zierliche, schmächti-ge She'pan der Mri, Melein, legte sie auf eine beque-me Unterlage, ein Bett im Labor. Ihre zierlichen Glie-der fühlten sich nach Knochen und losem Fleisch an,waren bestürzend dünn und abgezehrt; die Augenwaren eingesunken und dunkel umrandet. Sie rea-gierte nicht, als er ihr dünnes Gesicht anfaßte und diebronzene Mähne glättete, versuchte, sie wieder schönzu machen. Er hatte Angst um sie, beobachtete ihrenAtem, sah, wie jeder Atemzug eine Anstrengung zusein schien. Er fing an zu fürchten, daß er sie verlie-ren würde.

Und in Verzweiflung stellte er die Temperatur desAbteils niedrig ein und reduzierte den Luftdruck et-was auf den ungefähren Standard von Kesrith. Erwußte nicht – niemand wußte es –, welche Bedingun-gen für die Mri natürlich waren. Man wußte nur daseine mit Sicherheit, daß ihnen die Kesrithi-

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Atmosphäre besser bekam als Menschen oder Regul.Meleins Atem ging leichter. Nachdem er lange in

ihrem Abteil gesessen und sie beobachtet hatte, wagteer es, sie zu verlassen; und in einem anderen Abteilöffnete er den Automed, um Niun herauszuholen.

Auch Niun befand sich fest im Griff der Sedativaund merkte nichts davon, daß er bewegt wurde, aufein anderes Bett gelegt wurde; eine Hilflosigkeit, dieden Mri tief beschämt hätte.

Es würde keine weiteren Drogen geben. Duncan lassorgfältig die an den Automeds angebrachten In-struktionen und stellte fest, daß die Ärzte für solcheDrogen gesorgt hatten und daß sie im Laborlager zufinden waren – ausreichend, besagten die Instruktio-nen, für ausgedehnte Sedation. Da standen auch andereDinge, dafür vorgesehen, ihm bei der Erhaltung derMri zu helfen. Mit zwei Regul-Schiffen im Systemund der Wahrscheinlichkeit von Schwierigkeiten wares, dachte Duncan, sicherlich unverantwortlich, sol-che Vorsichtsmaßnahmen zu mißachten, zumindestvor dem Sprung; aber als er die Mri anfaßte undfühlte, wie dünn und schwach sie geworden waren,konnte er sich nicht dazu überwinden, sie durchzu-führen.

Es waren noch Tage bis zum Sprung, Tage weitererSedation, damit die Mri in einem Zustand hindurch-gelangen würden, in dem Fleisch und Lebensfunk-tionen erschreckend waren, verschlossen in ihrenAutomeds, Glieder ungeübt, Muskeln weiter verfal-lend.

Sie war nur vernünftig, diese Verlängerung derVorsichtsmaßnahmen um wenige Tage; diejenigen,die ihm die Kontrolle über die Mri übertragen hatten,

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hatten sich ausgerechnet, daß diese bestimmten Maß-nahmen Verwendung finden würden.

Aber diejenigen, die diese Pläne gemacht hatten,wußten nichts von den Mri, die, wenn eingesperrt,einfach dasselbe tun würden, was alle Mri-Gefangenen getan hatten, ob sie ihren Wärter nunkannten oder nicht – zu sterben, töten, wenn siekonnten. Untauglich gemacht und bei dem ihnen ei-genen Abscheu vor medizinischer Hilfe, würden siesicher dieselbe Entscheidung treffen. Duncan selbsthatte das von Anfang an begriffen; es belastete seinGewissen, daß er es Stavros oder den anderen nieklargemacht hatte. Er konnte die Mri nicht festhalten,ohne sie zu töten; und mit den Dusei an Bord war esunwahrscheinlich, daß er sie überhaupt festhaltenkonnte.

Es gab nur eine Begründung, die bei den Mri An-wendung finden konnte zwischen all den Mächten,die auf sie hin zusammenliefen, Regul und Men-schen, eine Sache, die die Mri nicht anfechten konn-ten.

Er untersuchte beide ein letztesmal, stellte fest, daßsie jetzt unbeschwert atmeten, und ging nach oben,nahm wieder den Kommandoposten ein.

Er aktivierte den Navigationsspeicher und tasteteeine Zahl ein: Null Null Eins.

Die FOX schwang sich auf einen neuen Kurs, dieSensoren auf Arain ausgerichtet, analysierte und ver-glich mit Daten, die auf ihren Schirmen aufblitzten.Die Linien graphischer Abbildungen liefen zusam-men, verschmolzen, blitzten heftig bei der Erken-nung.

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7

Niun erwachte mit einer großen Lethargie, wie je-desmal, wenn er zu sich kam. Seine Augen ruhtenzuerst auf Duncan, der dasaß, wie er es so oft getanhatte, und geduldig neben seinem Bett wartete. Niunwurde verwirrt, bestürzt durch eine vage Erinnerung.

»Ich dachte«, sagte er zu Duncan, »daß du fortwärst.«

Duncan streckte eine Hand aus und legte sie ihmauf den Arm. Niun versuchte, nur seine Finger zubewegen, und diese Anstrengung ging über seineKräfte. »Bist du wach?« fragte Duncan ihn. »Niun,wach auf!«

Er versuchte es ernsthaft, wußte, daß er es sichertun konnte, wenn es Duncan war, der ihn dazu auf-forderte. Aber die Membran über seinen Augen warhalb geschlossen, verschleierte alles, machte es zuschwierig, den Blick einzustellen. Die Dunkelheit über-kam ihn wieder, und das ging leichter und bequemer.Er spürte eine Berührung auf seiner Mähne, eine Be-rührung der Mutter – niemand sonst würde ihn soanfassen; aber es waren schwielige Finger, die dar-aufhin sein Gesicht berührten. Es blieb etwas, das ihnverwirrte und ihn kurz vor dem Erwachen festhielt.

»Trink!« wurde er aufgefordert, durch eine Stim-me, der er vertraute. Er fühlte sich hochgehoben –Duncans Arm, erinnerte er sich. Der Plastikrand einesBechers berührte seine Lippen. Er trank – kaltes Was-ser, wie er feststellt –, schluckte mehrfach. Es floß inseinen Magen und blieb dort, vermittelte ein unbe-hagliches Gefühl.

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Duncan stellte den Becher weg, ließ Niun auf dasangehobene Polster zurücksinken, das ihn nicht wie-der in den vorherigen Frieden weggleiten ließ, unddie Anhebung des Kopfes verwirrte ihn für einenMoment. Niun fing an zu begreifen, daß er an diesemschrecklichen Ort erwachen sollte, daß es keine Zu-flucht gab. Das Aroma von Speisen drang in seineNase, unangenehm in dieser heißen, dichten Luft.

Er konnte die Glieder bewegen. Er fand, daß dasein Wunder war. Er versuchte, es zu machen, begannwieder, Empfindungen aufzunehmen, u n d Vergan-genheit und Gegenwart verschmolzen schließlich wie-der in seinem Bewußtsein.

Er erinnerte sich an Feuer und Dunkelheit und ei-nen Regul, der ihn – wie er dachte – getötet hatte.

Jetzt lag er auf einem Bett wie eine Frau des Kath,mit nacktem Gesicht und nacktem Körper nutzlosunter leichten Decken, die Glieder ohne Kraft.

Er befand sich an einem fremden Ort. Er hatte nichtden Wunsch, hier zu erwachen.

Aber in seinem Bewußtsein regte sich matt derGlaube, daß er noch etwas zu erledigen hatte, daß eseine noch unerfüllte Verpflichtung gab.

Das hatte ihm jemand gesagt. Er konnte sich nichterinnern.

Er versuchte aufzustehen, schaffte es, sich für einenAugenblick aufzusetzen, bevor die Arme unkontrol-liert zu zittern begannen und er zurückfiel. DuncansArme fingen ihn sanft auf und legten ihn auf die Ma-tratze zurück.

Danach war es leichter, zurück in die Dunkelheitzu schweben, in der es überhaupt keine Erinnerunggab. Aber Duncan ließ ihn nicht. Ein kaltes Tuch be-

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rührte sein Gesicht, trieb das Bewußtsein schockartigin ihn zurück.

»Komm schon!« sagte Duncan immer wieder zuihm – hob seinen Kopf wieder an und goß Wasserzwischen die unwilligen Lippen. Dann folgte gesal-zene Fleischbrühe, und Niuns Magen drohte mit ei-nem Aufstand.

»Wasser«, bat er, nachdem er einen Mundvoll hin-untergeschluckt hatte. Und als er es erhielt, nahm ereinen Schluck. Mehr schaffte er nicht.

Dann wurde er für eine Weile bewußtlos, erwachtewieder und fand sich in halb sitzender Stellung abge-stützt. Ein besänftigender rollender Ton erfüllte seineOhren und betäubte eine Zeitlang seinen Verstand; erfühlte Wärme auf seiner Hand, eine Bewegung. Eröffnete die Augen und sah zu seiner Verwirrung, daßein großes Dus gekommen war und neben ihm saß.Es stieß das Bett an, ließ es erzittern, ließ sich dannnieder und beruhigte Niuns Gesicht mit seiner Zu-friedenheit.

Und in dem Moment kehrte Duncan zurück – inder Kleidung der Menschen: er bemerkte das zum er-stenmal. Duncan hatte sich wieder zu seiner Rassegesellt, wie es richtig war. Dies war ein Ort der Men-schen. Zum erstenmal begann Niun, Duncans Anwe-senheit nicht als Delirium wahrzunehmen, das wirk-lichste und drängendste der Bilder, die seine Wach-zeiten bevölkerten, sondern als eine Gegenwart, de-ren logischer Platz bei Menschen war. Deren Überle-gungen zweifellos menschlich und bedrohlich waren.

Das gestörte Dus wandte den Blick zu Duncan, ließsich wieder nieder und gab nur ein müdes Seufzenvon sich. Es tolerierte den Menschen, und das ver-

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blüffte Niun; es erschreckte ihn, daß selbst die nichtkorrumpierbaren Dusei verführt werden konnten.Kein Schutz verblieb ihm.

Dunkelheit zog durch sein Bewußtsein, eine uner-wünschte Erinnerung, einstürzende Türme, das blei-che Gesicht der She'pan in der Dunkelheit, die Augengeschlossen.

Wieder hob das Dus den Kopf, stöhnte undschnupperte an Niuns Hand.

»Melein?« fragte er, den Blick auf Duncan gerichtet,auf weiße Wände und die Wirklichkeit – denn ermußte es fragen. Er erinnerte sich daran, daß er sei-nem Menschen vertraut hatte. Hoffnung erhob sich inihm, weil keine Schuld Duncans Gesicht berührte, alser diese Frage stellte.

Der Mensch kam herbei und setzte sich neben ihn,faßte dabei das Dus an, als habe er überhaupt keineProbleme mit dem Tier; aber Furcht... Furcht gab es inihm: Niun spürte sie. »Sie ist hier«, berichtete ihmDuncan. »Es geht ihr gut – so gut wie dir.«

»Das ist überhaupt nicht gut«, sagte Niun mit be-legter Stimme, mit verzogenem Mund; aber dannstimmte es – dann stimmte es, und er hatte es nichtnur geträumt wie andere Träume. Er konnte nicht dieAugen schließen, damit nicht die Tränen heraus-strömten und ihn beschämten. Er starrte Duncan anund befingerte die Samthaut des Dus zwischen ihnen,eine heiße und tröstende Glätte.

»Du bist frei«, erklärte Duncan vorsichtig unddeutlich, wie man mit einem Kind spricht. »Ihr beide.Wir sind auf einem Schiff, das sich von Kesrith ent-fernt, und ich bin außer euch der einzige an Bord. Ichhabe das gemacht, weil ich euch vertraue. Tut mir

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den Gefallen, mir für eine kleine Weile zu vertrauen!«Dies, so unglaublich und verrückt es war, hatte den

einfachen Klang der Wahrheit an sich: es gab keinAusweichen in Duncans Blick. Niun akzeptierte es, soverwirrt er war, und dachte sofort an Begleitschiffe,die sie umgaben auf dem Weg in Gefangenschaft beiMenschen, an eine Myriade anderer Formen des Ver-rats. Aber da war Duncan.

Da war Duncan, auf dem alle Hoffnungen ruhten,der allein unter allen Menschenfeinden und Regul ihnehrenvoll verstanden hatte, dessen Herz ehrenwertwar, ein Kel'en des Menschenvolkes.

Er ballte die Hände, probierte ihre Stärke und fand,daß die Taubheit, die solange seinen Geist entleertund seine Glieder geschwächt hatte, jetzt zurück-kehrte. Drogen: er erkannte die Wahrscheinlichkeitdavon; aber sie verloren seine Sinne aus dem Griffund hinterließen sie zunehmend klar. Duncan gabihm wieder Wasser zu trinken, und er trank; undmehr von der scheußlichen Brühe, und er trank auchsie, preßte die Kiefer zusammen und zwang den Ma-gen dazu, die Nahrung zu behalten.

Die She'pan lebte: seine Wahrschwester Melein,Mutter des Volkes. Sie war seine Aufgabe. Er warKel'en, Krieger, und die Krankheit und die Wundeund die Drogen hatten ihm seine Kraft und seineSchnelligkeit und sein Geschick geraubt, all das, waser jemals besessen hatte, nur um sein Leben zu er-halten, das im Dienst der She'pan stand.

Er weigerte sich, daran zu denken, was aus ihmgeworden war, sondern dachte nur an die Notwen-digkeit, auf seinen Füßen zu stehen, wieder die Kraftzum Gehen zu finden und zu ihr zu gehen, wo immer

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sie sich befand.Bis dahin würde er alles ertragen.

Nach einer Zeit der Bewußtlosigkeit kehrte Duncanzurück, und in seinen Händen trug er ein schwarzesKleiderbündel, das er auf den Tisch neben dem Bettlegte.

»Deine Kleider«, sagte Duncan. »Wenn du michläßt, helfe ich dir.«

Und das tat er, vorsichtig, freundlich, half ihm, füreinen Moment zu sitzen, während seine Sinne wir-belten und grau wurden, ließ ihn dann wieder zu-rücksinken, eingehüllt in die vertraute Behaglichkeitdes inneren Gewandes eines Kel'en, und auf Kissengestützt.

Duncan nahm neben ihm Platz und wartete darauf,daß er wieder zu Atem kam. »Der She'pan geht esgut«, sagte er. »Sie hat gegessen, ihre Sachen verlangtund mich weggeschickt. Ich tat es.«

Niun schob eine Hand unter sein Gewand, wo sicheine Narbe über die Rippen zog, und wußte, daß erhätte sterben sollen. Sie beide hätten sterben sollen.»Tsi'mri-Medizin«, protestierte er mit vor Wut zit-ternder Stimme. Und doch wußte er, daß dieselbenverbotenen Dinge sie beide am Leben erhalten hatten,und er war der mangelnden Bereitschaft zum Todeschuldig. Er war sechsundzwanzig Jahre alt; er hatteerwartet, vorher zu sterben: das taten die meistenKel'ein, aber die meisten Kel'ein hatten bis dahinreichlich Ehre errungen. Niun hatte nichts erlangt,mit dem er stolz in die Dunkelheit gehen könnte. Al-les, was er fast gewonnen hatte, hatte er wieder verlo-ren – war gefangengenommen worden, hatte zuge-

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lassen, daß die She'pan ergriffen wurde. Er hätte ster-ben sollen.

Aber nicht hier, nicht so.»Es war nicht dein Fehler«, sagte Duncan.»Ich habe zu lange gelebt«, antwortete Niun, was

der Wahrheit entsprach: sowohl er als auch Meleinhatte ihre Rasse überlebt, das Volk überlebt; und daswar bittere Wirklichkeit. Er wußte nicht, wozu sichMelein entschließen würde, wenn sie ihn wiederfand,oder was sie ihm zu tun befehlen würde. Er blickteDuncan bedauernd an. Er sah, daß Duncans Augenvor Müdigkeit schattig waren, daß er zerzaust war,als hätte er wenig geschlafen. Im Moment sah er ver-wirrt aus.

»Die Regul hätten dich gefangen«, sagte Duncanrauh. »Ich hatte die Möglichkeit, dich zu meinemVolk zu bringen, und ich habe sie ergriffen. DieShe'pan hat nicht protestiert. Sie wußte, was ich tat.«

Diese Behauptung erschütterte Niuns Vertauen invertrauenswürdige Dinge. Er starrte Duncan für ei-nen Moment an und legte schließlich seinen Stolz ab,stellte Fragen, wie er es bei einem Bruder des Kel tunwürde.

»Wo sind meine Waffen?«»Alles, was dir gehört, ist hier«, sagte Duncan. »Ich

bringe dir deine Waffen sofort, wenn du darauf be-stehst. Aber du warst im Halbschlaf und du warstkrank, und ich dachte, daß du vielleicht nicht weißt,wo du bist, oder nicht verstehst, was vorgeht. Ichhasse es, durch ein Mißverständnis erschossen zuwerden.«

Das war zumindest vernünftig. Niun atmete vor-sichtig kontrolliert aus und erinnerte sich daran, daß

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dieser Mensch dazu neigte, die Wahrheit zu sagen,entgegen der Erfahrung des Volkes mit Tsi'mri. »Ichbin nicht mehr krank«, sagte er.

»Willst du, daß ich gehe und deine Waffen hole?«Niun dachte darüber nach, starrte in Duncans

nacktes Gesicht; er hatte ihn herausgefordert... Dun-can hatte mit einem Angebot geantwortet, obwohlseine Aufrichtigkeit beleidigenderweise angezweifeltworden war. »Nein«, sagte Niun und versuchte, sichzu entspannen. »Du gehst und kommst viel; wenn duwieder einmal kommst, bringst du sie.«

»Ich würde es vorziehen«, meinte Duncan, »zuwarten, bis ich sicher bin, daß es dir gut geht. Dannwerde ich sie bringen.«

Niun wandte unglücklich den Blick ab. Mit nack-tem Gesicht empfand er die Hilflosigkeit seinernutzlosen Glieder und lag still, gezwungen, die Si-tuation zu akzeptieren. Das Dus regte sich, unbehag-lich durch seinen Schmerz. Er streckte die Hand ausund tröstete es.

»Ich habe etwas zum Essen gebracht«, sagte Dun-can. »Ich möchte, daß du ißt.«

»Ja«, stimmte Niun zu. Er warf sich in die Kissen,als Duncan hinaus in den Korridor ging, um zu ho-len, was er gebracht hatte; er nutzte den Moment, umzu Atem zu kommen, und hatte sich beruhigt, alsDuncan zurückkam. Er war entschlossen, aus eigenerKraft zu essen, obwohl die Hand zitterte, als er dieSchüssel nahm.

Es gab kaltes Obst von fremden Welten, von dessenSchmackhaftigkeit er gehört, das er aber nie gegessenhatte; es gab eine Art Brot, zu weich für seinen Ge-schmack und dick, aber man konnte es leicht essen;

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und Soi gab es, für das er eine Vorliebe hatte. Ernahm die Tasse mit dem bittersüßen Getränk in beideHände und trank sie völlig aus, denn es war das ein-zige vertraute Kesrithi, selbst wenn es regul war, under wußte, daß es ihm gut tat. Er hatte seinem miß-brauchten Magen viel zugemutet; er lag völlig reglos,nachdem er gegessen hatte, weil er vermutete, daßStilliegen die einzige Möglichkeit war, das Essen zubehalten.

»Unter diesen Umständen«, sagte Duncan, nahmdas Tablett und stellte es auf den Tisch, wo sofort dasDus anfing, es zu begutachten, »wirst du dich schnellgenug erholen.« Er rettete das Tablett und brachte esin den Korridor hinaus, gefolgt von dem Verräter-Dus mit dieser trauernden Gangart und gesenktemKopf, das auf Mitgefühl hoffte.

Niun schloß die Augen und ruhte sich aus, hörteAktivitäten weiter hinten im Korridor, maß die Ent-fernung bis dorthin. Geschirr klapperte; Stimmenkonnte er nicht hören, nur das explosive Bellen einesDus, mit dem die Tiere ihre eigenen Gefühle aus-drückten.

Melein? fragte er sich verzweifelt. Er hatte eine Fra-ge gestellt; und die Frage nach seinen Waffen war ab-gewiesen worden. Er würde seine Ängste nicht einzweitesmal an den Tag legen. Es war notwendig, sichdaran zu erinnern, daß Duncan Tsi'mri war, und einFeind.

Duncan kehrte nach einer geraumen Weile zurück,und bis dahin hatte sich die Nahrung etwas gesetzt,und Niuns Magen fühlte sich deshalb leichter. Dun-can zeigte ihm eine Schalttafel in Reichweite seinesArmes, zeigte ihm, wie er das Licht dimmen und wie

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er Hilfe anfordern konnte, sobald er etwas brauchte,auch, wo sich die sanitären Einrichtungen befanden.Die Anweisungen enthielten auch eine ausdrücklicheErmahnung, nicht den Versuch zu wagen und alleinumherzugehen.

Niun sagte nichts, nahm lediglich alle angebotenenInstruktionen in sich auf, lag da und starrte Duncanan.

»Schlafe ein Weilchen«, wünschte ihm Duncankurz darauf, spürte offensichtlich den Unwillen. Erging zur Tür und blickte zurück. »Es gibt Essen,wann immer du willst. Du mußt mich nur rufen.«

Niun gab keine Antwort, und Duncan ging, ließ dieTür offen stehen; das Licht wurde schwächer, es fielaus dem Flur herein.

Und als sich dann irgendwo eine Tür öffnete undwieder schloß, fing Niun methodisch an, sich zu be-wegen, die Muskeln zu bewegen, die so lange nichtmehr an Bewegung gewöhnt waren. Er arbeitete biszur Erschöpfung, und als er sich eine Zeitlang ausge-ruht und geschlafen hatte, stellte er fest, daß das Duszurückgekehrt war. Er redete mit ihm, und es kamherbei und legte den schweren Kopf auf die Bettkan-te. Er legte die Hände auf den großen Rücken undbenutzte ihn als Stütze zum Aufstehen. Dann ging erein paar Schritte, lehnte sich dabei auf das Tier, dasihn begleitete – ging dann wieder zurück und fiel mitzitternden Beinen über das Bett. Für eine Weile lag erruhig, atmete schwer, und beinahe wurde ihmschlecht. Es dauerte einige Augenblicke, bevor erauch nur die kraftlosen Beine wieder ins Bett ziehenund sich ausruhen konnte.

Aber als er sich ausgeruht hatte, begann er wieder,

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sich zu bewegen, stand mit Hilfe des Dus auf undfing an, die wenigen möglichen Schritte auszuprobie-ren.

Ein langer Schlaf: ein Tag verging, mehr oder weniger– Zeit bedeutete nichts. Er maß sie nur am Eintreffender Nahrung und solchen Perioden, in denen er alleinwar, in denen er versuchen konnte, seine Gliederwieder mit Leben zu erfüllen.

Ein weiterer Schlaf: an diesem Tag erwachte er al-lein, und nur das Dus war bei ihm. Seine Gliederschmerzten durch die erzwungenen Übungen, undimmer noch war es Duncan nicht eingefallen, ihmseine Waffen zurückzugeben. Für einen Moment lager still in der Dunkelheit und starrte hinaus in denerleuchteten Korridor.

Dann erhob er sich, diesmal ohne Hilfe des Dus,ging steifbeinig ins Badezimmer, wusch sich mitWasser und zog sich sorgfältig und vollständig an,wobei er die Kleider benutzte, die zusammengefaltetauf dem Tisch lagen. Als letztes legte er das Zaidhe an,das mit Quasten verzierte Kopftuch, das Sichtschutzgegen das Licht unfreundlicher Sonnen bot; und mitdem Zaidhe legte er den Mez an, den Schleier, den erunterm Kinn befestigte – Sittsamkeit war hier aufge-geben, allein mit Duncan, der sein Gesicht bereitskannte. In den schwarzen Gewändern des Kel emp-fand er sich fast wieder als vollständig und verspürteeinen Stich, als er die goldenen Ehrenzeichen be-rührte, die sein waren: das schwarze Symbol desEdun Kesrithun mit dem eingeprägten Zeichen deroffenen Hand... es hing an einer Kette, dieses J'tal,denn es stammte vom Nacken Intels, der verschiede-

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nen Mutter; und ein kleiner Ring war an den Ehren-gürtel gebunden – die Erinnerung überfiel ihn bitterund furchtbar –, von der Hand der Mutter von Elag;und – weitere Erinnerungen, voll jungem Schmerz –ein kleines goldenes Glücks-J'tal, in der Gestalt einesBlattes, das nie auf dem öden Kesrith gewachsen war:dies stammte von einem älteren Bruder des Kel undrief andere in sein Gedächtnis zurück, die Meister, dieihn in Waffen und dem Gesetz des Kel unterrichtethatten.

Und er erhielt sie aus der Hand eines Menschenzurück.

Er lehnte sich für einen Moment an die Wand,während das Dus nervös seine Schnauze an sein Beinstieß; als er wieder zu Atem gekommen war, ging erzur Tür, sah hinaus und trat ungehindert auf denKorridor, das Dus hinter ihm.

Schon der sich ihm bietende Anblick war fremdar-tig: enge, rechtwinklige Korridore, während er an dieschrägen Wände seines eigenen zerstörten Hausesgewöhnt war oder die gekrümmten Wände von Re-gul-Innenräumen. Das Atmen fiel ihm schwer, denndie Luft war dick und roch beißend nach unvertrau-ten chemischen Düften. In seiner Verwirrung stützteer sich an die Wand, als ihn sein eigenes Dus beiseite-stieß – und vor sich, weit unten im Korridor, erblickteer ein weiteres Dus, das den breiten Kopf aus einerTür herausstreckte. Das seine watschelte los, um sichzu dem anderen zu gesellen, zeigte sich recht fröh-lich.

Er hatte es gewußt: irgendwo in der drogenver-schleierten Tiefe seines Inneren hatte er die Anwe-senheit des anderen gespürt, die ihn beruhigte und an

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ihm zerrte. Zwei Dusei, eines davon bei Melein, dieeinmal zum Kel gehört hatte, die immer noch solchein Tier anfassen konnte.

Es war ein langer Weg, der längste, den er je ver-sucht hatte; er stieß sich von der Wand ab und gingzu dieser Tür, lehnte sich an den Türrahmen und sahhinein.

Melein, die She'pan.Sie lebte wahrhaftig noch; sie schlief – voll beklei-

det in ihrer Einfachheit, ihren zerlumpten gelbenGewändern der Sen-Kaste, die sie überdauert hatte.Sie war so zerbrechlich geworden, dachte Niunschmerzlich, so dünn; es war eine Sache, wenn einKel'en verletzt wurde, hungerte oder mit Drogen be-täubt wurde – aber daß sie mit ihr so umgegangenwaren: Zorn schwellte in ihm empor, so daß er für ei-nen Moment nicht sehen konnte, und die Duseistöhnten und zogen sich in die Ecke zurück.

Er verließ seinen Platz am Eingang, kam herbeiund sank neben ihrem Bett auf die Knie, wo sie aufder Seite schlief, den Kopf auf einem Arm liegend.Die Dusei kehrten zurück und schlossen ihn eng ein;und er berührte die schlanken Finger ihrer geöffnetenHand.

Ihre goldenen Augen öffneten sich und blinzeltenvor Überraschung. Zuerst schien sie verwirrt zu sein,streckte dann die Hand aus und faßte an sein nacktesGesicht, als wolle sie prüfen, ob er ein Traum waroder nicht.

»Niun«, flüsterte sie. »Niun!«»Was soll ich tun?« fragte er sie, zitterte fast vor

Angst vor dieser Frage, denn er war nur ein Kel'enund konnte keine Entscheidungen treffen. Er war die

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Hand des Volkes, und sie war des Volkes Verstandund Herz.

Wenn sie nicht leben wollte, würde er sie und sichtöten. Aber er sah den kalten, klaren Blick ihrer Au-gen, und dies war nicht der Blick einer Besiegten.

»Ich habe auf dich gewartet«, berichtete sie ihm.

Niun nahm die Dusei mit. Sie gingen, eines hinterdem anderen, vor ihm her, denn sie waren zu groß,um im Korridor nebeneinander zu gehen. Ganz lang-sam klickten die Klauen auf dem harten Boden.Durch ihren seltsamen Sinn wußten sie, wen ersuchte – wußten auch, daß dies keine Jagd im Sinneines Spieles war, mit einer Tötung am Schluß; unddoch waren sie beunruhigt, vielleicht weil sie mitdem gegangen waren, den sie jetzt jagten.

Und sie begegneten Duncan im engen Gang direkthinter einer Biegung.

So vertrauensselig, wie er daherkam, wollte ervielleicht gerade nach ihnen sehen. Er war nicht be-waffnet; er war es nie gewesen, erinnerte sich Niunmit plötzlicher Verwirrung in seinem Zorn. Undvielleicht hatte Duncan sie zu diesem Moment ver-führt, hatte darauf gewartet. Er schien zu wissen, wiedie Dinge zwischen ihnen lagen: er stand reglos vorden Dusei, wartete darauf, daß Niun sagte oder tat,was er wollte. Sicherlich wußte er, daß sein Leben inGefahr war.

»Es ist sonst niemand an Bord«, erinnerte ihn Niun,forderte ihn mit seiner eigenen Behauptung heraus.

»Ja. Ich habe dir die Wahrheit gesagt.«Duncan hatte Angst. Die Dus-Gefühle waren drük-

kend und schwer. Er gab jedoch seiner Furcht nicht

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nach – das würde ihn das Leben gekostet haben.»Yai!« rief Niun die Dusei zurück, zog ihre Auf-

merksamkeit aus dieser ausschließlichen und gefähr-lichen Konzentration zurück. Sie schwankten nervös,und das Gefühl entspannte sich. Sie würden ihmnicht trotzen. »Duncan«, sage er daraufhin, so direkt,wie er zu einem Bruder des Kel sprechen würde,»was hast du mit uns zu machen gehofft?«

Duncan zuckte auf Menschenart die Achseln,zeigte ein schwaches, müdes Zucken der Lippen. Mitseinem nackten Gesicht sah er aus wie ein Mann, des-sen Körper oder dessen Geist lange keine Ruhe mehrgehabt hatte. Er war manchmal naiv, dieser MenschDuncan, aber er wäre dazu in der Lage gewesen, aufsich aufzupassen, und wußte sicherlich, daß er dashätte tun sollen. Niun legte seine Gedanken an Ge-walt für den Moment beiseite.

»Ich wollte«, sagte Duncan, »euch nicht in dieHände der Regul fallen lassen.«

»Du hast dein Volk einfach gefragt, und sie habendir dieses Schiff zu deinem Vergnügen gegeben. Bistdu so groß bei ihnen, daß sie dir so eifrig gefallenwollen?«

Duncan fuhr nicht auf gegen den Sarkasmus. SeinAusdruck blieb nur müde, und erneut zuckte er dieAchseln. »Ich bin allein. Und ich habe nicht vor, umdie Kontrolle des Schiffes zu streiten. Du kannst esübernehmen. Aber ich möchte darauf hinweisen, daßes kein Kriegsschiff ist, daß wir nicht bewaffnet sindund wir möglicherweise bereits das tun, was dumöchtest. Ich denke nicht, daß du tatsächlich dieKontrolle übernehmen kannst. Wir navigieren nachBand.«

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Niun blickte finster. Damit hatte er in seiner Uner-fahrenheit nicht gerechnet. Er starrte Duncan an,wußte, daß seine Kräfte begrenzt waren, selbst in be-zug auf das Stehenbleiben. Er konnte die Dusei los-lassen, das Schiff übernehmen; aber das, was Duncangesagt hatte, daß keiner von ihnen das Schiff handha-ben konnte, machte seine Ruhe verständlich.

»Wo fliegen wir hin?« wollte Niun wissen.»Ich weiß es nicht«, sagte Duncan. »Ich weiß es

nicht. Komm mit mir zu den Kontrollen, und ich zei-ge dir, was ich meine!«

Das Ovoid ruhte in einem mit Schaumstoff ausge-kleideten Kasten, ein schimmernder und schöner Ge-genstand, einzigartig, heilig. Seine Oberfläche wieskeinen Makel auf, obwohl Niun wußte, daß es zwi-schen Felsen herumgepurzelt war und die Göttermochten wissen, was widerstanden hatte, bevor eshierhergekommen war. Er kniete daneben nieder,kümmerte sich nicht um Duncans Anwesenheit,streckte ehrfurchtsvoll eine Hand aus und faßte andiese kalte, glatte Oberfläche, als sei es die Haut einesfühlenden Wesens.

Ein Stück der Mri-Seele war dieses Ding, diesesPan'en, dieses Mysterium, das er getragen hatte, biser nicht mehr konnte. Er wäre gestorben, um es vorTsi'mri-Händen zu beschützen.

Und vor Tsi'mri war es zu ihnen gekommen, be-rührt und entweiht.

Duncans Tat. Es gab sonst niemanden, der es ge-funden haben könnte.

Niun stand auf, die Augen verschleiert, weil ihndie Membran für einen Augenblick betrog; und vor

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einem für das Volk Fremden hätte er sich im Zornverschleiert, aber Duncan war ihm näher gewesen alsviele andere seiner eigenen Rasse. Er wußte nicht,welche Art von Großmut oder Drohung durch diesesGeschenk beabsichtigt wurde. Er spürte eine Tisch-kante im Rücken, was willkommen war, denn dieBeine gaben unter ihm nach. Das Dus kam herbei, dasgroße scheinbar unbeholfene Geschöpf, vorsichtig andiesem Ort feiner Instrumente und enger Räume. Eslegte sich zu seinen Füßen nieder, bot ihm Wärmeund Stetigkeit an, als er sie brauchte.

»Du kennst die Mri gut genug«, sagte Niun, »umzu wissen, daß du sehr unbekümmert warst, als dudas berührt hast.«

»Es ist deins. Ich habe es für dich zurückgeholt;oder hättest du es lieber gehabt, wenn es da draußenverlorengegangen wäre?«

Niun sah wieder zu dem Pan'en hinab, dann wie-der auf zu Duncan, überlegte immer noch, was hinterdiesem unverschleierten Gesicht lag; und langsam,bedächtig befestigte er den Schleier vor seinem Ge-sicht – eine Warnung, falls Duncan diese Mri-Gestegelernt haben sollte, die auflöste, was an Persönli-chem zwischen ihnen war. »Die Menschen sind ver-rückt vor Neugier. So haben mich meine Ältesten ge-lehrt, und ich finde, sie hatten recht. Es kann nicht ineuren Händen gewesen sein, ohne daß eure GelehrtenEinblick in es genommen haben; und es ist sogarmöglich, daß sie herausgefunden haben, was es ist.Da ich selbst nur ein Kel'en bin, bin ich nicht berech-tigt, das zu wissen. Vielleicht weißt du es. Ich will esnicht wissen.«

»Du hast recht mit deinem Verdacht.«

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»Da du ein Mensch bist, wußtest du, was gesche-hen würde, wenn du es zu deinem Volk bringst.«

»Ich habe nicht gewußt, was es ist. Ich habe nichtgewußt, daß es für sie mehr als nur eine Kuriositätsein würde.«

»Ist es aber«, mutmaßte Niun, und als Duncan kei-ne Antwort gab: »Sind wir deswegen hier? Ein Dingwar den Mri geblieben, einen Schatz hatten wir, undhier liegt er, und hier bist du, allein, und plötzlichgibt man uns Entgelt und unsere Freiheit – ein Schifffür unseren Abflug, unter großen Kosten. Für wel-chen Dienst an der Menschheit ist das ein gerechtesEntgelt, Kel Duncan? Vierzig Kriegsjahre lang habenwir mit deiner Rasse gerungen, und dafür gibt manuns Geschenke?«

»Der Krieg ist zu Ende«, sagte Duncan. »Vorbei.Eine tote Sache.«

»Die Mri auch«, sagte Mri, zwang sich zu dieserBitterkeit, verwarf die Großzügigkeit von Tsi'mri undall ihre komplizierten Anforderungen. Schwächeüberkam ihn wieder, ließ ihm die Sinne verschwin-den und die zu lange unter Spannung stehendenMuskeln zittern. Er umklammerte die Tischkante mitder Hand, holte tief Atem und ließ ihn wieder fahren,worauf sich sein Blick wieder klärte. »Ich weiß nicht,warum du allein an Bord bist«, sagte er. »Wir beideverstehen einander nicht, Kel Duncan.«

»Einfach ausgedrückt«, meinte Duncan, nachdemer diese faire Warnung aufgenommen hatte. »Viel-leicht irre ich mich, aber ich dachte, daß du meinenVersuch erkennen würdest, euch Gutes zu tun. Ihrseid frei.«

Niun ließ den Blick über die Kontrollen schweifen,

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über das fremdartige Durcheinander eines Systems sounähnlich dem der Regul-Kontrollen, die er nur inder Theorie kannte. Ein dünnes Schweißrinnsal floßunter seinen Gewändern die linke Seite hinab.

»Werden wir eskortiert?« fragte er.»Bis jetzt stehen wir unter Beobachtung«, sagte

Duncan. »Unsere Leute sind nicht so vertrauensselig.Und weder du noch ich können irgend etwas mit die-sem Leitsystem anfangen: wir sind auf Band. Viel-leicht kannst du uns da rausreißen, aber wenn du dasmachst, zweifle ich nicht daran, daß sich das ganzeSchiff selbst zerstören wird.«

Das zumindest klang vernünftig. Niun überdachtees, während seine Hand abwesend den Kopf des Dusstreichelte, das sich neben ihm aufsetzte.

»Ich werde gehen und der She'pan berichten, wasdu gesagt hast«, sagte Niun schließlich. Er schicktedas Dus mit einem sanften Wort voraus und folgteihm und seinem Gefährten, ließ Duncan im Besitz derKontrollen. Duncan konnte sie alle töten; aber er hättees schon lange machen können, wenn er es vorgehabthätte. Er hätte sie einschließen können, aber mögli-cherweise war das ganze Schiff ein Gefängnis, dasvon außen bewacht wurde. Es blieb die Frage, warumDuncan entschieden hatte, hier bei ihnen zu sein. Ni-un vermutete, daß es mit dem merkwürdigen Ehrge-fühl dieses Menschen zu tun hatte, das offensichtlichexistierte, aber völlig verschieden war von dem derMri.

Oder vielleicht hatte es nichts mit Duncans Bin-dung an die Mri-Rasse zu tun; es erschien Niun mög-lich, daß sie beide Kel'ein waren und unter ähnlichemGesetz lebten, unter der Leitung von anderen, und

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jemand anderes entschied, was und wo sie es tundurften.

Niun konnte verstehen, daß ein Mann Gefährten-schaft mit einem anderen Kel'en finden mochte, demer eines Tages gegenüberstehen und ihn töten mußte.Es wurde gesungen, daß dergleichen geschehen war.

Es war niemals gut, Freundschaften außerhalb deseigenen Hauses zu bilden; solche Verbindungen hat-ten ein sprichwörtlich schlechtes Schicksal, denn diePflicht setzte die Treue zum Haus an die erste Stelleund die Befehle der She'pan über alles.

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Es war geschafft.Duncan stand da und sah zu, wie der Mri ging,

und wußte, daß die She'pan Melein bald kommenmußte, um die nominelle Kontrolle über das Schiff zufordern, jetzt, wo Niun sich dessen versichert hatte,daß sie auf keinen Widerstand und keine Beleidigungstoßen würde.

So war das bei den Mri, daß die She'pan die Ent-scheidungen fällte, wenn sie für eine Rücksprache er-reichbar war. Boaz hätte das dem Militär berichtenkönnen; er selbst hätte es denen mitteilen können, diedie Pläne für die Sicherheit der FLOWER gemachthatten, hätten sie nur gefragt – daß die Mri-Kel'ein,die Schwarzgewandeten, die ein Schrecken gewesenwaren, wo sie auch auftauchten, nicht die Autoritätwaren, die in Erwägung gezogen werden mußte.

Niun verstand das Artefakt nicht, das er verehrte.Auch das überraschte Duncan nicht. Niun, so tüchtiger war, lehnte es ab, bestimmte Dinge zu wissen, dieer als für ihn unpassend erachtete. Vor jeder Hand-lung von politischer Bedeutung mußte er sich mitMelein beraten, wenn er die Möglichkeit dazu hatte.Duncan hatte sich verzweifelt darauf verlassen. Eshatte geklappt. Er fühlte sich bestätigt, von einemGewicht befreit, das seit Tagen auf ihm gelegen hatte,jetzt wo er Niun ganz und auf den Beinen sah unddorthin unterwegs, wohin er wie er kalkuliert hatte –gehen würde.

Er fand sich mit einem merkwürdigen Mangel anFurcht bei der Sache, die er getan hatte. Furcht emp-

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fand er, wenn er nachts wach lag, sich an die Ruinenin den Bergen erinnerte, den Alptraum von Sil'athen,das Inferno, das sich auf sie herabgesenkt hatte; oderwenn er über die Regul lächelte, die versucht hatten,ihn zu töten und stattdessen eine empfindende Le-bensform getötet hatten. Vor den Mri empfand er nureinen kenntnisreichen Respekt.

Es gab immer noch eine gute Möglichkeit, daß sichdie Mri gegen ihn wendeten und ihn töteten; damithatte er von Anfang an gerechnet – aber es würdenicht zu dem passen, was er von ihnen wußte. Wennes geschah, dann aus den Tiefen irgendeiner Mri-Logik heraus, die diese beiden Mri ihm gegenüber niegezeigt hatten, selbst dann nicht, wenn sie bitter pro-voziert worden waren.

Die Zeit für Bedauern war lange vorbei. Es gab nurnoch wenig Zeit für ihn, etwas zu tun. Er wischte sichmit dem Handrücken über die verschleierten Augen.Während der letzten vier Tage hatte er hin und wie-der ein Nickerchen gemacht, wenn er konnte, aber erhatte nicht im Bett geschlafen, hatte sich nicht getraut,nicht, solange die Lage an Bord im Fluß war, mit zweifreien Regul-Schiffen im System und einem nervösenMenschenschiff in seinem Gefolge.

Er setzte sich an die Konsole, rief Daten von denInstrumenten ab, die in ihren geschäftigen Sequenzenaufblitzten, sah, daß sie zur Transition bereit waren,das Leitsystem auf den Bezugsstern ausgerichtet undbereit, den Sprung zu machen, sobald die anderenSysteme der FOX den Computer darüber informier-ten, daß sie weit genug von der nächstliegenden grö-ßeren Masse entfernt waren. Das konnte noch einenTag dauern: automatische Toleranzbereiche waren

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größer, als sie sein mußten. Aber länger würde es si-cherlich nicht dauern.

Von soweit draußen war Kesrith im Sonnenglanzuntergegangen, und das rote Arain erlangte seine an-gemessene Unbedeutsamkeit im stellaren Vergleich,ein bloßes Grenzleuchtfeuer für Menschen, das denGrenzbereich der menschlichen Territorien kennzeich-nete, ein Stern, umkreist von einer spärlich bevölker-ten Welt und verschiedenen anderen, auf denennichts lebte.

Und einer der Schirme zeigte das Schemabild, aufdem die Position der Regul als weiter draußen er-schien, als sie inzwischen hätten sein müssen: sievollzogen eine vorsichtige Annäherung. Er kümmertesich nicht um die Position der Regul; sie waren weitentfernt im System und kein Teil dessen, was ihn be-schäftigte.

Auf einem anderen Schirm tauchte das winzigeObjekt auf, das der Reiter SANTIAGO von der SA-BER war, sein treuer Schatten.

Er war jetzt näher dran als bisher.Er biß sich auf die Lippe, sein Herzschlag be-

schleunigte sich, denn er wollte die Funkstille nichtbrechen oder einen Streit mit seiner Eskorte beginnen:die Mri waren auf freiem Fuß. Aber die Tatsache derMri veranlaßte ihn zu einer raschen Konsultation desComputers, und er fluchte vor sich hin und langtenach dem Kom-Schalter.

»SANTIAGO«, signalisierte er. »SANTIAGO, hierFOX. Bitte halten Sie größeren Abstand. Sie sind aufmeinem Scanner, und Ihre Masse wird von meinenInstrumenten registriert. Sie verhindern Sprung.«

Es gab eine lange Pause. »Wir kopieren«, antwortete

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die SANTIAGO und machte anscheinend eine Pausezur Konsultation. »Hier Zahadi. Möchte Sie darüberinformieren, daß sich bei uns Schwierigkeiten ent-wickeln.«

Der Kapitän der SANTIAGO. Die Kälte der Vorah-nung durchfuhr Duncan. »Erklären Sie!« forderte erZahadi auf.

»FOX«, kam die Stimme zu gegebener Zeit zurück.»Ich setze Sie davon in Kenntnis, daß keines der Regul-Schiffe anflugbereit ist. Hulagh ist mit der Fähre aufdie Station gekommen. Situation dort außerordentlichangespannt. Hulagh hat verlangt, an Bord des Regul-Schiffe SIGGRAV gehen zu können. Stavros' letzteNachricht wie folgt: An Bord gehen wird erlaubt werden.Alle Bedingungen für Sondermission sind unverändert.Weitermachen! Botschaft nach Erhalt vernichten!«

»SANTIAGO, wir sind zum Sprung bereit. Situati-on andernorts irrelevant. Sie verhindern den Sprung.Bitte verlassen Sie Scannbereich!«

»Wir kopieren«, erwiderte Zahadi.Es folgte ein langes Schweigen. Duncan wartete

und beobachtete die Scanneranzeige. Nichts verän-derte sich. Er wiederholte seine Forderung unbeirrt.

Immer noch gab es keine Antwort. Die SANTIAGObefand sich nach wie vor im Scannbereich.

Wieder schnippte er die Verbindung ein und ver-fluchte diesmal die SANTIAGO und alle, die sich anBord befanden; die SANTIAGO blieb, wo sie war, be-nutzte stur ihre Masse, um ihn am Sprung zu hindern– dessen war er sich jetzt sicher.

Stavros' Befehle – ein Schiff, dem Stavros nichtganz Vertrauen konnte, an der Leine, vorsätzlicheVerzögerung.

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Und die Mri würden kommen. Er überlegte, wasgeschehen würde, wenn Melein durch diesen Korri-dor kam, um mit den Dusei ihre Wünsche durchzu-setzen. Niun wartete vielleicht, um nach seinen Waf-fen zu suchen; sie beide mochten eine Zeitlang war-ten und die Rückkehr ihrer Kraft abwarten: Niunkonnte kaum gehen, und Melein konnte es vielleichtgar nicht. Es war zuviel der Hoffnung, daß sie nichteingreifen würden.

Stavros' Einmischung. Stavros kannte ihn, ver-traute ihm nicht genug, um ihn ohne Behinderungdavonfliegen zu lassen.

Und in plötzlich aufblitzendem Begreifen hieb erden Scanner auf Maximum. Ein sich bewegenderPunkt tauchte an der Grenze des Feldes auf und nä-herte sich rasch.

Er fluchte und gab einen panischen Anruf an dieSANTIAGO ein, beschwerte sich darüber.

»FOX, FOX«, kam endlich die Antwort. »Hier SA-BER über SANTIAGO, zugewiesene Eskorte. ErbittenBestätigung.«

Duncan beugte sich vor und justierte den Scanner,die andere Hand zusammengeballt. »SABER, hierFOX. Eskorte nicht Inhalt meiner Befehle. Ziehen Siesich zurück, ziehen Sie sich zurück!«

Es gab zur erwarteten Zeit keine Bestätigung.Nichts.

Die SABER veränderte ihren Kurs nicht.»Erbitte Erklärung«, sendete Duncan.Keine Antwort kam. SABER setzte den Abfangkurs

fort. In sehr kurzer Zeit würde es für Duncan keineWahl mehr geben.

Er fluchte über sie. »SABER«, drängte er. »SABER,

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geben Sie folgende Nachricht an SANTIAGO weiter.Ziehen Sie sich aus meinem Scanbereich zurück!Wiederhole: Ziehen Sie sich aus meinem Scannbe-reich zurück! Dieses Schiff ist sprungbereit und IhreMasse wird registriert. Erbitte offiziellen Log-bucheintrag folgender Nachricht: SANTIAGO, Siehaben fünf vorhergehende Warnungen mißachtet. Infünfzehn Minuten werde ich dieses Schiff durch ma-nuelle Überbrückung springen lassen. Wenn Sie nichtsofort Fluchtmanöver durchführen, werden Sie vonmeinem Feld eingefangen werden. Ich rate Ihnen,sich zurückzuziehen. Fünfzehn Minuten laufen.«

Die Sekunden tickten dahin. Duncans Handschwitzte auf dem Überbrückschalter. Der Punkt, derdie SANTIAGO darstellte, fing an, sich fortzubewe-gen, aber die SABER näherte sich weiterhin rasch.

»FOX«, hörte er. »Hier SABER, Koch spricht. SetzeSie hiermit davon in Kenntnis, daß diese Operationab jetzt auch unsere ist. Wir sind angewiesen worden,Ihnen zu folgen. Befehl des Ehrenwerten G. Stavros,Gouverneur der Kesrith-Gebiete.«

Es traf ihn in der Magengrube: O Gott, raus hier,raus hier! wünschte er entweder den anderen odersich, das wußte er nicht. Er zitterte unter der An-strengung der lange gehaltenen Handstellung.

Ein Kriegsschiff von einem Kilometer Länge miteinem Begleit-Scout. Er beobachtete, wie sich die SA-BER näherte, noch nicht nah genug, daß ihre großeMasse registriert wurde, aber näherkommend. Siekamen auf der Spur der SANTIAGO heran, und dieSANTIAGO, nicht sternflugtauglich, würde sich an-koppeln und auf der plumpen Konstruktion der SA-BER in den Sprung reiten.

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Kriegsschiffe, keine Sondermission. Er war zu ei-nem Lotsen für Kriegsschiffe gemacht worden!

Nein, nein, nein! tobte er innerlich über die andern,und in einer sowohl impulsiven wie auch bedachtenHandlung rammte er die Hand nach vorne und hiebdie Handüberbrückung.

Sprung.Er hielt sich am Schaltpult fest, während ihm alle

Teile seines Körpers gleichzeitig Lügen erzählten,während die Wände wie Wasser zerflossen, währendFormen sich in sich zu winden schienen und es kei-nen Raum gab; und wieder gab; und sich das Zerflie-ßen wieder umkehrte und sich alle Formen zurück inden Normalzustand wanden.

Die Sterne auf den Schirmen waren andere. Duncanzitterte unter der Desorientierung, kämpfte sich dar-aus hervor wie ein Mann, der aus einem Gefecht imtiefen Raum hervorflog.

Er griff nach den Scannerkontrollen, während daswinzigste Ungleichgewicht in seinem KörperSchwindel auslöste und dem Eindruck, daß immernoch Zwischenräume existieren, in die er stürzenkonnte, weder hinauf noch hinab. Wenn im SprungZeit verging, nahm der Verstand sie nicht wahr,nahm nichts davon aus dem Abgrund heraus mit, nurdieses schreckliche Verdrehen nach innen. Er ließ denScanner schweifen.

Nichts war da außer dem Klang der Sterne.Da war nichts.Er sackte im Polster zusammen und kämpfte gegen

die emotionale Auflösung, die oft nach der Transitioneintrat; und diesmal war sie mehr als nur körperlich.

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Er hatte einen furchtbaren, unwiderruflichen Fehlergemacht – nicht für die Mri, nicht für sie: er hatte fürsie zumindest Zeit erkauft, während Koch undStavros das aussortierten, was er gemacht hatte, sichbesprachen und überlegten, welche Farbe er spielteund was mit ihm gemacht werden sollte.

Die Regul leben, hatte Stavros gesagt, ihre Opfernicht. Also befassen wir uns mit den Regul, die immernoch eine gefährliche Macht sind.

Kriegsschiffe, nicht die FLOWER, nicht Leute wieBoaz und Luiz. Die Hälfte von Stavros' militärischenKräften hatte sich darauf vorbereitet, dem Kielwasserder unbewaffneten FOX zu folgen, selbst währendRegul Kesrith bedrohten. Kriegsschiffe, und er mitden Mri an Bord vor ihnen, um Verteidigungsanlagenauf die Probe zu stellen – ein unbewaffnetes Schiff,und dann die anderen.

Um letzte Mri-Basen aufzuspüren und zu zerstö-ren, alles, was das Band finden konnte: zu beenden,was die Regul begonnen hatten.

Er beugte den Kopf in die Arme und versuchte,wieder zu Atem zu kommen. Die Muskeln zittertenvor Wut, aufgrund der Reaktion. Für einen Momentkonnte er nichts anderes tun; und dann suchte er mitimmer noch konsulsivisch zuckenden Fingern dieAmpulle, die er seit Tagen in seinem Gürtel trug, weiler nie wußte, zu welcher Zeit der Sprung stattfindenwürde. Er brach sie auf, ließ sie beinahe fallen, stießdie Nadel in die Armvene und ließ die Droge in sei-nen Blutstrom eindringen.

Wärme verteilte sich in ihm, ein Gefühl der Ruhe,der Fähigkeit, die unnatürlichen Verzerrungen desSprunges zu meistern, zu funktionieren, bis es wieder

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Muße zum Ausruhen gab. Sein Verstand klärte sich,hielt jedoch Abstand zu jeder Art von Streß.

Er überlegte klar, was er getan hatte: daß die SA-BER ihnen folgen würde; sie hatten dort identischeAufzeichnungen – alles war vervielfältigt worden.Die Kriegsschiffe also würden unweigerlich kommen.Es würde ein Kriegsgerichtsverfahren geben, wenndie Menschheit ihn je wieder einfing; sein direkterWiderstand gegen Koch machte das gewiß. Aberwenn die Mri erfuhren, was er gemacht hatte, wür-den sie sich vielleicht selbst darum kümmern, so daßdie menschliche Gerechtigkeit in der Tat eine sehrferne Drohung war.

Er dachte ruhig an diese Dinge, ob nun aufgrundder Erschöpfung von Tagen ohne Schlaf – er fragtesich entfernt, ob das schuld an dem war, was er ge-macht hatte, oder ob der Abzug viel früher durchge-zogen worden war, viel früher, als er sich um die Be-freiung der Mri gekümmert hatte. Er versuchte, aufdem Band Informationen zu finden, aber es sagte ihmnichts, weder die Zeitspanne zum Weiterflug, nochdie Anzahl der Sprünge, noch irgendeinen Hinweisdarauf, wo sie sich befanden. Er betrachtete den Sternim Scanner. Möglicherweise eine Mri-Basis. In demFalle konnte seine Zeit in Tage bemessen sein.

Er stieß sich von den Kontrollen ab. Die Sinne sand-ten ihm immer noch wie wild Signale, selbst unterden beruhigenden Auswirkungen der Droge. Es warschlimmer, als er es je erlebt hatte. Das machte dieMüdigkeit. Er dachte, daß er, wenn die Lage auch nurfür eine Stunde stabil blieb, in sein Quartier gehenund sich waschen und hinlegen würde, jetzt wo es zuspät war, sich um irgend etwas Sorgen zu machen.

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Und ein Dus schlenderte durch die Tür, und da-hinter das zweite Dus; und hinter ihnen kamen dieMri.

Er wich zurück. Melein kam herbei, wie gewohnt un-verschleiert, die Finger in denen Niuns verschränkt,der sie stützte. Sie betrat den Kontrollraum, als Dun-can zurücktrat, und ihre goldenen Augen schweiftenhindurch und richteten sich auf das Objekt, das nebenden Kontrollen lag: auf das Artefakt in seinem Be-hälter. Sie ging zu ihm, mißachtete alles andere, undberührte das silberne Ovoid mit den Fingerspitzen,neigte sich mit Niun, der sie ihm Gleichgewicht hielt,tastete, wie um sich zu vergewissern, daß es wirklichwar.

Dann richtete sie sich auf. Ihre bernsteinfarbenenAugen suchten Duncans, beschattet und durchboh-rend direkt.

»Ich will sitzen«, sagte sie, ihre Stimme ein rauhesFlüstern; und Niun half ihr vorsichtig, sich auf dengepolsterten Lehnsessel der Kom-Station zu setzen,als handele es sich um einen Thron. Sie saß aufrecht,die Hand gegen die Rippen gepreßt, wo sie verwun-det worden war, und für einen Moment litt sie unterAtemnot. Es schien jedoch vorbeizugehen, und siesenkte die Hand. Die beiden Dusei kamen herbei unddrängten sich zu ihren Füßen zusammen, bildeten fürsie einen lebendigen Wall an ihren Knien. Und siestreckte die linke Hand zu Niun aus, der sich nebenihr auf das Deck setzte, den Ellbogen gegen das grö-ßere Dus gestützt. Duncan betrachtete sie beide: fürseine benebelten Sinne hatte sich das moderne Kon-trollzentrum in die Halle einer Priesterkönigin ver-

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wandelt, in der er ein Fremder war. Melein blickteihn direkt an: hinter ihr zeigten die Sternenschirmeeinen Staub aus Lichter, und die farbigen Anzeigenblitzten in träger Reihenfolge und hypnotisch regel-mäßig.

»Duncan«, sagte Melein sanft, »wohin fliegt dasSchiff?«

Er erinnerte sich daran, daß es nicht immer erlaubtwar, sie direkt anzusprechen, obwohl es ihm einmalgestattet worden war. Jetzt lagen die Dinge anders. Erblickte auf Niuns verschleiertes und nicht mitteilsa-mes Gesicht. »Sage der She'pan, daß das uns führt«,antwortete er und wies mit einem Achselzucken aufdas Ovoid neben ihnen.

»Ich spreche mit ihm«, sagte Melein, und ein Stirn-runzeln erschien auf ihrem Gesicht. »Erkläre! Erklärees, Kel Duncan!«

»Weißt du«, fragte er sie, »was es enthält?«»Weißt du es!«Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aufzeichnungen.

Navigatorische Aufzeichnungen. Aber nicht unserZiel. Kennst du es?«

Ihr liebliches Gesicht verwandelte sich in eineMaske, so unausdeutbar wie die Niuns, obwohl un-verschleiert. »Warum bist du mit uns allein? Hättestdu nicht weiser gehandelt, wenn du uns von denKontrollen ferngehalten hättest, Kel Duncan?«

Sie schritt mit ihm die Grenzen von Fragen ab.Mühsam klärte er seinen Verstand, suchte nach Er-klärungen, aber sie streckte ihm beharrlich die Handentgegen, und es gab nichts Gütigeres, als ihre lan-gen, schlanken Finger in die eigene Hand zu nehmen.Die fremdartige Berührung bestürzte ihn, und er be-

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fand sich, im Hinblick auf die Dusei, in einer gefährli-chen Position. »Setz dich!« befahl sie ihm, denn siemußte zu ihm aufsehen, wenn er stand. Und es gabkeinen anderen Platz als das Deck, gegen die Körperder Dusei, wie Niun ruhte. »Bist du jetzt zu fremd füruns?« fragte sie, verspottete ihn.

Er tat wie befohlen. Seine Knie schmerzten auf demDeck. Zwangsläufig berührte er die Dusei und kanntedie Falle, den Kontakt mit den Tieren, das Ver-schwimmen der Sinne. Er bekam Angst, und die Tie-re wußten es, erhoben sich mächtig gegen ihn; er un-terdrückte die Furcht, und sie ließen sich wieder nie-der.

»Ich habe«, sagte Melein zu ihm, ihre Stimme fernund ruhig, »einmal gesagt, daß wir ein Schiff und ei-nen Weg von Kesrith finden würden; ich habe gesagt,daß ich das Pan'en haben muß, und du warst dabeiund konntest es hören. Kel Duncan, sind diese Dingedein Geschenk, allein deines?«

Sie war nicht naiv, diese Kindkönigin: sie fragte,was sie nicht glaubte. Er fühlte, wie sich Abgründevor seinen Füßen öffneten. »Die Politiker«, sagte er,»wollen euch nicht in den Händen der Regul sehen.Ihr seid frei. Nein, das ist nicht mein Geschenk; esstand mir nicht zur Verfügung, um es euch zu geben.Andere – haben diese Dinge arrangiert. Wenn ihr inRegul- oder Menschenraum bleibt, seid ihr erledigt;dieses Schiff ist unbewaffnet. Aber wir haben jetztkeine Eskorte mehr, She'pan. Wir sind allein. Und wirwerden diesem Band bis zu seinem Ziel folgen.«

Sie schwieg einen Moment lang. Duncan betrach-tete Niun, fand dort keinen Trost, war sich nicht si-cher, ob einer von beiden ihm glaubte. Melein redete

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in ihrer eigenen Sprache; Niun antwortete einsilbig,ohne sein Gesicht zu wenden oder den Ausdruck zuändern. Tsi'mri, hörte Duncan: das Mri-Wort für Au-ßenseiter; und er hatte Angst.

»Haßt dich deine Rasse?« fragte Melein. »Warumbist du an Bord allein, Kel Duncan?«

»Um mich um euch – und die Maschinen zu küm-mern. Jemand muß es tun. She'pan, von dem, von die-sem Gegenstand, haben Wissenschaftler unsere Leit-bänder angefertigt. Wir sind an sie gebunden, und esgibt nichts, was ihr oder ich dagegen machen könn-ten. Ich bediene das Schiff; ich bringe euch zu euremZiel, worum es sich dabei auch handelt. Und wennich das getan habe, werde ich das Schiff nehmen undzu meinem Volk fliegen und ihm sagen, daß die Mrikeinen Anteil mehr haben wollen an der Politik derRegul oder Menschen, und daß der Krieg für immervorbei ist. Zu Ende. Deswegen bin ich an Bord.«

Ein besorgtes Stirnrunzeln verstärkte sich auf Me-leins Gesicht, als sie in seine Augen starrte. »Ich kannkeine Wahrheit in dir lesen«, bekannte sie, »als derTsi'mri, der du bist. Und deine Augen blicken nichtrein.«

»Medikamente«, sagte Niun leise, das erste Wort,das er ohne Aufforderung sprach. »Sie benutzen siebei Transitionen.«

Die Mri hatten keine, lehnten Medikamente ab,selbst das: Niuns sie erlangte erniedrigende Kraft,und Duncan spürte den Stich dadurch, empfand imselben Augenblick dessen Gefahr. Zum erstenmal ge-riet er in Panik; die Dusei fuhren alarmiert auf, undNiun wies sie zurecht, beruhigte sie mit den Händen.

»Du weißt nicht«, sagte Melein daraufhin, »was

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deine Vorgesetzten mit dir gemacht haben, Kel Dun-can. Wieviel Zeit lassen sie dir bis zur Rückkehr?«

»Ich weiß nicht«, sagte er.»Es ist eine so lange Reise. Du solltest nicht hier

sein. Du hättest das nicht tun sollen, Kel Duncan.«»Es ist ein langer Weg zurück, She'pan. Wir sind

gesprungen.«»Dies ist jetzt ein Mri-Schiff. Und wohin wir gehen,

dorthin kann kein Tsi'mri gehen.«Die Dusei regten sich, standen auf. Duncan machte

Anstalten, sich zu erheben, aber Niun packte ihn amHandgelenk, ein kraftloser Druck, eine Warnung oh-ne Drohung. »Nein«, sagte Niun. Die Augen überdem Schleier blickten jetzt nicht mehr streng. »Nein.Sei ruhig, Duncan!«

Die Dusei hatten sich in eine Aussparung links vonMelein zurückgezogen und gaben Warnrufe von sich,kleine stoßartige Atemzüge. Die kleinen Augen glit-zerten gefährlich, aber nach einem Moment beruhig-ten sie sich, setzten sich, beobachteten immer noch.

Und Niun sprach zu Melein, ruhig, in seiner eige-nen Sprache, erhielt eine Antwort und redete drän-gend weiter, als ob er Bitten vorbrachte, die ihrerMeinung zuwiderliefen. Duncan lauschte ange-spannt, konnte aber nur die Wörter Mri, Kesrith undTsi'mri auffangen – Tsi'mri: wie Mri einfach das Volkbedeutete, so war das Wort für jede andere RasseNicht-Volk. So war ihr Denken beschaffen; es war ihmseit langem vertraut. Man konnte nicht dagegen ar-gumentieren.

Schließlich, mit ein paar Worten, stand Melein auf,verschleierte das Gesicht und wandte sich ab, wandteihnen bedachtsam den Rücken zu.

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Es war eine frostige Geste. Duncan rappelte sichbesorgt auf; und auch Niun erhob sich, stützte sicham Sessel ab, stand zwischen Duncan und den Dusei.

»Sie hat gesagt«, berichtete Niun, »daß ich keinemFremden mehr erlauben darf, vor ihr Angesicht zutreten. Du bist ein Kel'en: ich werde gegen dichkämpfen, sobald ich kann, oder du magst bei unsbleiben und als Mri leben. Du kannst wählen.«

Er starrte Niun hilflos an, sah selbst ihn durch dieWirkung der Droge nur wie von ferne. »Ich habenicht meinen Nacken aufs Spiel gesetzt, um euch frei-zubekommen, nur um dann einen von euch zu töten.Nein.«

»Du würdest mich nicht töten«, meinte Niun.Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht. »Ich bin

nicht euer Feind«, protestierte er.»Willst du in den Dienst der She'pan treten?«»Ja.«Er sagte es rasch; es war die einzig vernünftige

Antwort. Wenn die Lage sich beruhigt hatte, irgend-wann später, würde der Augenblick gekommen sein,vernünftig mit ihnen zu reden, ihnen zu erklären,warum er mitsamt dem Schiff freigelassen werdenmußte. Es war ihr eigener Schutz, an den sie dachten.

Aber Niun blieb für einen Moment still, starrte ihnan, als ob er hinter dieser Zustimmung eine Lügeargwöhnte.

»Niun«, sagte Melein, ihnen immer noch den Rük-ken zuwendend; er trat zu ihr, und sie redeten leisemiteinander. Dann schwieg er für einen Moment; dieDusei bewegten sich unruhig: eines stöhnte und stießmit der Nase fordernd gegen Niuns Hand. Er liebko-ste es abwesend, brachte es damit zum Schweigen,

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ging dann zurück auf die Seite des Raumes, wo Dun-can stand.

»Kel Duncan«, sagte er, »die She'pan sagt, daß wirheimkehren. Wir kehren nach Hause zurück.«

Für einen Moment fiel es Duncan nicht ein – dannerst kam das dumpfe, ferne Begreifen. »Ihr habt Kes-rith euer Heim genannt«, sagte er.

»Und Nisren. Kel-Wahrheit. Die She'pan weiß Be-scheid. Duncan...« Die Augen über dem Schleier ver-loren ihre Teilnahmslosigkeit. »Vielleicht sind wir dieletzten. Vielleicht ist nichts geblieben. Vielleicht wirdes eine zu lange Reise. Aber wir machen sie. Und da-nach muß ich vergessen, ebenso wie du. Dies ist dasWort der She'pan, denn nichts menschliches kann aufsolch einer Reise bei uns bleiben. Die She'pan sagt,daß du dem Volk ein großes Geschenk gemacht hast;und wegen dieses Dienstes magst du deinen Namenbehalten, obwohl er menschlich ist, aber sonst nichts.Wir sind von der Sonne in die Dunkelheit gegangen;und in der Dunkelheit vergessen wir alles, was wirwaren und sahen und wußten, und wir kehren heimzu unseren Vorfahren. Das ist, wozu du dich gesellthast, Duncan. Wenn du jemals auf der Heimatweltdes Volkes stehst, wirst du Mri sein. Ist das begriffen?Ist es das, was du willst?«

Ein Dus drängte sich an sie, warm und mit drän-genden Emotionen. Duncan fühlte eine Taubheit,spürte beinahe Niuns Furcht. Vergewaltigung derPersönlichkeit, der Selbstkontrolle: er wich zurückund das Dus scheute, kehrte dann beharrlich in seineNähe zurück. Die Dusei konnte man nicht anlügen;die Mri letztendlich ebenfalls nicht. Eines Tages wür-den sie erfahren, was Menschen ihnen hatten zufügen

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wollen, was er zu ihrer Heimatwelt geführt hatte; einzweites, tödlicheres Geschenk. Es war eine Ironie, daßsie ihn fragten, ob er es mit ihnen teilen wollte.

»Das ist, was ich will«, sagte er, denn er sah keineandere Wahl.

Niun runzelte die Stirn. »Ein Mri«, sagte er, »hättenicht die Wahl treffen können, die du getroffen hast.«

Der Abstand, den ihm die Droge verlieh, schwand,überließ ihn der kalten Wirklichkeit. Er hörte, wasNiun sagte, und es drehte sich, Vorahnungen wek-kend, in seinem Bewußtsein. Er betrachtete MeleinsRücken, fragte sich, ob sie sich jetzt dazu herablassenwürde, ihn zur Kenntnis zu nehmen, da er sich all ih-ren Bedingungen unterworfen hatte.

»Komm!« sagte Niun und wies auf die Tür. »Duhast das Schiff aufgegeben. Du gehörst hier jetzt nichtmehr hin.«

»Sie kann nicht damit umgehen«, protestierte er,dachte mit Bestürzung an Melein, die, wüstengeborenund regul-trainiert, ihre Hand an menschengemachteMaschinen legte.

Niuns ganzer Körper versteifte sich; das Stirnrun-zeln kehrte zurück. »Komm!« wiederholte er. »Vergißals erstes, wie man fragt! Du bist nur ein Kel'en.«

Es war Wahnsinn. Es war für den Moment unum-gänglich. Meleins Unwissenheit konnte sie alle töten,aber sie war sicherlich vernünftig genug, von Unbe-sonnenheit Abstand zu nehmen. Das Schiff konntevon allein fliegen. Dies war eine weniger unmittelba-re Gefahr als ein Streit mit Niun.

Hier waren die Dusei.Hier war die schlichte Tatsache, daß er, wenn er

den Mri besiegte, ihn auch töten mußte. Und er hatte

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nicht mit Stavros' Befehlen gebrochen, sich von Kes-rith abgeschnitten, um den Job der Regul für die an-deren zu Ende zu bringen. Mit der Zeit konnte er dieMri gut genug kennenlernen, um vernünftig mit ih-nen zu reden, wo immer sie waren, auf einer Mri-Welt oder einer der Regul.

Er fügte sich und verließ das Kontrollzentrum zu-sammen mit Niun, die Dusei hinter ihnen. Die Türging hinter ihnen zu, wurde versiegelt. Er hörte, wiedas Schloß einschnappte.

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9

Zwei Kriegsschiffe, sechs Reiter-Fahrzeuge.Bai Hulagh Alagn-ni beobachtete mit Befriedigung

den Unterschied, den Macht im Verhalten des Men-schenvolkes spielte. Sie warteten auf den Frontstufendes Nom, zwei Handvoll Menschenjunglinge, um dieKarawane vom Shuttle-Landeplatz in Empfang zunehmen; und eine Anzahl Regul-Junglinge, die vierglänzende Silberschlitten brachten. Hulagh gab sei-nem Fahrer eine kurze Anweisung, dort zu den Regulhinaufzufahren: einige der neuen Leute weiter hintenin der Karawane waren noch scheu vor Menschen,und trotz seines Ranges und der zu erwartenden Un-bequemlichkeit hatte Hulagh vor, vor ihnen auszu-steigen und sich um die anderen zu kümmern. Erselbst hatte keine Angst vor Menschen und war dar-auf bedacht, daß sich keiner der anderen Alagn vorihnen entwürdigte.

Das Fahrzeug hielt ohne Ruck an. Die Luke gingauf und ließ die vertraute, ätzende Luft von Kesrithherein: Hulagh schnaubte vor Widerwillen, als sie inseiner Nase brannte – aber sie enthielt jetzt nichtsde-stotrotz einen gewissen Geschmack.

Er kümmerte sich nicht um die Menschen, die ihnneugierig beguckten; einige streckten versuchsweiseHände aus, um ihm zu helfen. Sein Fahrer, Suth Ho-rag-gi, drängte sie zur Seite, und mit gekonnter undwirksamer Organisation brachte er den Schlitten inPosition. Sehr vorsichtig hob Suth Hulaghs großesGewicht auf seine verkümmerten Beine und schnellwieder hinab in den hausinternen Schlitten – eine

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Sanftheit und Freundlichkeit, die Hulagh inzwischenhoch schätzte. Er war mehr und mehr dazu gekom-men, diesen Jungling des winzigen Doch Horaghochzuschätzen; sein Betragen während der schwie-rigen Tage auf der Station war fehlerlos gewesen.Natürlich brachte er dies nicht gegenüber Suth zumAusdruck: das würde den Jungling, den er für größe-re Verantwortung auszubilden gedachte, nur verder-ben.

Diener nicht nur des ersten Ältesten von Alagn,sondern des ersten Ältesten des ersten Doch unterden ersten dreien der Regul: Suth kannte das kom-mende Glück noch nicht. Hulagh lächelte vor sichhin, eine Geste, die die Menschen kaum erkennenwürden, ein Straffen der Muskulatur der unterenAugenlider, eine Entspannung der Nasenlöcher trotzder beißenden Luft.

Sein langes, vorsichtiges Manövrieren hatte Erfolggehabt.

Acht Schiffe waren gekommen, ein Viertel derStärke von Doch Alagn, und andere warteten noch.Sie waren gekommen, um das Schicksal ihres Älte-sten herauszufinden, auf Kesrith zwischen Menschenund Mri aufgehalten und lange überfällig. Die Men-schen hatten offensichtlich nicht erwartet, daß Alagnmit solcher Stärke reagierte – als ob Alagn vernünfti-gerweise etwas anderes hätte tun können. Stavroshatte offenkundig darin versagt, zu erkennen, wiesehr Alagn hier gebunden war durch die Anwesen-heit eines Schiffprototyps, den die Hohe Versamm-lung der Regul Docha ihnen anvertraut hatte – verlo-ren jetzt, verzogenes Metall auf einem zerstörten Ha-fen. Plötzlich aufschießende Furcht störte Hulaghs

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Befriedigung – aber diese ängstlichen Menschen bo-ten die Mittel, den Verlust zu decken und ihm zumTrotz die Position Alagns zu verbessern.

Die Gesichter dieser menschlichen Junglinge, dieHaltung der Menschen auf der Station, die Gesprächemit Stavros, all das zeigte eindeutig, daß die Men-schen nicht kämpfen wollten. Hulagh hatte bereitsseit langem daran geglaubt und spendete der Ver-nunft der Menschen natürlich Beifall. Auf Kesrith wa-ren Älteste verpflichtet, menschliche und jetzt dreiweitere der Regul, geringere Älteste und Alagn, indem Teil der Karawane, der jetzt auszusteigen be-gann. Kämpfen ergab keinen Sinn. Hulagh stellte die-se Haltung ernsthaft zur Schau, indem er die Ältestendes eigenen Doch herkommen ließ und glaubte, daßes sicher war. Die Menschen hätten bei Auftauchender Kriegsschiffe den Kampf eröffnen können, beimersten Anzeichen davon, daß es Reiter-Träger waren;aber stattdessen hatten sich die Menschen zum Ge-spräch entschlossen, trotz der Tatsache, daß sie hättengewinnen können: Menschen waren wilde Kämpfer,was dadurch belegt wurde, daß sie sich mit den Mrihatten messen können – mit dem Vorteil der größerenZahl sicherlich, aber Regul hätten den Mri nicht wi-derstehen können, und Hulagh gestand dies insge-heim ein. Nein, die Menschen wollten keinen weite-ren Konflikt. Nach jenen ersten ängstlichen Tagenhatte Hulagh angefangen, Bai Stavros ehrlich zu ver-trauen, der bekannte, daß die Menschen den Friedennicht nur einhalten, sondern sogar ausweiten wollten.

Diese Wahrheit enthielt sicherlich tiefere Wahrhei-ten des Vorteils für Stavros und seine privaten Inter-essen: Stavros, mit einer Weisheit, die die Regul re-

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spektieren, vielleicht sogar lieben konnten, ver-pflichtete sich nicht gegenüber einem Verbündeten,sondern verfolgte mannigfaltige Beziehungen unduntersuchte sie auf ihre Vorteile.

Da gab es beachtenswerterweise die Frage der Mri,die Stavros immer noch interessant fand und der ervermittels des angeblich wahnsinnigen JunglingsDuncan nachging. Schon der Gedanke ließ HulaghsHaut sich zusammenziehen. Wahnsinnig vielleicht,aber wenn der Jungling derartig fehlerhaft war, dannwar es verrückt von Stavros, ihn wiedereinzusetzen.Und Hulagh glaubte nicht, daß Stavros verrückt war.

Eine Sonde hatte das System verlassen; das größteder menschlichen Kriegsschiffe hatte sie bis zumRand des Systems eskortiert und war nach einemwütenden, codierten Funkwechsel mit der Sonde unddann mit Stavros zurückgekehrt. Hulagh bedauertesehr, daß weder er noch seine Gehilfen diesen Aus-tausch verstehen konnten, nach dem das Kriegsschiffund sein Reiter brav zur Station zurückgekommenwaren, während das Schiff HANNIBAL die Regul-Fahrzeuge bei ihrer Annäherung eskortierte.

Das Schiff mit den Mri an Bord hatte Kesrith ver-lassen, unmittelbar nachdem Stavros informiert wor-den war, daß Regul-Schiffe anflogen. Nach einer Be-sprechung mit Stavros war Duncan mitsamt seinerHabe auf dieses Schiff geschickt worden, mit allem,was von seinem Besitz nach der ursprünglichenÜberführung übriggeblieben war. Ein Daueraufent-halt also, die letzte Spur seines Aufenthaltes aus demNom entfernt, obwohl er eigentlich auf dem Schiffgewohnt hatte. Als die Anwesenheit von Regul imSystem bekanntgegeben worden war, hatte die Sonde

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die Station verlassen: das hatte Hulagh von seinenMit-Ältesten erfahren.

Duncan, der sich vermutlich auf der Station befand,war nicht verfügbar, auch nicht auf Hulaghs drän-gendste Nachfragen nach dem Jungling, und dieMenschen waren ausweichend.

Duncans Verrücktheit kreiste um die Mri, die sichvermutlich ebenso auf der Station aufhielten.

Es war ein Spiel nach Regul-Art. Hulaghs Herzenarbeiteten schwer, wann immer er an die Mri dachte;zweifellos wußten die Menschen von seiner Angst.Blieb nur herauszufinden, welcherart der Handelwar, den Stavros mit Alagn abzuschließen wünschte,denn den Menschen war es sicherlich ebenso klar,daß er jetzt über den Rückhalt verfügte, mit dem ver-handelt werden mußte. Hulagh vertraute den Men-schen, wie er den Mri nie hatte vertrauen können. Ertraute einem Menschen wie Stavros sogar sehr, dermit Profit rechnete, wie es die Regul taten – wasMacht anging, Gebiete, Ressourcen an Metall undBiostoffen, und den Schutz dessen, was ihm gehörte.Personen wie Stavros fand Hulagh in beruhigenderNähe seiner eigenen Geistesart; und deshalb war erauf eine frühzeitig angesetzte Konferenz aus.

Der letzte der Ältesten stieg aus. Hulagh drehtegemächlich seinen Schlitten herum, erwartete sie,verbrachte einen Zeitraum in der ätzenden Luft, fürden er den ganzen Tag lang mit einer trockenenKehle und stechenden Atemwegen würde bezahlenmüssen.

Drei Älteste mit ihren Dienstjunglingen: Sharn, Ka-rag und Hurn, letzterer männlich; Sharn, weiblich,Viertälteste des Doch; Karag, ein kürzlich gereifter

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Mann, der zu der Instabilität neigte, die die Reifungfür junge Erwachsene bereithielt. Karag war SharnsProtegé und wahrscheinlich momentaner Gefährte,hatte immer noch die glatte Haut eines Junglings undnoch nicht die Körpermasse von Sharn oder Hurnerlangt, sicherlich nicht Hulaghs gedeihliche Würde,aber er schätzte bereits den Gebrauch eines Schlittens– den letzten, den die Dienstjunglinge bereithielten.Hulagh sah geduldig zu, wie die Junglinge viel Auf-hebens um die drei Erwachsenen machten und siedurch des Gedränge von Menschen hindurchbrach-ten.

Hulagh war nicht mehr allein, der einzige Ältesteauf Kesrith, umgeben nur von Junglingen mit be-grenzter Erfahrung und von fremden Docha. Sein ei-genes war jetzt bei ihm. Alagn-ni, und seine Schiffehingen ständig bemannt an der Station und warendurch ihre Nähe zu den menschlichen Fahrzeugenund zur Station dazu in der Lage, eine größere Be-drohung darzustellen, als sie es im Kampf vermoch-ten. Die Menschen hatten dies zugelassen; und daswar ein weiterer Grund, der Hulagh Vertrauen in denFrieden vermittelte. Er lächelte vor sich hin, drehtesich um und fuhr mit dem Schlitten die leichte Schrä-ge hinauf; Suth ging neben ihm, die Menschenmachten Platz, um ihn hindurchzulassen. Er erreichtedie warme, gefilterte Atmosphäre des Nom an derSpitze eines Zuges, der die hiesigen Junglinge, diedanebenstanden und zuschauten, mit Ehrfurcht er-füllte und seinem lange geschädigten Stolz Genugtu-ung verschaffte.

»Stavros«, hörte er, wie ein Menschenjungling, in-dem er das Regul-Protokoll beachtete, Suth infor-

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mierte, »wird den Bai wie gewünscht sofort empfan-gen.«

»Zur Verehrung Bai Stavros«, intonierte Hulagh,als Suth sich ihm feierlich zuwandte. »Sofort.«

Das Zusammentreffen fand nicht, wie es bei allenvorangegangenen Anlässen der Fall gewesen war, inStavros' kleinem Büro statt, sondern in der offiziellenKonferenzhalle; und Stavros hatte sich mit unifor-mierten Junglingen und vielen unbewegten Gesich-tern umgeben, die bei Menschen von einer stacheli-gen, wenn nicht feindseligen Stimmung zeugten.Hulagh blickte, jetzt mit seinen drei Ältesten und sei-ner Begleitung an Alagn-Junglingen im Rücken, umsich und lächelte auf Menschenart, war weit davonentfernt, sich an dem neuen Machtgleichgewicht zustören, das den Menschen zweifellos Sorgen bereitete.

»Können wir«, schlug Hulagh sofort vor, bevor dieSitzordnung kompliziert werden konnte, »auf über-flüssige Junglinge verzichten und direkt miteinandersprechen, Verehrung?«

Stavros wandte seinen Schlitten und gab Anwei-sungen: die Menschenjunglinge sortierten sich nachRang, und einige gingen. Hulagh behielt Suth zurückund jeder der Alagn-Ältesten einen persönlichenDiener, während die vier Menschen, die sich selbstals erwachsen einschätzten, auf Stühlen und Stavros'Schlitten verteilten. Hulagh starrte einen von ihnenneugierig an, der keine Spur von Grau zeigte – dieseFärbung hatte er für einen Hinweis auf den Reifezu-stand von Menschen gehalten, da andere Farbgebun-gen keinerlei Bezug dieser Art zu enthalten schienen.Er konnte den Verdacht nicht ganz unterdrücken, daß

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Stavros gegen das Protokoll verstieß, indem er dieseneinen im inneren Kreis sitzen ließ, aber in seiner frei-mütigen Stimmung verzichtete er darauf, sich zu be-schweren. Es konnte ja ein Ältester sein: Hulagh hatteniemals genau herausgefunden, was bei diesen We-sen das Alter bestimmte, die schon im Kindesalter ge-schlechtsreif wurden und deren Erscheinungsbild aufihrem Weg zur Reife und danach chaotischen Verän-derungen unterlag. Er sah Fragen von seinen Ältestenvoraus und kannte zu seiner Verlegenheit die Ant-worten nicht.

Die Junglinge servierten endlos Soi. Das war erfor-derlich, denn die Reise hatte allen Energie abverlangt.Dann kamen die Vorstellungen: Hulagh nahm dieNamen und Posten der sogenannten älteren Men-schen in sich auf und antwortete mit den Namen sei-ner eigenen Ältesten, die durch den raschen Flußfremdartiger Eindrücke und durch die Erschöpfungimmer noch verwirrt zu sein schienen. Aber bei denVorstellungen fand Hulagh Grund für einen Einwandund ließ mit einem ungeduldigen Seufzen seine Na-senlöcher beben. »Bai Stavros«, sagte er, »gibt es kei-nen Vertreter des Bai der Station?«

»Das ist unnötig«, sagte Stavros, wobei er denKommunikationsschirm seines Schlittens benutzte,denn Hulagh hatte ihn in der Regul-Sprache ange-sprochen, und sie benutzte Stavros auch zur Antwort.»Die Politik wird hier bestimmt. Dort draußen wirdsie ausgeführt. Bai Hulagh, wenn Ihre Ältesten siefließend sprechen, können wir dann die menschlicheSprache verwenden?«

Das war charakteristisch für die Menschen, derenErlerntes nicht in ihren Personen ruhte, sondern in

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schriftlichen Aufzeichnungen, daß selbst eine be-trächtliche Zeitspanne auf Kesrith ihnen keine flie-ßende Beherrschung der Regul-Sprache ermöglichthatte. Sie vergaßen. Es hatte Hulagh amüsiert, daßZusammentreffen oft auf Band gespeichert wordenwaren, damit die Menschen nicht vergaßen, was siegesagt hatten und was man ihnen berichtet hatte.Zweifellos wurde auch dieses aufgezeichnet. In ande-rer Hinsicht amüsierte es ihn in keinster Weise, sichzu überlegen, daß jede Versprechung und jede Aus-sage eines dieser Geschöpfe auf einem solch armseli-gen Gedächtnis beruhte. Die Unwahrheit zu sagen,war für einen Regul etwas Schreckliches, denn waseinmal gesagt worden war, konnte nicht wieder ver-gessen werden; aber zweifellos konnten Menschenalles vergessen, was sie wollten, und manchmal sogardie Tatsachen.

»Meine Ältesten sind noch nicht fließend«, sagteHulagh und vermied jede Spur von Humor auf sei-nem Gesicht, als er hinzufügte: »Es wird lehrreich fürsie sein, wenn Sie die Menschensprache benutzen. Ichwerde für simultane Übersetzung aus meinen Schirmsorgen.«

»Sehr gut«, sagte Stavros laut. »Ein Vergnügen, Ih-re Ältesten persönlich willkommen zu heißen.«

»Wir sind erfreut, willkommen zu sein.« Hulaghsetzte seine leere Tasse ab, lehnte sich in die Polste-rung zurück, stellte die Tastatur ein, um zu tun, waser Stavros versprochen hatte. »Und wir sind erfreutdarüber, daß unsere menschlichen Freunde bereitsind, ihre Geschäfte zu unterbrechen, um diese höfli-che Begrüßung durchzuführen. Aber wahre Absichtwird durch viel Formalität verhüllt. Wir sind keine

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streitenden Docha, was gesagt werden muß. Sie ha-ben nicht angegriffen; wir haben nicht angegriffen.Wir sind erfreut über die Lage.«

Diese Direktheit schien die teilnehmenden Men-schen zu stören. Stavros selbst lächelte, ein straffes,wachsames Lächeln. »Gut«, sagte er. »Wir versichernIhnen erneut, daß wir sehr erfreut sind über die Aus-sicht, umfassenderer Verhandlungen mit Doch Alagnund der ganzen Regulrasse.«

»Wir wünschen ein solches Übereinkommen ebenso.Die Mri jedoch, sie bleiben ein Element der Unruhe.«

»Das muß nicht sein.«»Weil sie nicht mehr auf Kesrith sind?«Stavros hob die Brauen. Vielleicht ein Lächeln;

Hulagh beobachtete die Reaktion sorgfältig und ent-schied anders. »Wir arbeiten daran«, sagte Stavrosvorsichtig, »den Regul versichern zu können, daß vonden Mri keine mögliche Gefahr mehr ausgeht.«

»Ich habe mich nach dem Jungling Duncan erkun-det«, sagte Hulagh. »Er ist nicht verfügbar. Die Mrisind nicht mehr auf Kesrith. Ein Schiff ist abgeflogen.All diese Umstände – die vielleicht keine Beziehun-gen untereinander haben – scheinen eine immer nochschmerzliche Bedeutung zu erlangen.«

Es gab eine lange Pause. Stavros' Mund arbeiteteund schuf einen Ausdruck, den Hulagh ebensoweniglesen konnte wie den vorherigen: Betroffenheit viel-leicht, oder Mißvergnügen.

»Wir sind dabei«, sagte Stavros endlich, »die Ver-breitung der Mri zu erforschen. Wir haben zur Sachegehörige Aufzeichnungen gefunden. Bai Hulagh, derUmfang der Aufzeichnungen ist außerordentlich be-unruhigend.«

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Hulagh sog Luft ein, hielt den Atem für einen Mo-ment an. Er kannte Stavros wirklich gut genug, umsich auf das zu verlassen, was er sagte.

»Ein Teil davon«, sagte Stavros, »kann im Regul-Raum liegen, aber nur ein Teil.«

»Verlassene Welten«, sagte Hulagh. In seiner Be-stürzung hatte er nicht übersetzt. Er holte seine Aus-lassung; nach und erkannte Schrecken auf den Ge-sichtern der anderen Ältesten. »Nisren, Guragen –aber es trifft zu, daß sie sich weithin ausgedehnt ha-ben. Ein Mri-Bericht, nicht wahr?«

»Sie schreiben in der Tat«, sagte Stavros.»Ja«, sagte Hulagh. »Keine Literatur, keine Kunst,

keine Wissenschaft, kein Handel; aber ich war in demalten Edun – dort, auf den Hängen. Ich habe selbstgesehen, was vielleicht Inschriften waren. Aber ichkann sie nicht für Sie übersetzen, nicht ohne weite-res.«

»Numerische Aufzeichnungen, zum großen Teil.Wir haben sie gut genug verstanden, um uns Sorgenzu machen. Wir gehen der Frage nach. Sie mag sichals von großer Bedeutung für alle Regul herausstel-len. Wir sind betroffen über den Umfang dessen, wasdiese Unterlagen uns vielleicht zeigen. Und übermögliche Überlappungen unserer Nachforschungenmit Regul-Gebiet. Eindringung in Randbereiche.Nicht lästig für Alagn, aber vielleicht für andere...«

»Holn.«»Ja«, sagte Stavros. »Wir machen uns Sorgen über

den Kurs dieser Sonde. Es mußte jedoch getan wer-den.«

Der Atem ließ Hulaghs Nasenlöcher flattern; dieHerzen schlugen in einem besorgniserregenden

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Rhythmus. Er war sich der erschreckten Blicke seinerÄltesten, die auf ihm ruhten, überdeutlich bewußt.Sie verließen sich auf seine Erfahrung, denn sie selbsthatten keine. Er wurde sich quälend dessen bewußt,daß er mit einer Sache konfrontiert war, die Auswir-kungen bis nach Mab haben würde. Und es gab keineMöglichkeit, sie zu verzögern oder sich zu beraten.

Alagn hatte die Macht, für die Docha zu sprechen,hatte dies bereits zuvor in den Verhandlungen mitden Menschen gemacht. Hulagh sammelte sich, ver-langte nach mehr Soi, und in gleicher Weise erfrisch-ten sich die anderen Ältesten. Tief in Gedankennippte er an seinem Getränk, setzte ab, um Sharn, de-ren Rat willkommen war, sogar sachkundig, einenBlick zuzuwerfen. Sharn erwiderte mit einem Blick,der Verständnis für Hulaghs Betroffenheit enthieltund ihm zustimmte. Er freute sich darüber. Die ande-ren Ältesten sahen einfach verwirrt aus, und Karagschaffte es nicht, seine Beunruhigung zu verbergen.

»Bai Stavros«, sagte Hulagh schließlich und unter-brach damit eine ruhige Besprechung der Menschenuntereinander, »Ihr... Eindringen könnte sich, was dieBeziehungen zu den Docha angeht, als gefährlich er-weisen. Jedoch könnte mit Unterstützung Alagns einesolche Expedition von hier aus genehmigt werden.Die von Ihnen erwähnten Aufzeichnungen, so ver-stehe ich, gehen in ihrem Umfang über Regul-Gebiethinaus.«

»Unsere Kenntnis ü b e r Ihre Ausdehnung in b e-stimmten Bereichen ist nur vage, aber wir glauben es.«

»Sicherlich haben wir in dieser Sache ähnliche In-teressen. Wir sind keine kriegerische Rasse. Sicherlichhaben Sie das bei Entsendung dieser Sonde in Rech-

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nung gestellt, und vielleicht wäre ihr das große Kriegs-schiff gefolgt. Sicherlich...« Plötzlich kam Hulagh einGedanke: seine Nasenlöcher entspannten sich vorVerwunderung. »Sie haben diese Sonde als eine Aus-rede vorgesehen. Sie haben sie mit Bedacht voraus-fliegen lassen, um das Recht der Verfolgung zu bean-spruchen, um sich selbst zu entschuldigen – Mri-Rebellenschiff. Habe ich recht?«

Stavros gab keine Antwort, sondern blickte ihn nurargwöhnisch an. Die Gesichter der anderen warenundeutbar.

»Und doch haben Sie die Kriegsschiffe zurückge-halten«, sagte Hulagh. Seine Herzen nahmen einenunharmonischen Rhythmus an. »Für unsere Ver-handlungen, Bai Stavros?«

»Es schien nützlich zu sein.«»In der Tat. Hüten Sie sich vor einem Fehlurteil,

Verehrung Bai Stavros. Ein Regul im Heimatterritori-um unterscheidet sich sehr von einem Regul fernerKolonien. Wenn das Überleben eines Doch auf demSpiel steht, wird eine harte Haltung eingenommen.«

»Wir wünschen keinen Zwischenfall. Aber wirkönnen auch nicht die Möglichkeiten, die in jenenAufzeichnungen enthalten sind, unerforscht lassen.Eine Mri-Zuflucht bei Holn ist nur eine solche Mög-lichkeit.«

»Wir haben ähnliche Interessen«, sagte Hulagh ru-hig. »Ich werde den Durchflug dieses Kriegsschiffessanktionieren – in einer gemeinsamen Mission beiAustausch aller Daten.«

»Ein Bündnis.«»Ein Bündnis«, sagte Hulagh, »zu unserer beider

Schutz.«

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Der Mensch schlief.Niun, an die warmen Körper der Dusei gelehnt,

sein Geist erfüllt mit dem Frieden der Tiere, betrach-tete Duncan im dämmrigen Licht des Sternenschirms,zufrieden mit dem Warten. Es gab ein zweites Bett inDuncans Quartier, aber er lehnte es ab, zog den tep-pichbedeckten Boden vor, die Nähe der Dusei – dieDinge, die er schon im Kel gekannt hatte. Er hatte ge-nug geschlafen; das lange Warten im Dämmerlichtmachte ihn jetzt nur schläfrig, und er kämpfte gegenden Impuls, zurück in den Halbschlaf zu gleiten, fandes zum erstenmal wirklich angenehm, in dieser neuenWelt wach zu sein. Er trug wieder seine Waffen; dieDusei waren im Besitz des Pan'en und des Schiffes.

Ihres Schiffes.Er nahm an, daß sie diesem Menschen viel schul-

deten, beschämend viel; aber er war froh, daß Meleinsich entschlossen hatte, das auf sich zu nehmen undzu leben. Es war ein Maß für Meleins Dankbarkeit,daß sie sich irgendwie beugte, daß sie die Bestim-mung von Zeitpunkten in Niuns Händen ließ. Wenndu meinst, daß er wieder fit ist, hatte sie gesagt, und so-gar gestattet, den Schiffsplan so anzupassen, daß siein einen verfrühten Nachtzyklus eintreten konnten,worauf sie nicht angewiesen waren; Duncan jedochbrauchte den Schlaf, den er sich selbst versagt hatte,als er für sie sorgte.

Andernorts schlief Melein sicherlich, oder arbeiteteruhig. Das Schiff folgte seinem Kurs, erforderte keineBedienung. Sie hatte eine weite, unglaublich weite

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Reise vor sich. Der Bezugsstern, der blaß und fern imMittelpunkt des Schirmes leuchtete, war nicht ihrZiel. Sie waren nur in den Randbereich des Systemseingedrungen und würden wieder hinausgleiten, indie Transition.

Und Sterne auf Sterne würde es geben – so hatteMelein gesagt.

Während der Nacht hatte eine zweite Transitionstattgefunden, ein Raum, in dem sie waren und nichtwaren und wieder waren und wo Substanzen wie Was-ser flossen. Niun war nicht in Panik geraten, wederdiesmal noch beim erstenmal, obwohl selbst Duncan,der in diesen Dingen erfahren war, mit einem wildenAufschrei aufgewacht w a r u n d sich anschließendschlecht gefühlt hatte; er hatte überreichlich geschwitztund es kaum geschafft, ins Labor zu gehen, wo er dieDrogen fand, die ihn beruhigten. Schließlich war erunter ihrer Wirkung eingeschlafen, was auch jetzt nochandauerte. So besorgniserregend der Vorfall war, hatteNiun doch versucht, ihn nicht wahrzunehmen; erschrieb ihn der gestörten Verfassung des Menschenzu. Es war möglich, dachte er, daß die Mri in diesemZustand einen natürlichen Vorteil hatten; oder viel-leicht war es die Schmach, die einen Mri davon ab-hielt, solcher Schwäche nachzugeben. Er wußte esnicht. Andere Schmach hatte er erlitten, durch dieHände von Menschen und Regul ihm zugefügt; aberdies waren sein eigener Körper und seine eigenenSinne, und beides hatte er unter Kontrolle.

Ihr Schiff, ihre Reise und das Pan'en, das sie führte:dies waren die einzigen Umstände, unter denen sichdas Leben lohnte – daß sie über sich selbst herrschten,so sehr diese Tatsache ihn auch immer noch verwirr-

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te. Er hatte nicht damit gerechnet, obwohl Melein esvorhergesehen hatte, ihm gesagt hatte, daß es sokommen würde. Er hatte es nicht geglaubt: Melein,die einfach nur Sen Melein gewesen war, seine Wahr-schwester – mehr zu sein hatte er ihr nicht zugestan-den, als eine arme, hauslose She'pan, verloren undmachtlos, und er hatte getan, was er konnte um siedurchzubringen.

Aber sie hatte gewußt.Es war gesagt worden, daß die größten She'panei

über die Voraussicht verfügten, die größten und hei-ligsten, die jemals das Volk geführt hatten. Und einGefühl der Ehrfurcht ergriff von ihm Besitz, als er er-kannte, daß Melein solch eine war, sie, die eines Blu-tes mit ihm war. Diese Verwandtschaft erschreckteihn, die Überlegung, daß ihre Erbschaft auch die sei-ne war, daß auch in ihm etwas ruhte, das er nicht be-griff und über das er keine Macht hatte.

Sie führte sie heim.Die bloße Vorstellung schon war ihm neu: Heimat

– A'ai sa-mri, die Anfänge des Volkes. Er wußte, wiees sicherlich alle Mri immer gewußt hatten, daß eseinmal eine andere Welt gegeben haben mußte als dieverschiedenen Heimatwelten nach eigenem Gutdün-ken, obwohl gesungen wurde, daß das Volk aus derSonne geboren war. Sein ganzes Leben lang hatte erimmer nur zur roten Scheibe Arains aufgeblickt, undunter der Disziplin des Kel und den Belangen seinesvorherigen Lebens hatte er es seiner Neugier niemalserlaubt, sich hinter dieser Grenze seines kindhaftenGlaubens zu ergehen.

Es war ein Mysterium, und keines, das zu seinerKaste gehörte.

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Aus der Sonne geboren. Eine goldene Haut hattendie Mri, bronzene Haare und goldene Augen: es warihm nie zuvor in den Sinn gekommen, daß in diesemLied die Anspielung auf eine Sonne von anderer Fär-bung verborgen lag, und daß es mehr erklärte als nurden Brauch des Kel, dessen Angehörige vorzugsweiseRaumfahrer waren, die ihre Toten in das Feuer derSterne warfen, auf daß nicht die dunkle Erde von Ih-nen Besitz ergriff.

Er hielt den Blick auf den vor ihnen liegenden Sterngerichtet, fragte sich, wo sie sich wohl befanden, obimmer noch im Regul-Raum oder anderswo. Dieswar ein Ort, der Generationen vor Kesrith bekanntgewesen war, von dem die Hände gewußt hatten, diediese Aufzeichnung des Pan'en angefertigt hatten.Und auch hier hatte das Volk gedient. Regul-Raumoder nicht, es mußte so gewesen sein: das Kel hattesich zum Kämpfen anheuern lassen, wie immer esgewesen war – Söldner, von deren Gold das Volklebte. Etwas anderes konnte Niun sich nicht vorstel-len.

Sterne über Sterne.Und von einem nach dem anderen hatte das Volk

Abschied genommen; so geschah es in den Dunkel-heiten. Es war undenkbar, daß es zersplitterte. Alle,alle waren immer gegangen – und was sie bewegthaben mochte, ging über Niuns Vorstellungsvermö-gen hinaus, abgesehen davon, daß die Vision einerShe'pan sie geführt hatte. Entweder waren sie zu ei-ner anderen, nahegelegenen Welt gegangen oder ineine Dunkelheit; und in dieser Dunkelheit, auf dieserReise, vergaßen sie stets alles, was mit dem verlasse-nen Stern zu tun hatte und dem früheren Dienst; sie

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hatten die nächste Sonne erreicht und einen anderenDienst; und danach kehrten sie in die Dunkelheit undein weiteres Vergessen zurück, ein Kreislauf ohneEnde.

Bis Kesrith, bis sie beide heimzukehren begannen –eine Reise, mit der die Ära des Dienstes an den Regul,die zweitausend Jahre, die er für die gesamte aufge-zeichnete Geschichte gehalten hatte, ein bloßes Zwi-schenspiel wurde.

Von der Dunkelheit am AnfangZur Dunkelheit am Ende,

So sang das Volk im heiligsten aller Lieder.

Dazwischen eine Sonne,Aber nach ihr Dunkelheit,Und in dieser Dunkelheit,Ein Ende.

Zigmale hatte er das Ritual gesungen, das Shon'jir,den Gesang des Erlöschens, des Vergehens, gesungenbei Geburten und Todesfällen, Anfängen und Enden.Für einen Kel'en hatte es nur von Geburt und Todvon Einzelpersonen gesungen.

Begreifen dämmerte vor ihm, verwirrend in derPerspektive. Mehr Sterne erwarteten sie, und jedervon ihnen war von den Kel'ein seines Zeitalters fürdie Sonne gehalten worden, jedes Zeitalter für die ge-samte aufgezeichnete Geschichte – bis sie beide aufihrer eigenen Heimreise vorbeikommen sollten, heim,zur Sonne selbst.

Zum Ursprung des Volkes.

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Zur Hoffnung, der schwächsten aller Hoffnungen,daß noch andere verblieben sein mochten: Niun hegtediese Hoffnung, wußte, daß sie sich sicherlich alsfalsch herausstellen würde. Nachdem soviel Unglücksie befallen hatte, war es unmöglich, daß es noch soein Gutes geben würde. Sie beide waren die letztenKinder des Volkes, geboren, um das Ende von allemzu sehen, Ath-ma'ai, Grabwächter nicht nur für eineShe'pan, sondern eine ganze Rasse.

Und doch waren sie frei und besaßen ein Schiff.Und vielleicht – ein religiöses Gefühl regte sich in

ihm und eine große Furcht – war es etwas anderes,für das sie geboren worden waren.

Niun liebkoste die samtpelzige Schulter des Dusund betrachtete den Menschen, dessen Gesicht imweißen Licht des Schirmes lag. Der Mann schlief indrogenbetäubter Vergessenheit, nachdem er ihnendas Schiff, sein Leben und seine Person gegeben hat-te. Niun rätselte darüber und sorgte sich, dachte anall die Worte und Taten, die jemals zwischen ihnenstattgefunden hatten und daran, daß er den Men-schen zu solch einer verzweifelten Handlung getrie-ben haben konnte. Entgegen der Weisheit des Volkeshatte er einen Gefangenen gemacht; und dies war dasResultat davon – daß Duncan ihnen jetzt verbundenwar, hartnäckig wie die Dusei, die einfach einen Mriwählten und bei ihm blieben oder aus Kummer star-ben.

Sicherlich liefen die Instinkte der Menschen nichtin diese Richtung. Vierzig Jahre lang hatte das Volkgekämpft, um die Menschen zu erledigen, und wardafür gemordet worden; Kel'ein, hingeschlachtetdurch diese Rasse, die nur in Massen und mit Fern-

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waffen kämpfte. Vierzig Jahre, und schließlich, mitdem Sieg der Menschen, kam Duncan, der, schlechtbehandelt, die gesamte lähmende Maschineriemenschlicher Barmherzigkeit über sie brachte, dersich und seine Freiheit zu ihrem Ermessen in ihreHände legte.

Tsi'mri-Dummheit , tobte Niun innerlich undwünschte, sich überhaupt von allen Tsi'mri fernhaltenzu können.

Und doch erinnerte er sich an einen langen undschrecklichen Traum, in dem Duncan eine treue Ge-genwart gewesen war, in dem er um seine geistigeGesundheit und sein Leben gekämpft hatte und Dun-can bei ihm geblieben war.

Sühne?Vielleicht, dachte Niun, hatte das, was Duncan be-

wegte, die Gelegenheit aufgegriffen, die das von denMri Gebliebene bot; vielleicht gab es letztlich bei denTsi'mri einen seltsamen Sinn für Ehre, der sich nichtmit dem vertragen konnte, was die Regul getan hat-ten – als ob Menschen einen so übel gewonnenen Siegnicht haben wollten; als ob der Untergang des Volkeseine Verkleinerung des Universums wäre, die auchdie Menschen empfanden und die sie aus Furcht umsich selbst wiedergutzumachen trachteten.

Eine Reise, wie sie sie jetzt machten, war nichts fürTsi'mri; aber wenn ein solcher jemals einen Anspruchgegenüber den Mri gehabt hatte, unentrinnbar in dieBelange des Volkes verwickelt gewesen war, dannDuncan – von dem Zeitpunkt an, als er selbst, Niun,das Leben dieses Menschen in der Hand gehabt unddie Chance versäumt hatte, es ihm zu nehmen.

Niun, er ist Tsi'mri, hatte Melein argumentiert, und

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was immer er auch getan hat, er gehört nicht zu uns, nichtin der Dunkelheit.

Und doch nehmen wir die Dusei mit, hatte er gesagt,und auch sie gehören zum Dazwischen; und sollen wir sietöten, die, die uns vertrauen?

Melein hatte darüber die Stirn gerunzelt; allein derGedanke war furchtbar, denn die Partnerschaft zwi-schen Mri und Dusei war so alt wie Kesrith. Undschließlich hatte sie das Gesicht abgewandt undnachgegeben. Du kannst ein Dus nicht in einen Mriverwandeln, hatte sie als letztes gesagt, und ich denke,daß du damit auch bei deinem Menschen keinen Erfolg ha-ben wirst. Du wirst die Dinge nur qualvoll verzögern; duwirst ihn gegen uns bewaffnen und uns in Gefahr bringen.Aber versuche es wenn du dich fest entschlossen hast; ma-che einen Mri aus ihm, mache einen Mri aus ihm, oder wirmüssen eines Tages etwas Grausames und Furchtbarestun.

»Duncan«, sagte Niun in die Dunkelheit und sah,wie sich Duncans lichtgebadetes Gesicht reagierendstraffte. »Duncan.«

Augen gingen auf, Schattenbrunnen im mattenLicht des Schirms. Langsam, als ob die Droge immernoch seine Sinne umwölkte, setzte sich der Menschauf. Er war nackt bis zur Hüfte, und seine seltsameBehaarung bildete einen merkwürdigen Kontrast zuseinem Gesicht. Er beugte den Kopf auf die Knie undfuhr mit der Hand durch das unordentliche Haar.Dann wandte er den Blick Niun zu.

»Es ist eigentlich Zeit«, sagte Niun. »Du siehst nichtgut aus, Duncan.«

Der Mensch zuckte die Achseln, und Niun ersahdaraus, daß seine Krankheit ebenso eine des Herzens

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war wie des Körpers. Das konnte er gut verstehen.»Es gibt Dinge, die getan werden müssen«, meinteNiun. »Du hast gesagt, daß sich Handelsgüter anBord befinden.«

»Ja«, sagte Duncan, dessen Geister sich etwas ho-ben, als hätte er etwas Abscheulicheres gefürchtet.»Nahrung, Kleidung, Metalle, alles, was es auf derStation gab und was für den Mri-Handel vorgesehenwar. Ich fand, daß es eigentlich euch gehört.«

»In erster Linie benötigst du Kleidung.«Duncan überlegte und nickte zustimmend. Er war

lange genug mit ihnen zusammengewesen, um zuwissen, daß sein nacktes Gesicht eine Beleidigungwar, und vielleicht lang genug, um eine angemesseneScham zu empfinden. »Ich werde mich darum küm-mern«, stimmte er zu.

»Mach das zuerst!« sagte Niun. »Bringe dann denDusei etwas zu essen und uns beiden! Ich werde je-doch das Essen der She'pan zu ihr bringen.«

»In Ordnung«, sagte Duncan. Niun sah zu, wie sichder Mensch aufrappelte und in einen Bademantelhüllte – einen blauen, was die Farbe des Kath war, füreinen Mann nicht angemessen. Niun überlegte, wieungehörig das war, welch gewaltige und unschuldigeUnterschiede es zwischen Mri und Mensch gab, undwas er da auf sich genommen hatte. Er protestiertenicht gegen Duncans Bekleidung, noch nicht. Es gabandere und ernsthaftere Dinge.

Niun versuchte nicht, aufzustehen, nicht, bevorDuncan den Raum verlassen hatte, denn er wußte,daß es schwierig und beschämend sein würde. MitHilfe der Dusei schaffte er es und stand schwer at-mend an die Wand gelehnt, bis ihn seine Beine tragen

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wollten. Er konnte nicht gegen den Menschen kämp-fen und gewinnen, noch nicht: und Duncan wußtedas, wußte es und lehnte es immer noch ab, den Zornder Dusei zu riskieren oder einen Streit mit ihm oderseine Kenntnis des Schiffes dazu zu nutzen, ihnen ei-ne Falle zu stellen und die Kontrolle zurückzugewin-nen.

Und er hatte die Aufgabe übernommen, den Men-schen zu zerstören.

Wenn er vergessen hat, daß er ein Mensch ist, hatteMelein gesagt, wenn er ein Mri geworden ist, dann willich sein Gesicht sehen.

Duncan hatte dem zugestimmt. Niun war darüberbestürzt, wußte mit Sicherheit, daß er lieber gestorbenwäre, als solche Bedingungen von Menschen zu ak-zeptieren. Wenn andere Dinge es nicht geschafft hat-ten, ihn zu töten, dann wäre es dabei geschehen, vomHerzen ausgehend.

Und eines Tages, wenn Duncan ein Mri gewordenwar, dann würde er nicht mehr fähig sein, sich zubeugen. Seine Ergebenheit war Tsi'mri und mußtezusammen mit allem anderen abgelegt werden: dernaive, kindliche Mann, der sich ihnen angeschlossenhatte, würde nicht mehr existieren.

Niun dachte insgeheim, daß er den Mann vermis-sen würde, den sie gekannt hatten; und allein dieseErkenntnis ließ ihn sich unbehaglich fühlen, daß einTsi'mri seinen Verstand und sein Herz so erweichthaben sollte. Die schlimmsten Taten, sagte er sich,mußten sicherlich aus Unentschlossenheit hervorge-hen, aus halbherzigem Tun. Melein hatte Angst vordem gehabt, was er vorschlug, hatte sich dagegenausgesprochen mit etwas, das – wie er verzweifelt

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hoffte – keine Voraussicht war. Sie hatte es ihm nichtverboten.

Behutsam ging er mit seinen erschöpften Beinen insBad und begutachtete dort die Dinge, die Duncan ge-hörten. Sie mußten verschwinden, die Kleidung, diepersönlichen Dinge, alles: wenn er nicht mehr durchdie Dinge, die ihn umgaben, an Menschen erinnertwurde, dann würde auch Duncan nicht mehr erinnertwerden.

Und wenn es dem Menschen möglich war, sich zuändern, dann war es am besten, es schnell herauszu-finden. Neuformung war eine Sache, und eine anderewar es, zu zerstören und nichts an seinem Platz zulassen. Als Mri hatte Niun es nicht von seinen Mei-stern gelernt, grausam zu sein, sondern nur mitleid-los und ohne Wunsch nach Mitleid.

Er sammelte auf, was er von Duncans Sachen fin-den konnte, und brachte sie ins Labor, wo es, wie erwußte, einen Müllschacht gab: er warf sie hinein undfühlte einen Stich der Scham über das, was er tat; esschien ihm jedoch falsch zu sein, Duncan zu zwingen,das selbst zu machen, aufzugeben, worauf er Wertgelegt hatte – eine Erniedrigung des Mannes, und daswürde er nicht tun.

Und als das erledigt war, blickte Niun sich im La-bor um, sah das Schränkchen, aus dem Duncan seineMedikamente geholt hatte, und entschloß sich nochzu anderen Dingen.

Die Tür wollte seiner Hand nicht nachgeben, alsozog er die Pistole und zerstörte das Schloß, und da-nach ging sie leicht auf. Ladung auf Ladungschleppte er Tsi'mri-Medizin und -Ausrüstung zumMüllschacht und warf sie hinein, während die Dusei

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dabeisaßen und mit ernsten und glitzernden Augenzuschauten.

Und plötzlich standen die Tiere alarmiert auf,scheuten zur Seite vor Duncans Gegenwart im Ein-gang.

Niun, die Hände voll mit den letzten Medikamen-ten, warf sie in den Schacht und stellte sich erst dannDuncans Zorn, der die Dusei bestürzt hatte und einedrohende Haltung einnehmen ließ.

»Diese Dinge sind überflüssig«, sagte er zu Dun-can.

Dieser hatte versucht, sich als Mri zu kleiden: mitden Stiefeln und dem E'esin war er zurechtgekom-men, mit dem inneren Gewand. Aber das Siga, dasäußere, trug er lose, und den Schleier hielt er in derHand – ihn anzubringen, hatte er noch nie leicht ge-funden. Mit nacktem Gesicht zeigte er seine Angst,eine Verzweiflung, die verwundete.

»Du hast mich getötet«, sagte er mit dünner Stim-me, und Niun spürte den Stich davon – in diesemMoment nicht von der Rechtschaffenheit seines Tunsüberzeugt. Er vertraute darauf, daß der Mensch ihnnicht herausfordern würde, es nicht konnte. DieDusei stöhnten und drängten sich in die Ecke. Unterihrem Gewicht fiel ein Behälter krachend von einemTisch.

»Wenn diese Medikamente dein Leben bedeuten«,sagte Niun, »dann kannst du nicht mit uns überleben.Aber du wirst überleben. Wir brauchen solche Dingenicht, auch du nicht.«

Duncan verfluchte ihn. Niun versteifte sich, wider-stand strikt solcher Tsi'mri-Wut und lehnte es ab, sichprovozieren zu lassen.

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»Sieh ein«, sagte Niun, »daß du zugestimmt hast!Dies ist ein Mri-Schiff, Kel Duncan. Du wirst lernen,ein Mri zu sein, wie es ein Kind des Kath lernt. Ichweiß keinen anderen Weg, als dich zu lehren, wie ichgelehrt wurde. Wenn du das nicht willst, werde ichgegen dich kämpfen. Aber begreife, wie es alle Mritun, die dem Kel beitreten, daß das Kel-Gesetz vomÄltesten über den Geringeren zum Letzten arbeitet.Du wirst verwundet werden, bevor du fertig bist; soist es einst auch mir geschehen. Und wenn du es indir hast, ein Kel'en zu sein, wirst du überleben. Dasist, was meine Meister im Kel mir einst sagten, als ichdas Alter erreichte, um dem Kel beizutreten. Ich habegesehen, wie zwölf von meinem Kel nicht überlebten,niemals die Seta'al erhielten, die Narben der Kaste. Esist möglich, daß du nicht überlebst. Es ist möglich,daß du nicht werden kannst, was ich bin. Aber wennich davon überzeugt wäre, daß du es nicht kannst,dann hätte ich nicht getan, was ich getan habe.«

Der Mensch beruhigte sich. Die Dusei schnauftenlaut und wiegten sich, immer noch unruhig. AberDuncans Gesicht nahm einen ruhigen, unbesorgtenAusdruck an, das mehr dem Mann entsprach, den siekannten.

»In Ordnung«, sagte er. »Aber, Niun, ich brauchediese Medikamente. Ich brauche sie.«

Furcht. Niun spürte sie immer noch im Raum.Und er machte sich Sorgen, nachdem Duncan ge-

gangen war, ob er wirklich einen Mord begangenhatte. Er hatte als Mri gedacht und vergessen, daßfremdes Fleisch vielleicht wirklich nicht zu dem inder Lage war, was Mri möglich fanden.

Und war es dann falsch, daß Fremde brauchten,

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was das Mri-Gesetz verbot?Das war kein Kel-Gedanke, und für seine Kaste

war es nicht richtig, ihn zu denken oder Fragen zustellen. Er wagte es nicht einmal, es im geheimenMelein zu überbringen, wußte, daß dieser Gedankezu hoch für ihn war und respektlos gegenüber einerjungen und weniger als sicheren She'pan, selbst vonihrem Kel'anth, dem Ältesten des Kel – soweit sie ei-nes hatte.

Er hoffte verzweifelt, Duncan nicht getötet zu ha-ben.

Und mit diesem Gedanken erkannte er deutlich,daß er Duncan am Leben haben wollte, nicht alleinder Richtigkeit wegen, sondern weil nur zwei eineverlassene Art von Haus darstellten und weil dieStille in der Halle des Kel sehr tief und sehr langwerden konnte.

Er rief die Dusei zu sich, besänftigte sie mit seinenHänden und seiner Stimme und ging, um herauszu-finden, wohin Duncan gegangen war.

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Vier Tage.Duncan erinnerte sich nur undeutlich an sie, ein

mühseliges, unvernünftiges Durcheinander. Er ar-beitete, um die Stunden auszufüllen, erschöpfte sichmit Bedacht, um sich nachts ohne langes Nachdenkenin einen traumlosen Schlaf werfen zu können. Niuntat nichts anderes, als sich üben, still und häufig. Ichbin kein Lastenträger, hatte der Mri steif beharrt, alsDuncan vorschlug, er könne sich sehr wohl üben, in-dem er ihm half; und daraufhin vervollständigte derMri den Affront, indem er ihn daran erinnerte, daßdie Dusei gepflegt werden wollten.

Ich auch nicht, hatte Duncan zurückgegeben und dieFlüche unterdrückt, die sich in seinem Mund form-ten. Die Mri waren unduldsam, töteten oder starbenaus geringfügigen Ursachen, und es war später nochZeit, vernünftig mit Niun zu reden, dessen körperli-che Schwäche zweifellos seinen Unmut nährte unddessen Ungewißheit über seine Lage insgesamt seineHaltung verhärtete.

Die Dusei verlangten wirklich nach Pflege; undnach angemessener Verzögerung ging Duncan zu ih-nen und kümmerte sich um ihre Bedürfnisse; belohntdurch ihren Behaglichkeitsimpuls schämte er sich da-für, daß er sie trotzdem mißachtet hatte – und er flohdavor, denn viel davon konnte er nicht ertragen.

Es war nicht das letztemal, daß seine Absichten mitdenen Niuns ins Gehege kamen. Der Mri stellte Fra-gen und bestand darauf, daß er die Mri-Sprachen be-herrschen sollte – mit Unterstreichung durch Gesten

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verstand er einige Wörter –, und manchmal gab Niunvor, ihn nicht zu verstehen, bis er einen Mri-Ausdruck gebrauchte, obwohl der Mri die Menschen-sprache fließend beherrschte. Dann nicht, war er oftversucht zu sagen und verzichtete doch darauf, denner konnte sich später immer noch streiten, und dieDusei, die sich herumtrieben, wurden unangenehmund aufgebracht und trugen damit zur Situation bei.Letztlich setzte Niun seinen Kopf durch.

Es ergab Sinn, dachte Duncan später auf seinemBett, während der Mri den Boden bevorzugte. Niunkämpfte um die Bewahrung dessen, was sein war, ei-nes Weges und einer Sprache, die fast vollständiguntergegangen waren. Es war ein stiller Kampf, dergegen ihn geführt wurde, der ihnen am meisten ge-holfen hatte und sie jetzt am stärksten bedrohte. Daswar etwas, gegen das Gewehre und Geschick nichtsnützten und das trotzdem um Leben und Tod ging.Deshalb waren sie überhaupt hier, deshalb waren sienicht in der Lage gewesen, unter Menschen zu leben– weshalb er sich mit Stavros auseinandergesetzthatte, um sie zu befreien. Sie konnten keine Kom-promisse schließen. Was ihnen fremd war, konntensie nicht ertragen. Ein Mensch konnte das; einMensch konnte sich anpassen, gewandt wie ein Jo,das wie Sand oder Stein aussah und wartete. Darüberdachte er nach und über den schlafenden Mri, der mitdem Kopf gegen sein Dus gelehnt lag, unverschleiert,wie er es gegenüber einem Feind nicht sein würde.

Nach Jo-Art konnte sich ein Mensch immer wiederändern. Die Mri würden stur sterben, und deshalbwar es unumgänglich, daß Niun sich durchsetzte.

Am Morgen ging Duncan seiner Routine nach, hielt

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sich mit Einwänden gegen Niun völlig zurück undging sogar soweit, zu fragen, was er tun sollte.

Niuns bersteinfarbene Augen schweiften durch dieKabine; seine langgliedrige Hand machte eine umfas-sende Geste. »E'nai«, sagte er, »i!« – Beseitige alles!Duncan starrte ihn an, holte tief Atem und dachtenach.

Das Schiff wurde kalt, während die Tage verstri-chen, die Luft nahm allmählich Kesriths trockeneKälte an. Duncan war froh über die Wärme der Mri-Gewänder, die er jetzt ausschließlich trug. Er lernteden Umgang mit dem Schleier; er lernte Wörter undHöflichkeiten und Gesten und legte sein früheresVerhalten ab.

Niun spürte sicherlich, wieweit Duncan gedrängtwurde, die Frustration, die manchmal in ihm auf-wallte, und er wandte das Gesicht ab und brachte denSchleier wieder an, sobald die Dinge zu eine Sackgas-se gerieten. Dann gab es für eine Weile Schweigenund schließlich wieder Worte. Niun nannte die Din-ge, die ihm nicht paßten, bei Namen: Bequemlichkeitund Möbel aller Art. Duncan nahm es hin und gabdie persönlichen Gegenstände her, die ihm noch ver-blieben waren, denn seine Bindung an sie schien andiesem Ort fern zu sein angesichts des vor ihm lie-genden Elends; und was eine Beschädigung desSchiffes anging, so schien derartiges eine unzurei-chende Rache an denen zu sein, die ihn hierherge-schickt hatten. Er arbeitete, zuerst verwirrt über das,was Niun wollte, dann mit grimmigen Vergnügen. Erberaubte alle zugänglichen Kabinen ihrer Möblie-rung, nahm die Möbelstücke auseinander und lagertedie Teile, die aus nützlichen Metallen und Materialien

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bestanden, und warf den Rest in den Beseitigungs-schacht.

Den Möbelteilen folgten alle Geräte, die der Mri fürüberflüssig hielt, medizinische und andere, ebensoalle gelagerten Güter, die als Luxus angesehen wur-den.

Es war Wahnsinn. Duncan verlor sich darin, fing inseiner Frustration an, Sachen herauszusuchen undwegzuwerfen, zerstörte aus Freude am Zerstören,verwandelte das Schiff in eine leere Hülle, in der ersich nicht an Stavros oder die Menschheit oder irgendetwas anderes erinnern mußte, das er für diesen Flugaufgegeben hatte. Der Verlust von allem betäubte denSinn für Verlust.

Bereits an der Station waren die Labors zum größ-ten Teil leergemacht worden, von allem befreit, wasman als unnötig für die Mission eingeschätzt hatte –und alles, was er verzweifelt gerne gerettet hätte, warbereits von Niun zerstört worden. Duncan beendetediese Arbeit bis zu den Leisten, an denen das Mobili-ar befestigt gewesen war, scheuerte die Böden undWände mit einem chemischen Mittel und hinterließalles in einem für Niun akzeptablen Zustand – denndiese größte Kabine auf dem Schiff hatte Niun alsseine ausgesucht.

Danach schlief Duncan auf einem Lager, das nichtdicker war als eine zusammengefaltete Decke, er-wachte steif und fing in der kalten Luft wieder an zuhusten. Das veranlaßte ihn, über seiner Gesundheitzu brüten und verzweifelt an die Medikamente zudenken, die Niun vernichtet hatte, aus diesem undaus anderen Gründen.

Aber Niun betrachtete ihn mit einigen Betroffen-

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heit, forderte ihn an diesem Tag nicht zur Arbeit aufund übernahm selbst die Vorbereitung der Mahlzei-ten und die Pflege der Dusei. Niun blühte in der kal-ten und dünnen Luft auf, hatte seine gebrechliche,torkelnde Gangart verloren und wurde nicht mehr soschnell müde.

»Du ruhst dich aus«, verlangte er von Duncan, alsdieser auf dem Versuch beharrte, seinen Arbeitsplaneinzuhalten. Duncan zuckte die Achseln und be-hauptete, daß die Maschinen ohne ihn nicht funktio-nieren würden, was nicht stimmte. Der Gedanke anUntätigkeit flößte ihm jedoch Panik ein, an das Her-umsitzen in der Schale, als die er die Labors und denRest des Schiffes hinterlassen hatte, ohne Bücher –Niun hatte die Buch- und Musikbänder aus seinemQuartier herausgeworfen –, ohne irgendeine Beschäf-tigung für Hände oder Geist.

Und als er dazu gezwungen wurde, kehrte er indas Labor zurück, diesen entleerten weißen Raum,und setzte sich in die Ecke, wo ihm wenigstens seinund Niuns Lager und das Zusammenlaufen derWände ein Gefühl des Untergebrachtseins vermittel-ten. Dort saß er, wie er es spät nachts tat, um einzu-schlafen, und fügte Zahlenketten aneinander, vollzogkomplexe Kalkulationen von imaginärer Navigation– irgend etwas, um die Stunden zu füllen. Er beob-achtete den sich nicht verändernden Sternenschirm,die einzige Ausstattung des Labors. Die einzigen Ge-räusche waren das Flüstern der Luft in den Rohrlei-tungen und der stetige Arbeitston der inneren Funk-tionen des Schiffes.

Und sonst nicht.Nichts.

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Niun war an diesem Tag lange weg – bei Melein,vermutete Duncan, in dem Teil des Schiffes, der ihmversperrt war. Selbst die Dusei, die Niun ständig be-gleiteten, waren weg. In seiner Untätigkeit fand Dun-can ein Metallstück und fertigte ein Muster auf denFliesen neben seinem Lager und machte dann mit ei-nem gewissen grimmigen Humor Markierungen fürdie Tage, die vorbeigegangen waren, die Tage derSchiffszeit. Er tat dies in der verzweifelten Vermu-tung, daß eine Zeit kommen mochte, wo er an diesemOrt den Bezug zu allem verlieren würde.

Neun Tage waren es bisher. Selbst dessen war ersich nicht völlig sicher.

Er fing mit einer Zahlenkette an, lenkte seinen Ver-stand von den Gitteröffnungen ab, die in seinem Ge-dächtnis aufzutauchen begannen, versuchte, sich inRegelmäßigkeiten zu verlieren.

Anders als ein Jo konnte er sich nicht erfolgreichanpassen, dachte er; selbst ein Jo würde in dieser ste-rilen Zelle nichts vorfinden, nachdem es seine Tar-nung gestalten konnte. Es würde schwarz werdenwie das erbärmliche Exemplar, das er in Boaz' Laborgesehen hatte, das eine Farbänderung nach der ande-ren durchlief, bis es bei der auffälligsten aller Farbenhängenblieb. Vielleicht war das eine Selbstmordme-thode, ein Todeswunsch.

Er wandte seine Gedanken auch davon ab, aber dasBild kehrte zurück, das Bild der schwarzen geflügel-ten Kreatur im silbernen Käfig – er selbst aus einergottähnlichen Perspektive, wie er in der Ecke einesweißen und leeren Raumes saß.

Neun Tage.

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Am Nachmittag des zehnten Tages kehrte Niun frü-her als sonst zurück, verbannte die Dusei in die ge-genüberliegende Ecke des Raumes und entschleiertesich, setzte sich in geringem Abstand Duncan gegen-über mit gekreuzten Beinen auf den Boden.

»Du sitzt zuviel«, sagte er.»Ich ruhe mich aus«, sagte Duncan mit einer Spur

von Bitterkeit.Niun hielt zwei dünne Metallstangen hoch, nicht

länger als eine Hand. »Du wirst ein Spiel lernen«,sagte er, und nicht: Ich werde dich lehren; nicht: Würdees dir gefallen. Duncan runzelte die Stirn, überlegte, ober sich beleidigt fühlen sollte. Aber daß die grimmi-gen Mri eine Unterhaltung hatten, das erweckte seinInteresse, versprach Kameradschaft und eine Mög-lichkeit, mit dem Kel'en zu reden, wie er seit der Wü-ste mit ihm nicht mehr hatte sprechen können.

Und es versprach etwas, um das Schweigen zufüllen.

Er regte sich auf seinem Lager, nahm vorsichtigdieselbe Haltung ein wie Niun, mit gekreuzten Bei-nen, die Hände auf den Knien. Niun zeigte ihm denGriff, mit dem er das Ende der Stange in der rechtenHand hielt.

»Du mußt sie fangen«, sagte er und wirbelte sieihm zu. Duncan packte sie überrascht mit der Faust,nicht mit den Fingern, und das Ende stach ihm in dieHandfläche.

Die zweite folgte aus Niuns linker Hand. Duncanpackte sie und ließ sie fallen. Niun hob die beidenleeren Hände.

»Beide auf einmal!« sagte er.Es war schwierig. Es war über alle Maßen schwie-

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rig. Duncans arbeitswunde Hände waren nicht soschnell wie Niuns schlanke Finger, die niemals dane-bengriffen, die die ungeschicktesten Würfe mitten ausder Luft holten und sie stets im selben Winkel undmit derselben Geschwindigkeit zurückgaben – ein-zeln, bis Duncan den schwierigen Auffanggriff be-herrschte, dann beide gleichzeitig.

»Wir nennen es Shon'ai«, sagte Niun. »Shonau istvorübergehen; in deiner Sprache also das Spiel desWandels. Es besingt das Volk. Jede Kaste spielt es aufihre eigene Art.« Er sprach, und die Stangen flogenbehutsam zwischen ihnen hin und her. Duncans Fin-ger gewannen an Sicherheit. »Es gibt drei Kasten dasVolkes: Kath und Kel und Sen. Wir gehören zum Kel,wir mit den schwarzen Gewändern, wir Kämpfen-den; die Angehörigen des Sen tragen die gelben Ge-wänder, sind die Gelehrten; und das weiße Gewandträgt die She'pan. Das Kath ist die Kaste der Frauen,die weder Kel noch Sen angehören, der Blaugewan-deten, und der Kinder; diese gehören zum Kath, bissie einer Kaste beitreten.«

Duncan griff daneben. Die Stange traf sein Knieund klapperte zu Boden. Er rieb sich das Knie undmachte weiter, im Wechsel mit Niun vor und zurück,vor und zurück. Es war schwer, zuzuhören und sichgleichzeitig auf die Stangen zu konzentrieren. Leicht-sinnigerweise versuchte er zu antworten.

»Die Männer«, sagte er, »die weder Kel noch Sensind. Was ist mit ihnen?«

Der Rhythmus hatte keinen Bruch. »Sie sterben«,sagte Niun. »Die nicht für das Sen geeignet sind, dienicht für das Kel geeignet sind, die kein Herz haben,sie sterben. Manche sterben beim Spiel. Wir spielen,

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wie das Sen spielt, mit Stangen. Das Kel spielt mitWaffen.« Die Würfe wurden heftiger und schneller.»Es ist einfach bei zwei Spielern. Mit dreien schwieri-ger. Bei großen Kreisen wird es am schwersten. Ichhabe in einem Zehnerkreis gespielt. Wenn der Kreisviel größer wird, wird es wieder eine Sache von Un-fällen und des Zufalls.«

Die Stangen kamen diesmal heftig. Duncans Händefuhren hoch, um sie zu fangen, lenkten eine ab, diesein Gesicht verletzt hätte, ohne sie fangen zu kön-nen. Sie fiel zu Boden. Die andere hatte er gepackt.Der Rhythmus war unterbrochen.

»Du bist schwach mit der linken Hand«, meint Ni-un. »Aber du hast das Herz. Gut. Du wirst die Ge-schicklichkeit entwickeln, bevor ich anfange, dir dieYin'ein zu zeigen, die alten Waffen. Die Zahen'ein, diemodernen Waffen, kennst du so gut wie ich. In derBeziehung habe ich dir nichts zu zeigen. Mit denYin'ein fängt man im Shon'ai an. Wirf!«

Duncan warf. Niun hielt die Hand hoch und fingdie ihm getrennt zugeworfenen Stangen leicht auf –mit einer Hand holte er sie mühelos aus der Luft.Duncan blinzelte, bestürzt über die Geschicklichkeitdes Mri, und maß seine eigene daran.

»Es ist Zeit zum Ausruhen«, meinte Niun dann.»Ich möchte nicht sehen, wie du danebenfaßt.« Ersteckte die Stangen in seinen Gürtel. »Es ist Zeit«,sagte er, »daß wir anfangen, miteinander zu reden.Mir ist befohlen worden, sie zu vergessen, und dasgilt auch für dich. Du kennst einige Worte der Mu'a-ra, der gemeinsamen Sprache. Und selbst die mußtdu vergessen und bei der Hal'ari bleiben, der HohenSprache. Es ist das Gesetz der Dunkelheiten, daß alles

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aus dem Dazwischen wächst, muß sterben. Also laßdich nicht verwirren. Manchmal gibt es zwei Wortefür eine Sache, eines Mu'ara, eines Hal'ari, und dumußt sogar ein Mri-Wort vergessen.«

»Niun«, protestierte Duncan und hob Einhalt ge-bietend eine Hand. »Ich kenne nicht genug Worte.«

»Du wirst sie lernen. Wir haben Zeit genug.«Duncan runzelte die Stirn, betrachtete den Mri un-

ter den Brauen hervor und näherte sich vorsichtig andas an, was bereits zurückgewiesen worden war.»Wieviel Zeit?«

Niun zuckte die Achseln.»Weiß es die She'pan?« fragte Duncan.Die Membran blinzelte über Niuns Augen. »Dein

Herz ist noch immer Tsi'mri.«Das war eine typische Mri-Antwort, die ihn zum

Wahnsinn treiben konnte. Duncan tastete das Musterab, das er in den Boden gekratzt hatte, und überlegte,wie er vernünftig mit dem Mri reden konnte. Ur-plötzlich hielt Niun seine Hand fest. Er riß sie wiederfrei und blickte tief beleidigt auf.

»Noch eines«, sagte Niun. »Ein Kel'en liest undschreibt nicht.«

»Ich tue es.«»Vergiß es!«Duncan starrte ihn an. Niun verschleierte sich und

stand auf. Es war eine kerzengerade Aufwärtsbewe-gung, die er noch wenige Tage zuvor nicht hätte aus-führen können, eine Anmut, die natürlich war für ei-nen Mann, der sein Leben auf dem Boden sitzendverbracht hatte. Aber Duncan wirkte weniger anmu-tig bei dem Versuch, aufzustehen und ihm ins Ge-sicht zu blicken.

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»Hör zu!« sagte er.Und eine Sirene ertönte.Duncan erlebte einen Moment hellwachen Bewußt-

seins, bevor ihn die Panik übermannte, die nackteAngst. Sie näherten sich der Transition, hatten einenSprungpunkt erreicht. Die Dusei hatten es bemerkt.Ihre Gefühle überschwemmten den Raum wie einFlut – Angst, Abscheu.

»Yai!« rief Niun ihnen zu, beruhigte sie damit. Erging zur Tür und packte den Handgriff dort. Duncanging zu dem an der anderen Seite des Raumes, heu-chelte eine Ruhe, die er nicht empfand. Seine Einge-weide verknoteten sich in erschreckter Erwartung desKommenden – und es gab keine Drogen, nichts. NurNiuns kaltes, regloses Vorbild hinderte ihn daran, zuBoden zu sinken und dort zu warten.

Die Sirene verstummte. Einen Moment später si-gnalisierte eine Klingel den bevorstehenden Sprung –ein automatischer Alarm, den das Schiff auslöste, alsdas Band auf sein Ziel zulief. Noch hatten sie nicht er-fahren, wo sie sich befanden. Der namenlose gelbeStern hing immer noch als einer unter vielen im Felddes Schirms. Keine anderen Schiffe waren gekom-men. Nichts.

Plötzlich trat das einleitende Gefühl der Unsicher-heit auf, und Wände, Boden, Zeit, Materie kräuseltensich und zerrissen. Im Ausfluß durchlief der Verstandetwas Unwiederbringliches, als sich der Prozeß um-kehrte; es blieb jedoch der Eindruck unvorstellbarerTiefe und überstimulierter Sinne. Die Wände kräu-selten sich in die Festigkeit zurück. Hände fühlten.Atem und Sicht kehrten zurück.

Aber die Klingel schrillte weiter, kündete immer

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noch einen bevorstehenden Sprung an.»Etwas stimmt nicht!« schrie Duncan. Er sah Niuns

Blick, die Furcht, etwas darin Ungewohntes. Und Ni-un rief ihm etwas zu, das mit Melein zu tun hatte –und rannte los.

Die Dus-Gefühle überfluteten den Raum. Wiedersetzte die Auflösung ein, das Kräuseln, die Verdre-hung im Magen wie bei einem Todessturz. Duncanklammerte sich fest, wo er war, sehnte sich nach Be-wußtlosigkeit, schaffte es nicht, sie zu erreichen. DerRaum löste sich auf. Formte sich erneut.

Die Klingel schrillte weiter und weiter, und dieVerzerrung setzte ein drittesmal ein. Dus-Körperumgaben Duncan, strahlten Angst aus. Er kreischte,verlor den Halt und fiel zwischen den Tieren zu Bo-den, eins mit ihnen, Tierverstand, Tiersinn, und dieKlingeln. Wieder begann das Kräuseln, dann die Ver-festigung; und ein weiteres Mal..., und wieder..., undwieder.

Er spürte die Festigkeit um sich, Berührung und Licht-wahrnehmungen, die ihm fremd anmuteten nach denAbgründen, die er bereist hatte. Er schrie auf undspürte die Wärme der Dusei an seinem Körper, ihrenstarken Trost, die verrückte Irrationalität ihrer nichtbegreifenden Geister.

Sie waren sein Anker. Sie hatten ihn gehalten, einsmit ihm. Er gab für eine Weile sein Menschsein auf undsich ihnen hin, den Arm um einen massigen Nackengeschlungen, empfing ihre Wärme und ihren Trost,bis er klar erkannte, was er ihnen gab. Er fluchte undstieß sie, und sie zogen sich daraufhin zurück. Dun-can wurde sich wieder seiner selbst bewußt.

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Ein Mensch, der sich mit ihnen niedergelegt hatte,nicht mehr gewesen war als sie.

Er stemmte sich hoch und taumelte zum Ausgang.Die Beine klappten unter ihm zusammen, als er nachdem Handgriff langte, die Finger zu schwach, um ihnfestzuhalten. Sein Magen versuchte sich umzuwen-den, als ob unten seitlich wäre. Er hatte aber nichtmehr die Kraft, den Inhalt hochzuwürgen, und ihmwurde schwarz vor den Augen.

Mit ausgebreiteten Gliedern fiel er zu Boden,wünschte sich immer noch die Übelkeit, konnte sieaber nicht empfinden. Er lag eine Zeitlang still, derAtem ging schwer, und die Dusei verzogen sich indie gegenüberliegende Ecke, jetzt getrennt von ihm,gaben ihm nichts als ihre Angst.

Niun kehrte zurück – nach welchem Zeitraum,wußte Duncan nicht –, sank zu Boden und beugteden verschleierten Kopf auf die verschränkten Arme.Duncan lag still auf der Seite, war nicht bereit, mehrzu tun als zu atmen.

»Melein geht es gut«, sagte Niun in seiner Sprache.Soviel konnte Duncan verstehen; und Niun sagtenoch etwas, aber Duncan konnte es nicht zusammen-setzen.

»Was ist passiert?« verlangte er zu wissen, eine An-strengung, die ihm viel an Übelkeit kostete. Niunzuckte jedoch nur die Achseln. »Niun, wo sind wir?«

Aber Niun sagte nichts, konnte vielleicht nichtantworten, oder gab in Mri-Sturheit einfach vor, diemenschliche Sprache nicht mehr zu verstehen.

Duncan verfluchte ihn, und die Anstrengung ver-krampfte seinen Magen und würgte endlich den In-halt hervor. Er konnte sich nicht bewegen, nicht ein-

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mal zur Seite wenden. Nach einer geraumen Weileregte sich Niun in etwas, das sicherlich Ekel war,holte nasse Handtücher, reinigte die Stelle und wuschDuncans Gesicht. Die Berührung und die Anhebungseines Kopfes erzeugten ein weiteres trockenes Wür-gen, und danach ließ Niun ihn allein und setzte sichgerade noch innerhalb seines Blickfeldes an die ent-gegengesetzte Wand des Raumes.

Schließlich kam eines der Dusei, schnupperte an ihm,bedrängte ihn mit Wärme. Duncan hob die kraftloseHand und schlug das Tier. Mit einem Schrei des Er-schreckens und der Empörung bäumte es sich zur Seitehin auf und strahlte eine solch schreckliche Verwir-rung aus, daß Duncan laut aufschrie. Jenseits desRaumes erhob sich Niun. Und wieder erklangen dieSirene und die Klingel. Auflösung. Duncan suchtenicht die Sicherheit der Wand, die Illusion, einen festenHalt zu haben. Er ließ sich gehen. Als es vorbei war,lag er auf dem Boden und würgte und schluchzteund schnappte nach Luft, die Finger auf dem festenUntergrund ausgebreitet.

Die Dusei kamen zurück und drängten ihm ihreteilnahmsvollen Gefühle auf. Er fing an, nach Luft zuringen, konnte nicht atmen, bis sich etwas auf seineBrust lehnte und die Luft hineinzwang, bis NiunsHand ihn an der Schulter packte und mit verletzen-der Kraft schüttelte. Dadurch vernebelte sich wiederseine Wahrnehmung, verlor er wieder den Kontaktzum Raum. Er starrte den Mri völlig ausdruckslos anund schluchzte.

Am nächsten Morgen fand er wieder zu sich, ein harterkämpftes Zu-sich-kommen, während die Muskeln

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der Glieder und des Bauches unter der Spannung, dieer nicht loswerden konnte, noch zu Zuckungen neig-ten. Er erinnerte sich mit akuter Scham an seinen Zu-sammenbruch, daran, wie er die verbliebene Zeit desvergangenen Tages – oder des vorangegangenen –verbracht hatte, in einer Ecke zusammengerollt. Ererinnerte sich an die Tränen, die grundlos und heißüber sein Gesicht geströmt waren, daran, daß er ein-fach nicht damit hatte aufhören können.

An diesem Morgen starrte ihn Niun an, bernstein-farbene Augen über dem Schleier, die finster blickten,während er eine Tasse Soi in Duncans zitternde Handschob, ihn festhielt, damit er trinken konnte. Das hei-ße, bittersüße Getränk strömte wie Öl in Duncansunwilligen Magen und lag dort, milderte etwas dieKälte. Erneut brachen die Tränen aus, ohne jedenGrund. Er trank langsam, hielt die Tasse wie ein Kindin beiden Händen, während ihm die Tränen über dasGesicht glitten. Er blickte dem Mri in die Augen undbegegnete dort einer kalten Zurückhaltung, die keineVerwandtschaft zwischen ihnen erkannte.

»Ich helfe dir beim Gehen«, sagte Niun.»Nein«, entgegnete er mit solcher Kraft, daß der

Mri ihn allein ließ, aufstand und wegging, sich nocheinmal umdrehte, dann verschwand, immun gegendie Schwäche, die Duncan angriff.

An diesem Tag strahlten selbst die Dusei Mißtrau-en ihm gegenüber aus. Wenn sie das Zimmer durch-querten, scheuten sie vor ihm, haßten seine Gegen-wart. Und als Niun zurückkehrte, setzte er sich amanderen Ende des Raumes nieder, besänftigte die be-sorgten Dusei und starrte ihn lange an.

Während die Schiffsnacht sie umgab, erfolgte er-

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neut ein Sprung, bald darauf ein zweiter. Duncankauerte sich in seiner Ecke zusammen, preßte die Kie-fer aufeinander, um der Übelkeit zu begegnen, waranschließend benommen und hatte ungeheure Lük-ken in seinem Gedächtnis. Am Morgen fand er dieKraft, um taumelnd sein unordentliches Lager zuverlassen, vom Selbstekel getrieben zu baden undseinem schmerzenden Magen schließlich etwas Nah-rung zu geben. Aber an den besseren Teil des Tageskonnte er sich nicht klar erinnern.

Niun betrachtete ihn finster und wartete, so dachteDuncan abwesend, darauf, daß er starb oder dieSchwäche abschüttelte. Und Duncan spürte die Ver-achtung wie eine fühlbare Kraft, beugte den Kopf aufdie Arme und brütete verzweifelt darüber nach; wieer dem Band die Kontrolle entreißen konnte, bevordie Fehlfunktion sie alle tötete – wie er sie zu einerzufälligen, verlorenen Zuflucht bringen würde, wodie Menschheit sie nicht finden konnte.

Aber er war nicht in der Lage, das zu tun, und inseinen klareren Momenten gestand er sich das ein.Die Mri konnten überleben, solange das Schiff funk-tionierte. Er fing an, wie besessen an Selbstmord zudenken, brütete darüber und erinnerte sich dann inseinen angstvollen und im Kreise laufenden Gedan-ken daran, daß keine Drogen mehr da waren.

»Tsi'mri«, bezeichnete ihn Niun schließlich, nach-dem er aufgestanden war und ihn eine Zeitlang ange-starrt hatte.

Verachtung brannte in der Stimme des Mri. Er gingweg, und die Empörung darüber gab Duncan dieKraft, aufzustehen und gegen die Benebelung seinerSinne zu kämpfen. Sofort wurde ihm wieder übel;

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diesmal erbrach er sich in die Toilette, blinzelte dieTränen aus den Augen, wusch sich das Gesicht undversuchte, das Zittern zu beherrschen, das durch sei-ne Glieder lief.

Und er kehrte ins Wohnquartier zurück und ver-suchte, über den nackten Boden in seiner Mitte zugehen. Er hatte es halb geschafft, bevor seine Wahr-nehmung sich von innen nach außen wendete und eraus dem Gleichgewicht taumelte. Er warf sich zurWand hin, tastete wild, fand sie und brach an ihr zu-sammen.

Niun stand dabei und sah zu. Duncan hatte esnicht bemerkt. Niun betrachtete ihn mit verschleier-tem Gesicht von Kopf bis Fuß.

»Du warst Kel'en«, sagte er dann. »Was bist dujetzt?«

Duncan kämpfte um Worte, fand keine, die her-auskommen wollten. Niun ging zu seinem Lager undsetzte sich dort nieder, und Duncan setzte sich, wo erwar, auf den harten Boden, wollte aufstehen und ge-hen und den Mri belügen. Er konnte es nicht. NiunsVerachtung nagte an ihm. Er begann wieder, mit derZeit zu rechnen, wieviele Tage er auf diese Art verlo-ren hatte, geistlos und desorientiert.

»Eine Frage«, sagte er auf Hal'ari. »Wieviele Tage –wieviele sind vergangen?«

Er erwartete keine Antwort von Niun, war inner-lich darauf vorbereitet, daß dieser schwieg oder eineGehässigkeit äußerte. »Vier«, sagte Niun ruhig. »Vier,seit du krank bist.«

»Hilf mir«, bat Duncan, zwang die Worte zwischenden Zähnen hindurch. »Hilf mir aufzustehen!«

Schweigend erhob sich der Mri, trat zu ihm und

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faßte ihn am Arm, zog ihn auf die Füße und half ihmbeim Gehen, bot ihm den Halt, der ihm die Bewe-gung ermöglichte. Duncan kämpfte um die Klarheitseiner Sinne, versuchte, ihnen vorzulügen – überre-dete Niun dazu, ihn durch die Instandhaltungsrouti-ne in ihrem Sektor zu führen, versuchte, das zu ma-chen, was er gewöhnt war.

Er ruhte sich aus, so gut er konnte, die Muskelnimmer noch angespannt. Und er begann den nächstenMorgen und den darauffolgenden und den nächstenmit der Entschlossenheit, daß der nächste Sprung ihnnicht zugrunde richten würde.

Der Sprung kam, Tage später, und diesmal standDuncan fest am Handgriff und kämpfte gegen dieÜbelkeit. Schon kurze Zeit später versuchte er, zurHalle zu gehen, schaffte es und kehrte erschöpft zuseinem Lager zurück.

Er hätte, dachte er mit zunehmender Bitterkeit, dieMri sterben lassen können; er hätte Bequemlichkeitund Sicherheit haben können. Er haßte Niuns Fähig-keit, die Sprünge zu ertragen, die Geistesnatur, diedas Umstülpen nach innen und außen ertragenkonnte, ohne sich aufzulösen.

Und Niun ließ sich, ob er nun seine Bitterkeitspürte oder nicht, dazu herab, wieder mit ihm zusprechen – saß neben ihm, in Anspruch genommenvon einer einseitigen Konversation auf Hal'ari, als obes eine Rolle spielte. Manchmal rezitierte er Gesängeund bestand darauf, daß Duncan sie wiederholte, sielernte. Duncan gehorchte lustlos, um Frieden zu ha-ben, um endlich alleingelassen zu werden, wieder-holte die endlosen Ketten von Namen und Zeugun-gen und Worten, die ihm nichts sagten. Es kümmerte

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ihn wenig, und schließlich bemitleidete er den Mri,der seine Geschichte und seine Mythen in solch ei-nem versagenden Schiff ausbreitete. Er fühlte sichwie in einer abschüssigen Kurve, die Schlacht war zuspät gewonnen worden. Er konnte keine Nahrungmehr unten behalten, die Glieder wurden schwach; erwurde dünner als der Mri und zerbrechlicher.

»Ich sterbe«, vertraute er Niun schließlich an, als ergenug Hal'ari für solch einen Gedanken gelernt hatte.Niun blickte ihn sachlich und unverschleiert an, wieimmer, wenn er sich mit ihm auf einer persönlichenEbene unterhielt. Duncan jedoch zog den Schleiernicht herab, zog seine Verhüllung vor.

»Hast du den Wunsch, zu sterben?« fragte ihn Ni-un in einem Ton, der vollen Respekt für einen derar-tigen Wunsch ausdrückte. Für einen Augenblick warDuncan überrascht, begriff, daß der Mri ihm auf derStelle dabei helfen würde. »Möchtest du einen Bechermit Wasser?« Der Tonfall wäre derselbe gewesen.

Er suchte nach Worten, mit denen er antwortenkonnte. »Ich möchte«, sagte er, »mit euch gehen. Aberich kann nicht essen. Ich kann nicht schlafen. Nein,ich will nicht sterben. Aber ich sterbe.«

Niun runzelte die Stirn und blinzelte mit den Au-gen. Er streckte eine schlanke, goldene Hand aus undberührte Duncans Ärmel. Es war eine seltsame Geste,ein Ausdruck des Mitleids, hätte er den Mri nichtbesser gekannt.

»Bleib am Leben«, wünschte Niun ernsthaft.Duncan weinte beinahe, konnte es aber unterdrük-

ken.»Wir werden Shon'ai spielen«, sagte Niun.Es war Wahnsinn. Duncan hätte es abgelehnt, denn

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seine Hände zitterten und er wußte, daß er daneben-greifen würde: es fiel ihm ein, daß dies ein Weg war,ihm den Tod zu gewähren. Aber Niuns Freundlich-keit versprach anderes, versprach Gesellschaft undBeschäftigung für die langen Stunden. Man konntenicht an etwas anderes denken und dabei Shon'aispielen.

In der Nachbarschaft eines roten Sterns, an fünfTagen ohne Sprung, spielten sie Shon'ai und unter-hielten sich, unverschleiert. Es gab einen Gesang zumSpiel und einen Rhythmus der Hände, der das Auf-fangen noch schwieriger machte. Duncan lernte ihn,und er lief selbst am Rande des Schlafes noch durchsein Gehirn, betäubte ihn, beanspruchte sein Bewußt-sein vollständig. Zum erstenmal seit ungezähltenNächten schlief er tief, und am Morgen aß er mehr,als er zuvor gekonnt hatte.

Am sechsten Tag in der Nähe dieses Stern spieltensie schneller, und Duncan erlitt bei einem Treffer eineKnochenverletzung und erfuhr, daß Niun ihn nichtlänger an der Hand halten würde.

Zwei weitere Male wurde er getroffen, einmaldurch Nervosität danebengreifend und einmal durchZorn. Niun erwiderte einen Wurf mit größerem Ge-schick als Duncan es schaffen konnte, nachdem diesersich, gereizt durch den ersten Treffer, dem Mri ge-genüber einen Foulwurf geleistet hatte. Duncan ver-arbeitete den Schmerz und erfuhr, daß es das Erlei-den von größerem Schmerz und die Niederlage imSpiel bedeutete, wenn man durch Angst oder Zorndie Konzentration einbüßte. Er sammelte sich undwidmete sich dem Shon'ai mit tiefstem Ernst, immernoch mit Stäben und nicht mit geschärftem Stahl,

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womit das Kel spielte.»Warum«, fragte er Niun, als er genug Wörter da-

für hatte, »habt ihr ein Spiel, in dem ihr eure Brüderverletzen könnt?«

»Man spielt Shon'ai«, erklärte Niun lapidar, »umdas Leben zu verdienen, um den Geist des Volkes zuspüren. Man wirft. Man erhält. Wir spielen, um dasLeben zu verdienen. Wir werfen. Mit leeren Händenwarten wir. Und wir lernen es, stark zu sein.«

Es gab eine Schwelle der Furcht in dem Spiel, dieGewißheit, daß es eine Gefahr gab, daß es keine Gna-de gab. Nach einer Zeit konnte man ein sichererSpieler sein, solange die Geschwindigkeit innerhalbder Grenzen des eigenen Geschicks blieb, und danndoch erkennen, daß es sehr ernst wurde, wenn dieGeschwindigkeit zunahm. Angst tauchte auf, dieNerven versagten, und das Spiel ging unter Schmer-zen verloren.

Spiele, riet ihm Niun, um das Leben zu verdienen! Wirfdein Leben, Kel'en, und fang es mit deinen Händen!

Er begriff, und damit gleichzeitig noch etwas ande-res, warum die Mri große Freude an solch einemSpiel haben konnten.

Und zum erstenmal begriff er die eigentümlicheVerrücktheit, mit der die Mri nicht nur überleben,sondern sich auch am unnatürlichen Gefühl derSprünge ergötzen konnten, durch die sich das Schiffscheinbar zufällig von Stern zu Stern warf.

Zwei weitere Male sprangen sie, und Duncan standruhig und wartete, als die Klingel schrillte und dieAuflösung einsetzte. Er beobachtete den Mri, kannteden Geist des Kel'en, der ihm gegenüberstand, wußte,wie man sich gehen ließ und völlig im Rhythmus des

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Spieles aufging, mit dem Schiff ging und sich nichtfürchtete.

Beim zweiten dieser Sprünge brach er in ein wildesGelächter aus, denn die Ausbildung des Diensteshatte auf das Überleben abgezielt, die des Spieles da-gegen etwas komplex Fremdartiges: eine sorgloseVerrücktheit, der Mut der Mri.

Kel'en.Er hatte etwas verloren, etwas, dem er einst Wert

beigemessen hatte, und wie bei den anderen Besitz-tümern, die er dem Vergessen überantwortet hatte,war das Gefühl des Verlustes schwach und fern.

Niun betrachtete ihn, schätzte ihn schweigend ab,und er begegnete diesem Blick direkt, während ihmder Verlust noch zu schaffen machte. Eines der Dusei,das kleinere, stieß mit der Nase gegen seine Hand. Erriß sie zurück und wandte das Gesicht von Niunskritischem Blick ab. Er ging mit regelmäßigen Schrit-ten zu seiner Ecke, während die Sinne ihn zu betrü-gen versuchten und doch nicht die Macht dazu hat-ten.

Er war nicht der, den Stavros lanciert hatte.Er saß auf seinem Lager und starrte auf die zer-

kratzte Tagezählung, die er begonnen und dann ver-säumt hatte. Es war nicht mehr die verstreichendeZeit, die eine Rolle spielte, sondern das, was vor ihmlag – genug Zeit, um in der Tat vergessen zu können.

Das Schreiben vergessen, die menschliche Sprache,Kesrith. Es gab Lücken in seiner Vergangenheit, nichtallein in den letzten Tagen, diesen fiebrigen undfurchtbaren Stunden; es gab andere, die aus seinemGedächtnis seltsame und sich verschiebende Mustermachten, als ob einige der Dinge, an die er sich erin-

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nerte, zu fremd waren in diesem Schiff und auf dieserlangen Reise.

Die Dunkelheit, von der Niun sprach, fing an, sol-che Dinge zu verschlucken, wie ihr Maß, Ziel undSinn fehlten.

Mit derselben Metallkante, mit der er die Markie-rungen gemacht hatte, zerkratzte er sie, löschte er dieAufzeichnung aus.

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Die verlorenen Tage multiplizierten sich zu Monaten.Duncan verbrachte sie mit der sorgfältigen Einhal-tung von Instandhaltungsplänen, zerlegte Geräte, diees nicht brauchten, und setzte sie wieder zusammen,nur um beschäftigt zu sein. Er spielte Shon'ai, wennNiun einverstanden war, lernte bedeutungslose Na-mensgesänge auswendig und studierte fortwährenddie Wörter ein, die er kürzlich in Hal'ari gelernt hatte,während seine Hände Beschäftigung bei dem Kno-tenspiel fanden, das Niun ihm beibrachte, oder in derKüche oder bei welcher Arbeit auch immer, die ersich für den Moment ausdenken konnte.

Er lernte Metallbearbeitung, eine zum Kel passendeFähigkeit, und Schnitzen, fertigte in Plastik die grobeGestalt eines Dus, für die er zu Anfang keinen prakti-schen Nutzen fand. Und dann fiel ihm ein Zweck ein.»Bring sie der She'pan«, sagte er, als er sie so gut esging fertiggestellt hatte, und drückte sie Niun in dieHand.

Der Mri blickte ihn sehr bekümmert an. »Ich werdees versuchen«, sagte er mit verblüffender Ernsthaf-tigkeit, stand gleichzeitig auf und ging, als handele essich um eine Sache des Augenblicks, statt des Zufalls.

Es dauerte lange, bis er zurückkam. Er setzte sichauf den Boden und stellte die kleine Dus-Figur zwi-schen sich und Duncan auf die Matte. »Sie will sienicht, Kel Duncan.«

Keine Entschuldigung für die Gehässigkeit derShe'pan; es war unmöglich, daß Niun eine Entschul-digung für eine Entscheidung der She'pan vorbrach-

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te. Er begann zu verstehen, warum Niun schon beimVersuch gezögert hatte, ihr das Geschenk zu bringen,und nach einer Weile stieg ihm die Hitze ins Gesicht.Er verschleierte sich nicht, sondern starrte mürrischzu Boden, auf die ungestalte und zurückgewiesenekleine Figur.

»So«, sagte er mit einem Achselzucken.»Es war bu'ina'anein – du bist eingedrungen«,

sagte Niun.»Anmaßung«, übersetzte Duncan.»Es ist noch nicht die Zeit dafür«, sagte Niun.»Wann wird sie sein?« fragte Duncan scharf, hörte,

wie der Mri leise die Luft einsog. Niun verschleiertesich beleidigt und stand auf.

Mißachtet lag dort die kleine Figur für zwei Tage,bevor Niun mit milder Stimme und nachdem er siekurz befingert hatte fragte, ob er sie haben könne.

Duncan zuckte die Achseln. »Nimm sie!« sagte erund war froh, sie losgeworden zu sein.

Sie verschwand in den inneren Falten von NiunsGewändern. Er stand auf und verließ den Raum. DieDusei gingen, kamen zurück, und gingen wieder inihrer Ruhelosigkeit.

Durch den Hauptkorridor war eine Linie gezogen,eine unsichtbare Linie. Duncan wußte, welche Berei-che des Schiffes ihm erlaubt waren und welche ihmversperrt waren, und er versuchte nicht, die verbote-nen zu betreten. Es waren weniger die Funktionsbe-reiche des Schiffes, die ihm versperrt waren, als viel-mehr Meleins Gegenwart; und Niun kam und gingdort, aber er durfte es nicht.

Jetzt ging Duncan, getrieben von menschlicher

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Sturheit, war neugierig, wohin Niun mit der Figurgegangen war; und seine Schritte wurden langsamerund endeten schließlich in dem Korridor, den er seitunzähligen Tagen nicht gesehen hatte; jenseits derBiegung des Ganges war es, bis hierhin hatte er dieBestimmung noch nicht verletzt – und der Anblickkühlte jetzt seinen Zorn und ließ ihn stehenbleiben.

Die Lichter brannten hier nicht, und es herrschteein schwacher Gestank von etwas Moschusartigem,den die Filter nicht völlig beseitigt hatten. Zwei großebraune Gestalten saßen in den Schatten bei einem of-fenen Eingang: die Dusei – Niuns Anwesenheit,dachte er.

Da war die menschliche Hartnäckigkeit, und dawar die Hartnäckigkeit nach Mri-Art, die er ebensogelernt hatte, die er in Niun respektierte. Da war dieeinfache Tatsache, daß Niun, wenn herausgefordert,nicht nachgab.

Aber es gab Wege, den Mri unter Druck zu setzen.Schweigend und in Respekt vor dem Hindernis

raffte Duncan die Gewänder zwischen den Knien undsank mit gekreuzten Beinen zu Boden, um dort zuwarten. Die Dusei, Schatten neben dem fernen Ein-gang, standen auf und schnupperten nervös die Luft,bedrängten ihn mit ihrem Gefühl der Unsicherheit. Erließ sich nicht vertreiben. Er bewegte sich nicht. Nacheiner Weile kam das geringere Dus den halben Wegund legte sich nieder, blickte ihn an, den Kopf zwi-schen den schweren Tatzen. Als er reglos blieb, standes wieder auf und legte erneut die halbe Strecke zu-rück, und schließlich kam es sehr gegen DuncansWillen herbei und stieß ihm mit der Nase ans Bein.

»Yai!« wies er es sanft zurecht. Es ließ sich nieder,

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berührte ihn nicht mehr, seufzte tief.Und im Eingang erschien ein schwärzerer Schatten,

an dem da und dort Metall glitzerte.Niun.Der Mri stand reglos und wartete. Duncan raffte

sich auf und stand ruhig und vorsichtig an derGrenzlinie.

Es war unnötig, mit Niun zuviel zu reden – der Mribetrachtete ihn jetzt und winkte ihn nach einer Weiledes Nachdenkens heran.

Duncan ging voraus in diesen Schatten, das Dus anseinen Fersen, während Niun im Eingang auf ihnwartete; wie bei Menschen üblich wollte er Niun fra-gen, was dort drin war, welcher Impuls ihm plötzlichZugang zu diesem Ort gewährte. Aber immer nochschweigend wies Niun mit der Hand nach links undlenkte seine Aufmerksamkeit in den Raum, aus demer gekommen war.

Dies war ein Teil der Wohnquartiere für die Besat-zung gewesen. Der Moschusgeruch hing dick an die-sem schattigen Ort, der mit schwarzem Stoff ausge-kleidet war. Das einzige Licht darin stammte von ei-ner offenen Flamme, und es gleißte auf dem Ovoid,das an der jenseitigen Wand des Abteils lag, hintereinem beschatteten Stahlgitter. Am Eingang erhobensich zwei Röhren, die als Säulen dienten und denDurchgang so verengten, daß immer nur einer hin-durchkonnte.

»Geh hinein!« sagte Niun sanft hinter ihm.Zwischen den Schultern spürte er die Berührung

von Niuns Hand und trat vor, obwohl er es nichtwollte, fühlte, wie sich in diesem Schatten seine Hautzusammenzog – die tanzende Flamme war so gefähr-

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lich im Schiff, der Weihrauch dick und widerwärtig.Er hatte ihn schon zuvor wahrgenommen, denn erhing an der Bekleidung der Mri, ein Duft, den er mitihnen in Verbindung brachte, sogar als natürlich fürsie erachtet hatte, obwohl er ihn in den sterilen La-bors vermißt hatte.

Hinter ihm schnauften die Dusei, konnten auf-grund der Säulen nicht hereinkommen.

Und für einige Augenblicke herrschte Schweigen.»Du hast solch einen Schrein schon einmal gese-

hen«, sagte Niun mit tiefer Stimme, so daß sich dasPrickeln auf seiner Haut verstärkte. Duncan wandteden Blick halb zu dem Mri um, und sein Herz klopfte,als er sich an Sil'athen erinnerte, den Verrat, den erbegangen hatte. Einen schrecklichen Moment langdachte er, daß Niun davon wußte, und redete sichdann selbst ein, daß der Mri ihm seinen ersten Besuchdort in Erinnerung rief, als er mit Erlaubnis gekom-men war und in ihrer Begleitung.

»Ich erinnere mich«, sagte Duncan mit belegterStimme. »Hast du mich wegen dem hier von diesemTeil des Schiffes ferngehalten? Und warum läßt dumich jetzt hierher?«

»Habe ich dich falsch verstanden? Bist du nichthergekommen, um Einlaß zu suchen?«

Es lag eine Eintönigkeit in Niuns Stimme, die fro-stig wirkte, sogar jetzt. Duncan versuchte nicht zuantworten, wandte den Blick ab und dorthin, wo dasPan'en hinter dem Schirm ruhte, auf das flackerndewarme Licht, Gold und Silber. Mri.

In diesem Raum gab es jetzt kein Echo mehr vonden menschlichen Stimmen, die ihn einst beherrschthatten, keine Erinnerung an die rauhen Scherze und

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die intimeren Gedanken und Impulse, die hier dasVerhalten bestimmt hatten. Jetzt enthielt er dasPan'en, war ein Mri-Ort. Er enthielt Alter und die Er-innerung an etwas, das Duncan getan hatte und denMri gegenüber nicht zugeben konnte.

»In jedem Edun des Volkes«, sagte Niun, »hat eseinen Schrein gegeben, und der Schrein gehört zu denPana. Du siehst den Schirm. Dies ist die Stätte, überdie das Kel den Fuß nicht hinaussetzen darf. Nachdem, was jenseits liegt, darf das Kel nicht fragen. Esist das Symbol einer Wahrheit, Kel Duncan. Begreifeund behalte es.«

»Warum läßt du mich herein?«»Du bist Kel'en. Selbst der letzte Kel'en hat die

Freiheit, den äußeren Schrein zu betreten. Aber einKel'en, der das Pan'en berührt hat – der den Sen-Schrein betreten hat –, er ist gezeichnet, Kel Duncan.Erinnerst du dich an den Wächter des Schreins?«

Knochen und schwarzer Stoff, ein mitleiderregen-des Häufchen Sterblichkeit im Schrein: die Erinne-rung kam mit kalter Klarheit.

»Die Leben von Kel'ein«, sagte Niun, »sind dafüreingesetzt worden, dies zu bewachen; andere, die esgetragen haben, sind für diese Ehre gestorben, habendie Stätte geheimgehalten, den Befehlen einer She'panFolge geleistet. Aber du hast von diesen Dingennichts gewußt.«

Duncans Herz raste. Er sah den Mri argwöhnischan. »Nein«, sagte er und wünschte sich fort aus die-sem Raum.

Aber Niun legte ihm die Hand auf die Schulter undschob ihn zum Schirm, kniete dort nieder, und Dun-can sank neben ihm zu Boden. Der Schirm stellte eine

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Dunkelheit dar, die das Licht und die Form des Pan'enin diamantene Fragmente zerschnitt. Hinter ihnen är-gerten sich die Dusei, die aus ihrer Gegenwart ver-bannt waren.

Es herrschte Schweigen. Duncan atmete langsamaus, verstand endlich, daß keine unmittelbare Dro-hung existierte. Für eine geraume Weile ruhte Niundort, die Hände im Schoß, das Gesicht zum Schirmgewandt. Duncan traute sich nicht, den Kopf zu dre-hen und ihm ins Gesicht zu blicken.

»Begreifst du diese Stätte?« fragte ihn Niunschließlich, ohne sich zu bewegen.

»Nein«, sagte Duncan. »Und du hast mir nicht ge-nug Worte beigebracht, um zu fragen. Was verehrstdu hier?«

»Der erste der Kel-Kaste war Sa'an.«»... Geber der Gesetze«, nahm Duncan den Gesang

auf in der Stille, die Niun hinterließ, »was den Dienstausmachte, den er Sarin der Mutter leistete. Und das Ge-setz des Kel ist eines: der She'pan dienen...«

»Das ist das Kel'es-jir«, sagte Niun. »Die HohenLieder haben jedes einen Rumpf, der als erstes gelerntwird. Dann wächst aus jedem Großen Wort ein Glied,ein weiteres Lied. In der E'atren-a von Sa'an gibt eseinundzwanzig Große Wörter, die zu weiteren Lie-dern führen. Das ist eine Antwort auf deine Frage:hier lernen Kel'ein die Hohen Lieder. Hier begegnensich die drei Kasten, obwohl sie auf ihrem Platz blei-ben. Hier werden die Toten vor die Anwesenheit derPana gelegt. Hier sprechen wir zur Gegenwart Sa'ansund der anderen, die dem Volk gegeben haben, undwir erinnern uns daran, daß wir ihre Kinder sind.« Esgab eine lange Pause. »Sa'an war nicht dein Vater.

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Aber beuge dich dem Kel-Gesetz, und du kannst her-kommen und willkommen sein. Ich kann dich dasKel-Gesetz lehren, jedoch nicht die Dinge der Pana.Es liegt an der She'pan, sie zu lehren, wenn sie will.Es ist ein Gesetz, daß jede Kaste nur das lehrt, was sieam besten kennt. Das Kel ist die Hand des Volkes.Wir sind das Gesicht des Volkes, das die Außenste-henden sehen, und deshalb verschleiern wir uns. Undwir besitzen nicht das Hohe Wissen, und wir lesennicht die Schriften: wir sind Das Gesicht, Das Nach Au-ßen Gewandt Ist, und wir haben nichts, durch das Au-ßenstehende etwas über uns erfahren könnten.«

Das erklärte vieles.»Sind alle Außenstehenden Feinde?« wollte Dun-

can wissen.»Das liegt jenseits des Kel-Wissens. Die Leben des

Kel sind das Leben des Volkes. Wir wurden von denRegul angeheuert. Es wird gesungen, daß wir alsSöldner gedient haben, und diese Lieder sind sehr alt,aus der Zeit vor den Regul. Das ist alles, was ichweiß.

Und Niun machte eine Geste der Verehrung undstand auf. Duncan raffte sich auf und folgte ihm hin-aus in den äußeren Korridor, wo die Dusei warteten.Sie strahlten intensive Gefühle der Freude aus. Dun-can ertrug sie, versuchte, klare Sinne zu bewahren,sich dessen bewußt – furchtsam bewußt –, daß seineVerteidigungsmechanismen am Boden lagen, gegen-über den Mri und den Dusei.

In der Kel-Halle teilten sie eine Tasse Soi miteinan-der. Niun schien in ungewöhnlich gesprächigerStimmung zu sein, und verschiedene Ausdrückespielten frei in seinen Augen, die sonst so tot wie

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Bernsteinglas sein konnten.Als ob, dachte Duncan, sein Aufsuchen des Schrei-

nes Niun gefallen hätte. Es fiel ihm ein, daß vielleichtnicht nur er selbst in dem langen Schweigen einsamwar, sondern auch Niun, der Wohnraum mit einemWesen teilte, das ihm fremder war als die Dusei, dasihn weniger gut begreifen konnte – und das von Me-lein abgelehnt wurde.

Sie unterhielten sich ruhig über das wenige, was sieunmittelbar betraf, als sie sich überlegten, daß einSprung stattfinden konnte und was am nächstenMorgen getan werden mußte. Es gab einen unge-heueren Bereich von Dingen, die sie nicht erwähnten,die in Vergangenheit und Zukunft lagen. Es gab Din-ge, die Duncan – der Niun gesprächsbereit fand – ei-nen anderen Menschen gefragt hätte, Dinge, die ervielleicht gesagt hätte – Fragen über die Vergangen-heit, um den Mann kennenzulernen: Wie war es, dasLeben auf Kesrith, als es dort nur Regul und Mri gab? Wokommst du her? Was für Frauen hast du gekannt? Washast du vom Leben erwartet? Aber Kesrith mußte ver-gessen werden, und ebenso die Dinge, an die er sichselbst erinnerte, die menschlich waren und nicht ge-nannt werden durften. Die Vergangenheit war ver-sunken und die Zukunft voll von Dingen, nach denenKel'en nicht fragen durfte, die er nicht anzweifelndurfte, die er nicht sehen durfte außer in ver-schwommenen Mustern – wie jenseits des Schirms.

Duncan leerte seine Tasse, setzte sie zur Seite undstieß damit an das Dus, das sie sofort beschnupperte.

»Wir werden eine Runde spielen«, sagte Niun.Tag für Tag spielten sie, immer dasselbe. Die ewige

Übereinstimmung fing an, verrückt zu machen. Und

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an diesem Tag, mit der frischen Erinnerung an denSchrein, biß sich Duncan auf die Lippe, wägte seinLeben ab und gab eine andere Antwort.

»Mit Waffen«, sagte er.Niuns Augen blinzelten überrascht. Er überlegte,

zog dann das Av'tlen aus dem Gürtel, das kleineSchwert, zwei Hände lang. Er legte es vor sich, danndie Pistole ein Stück weiter nach links; und die mitGewichten beschwerten Seile, die Ka'islai, die vonseinem Gürtel herabhingen und mehr Schmuck alsWaffe zu sein schienen. Und aus einer inneren Tascheseines Gürtels nahm er die kleinen, mit Griffen verse-henen Klingen der As'ei, mit denen das Kel Shon'aispielte. All diese Dinge legte er auf die Matte zwi-schen ihnen, die Pistole auf die linke Seite, und dieYin'ein, die alten Waffen, auf die rechte.

Das Av'kel fehlt«, sagte Niun. »Wir brauchen eshierzu nicht.«

Das Kel-Schwert: Duncan kannte es, eine drei Fußlange Klinge mit rasiermesserscharfer Schneide; erhatte es Niun zurückgegeben, und es lag in Stoff ge-wickelt neben Niuns Lager.

»Du kannst sie anfassen«, sagte dieser und fügtehinzu, als Duncan die kleinen Klingen der As'ei auf-sammelte: »Sei vorsichtig damit. Sei mit all diesenDingen sehr vorsichtig, Kel Duncan. Dies...« – er wiesauf die Pistole –. »... ist etwas, über das ich dir nichtszu sagen habe. Aber Kel'ein, die das Spiel von Kind-heit an gespielt haben – sind dabei gestorben. Du bistkaum fähig, mit den Stangen zu spielen.«

Eine kalte, anders geartete Furcht kroch Duncan insGehirn, als er diese kleinen Waffen in der Hand hielt,keine panische Angst – er trat nicht mehr mit ihr ins

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Spiel –, sondern eine kalte Berechnung, daß an alldiesen Waffen etwas Fremdartiges war, persönlicherund stärker fordernd als alles, mit dem er bisher kal-kuliert hatte. Er zog Niuns Geschicklichkeit in Erwä-gung und die Mri-Reflexe, die ganz einfach einentödlichen Bruchteil schneller zu sein schienen als dieder Menschen, und plötzlich fürchtete er, daß er füreinen solchen Wettkampf nicht bereit war und Niunnur darauf wartete, daß er es zugab.

»Es scheint«, meinte Duncan, »daß ziemlich vieleKel'ein beim Erlernen dieser Waffen sterben können.«

»Es ist ein ehrenvoller Tod.«Er blickte dem Mri in das nackte Gesicht und

suchte dort nach einer Spur von Humor, fand jedochkeine.

»Ihr seid eine Rasse«, sagte Niun langsam, »die inGruppen kämpft. Wir nicht. Die Gewehre, die Za-hen'ein, sind euer Weg. Ihr versteht unseren nicht, dassehe ich. Und oft, Duncan, oft haben wir versucht,uns der Menschheit anzunähern; wir dachten, daß esin euch Ehre geben könnte. Vielleicht gibt es sie. Aberihr wolltet nicht allein im Kampf antreten. Ist daszwischen Menschen niemals geschehen? Oder warumnicht, Duncan?«

Duncan fand keine Antwort, denn er erkannte einegroße Trauer in dem Mri, eine so tiefe Trauer undVerwirrung, als er das fragte – als ob, wenn diese eineSache verstanden worden wäre, so viele Dinge nichthätten geschehen müssen.

»Es tut mir leid«, sagte Duncan und fand es einwenig pathetisch.

»Was willst du? Willst du spielen?«Der Kummer blieb. Urplötzlich fürchtete Duncan

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die scharfen Waffen während ein solches Gefühl inder Luft lag. Er blickte auf die kleinen Klingen hinab,die er in der Hand hielt, versuchte aber trotzdem vor-sichtig, den richtigen Griff an ihnen zu finden.

Niun streckte die schlanken Finger aus und halfihm sorgsam dabei, zog sie dann wieder zurück. Erwich zurück, bis zwischen ihnen ein passender Ab-stand war.

»Immer nur eine Klinge, Duncan.«Er zögerte.»Das ist nicht gut«, meinte Niun. »Wirf!«Die Klinge flog. Niun fing sie und warf sie sanft

zurück.Duncan griff daneben. Sie traf seine Brust und fiel

ihm in den Schoß. Er rieb sich die wunde Stelle überdem Herzen und dachte, daß sie trotz der Gewänderbluten mußte.

Er warf, und Niun erwiderte. Ungeschickt packteer den Griff, warf erneut; sie kam zurück, vor, zu-rück, vor, zurück – und plötzlich fiel ihm ein, daß eseine Waffe war, und er erstarrte und ein zweitesmalwurde er auf den Rippen getroffen. Mit zitternderHand hob er die Klinge von seinem Schoß und warf.

Niun fing sie auf, schloß die Hand und behielt sie.»Ich möchte weiterspielen«, sagte Duncan.»Später.« Niun streckte die Hand nach der anderen

Klinge aus, und Duncan gab sie ihm zurück. Der Mristeckte beide wieder in den Gürtel.

»Ich bin nicht so schwer verwundet.«Die Bernsteinaugen des Mri musterten ihn sachlich

und lasen ihn von den zitternden Händen bis zumunverschleierten Gesicht. »Du hast jetzt bemerkt, daßdu verletzt wirst. So geht es uns allen, Kel Duncan.

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Denke eine Weile darüber nach! Dein Herz ist gut.Dein Wunsch ist gut. Deine Selbstkenntnis ist fehler-haft. Wir werden wieder spielen, manchmal mit Stä-ben, manchmal mit den Klingen. Ich werde dir alleszeigen, was ich kann. Aber du kannst nicht allesheute lernen. Zeig mir die Verletzungen. Ich habemeine Würfe sorgfältig abgewogen, aber ich könnteeinen Fehler gemacht haben.«

Duncan runzelte die Stirn, öffnete das Gewand undfand zwei winzige Einstiche, einen über dem Herzen,einen über den Rippen, weder gequetscht noch tief.»Ich nehme an, daß ich derjenige bin, der wahr-scheinlich eher einen Fehler macht«, gab er zu.

Niun betrachtete ihn sachlich.»Das ist wahr. Du kannst deine Kraft nicht zurück-

halten. Ich muß meine immer noch zügeln, wenn wirmit den Stäben spielen.«

Er blickte den Mri unwillig an.»Nicht sehr«, gab Niun zu. »Aber ich kenne deine

Grenzen, und du kennst meine nicht.«Duncan preßte die Kiefer zusammen. »Was ist arro-

gant auf Hal'ari?«Niun lächelte. »Ka'ani-nla. Aber das bin ich nicht,

Kel Duncan. Wenn ich arrogant wäre, dann hättest dumehr als zwei kleine Schnitte. Einen Gegner zu miß-brauchen, das ist arrogant. Das Spiel über die eigenenGrenzen hinauszutreiben, das ist Dummheit. Und dubist nicht dumm, Kel Duncan.«

Es dauerte mehrere Augenblicke, bevor Duncanauch nur versuchte, zu antworten. Die Duseischwankten unruhig hin und her.

»Wenn ich dich zornig machen kann«, sagte Niun,als er den Mund zum Sprechen öffnete, »habe ich

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wieder deinen Schutz umgangen. Wenn ich dich zor-nig machen kann, habe ich dir neben dem Spiel etwaszum Nachdenken gegeben. So sprachen meine Mei-ster zu mir – oft, denn ich neigte selbst zu diesemFehler. Er hat mir mehr als nur zwei Narben einge-bracht.«

Duncan dachte über Mri nach, fand es seltsam, daßer nach so langer Zeit etwas von Niun als Person er-fahren hatte, nicht als Mri. Er dachte über die Amü-siertheit nach, die direkt hinter den Bernsteinaugenlauerte, und vermutete, daß von ihm erwartet wurde,diesen Humor zu teilen – daß Niun, statt eine dro-hende Haltung einzunehmen, einfach seinen Wurfzurückgeschleudert hatte, wie es ein Mann bei einemanderen machte, der nicht sein Feind war.

»Morgen«, sagte Duncan, »werde ich die As'ei wie-der probieren.«

Niuns Gesicht wurde nüchtern, aber es lag Ver-gnügen in seiner Geste der Zustimmung. »Gut.« Ab-wesend streckte er eine Hand aus, um das Dus abzu-wehren, das sich zwischen sie drängte: die Tiereschienen sich das Eindringen in jedes stille Gesprächnicht verkneifen zu können, wollten berühren und sonahe sein wie möglich.

Aber das Dus, es war das kleinere, knurrte prote-stierend, und Niun zog rasch die Hand zurück. DasTier schob sich grob zwischen sie und ließ sich dortnieder. Einen Moment später bewegte es sich wieder,schob seine Körpermasse immer näher an Duncan.

»So etwas macht es manchmal«, sagte Duncan,alarmiert durch das Verhalten des Tieres. Etwasstreifte seine Sinne und nahm Einfluß auf den Herz-schlag. Der massige Kopf stieß gegen sein Knie, und

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seufzend wälzte sich das Tier schwer gegen ihn, warwarm und begann, sein Wohlbefinden zu äußern.Duncan verlor sich für einen Moment darin, erschau-erte dann, und es hörte auf.

Seine Augen stellten sich wieder scharf ein, und ersah Niun, wie er mit einem Arm um die Schulter desanderen Tieres geschlungen dasaß.

»Das ist ein schamloses Dus«, meinte Niun, »dasTsi'mri bevorzugt.«

Er war, dachte Duncan, beunruhigt darüber, daßdas Dus ihn angeknurrt hatte. Er ertrug die Berüh-rung noch einen Moment lang, wußte von der Bin-dung des Mri an die Tiere, fürchtete, durch seine Be-schwerde beide zu beleidigen; aber die Berührungseiner Sinne war zuviel. Ein plötzliches Zittern über-kam ihn. »Hol es von mir weg!« sagte er auf einmal;er traute sich nicht, sich zu bewegen, wußte nicht,was mit dem Tier los war.

Niun blickte finster, trennte sich vorsichtig vondem größeren Dus, streckte die Hand aus, um dasTier zu berühren, das bei Duncan lag. Es gab einenseltsamen, klagenden Ton von sich und schob sichnoch enger an Duncan, atmete schwer dabei. Niun,bereits ohne Schleier, nahm das Zaidhe ab, das seineMähne bedeckte – ungewohnte Vertrautheit – undschüttelte das Tier heftig. Duncan spürte die Anspan-nung der Dus-Gefühle, die Fremdheit. Er versuchte,das Tier selbst mit der Hand zu berühren, aber plötz-lich schob es sich von ihm weg, scheute und durch-querte den Raum, schüttelte den schweren Kopf undschnaubte verwirrt, als es sich zurückzog.

»Tsi'mri«, urteilte Niun, der an seinem Platz knienblieb. »Das Dus spürt etwas, was es nicht begreift. Es

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will mich nicht haben, und dich kann es nicht haben.Das wird ein Problem werden, Duncan. Möglicher-weise kannst du nicht annehmen, was es dir anbietet.Es wird jedoch gefährlich werden, wenn du es letztenEndes nicht noch annimmst. Mit diesem Tier kann ichnicht umgehen. Wenn Dusei nicht erhalten, was siewollen, überkommt sie ein Wahnsinn. Sie wählen,nicht wir.«

»Ich kann es nicht berühren.«»Du wirst müssen.«»Nein.«Niun stieß einen kurzen Atemzug hervor, stand auf

und ging weg, blieb vor dem Sternenschirm stehenund starrte ihn an, dieses staubige Feld, das alles war,was sich in der Kel-Halle veränderte. Außer einemverwirrten Tier und einem störrischen Menschen wares das einzige, was er sich anschauen konnte. Duncanspürte die Anklage in dieser erstarrten schwarzenGestalt, die völlige Enttäuschung über ihn.

»Niun.«Die Mri drehte sich um, nacktes Gesicht, entblößter

Kopf, und sah auf ihn hinab.»Nenn mich nicht Tsi'mri«, sagte Duncan.»Das sagst du?« Niun machte einen steifen Nacken.

»Wenn dir das Hal'ari leicht von der Zunge kommt,wenn du das Spiel mit Waffen spielst, wenn du dichohne Furcht vor den Dusei zum Schlafen niederlegenkannst, dann werde ich dich nicht mehr Tsi'mri nen-nen. Das Tier wird sterben, Duncan. Und das anderewird allein sein, wenn der Wahnsinn es nicht eben-falls ansteckt.«

Duncan sah dorthin, wo sich das Tier in die Eckedrängte. Um Frieden mit Niun zu haben, erhob er

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sich und raffte sich dazu auf, zu dem Tier zu gehen.Absonderlicherweise wollte es nichts von ihm wissen,scheute und knurrte. Die dunklen Augen glitzertenihn an, ersehnten, was sie nicht finden konnten.

»Vorsichtig.«Niun war hinter ihm. Dankbar wich Duncan zu-

rück, spürte die Hand des Mri auf der Schulter. DasDus blieb in seiner Ecke, und es schien nicht die Zeitzu sein, etwas bei ihm zu probieren.

»Ich werde es versuchen«, sagte Duncan.»Langsam. Laß es jetzt allein. Laß es! Man kann sie

nicht zwingen.«»Ich begreife nicht, warum es zu mir kommt. Ich

habe versucht, es zu entmutigen. Sicherlich verstehtes, daß ich es nicht will.«

Niun zuckte die Achseln. »Ich habe seine Verstört-heit gespürt. Ich kann dir keine Antwort geben. Nie-mand weiß, warum ein Dus eine Wahl trifft. Ichkönnte nicht beide halten, das ist alles. Einen anderenhat es nicht. Und vielleicht spürt es in dir die Natureines Kel'en.«

Duncan starrte das Dus an, das jetzt keine Feindse-ligkeit mehr ausstrahlte, dann wieder Niun, fragtesich, ob dieser wußte, daß seine eigenen Worte dasEingeständnis enthielten, daß er etwas gewonnenhatte.

In dieser Nacht, als sie sich zum Schlafen auf ihrenLagern niederließen, legte Niun seine Waffen ab undverstaute sie in der Tuchrolle, die alle seine Besitztü-mer enthielt, und darin lag, zusammen mit einemmerkwürdigen Seilknoten, die schlechtgemachte Dus-Figur, ganz als ob er ihr einen Wert beimäße.

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Das gefiel Duncan. Er blickte in die Schatten zudem lebendigen Modell, das in einiger Entfernungvon ihm lag, die Augen im Licht des Sternenschirmsglitzernd, den Kopf zwischen den Tatzen, ihn sehn-süchtig anblickend.

Er pfiff dem Tier sanft etwas zu, eine altertümlicheund menschliche Lockung.

Die Nüstern des Tieres gaben ein zurückhaltendesSchnauben von sich. Die kleinen Augen zogen sich zueinem Ausdruck von schmerzlicher Überlegung zu-sammen.

Es blieb jedoch, wo es war.

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Melein trug keine goldenen Gewänder mehr, sondernweiße. Sie hatte sich selbst neue angefertigt, hatte sichaus dem Raum neben den Kontrollen ein Heim ge-macht, schlicht und angenehm – ein Stuhl für sie,Sitzmatten; und sie hatte angefangen, die Wände mitgroßen Schlangenlinien in Gold und Schwarz undBlau zu beschreiben, die den ganzen Raum erfüllten,den sie zu ihrer Halle bestimmt hatte, und sich auchdraußen den Korridor hinab erstreckten, ein lebhafterund seltsamer Kontrast zu den sonst überall ödenWänden. Aus ihrem Zufluchtsort heraus hatte sie be-gonnen, das Schiff zu übernehmen und in ihr Heimzu verwandeln.

Aus ihrem Geist heraus hatte sie das Erschei-nungsbild vom verlorenen Edun wiedererzeugt, vomHaus des Volkes. Sie hatte die Inschrift wiederherge-stellt; und durch ihr eigenes Können und ihre eigeneArbeit hatte sie dies erreicht, dieses schwierige undheilige Werk.

Niun erfüllte das, was er sah, mit Ehrfurcht, jedes-mal wenn er kam, um ihr Gesellschaft zu leisten, undfand, daß ihr Werk sich immer weiter im Schiff aus-breitete. Er hatte nicht geglaubt, daß es ihr möglichgewesen war, solches Wissen zu erlangen. Bevor sieShe'pan geworden war, war sie die jüngste Tochterdes Hauses gewesen: Melein Zain-Abrin, Erwählteder She'pan Intel.

Er hatte völlig die Melein verloren, die er gekannthatte, seine Wahrschwester, einst seine Kameradin imKel. Der Vorgang war ein allmählicher gewesen, hatte

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sich entwickelt wie die Schriften, Schritt für Schritt. Erverbannte die Tatsache aus seinem Bewußtsein, daßsie als Kinder im Kath beisammen gewesen waren,daß sie zum Zeitvertreib in den Hohen Hügeln vonKesrith gespielt hatten, Kel'ein zu sein. Ihr wurdendas Alter und die Verehrungswürdigkeit allerShe'panei zuteil. Ihre Fähigkeiten verwandelten siefür ihn in eine Fremde. Da er bloß ein Kel'en war,konnte er nicht lesen, was sie schrieb, konnte er nichtdie Mysterien durchdringen, von denen sie plötzlichsprach, und er wußte zu seiner Verwirrung, wie großder Abgrund war, der sich zwischen ihnen eröffnethatte in den sechs Jahren, seit sie zusammen zum Kelgehört hatten. Die blauen Seta'al waren ebenso in ihrGesicht geschnitten und gemalt worden wie in seines,die stolzen Zeichen der Krieger; aber ihren Händenwar es jetzt verboten, Waffen zu halten, und ihr Ver-halten wurde von der stillen Zurückhaltung des Senbestimmt. Sie ging nicht verschleiert. Die Mutter ei-nes Edun verschleierte sich fast nie, ihr Gesicht warihren Kindern ständig zugänglich. Nur in Gegenwartdes Profanen und des Unannehmbaren wandte siedas Gesicht ab. Melein war allein: die Goldgewande-ten des Sen hätten ihre Diener sein sollen; erfahreneKrieger des Kel hätten ihre Ehemänner sein sollen,und die Älteste des Kath hätte ihr zu ihrer FreudeKinder mit strahlenden Augen bringen sollen. Niunspürte, wie unangemessen alles war, das er für sie tunkonnte, manchmal mit schmerzlicher Klarheit.

»Niun.« Sie lächelte und berührte die ihr angebote-ne Hand. Er kniete neben ihrem Stuhl nieder – kniete,denn das Kel nutzte nicht den Luxus von Möbeln,genauso wenig wie das asketische Sen. Sein Dus war

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bei ihm, warm und fest. Das kleinere kauerte sich alsBesucher zu Füßen der She'pan nieder, verehrte sienach Dus-Art. Man sagte, daß ein Sen-Verstand zukomplex und zu kalt war für den Geschmack derDusei. Niun wußte nicht, ob das stimmte: es war selt-sam, daß nie ein Dus nach Melein verlangt hatte,selbst damals nicht, als sie noch zum Kel gehörte, fürsie eine Quelle des Kummers und bitteren Neides aufandere Kel'ein. Jetzt hatte sie keines und wollte auchkeines. Das Dus verehrte sie, aber näherte sich ihrnicht im Bewußtsein – zog selbst einen MenschenMeleins' Intel vor, der berechnenden Macht einerShe'pan.

Niun senkte den Kopf unter ihrer Berührung undsah dann wieder auf. »Ich habe Duncan gebracht«,sagte er. »Ich habe ihm gesagt, wie er sich betragensoll; ich habe ihn gewarnt.«

Melein senkte den Kopf. »Wenn du meinst, daß esZeit ist«, sagte sie und streichelte den Rücken desDus, das neben ihr saß.

Niun sah zu ihr auf, wollte ein letztesmal an ihreGeduld appellieren – zu ihr sprechen, wie er es alsKind getan hatte. Er konnte jedoch diese Vertrautheitmit ihr nicht mehr finden. Die Bestürzung teilte sichden Dusei mit, und seines schüttelte den Kopf. Erstand auf und stieß das Tier, damit es sich in Bewe-gung setzte.

Duncan wartete. Niun fand ihn dort stehend, wo erihn verlassen hatte, an die Tür auf der anderen Seitedes Korridors gelehnt. »Komm«, sagte er zu demMenschen, »und verschleiere dich nicht! Du befindestdich nicht in einer fremden Halle.«

Duncan befestigte den Mez wieder dicht unter dem

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Kinn und begleitete Niun hinein, zögerte in der Mittedes Raumes, bis Melein selbst einladend die Handausstreckte und ihm zeigte, wohin er sich setzensollte, zu ihrer Linken, wo das kleinere Dus lag.

Duncan ging dorthin, hatte Angst vor dem Dus,tödliche Angst. Niun öffnete den Mund zum Protest,aber dachte dann, daß es Duncan beschämen würde,wenn er es tat, seine Eignung in Zweifel ziehen wür-de, hier zu sein. Vorsichtig ließ sich Duncan dort nie-der, wo er sollte, und Niun nahm seinen eigenenPlatz zur Rechten Meleins ein, eine Armlänge vonDuncan und dem anderen Tier entfernt. Er berührtedas kleine Dus mit den Fingerspitzen, spürte, daß esberuhigt war, und war erleichtert darüber.

»Duncan«, sagte Melein sanft. »Kel Duncan. Niunversichert, daß du Hal'ari verstehen kannst.«

»Mir fehlen noch Wörter, She'pan, aber ich verstehees.«

»Aber du hast auch etwas Mu'ara verstanden, be-vor du dich zu uns gesellt hast.«

»Ja. Ein paar Wörter.«»Du mußt sehr hart gearbeitet haben«, sagte sie.

»Weißt du, wie lange du an Bord bist?«»Nein. Ich zähle die Tage nicht mehr.«»Bist du zufrieden, Duncan?«»Ja«, sagte er, was Niun den Atem stocken ließ,

denn er glaubte es nicht. Duncan log: es war mensch-liches Verhalten.

Indem er das tat, hatte er einen Fehler gemacht.»Du weißt«, sagte Melein, »daß wir heimkehren.«»Niun hat es mir berichtet.«»Hat dein Volk das vermutet?«Duncan antwortete nicht. Die Frage bestürzte ihn

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sehr; Niun spürte das durch die Dusei – einen Schockder Angst.

»Unsere Reise in die entgegengesetzte Richtung«,fuhr Melein sanft fort, »war vor langer Zeit, bevoruns Schiffe wie dieses zur Verfügung standen, keineso schnelle Fahrt, nein. Entlang des Weges, der unszu euch führte, haben wir uns auch aufgehalten,manchmal ein- oder zweitausend Jahre. Gewöhnlichgibt es Zeiten, in denen das Volk wirklich vergißt,und in der Dunkelheit zwischen den Sonnen werdenGenerationen geboren, denen die Pana, das Verbote-ne, das Heilige, die Mysterien nicht beigebracht wer-den. Und sie treten hinaus auf eine neue Erde, unwis-send all dessen, was sie nicht gelernt haben. Aberdiesmal, diesmal, Kel Duncan, nehmen wir unsere le-bendige Vergangenheit in deiner Person mit uns; undwie dies gegen jedes Gesetz, gegen jede Weisheit vonShe'panai vor mir verstößt, so unterscheidet sich die-se Reise von anderen Reisen und diese Dunkelheitvon anderen Dunkelheiten. Ich habe dir erlaubt, beiuns zu bleiben. Hat dein Volk es vermutet, Duncan,daß wir heimkehren?«

Es gab ein verbotenes Spiel, das die Kinder desKath zu spielen pflegten, das Wahrheitsspiel: berühredas Dus und versuche zu lügen. Wenn die Mütterdavon erfuhren, verboten sie es, obwohl die großenTiere duldsam mit den Kindern waren und die un-schuldigen Geister der Kinder sie nicht verstörenkonnten.

Finde heraus wo ich den Stein versteckt habe.Weit weg? In der Nähe?Berühre das Dus und versuche zu lügen.Aber nicht unter Brüdern, nicht innerhalb des Ke l

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oder des Sen. »Melein«, protestierte Niun. »Er hatAngst vor dem Tier.«

»Er hat Angst«, wiederholte sie rauh. »Sag mir,Duncan, was erwarteten sie von den Aufzeichnun-gen, die sie in das Schiff brachten?«

»Daß sie – daß sie zur Auffindung von Mri-Basenführen könnten.«

Das Gefühl in der Luft war wie das vor einemSturm, dick und nahe und unwirklich. Das große Duserschauerte und hob den Kopf. »Sei still!« flüsterteihm Niun in das unempfindliche Ohr und zupftedaran, um das Tier abzulenken.

»Ah«, sagte Melein, »und die Menschen haben die-ses Band sicher vervielfältigt. Sie haben sich diesesGeschenk genommen, das im Pan'en lag, in ihrenHänden. Und damit wir dem Band vertrauen, habensie uns dich mitgegeben.«

Das Dus schrie plötzlich auf, und beide Tiere be-wegten sich. Eines schleuderte Duncan zur Seite, under rollte gegen die Wand, die Glieder durch die Wir-kung des Schlages ausgebreitet. Beide Dusei warenauf den Beinen, ihre Furcht fühlbar. »Yai!« rief Niunseinem Tier zu, klatschte in die Hände, schlug es. Esreagierte, warf den Körper gegen den Gefährten undhielt das Tier so in Schach, verlagerte seine Gewichthin und her, um zwischen dem anderen Tier undDuncan zu bleiben, und Niun warf sich an DuncansSeite und zwang sein Dus, sie abzuschirmen.

Die Panik spitzte sich zu und klang dann ab. Dun-can war auf den Knien, hielt den Arm an den Leibgepreßt und zitterte konvulsivisch. Sein Gesicht warbleich und schweißbedeckt. Niun faßte ihn an, zogden Arm an sich und schob den Ärmel hoch, legte die

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häßliche und geschwollene Wunde frei.Dus-Gift.»Du wirst nicht daran sterben«, sagte er ihm, hielt

ihn fest und versuchte, das krankhafte Zittern zu lin-dern, das den Menschen quälte. Er war sich nicht si-cher, ob Duncan ihn verstehen konnte. Melein kamherbei, beugte sich herab und faßte an den verwun-deten Arm; es gab jedoch kein Mitleid in ihr, nurkalte Neugier.

Die Dusei krochen zurück. Das kleine gekränkteTier zauderte und strahlte Pein aus und blutige Ge-fühle. Das größere schnupperte an Duncan,schnaubte und zog sich zurück, und der Mensch fuhrzusammen und schrie laut auf.

»Du hast sie beide verletzt«, sagte Niun zu Meleinund glaubte, daß sie für den einen oder den anderenReue empfinden würde, das Dus oder den Menschen.

»Er ist nach wie vor Tsi'mri«, sagte sie. »Und Niun,er hat uns von Anfang an belogen; ich habe es ge-wußt. Du hast es gesehen.«

»Du weißt nicht, was du getan hast«, sagte Niun.»Er hatte Angst vor den Dusei, besonders vor diesemeinen. Wie konntest du die Wahrheit von ihm erwar-ten? Das Dus ist verletzt, Melein; ich weiß nicht, wiesehr.«

»Du vergißt dich!«»She'pan«, sagte er und senkte den Kopf, aber das

beschwichtigte sie nicht. Er nahm Duncans gesundenArm und half ihm so beim Aufstehen, legte den Armum ihn und hielt ihn auf den Füßen. Der Menschstand völlig unter einem tiefen Schock. Als Niun sichin Bewegung setzte, kam das Dus herbei und langsam,langsam verließen sie die Gegenwart der She'pan.

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Manchmal kämpfte der Mensch sich aus dem Fieberheraus, wurde für einen Moment klar; bei solchenGelegenheiten schien er zu wissen, wo er sich befand,und seine Augen wanderten über das, was ihn aufseinem Platz bei dem Dus in einer Ecke der Kel-Halleumgab. Aber dieser Zustand war nie von Dauer. Erkonnte ihn nicht bewahren und zog sich wieder indas Delirium zurück. Niun sprach nicht mit ihm undstellte die Lampen nicht zu hell ein; es war am besten,sowohl den Menschen wie auch das Dus möglichstvon Wahrnehmungen zu befreien.

Schließlich, als es im Nachtzyklus noch keine Bes-serung gab, ging Niun zu Duncan und nahm ihm,wie eine Kath'en ein Kind ausziehen mochte, Mezund Zaidhe und auch die Gewänder ab, so daß er dieWärme des Dus aufnehmen konnte. Er bettete ihnzwischen sein eigenes Tier und das kranke und legtezwei Decken über ihn.

Das Gift wirkte stark in ihm; eine Bindung warzwischen zwei Geschöpfen erzwungen worden, diesich gegenseitig nicht ertragen konnten. Die Wundewar tief, und Duncan hatte aus der hohlen Hinter-klaue mehr Gift abbekommen, als selbst für einendaran gewöhnten Mri gut gewesen wäre. Die altenWege besagten jedoch (und als Kel'en wußte Niunnicht, ob es Wahrheit oder Fabel war), daß ein Dusseinen Mann danach kannte – daß, wenn einmal einMann die Substanz aufgenommen und es überlebthatte, er niemals mehr durch das Gift oder den Zorndieses bestimmten Dus gefährdet war, das sich nie-mals im Leben wieder von ihm trennen würde. Dastraf nicht ganz zu, denn ein Mann, der mit Dusei um-ging, erhielt oft kleine Kratzer durch die Klauen und

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gelegentlich auch tiefere, die ihn fiebrig machten.Aber es stimmte auch, daß ein an ein bestimmtes Dusnicht gewöhnter Mann auf eine tiefe Wunde durchdieses Tier sehr stark reagieren, ja sogar sterbenkonnte.

Melein wußte besser darüber Bescheid als sie sichjetzt verhalten hatte: in Kel und Sen ausgebildetkannte sie Dusei, und sie wußte, daß sie das Tier ge-fährlich provozierte, das sich wegen Duncan quälteund seine Panik aufnahm. Aber wie die andereShe'pan, der er gedient hatte, hatte Melein nur Kälteanstelle eines Herzens.

Und Duncan, seine nackte Haut der Hitze und denAbsonderungen des heißen Dus-Felles ausgesetzt,das Gift des Tieres in den Adern, würde sich auf dasDus einstellen und das Tier auf ihn – wenn er nichtstarb oder das Tier nicht Miuk wurde, nicht in denIrrsinn verfiel, dem überspannte Dusei manchmalzum Opfer fielen und der sie in Killer verwandelte.Das war es, was Melein wohl wissend riskiert hatte.

Wenn das Tier irrsinnig wurde, wußte Niun nicht,ob er den Menschen vor dem gleichen Schicksal be-wahren konnte. Er hatte davon gehört, daß ein Mridurch ein Miuk-ko-Dus mit in den Wahnsinn gerissenwurde; er dankte den Göttern dafür, daß er es nichtmiterlebt hatte.

Die Warnsirene erklang.Duncan blickte entsetzt auf den Sternenschirm und

fluchte vor Angst. Dies war der ungeeignetste undschlimmste Zeitpunkt für die Vorbereitung auf eineTransition.

Die Klingel schrillte. Die Dusei erhoben sich er-schreckt, und Duncan warf einfach die Arme um den

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Nacken seines Tieres, senkte den Kopf darauf undhielt sich fest, völlig verloren in den Dus-Ängstenund dem Geist des Tieres.

Vielleicht schützte ihn das. Sie sprangen, tauchtenwieder auf, sprangen erneut innerhalb einer Nacht-hälfte. Der Mensch und das Dus klammerten sich an-einander fest und strahlten eine solche Angst aus, daßdas andere Tier nicht bei ihnen bleiben konnte.

Man sagte, daß Dusei sich nicht an Geschehnisseerinnerten, sondern nur an Personen. Und vielleichtwar es das, was den Menschen anzog und ihm eineZuflucht bot, aus der er nicht mehr hervorkommenwollte.

»Duncan«, sagte Niun am nächsten Morgen, hielt ihmohne weiteres Zureden eine Tasse an die Lippen undgab ihm Wasser, denn er war kein Dus, das ohne zutrinken auskommen konnte. Er wusch das Gesichtdes Menschen mit den Fingerspitzen.

»Gib mir mein Gewand«, sagte Duncan daraufhinleise und überraschte ihn damit, und Niun war glück-lich und zog den Menschen von dem kranken Dus weg,half ihm beim Aufstehen. Duncan war sehr schwach,der Arm heiß und noch geschwollen. Niun mußte ihmin seine Kleider helfen, und nachdem er Kopftuch undSchleier erhalten hatte, verschleierte er sich, als ob ersich diese Zurückgezogenheit ernsthaft wünschte.

»Ich werde mit der She'pan reden«, bot Niun ernstan. »Duncan, ich werde mit ihr reden.«

Der Mensch holte tief Atem und ließ ihn mit einemZittern wieder fahren, stieß das Dus weg, das an sei-nem Bein schnupperte. Es warf ihn mit seiner großenKraft beinahe um. Er fing sich mit Hilfe von Niuns

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angebotener Hand, stieß das Hilfsangebot dann einzweitesmal weg, stur in seiner Isolation.

»Aber du hast unrecht«, sagte Duncan, »und siehatte recht.« Und nachdem er erneut Atem geholthatte: »Schiffe sind auf unserer Spur. Mein Volk.Kriegsschiffe. Ich habe gelogen, Niun. Es war keinGeschenk. Sie haben dieselbe Serie von Kursangabenwie wir und sind uns auf den Fersen. Ich weiß nicht,was sie machen werden. Sie haben mich nicht einge-weiht. Sie haben mich aus dem Grund an Bord ge-schickt, den die She'pan annahm: euch auf das Ge-schenk vertrauen zu lassen, das herauszufinden, wasden Bändern nicht entnommen werden konnte, undum mich und die Information zurückzuerhalten,wenn ich es schaffe. Ich habe als ich merkte, daß allesein abgekartetes Spiel war, ihnen das Schiff entrissen,und bin geflohen. Sag ihr das. Das ist alles, was ichweiß. Und ihr könnt anfangen, was ihr wollt.«

Und er ging hinüber auf die andere Seite des Rau-mes und kauerte sich in der Ecke zusammen. DasDus trottete mit hängendem Kopf hinüber und ließsich müde an ihn gedrückt zu Boden sinken. Duncanlegte ihm die Arme um den Nacken, senkte den Kopfdarauf und ruhte sich aus. Seine Augen waren leerund müde und enthielten solch eine Verzweiflung,wie sie Niun noch nie zuvor auf irgendeinem Gesichtgesehen hatte.

»Bring ihn her!« wies ihn Melein an, nachdem er ihrdie von Duncan eingestandenen Dinge berichtet hat-te.

»She'pan«, protestierte er. »Er hat dem Volk gehol-fen.«

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»Sei ruhig«, antwortete sie. »Erinnere dich daran,daß du Kel'en und Kel'anth bist, und daß du mirTreue schuldest.«

Das Recht war auf ihrer Seite, die Rechtmäßigkeitder Mri, die Rechtmäßigkeit ihres Überlebens. Erspürte dessen Einfluß, neigte seinen Kopf vor ihr underkannte es an. Und er saß an diesem Abend elenddabei, während sie anfing, Duncan zu befragen undalles aus ihm herauszuziehen, was er sagen konnte.

Es geschah in der Form eines Gemeinsamen Mah-les, das erste, das sie auf dem Schiff abhielten, einetraurige Nachahmung. Es mangelte ihm an Gefähr-tenschaft, und die Nahrung schmeckte bitter. Duncanaß fast gar nichts, sondern saß nur still da, wenn ernicht direkt befragt wurde; die Dusei durften nichtdabei sein, und er hatte nichts und niemanden, nichteinmal dachte Niun bekümmert, seine Unterstützung,denn er mußte zur Rechten der She'pan sitzen und ih-re Partei ergreifen.

Sie waren alle versucht, zu sehr dem Trinken zuzu-sprechen, dem beißenden Regul-Gebräu, das die Vor-ratskammern füllte, dem Ashig, vergoren aus dersel-ben Quelle wie Soi. Aber zumindest – Niun dankte esden Göttern – gab es kein Komal, das seine letzteShe'pan im Bann drogenerzeugter Träume gehaltenhatte, verbotener- und schändlicherweise – Träume,in denen sie die Pläne geschmiedet hatte, aus denenalles seinen Anfang nahm; Träume, die an der Ver-nichtung des Volkes ebenso schuldig waren wie Dun-can es jemals gewesen sein konnte, und an der Er-zeugung der Gefahr, die ihnen jetzt folgte.

Und erneut sah er die Arroganz der She'pan, diekein Mitleid mit ihren eigenen Kindern hatte.

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Aber dergleichen wagte er Melein nicht zu sagen –er konnte nicht mit ihr streiten, die er mehr liebte alsLeben und Ehre, nicht über einen Tsi'mri, der sie insoviel Böses verstrickt hatte. Nur wenn er Duncan insGesicht blickte, schmerzte es, und die Pein des Men-schen nagte an ihm.

An vier Tagen nahmen sie jeden Abend das Ge-meinsame Mahl ein, und sie redeten wenig, denn diemeisten Fragen waren beantwortet. Während dieserZeit lag eine Kälte in der Gegenwart der She'pan unddanach in der Kel-Halle – kalte, formelle und vor-sichtige Waffenübungen, die mehr mit Ritualen zutun hatten als dem Austeilen von Hieben, mehr mitder Tradition des Kampfes als mit seiner Aktualität.Manchmal drückte Duncans Blick ein solches Leidenaus, daß Niun ihm die Yin'ein verbot und es über-haupt ablehnte, mit ihm zu üben.

Duncan hatte sein eigenes Volk verraten.Und für solch einen Mann gab es keinen Frieden.»Tsi'mri«, sagte Melein von ihm in seiner Abwe-

senheit, »und ein Verräter selbst an denen, die ihmBlut und Knochen gaben. Wie könnte ihm dann dasVolk jemals vertrauen? Er ist ein schwaches Ge-schöpf, Niun, das hast du bewiesen.«

Niun dachte darüber nach, erkannte sein Werk undlitt darunter.

Das Giftfieber verging, aber das Elend tat es nicht.Das Dus, abwechselnd zurückgewiesen und grollendakzeptiert, trauerte und war gereizt; Duncan wurdestill und in sich gekehrt, ein Leiden, das man nichtmehr erreichen konnte.

Das Schiff verließ diesen Stern und sprang wieder.

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Diesmal flogen sie nahe an den Welten des Systemsvorbei, gefährlich nahe. Seit vielen Tagen schonführte ihr Kurs auf den gelben Stern und seine Wel-ten zu, bis sich schließlich der größte der inneren Pla-neten vor ihnen ausbreitete und auf dem Bildschirmin der Kel-Halle dominierte.

Heimat? fragte sich Niun zuerst und hielt seineHoffnung in Meleins schweigender Gegenwart ge-heim. Hätte sie Bescheid gewußt, dachte er, hätte sieihm auch etwas gesagt. Aber während die Tage ver-strichen, zeigte sich ein besorgter Ausdruck auf Me-leins Gesicht, und sie betrachtete die Schirme jetzt oftmit Furcht in den Augen. Der Eindruck verschwand,als sie auf diese Welt zustürzten – eher füllte die Weltjetzt den Himmel aus und fiel auf sie herab, eineHalbwelt zuerst, die Niun die Hoffnung ermöglichte,sie würden daran vorbeistürzen – erschreckend, abertrotzdem ein Entkommen –, aber die Scheibe begannjetzt auf dem Sternenschirm zu wachsen.

Sie waren gefangen und wirbelten hinab wie einStäubchen in der Sandgrube eines Gräbers. Diese u n-willkommene Vorstellung machte sich in Niun breit,während er an Meleins Seite saß und auf den Ster-nenschirm starrte, den sie in ihrer Halle angebrachthatte, um ständig auf die Gefahr zu blicken. Er spürteseine Hilflosigkeit, die eines Kel'en, dessen Wissenüber Schiffe nur theoretisch war; sein ganzes Wissensagte ihm jetzt, daß alles falsch lief und daß Melein,die genau wie er nie zuvor die Kontrollen eines Schif-fes bedient hatte, nur wenig mehr wußte als er.

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Vielleicht, dachte er, kannte sie den Namen derWelt, auf die sie hinabfielen, aber das würde sie nichtaufhalten.

Und die Empörung darüber wuchs in ihm, daß siedurch ein Mißgeschick sterben sollten. Eine Zeitlangerwartete er ein Wunder von Melein oder aus sonstirgendeiner Quelle, war sich dessen sicher, daß dieGötter sie nicht für so etwas soweit geführt habenkonnten.

Er wartete auf Melein, aber sie sagte nichts.»Du hast zwei Kel'ein«, erinnerte er sie schließlich

an dem Tag, an dem kaum ein Stück Dunkelheitmehr auf dem Sternenschirm verblieben war.

Sie sagte immer noch nichts.»Frag ihn, Melein!«Ihre Lippen bildeten einen dünnen Strich.Er kannte ihre Sturheit, denn er war vom selben

Blut. Er legte seinen eigenen Gesichtsausdruck an denTag. »Dann laß uns auf die Welt abstürzen«, sagte erund starrte anderswohin. »Es gibt sicher nichts, dasich machen könnte, und du hast deine Entscheidunggefällt.«

Für geraume Zeit herrschte Schweigen zwischenihnen. Keiner bewegte sich.

»Es würde sicherstellen«, sagte sie schließlich, »daßeine Gefahr unser Ziel nicht erreicht. Ich habe dar-über nachgedacht. Aber es würde die andere Gefahrnicht aufhalten, und nicht das Wissen davon in uns.«

Dieser Gedanke erschütterte sein Vertrauen. Erfühlte sich erniedrigt, da er nur an ihr eigenes Über-leben gedacht hatte, der zu forsch mit ihr gewesenwar. »Ich habe unüberlegt gesprochen«, sagte er. »Duhast zweifellos abgewägt, was zu tun ist.«

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»Geh und frage ihn!« sagte sie.Er saß still für einen Moment und fand ihre

Sprunghaftigkeit so zermürbend wie eine Transition.Seine Nerven waren straff angespannt bei dem Ge-danken, daß die Sache wirklich auf Duncan hinaus-lief.

Dann raffte er sich auf, rief leise nach seinem Dusund ging.

Duncan saß unterhalb des Schirmes, der das Scan-nerabbild zeigte, und wetzte unverdrossen die Klingeeines Av'tlen, die er sich aus einem Metallstück gefer-tigt hatte. Sie war lasergeschnitten und nach Niunsprivater Meinung würde sie nie richtig ausgewogensein, aber sie hielt Duncans Hände beschäftigt undvielleicht auch sein Gemüt, welche Finsternis darinauch schwebte. Das Dus lag bei ihm, den Kopf zwi-schen den Tatzen, und die Augen folgten den Bewe-gungen von Duncans Händen.

»Duncan«, sagte Niun. Das stählerne Geräusch be-hielt seinen Rhythmus. »Duncan.«

Es hörte auf. Duncan sah auf und betrachtete ihnmit der kalten Härte, die Tag für Tag zugenommenhatte.

»Die She'pan«, sagte Niun, »ist wegen unserer An-näherung an diese Welt besorgt.«

Duncans Blick blieb kalt. »Nun, ihr braucht michnicht. Oder wenn doch, könnt ihr Mittel finden, ummich zu umgehen, oder nicht?«

»Ich respektiere deinen Hader mit uns.« Niun sankauf die Fersen herab und formte mit den Händen eineeinladende Geste. »Aber du weißt sicher, daß es kei-nen Hader mit der Welt gibt, die uns anzieht. Wir

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werden sterben, ohne daß du dadurch Befriedigunghaben wirst. Was deinen Groll gegen uns angeht, somöchte ich auf diesem kleinen Schiff überhaupt kei-nen Streit haben, schon gar nicht mit den Dusei mit-tendrin. Hör mir zu, Duncan! Ich habe alles in meinerMacht Stehende getan, um dir einen ehrenvollen Wegzu eröffnen, diesen Groll gegen uns abzulegen. Aberwenn du die She'pan in Gefahr bringst, werde ichkeine Geduld haben. Und du bringst sie in Gefahr.«

Duncan widmete sich wieder seiner Aufgabe, strichStahl an Stahl entlang. Niun kämpfte mit seinemZorn, kannte das Ergebnis, wenn er Hand an denTsi'mri legte: ein Dus, das bedenklich an der Grenzezum Miuk balancierte, und ein Schiff, das auf den Zu-sammenstoß mit einer Welt zurast – in einigen Din-gen konnte man wirklich nicht streiten. Wahrschein-lich war der Mensch nicht vernünftiger als das Dusund von dem leidenden Tier beeinflußt. Wenn esüber die Grenze geriet, dann würde das auch demVerstand widerfahren, der das Wissen über das Schiffenthielt.

Meleins Werk. Niun umklammerte die Knie mitden Armen und suchte nach Worten, mit denen erDuncan erreichen konnte.

»Wir sind über der Zeit, Duncan.«»Wenn ihr mit dieser Situation nicht umgehen

könnt«, meinte Duncan plötzlich, »dann könntet ihrgewiß auch nicht sicher landen, sobald ihr eure Hei-matwelt erreicht. Ich denke nicht, daß ihr jemals vor-hattet, mich loszuwerden. Ihr beide scheint mich zubrauchen, und ich denke, die She'pan hat das immerangenommen. Deswegen hat sie dir deinen Willengelassen. Es war nur ein Mittel dazu, mich weniger

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unbequem zu machen, als ich es sonst gewesen wäre– eine Möglichkeit, meine Abwehr zu umgehen undaus mir herauszubekommen, was sie wollte. Ich zür-ne dir nicht, Niun. Du hast ihr geglaubt. Ich auch. Siebekam, was sie wollte. Nur jetzt werde ich wiedergebraucht, nicht wahr?« Der Klang des Stahls dauertean, gemessen und hart. »Werden wie ihr. Einer voneuch werden. Ich weiß, daß du es versucht hast. Duhast mich vorbereitet – aber du hast nicht mit demTier gerechnet. Jetzt kannst du nicht mehr so leichtmit mir fertigwerden. Das Tier und ich... stellen aufdiesem Schiff etwas Neues dar.«

»Du irrst dich von Anfang an«, sagte Niun, kalt biszum Herzen durch diese Gedanken des Menschen.»Es gibt einen Autopiloten, der uns hereinbringt. Unddie She'pan hat dich oder mich nie belogen. Das kannsie nicht.«

Duncan blickte ihm plötzlich in die Augen, zeigtezynische Überraschung, und seine Hände ließen abvon der Arbeit. »Vertraust du darauf? Vielleicht istdie Automatik bei den Regul besser als bei uns, aberdies ist ein menschliches Schiff, und ich würde ihmnicht mein Leben anvertrauen, wenn ich eine Mög-lichkeit hätte. Man könnte wer weiß wo herabkom-men. Und weißt du, wie du mit ihm umzugehenhast? Vielleicht ist die She'pan einfach naiv. Ihrbraucht mich, Kel Niun. Sag ihr das!«

Das klang nach Wahrheit. Niun wußte keine Ant-wort, war in seinem Zutrauen erschüttert. Es gabDinge, die Melein vernünftigerweise nicht wissenkonnte, Dinge, die nicht von den Regul gebaute Ma-schinen angingen und die Motive nicht vom VolkGeborener. Und doch folgte sie weiterhin ihrer Sicht;

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er wünschte sich ernsthaft, das glauben zu können.»Komm!« bat er Duncan.»Nein«, sagte dieser und fing wieder an zu arbei-

ten.Niun blieb unbeweglich, und Panik regte sich in

ihm. Der Rhythmus von Stahl auf Stahl, von Metall inverkrampften und weißgeränderten Fingern wurdelauter. Duncan sah nicht auf. Eine Körperlänge ent-fernt regte sich das Dus und stöhnte.

Niun erhob sich ruckhaft und verließ die Kel-Halle,schritt durch die Korridore zu Melein zurück.

»Er weigert sich«, berichtete er ihr und blieb ver-schleiert.

Sie sagte nichts, sondern saß nur ruhig da undstarrte auf den Schirm. Niun setzte sich neben sie,nahm Mez und Zaidhe ab und knüllte sie mit gesenk-tem Kopf auf seinem Schoß zu einem Knoten zu-sammen. Melein hatte kein Wort für ihn übrig, nichts.Sie war endlich dabei, dachte er, zu überlegen, wassie angerichtet hatte, und diese Überlegung kam zuspät.

Und um Mitternacht gab es keinen dunklen Fleckmehr auf dem Schirm. Der Planet nahm furchterre-gende Einzelheiten an, braungefleckt mit weißenWolkenwirbeln.

Plötzlich setzte eine Sirene ein, die sich von jederunterschied, die sie zuvor schon gehört hatten, unddie Schirme blitzten rot auf, ein Pulsieren, dasFurchtbares andeutete.

Niun erhob sich auf die Knie und warf Melein, de-ren Ruhe jetzt brüchig zu sein schien, einen ängstli-chen Blick zu.

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»Geh zu Duncan!« befahl sie. »Frag noch einmal!«Mit gesenktem Kopf stand er auf und ging, küm-

merte sich aber diesmal nicht um den Schleier. Erging, um ihren Feind um etwas zu bitten, und bei ei-ner solchen Geste schien Scham nutzlos zu sein.

Die Beleuchtung der Kel-Halle war jetzt schwächer:der Schirm, der zwischen dem Rot des Alarms unddem weißen Glanz des Planeten pulsierte, war daseinzige, was Licht spendete, und Duncan saß unver-schleiert davor. Immer noch erklang das gemesseneKratzen von Metall, als ob es nie unterbrochen wor-den wäre. Neben Duncan lagen die beiden Dusei, diesich regten und auswichen, als Niun herbeikam undvor Duncan niederkniete.

»Wenn du etwas kennst, das man jetzt machenkönnte«, sagte Niun, »wäre es gut, wenn du es ma-chen würdest. Ich glaube, wir stürzen ziemlichschnell ab.«

Duncan feilte die Schneide mit einem langen Strich,die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepreßt.Er dachte einen Moment lang nach, legte dann seineArbeit zur Seite, wischte sich die Hände an den Knienab und blickte auf zu dem Planeten, der auf dem pul-sierenden Schirm drohend sichtbar war. »Ich kann esversuchen«, sagte er beiläufig genug. »Aber nur vonden Kontrollen aus.«

Niun stand auf und wartete auf Duncan, der sichsteif erhob und dann mit ihm durch das Schiff ging.Die Dusei wollten ihnen folgen, aber Niun verbot esihnen scharf, verschloß eine Sektionstür vor ihnenund brachte Duncan in die Sektion der She'pan.

Dort begegnete ihnen Melein im Korridor.»Er wird es versuchen«, sagte Niun.

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Sie öffnete ihnen den Kontrollraum und trat hinterihnen ein, stand würdevoll daneben, als Duncan sichin den Sessel vor dem Hauptschaltpult setzte.

Duncan kümmerte sich nicht weiter um sie. Er be-trachtete die Schirme und tastete Schalter nachSchalter. Eine Flut telemetrischer Symbole zog übereinen Standschirm. Einer nach dem anderen hörtendie Schirme auf zu pulsieren und zeigten in grellenFarben Bilder des Planeten.

»Das sind sinnlose Spielereien«, sagte Melein.Duncan wandte den Blick halb zurück, dann wie-

der nach vorn. »Richtig. Ich beobachte diese Welt seiteinigen Tagen. Es ist rätselhaft. Und es ist immernoch möglich, daß die Schutzmechanismen das Schiffübernehmen, wenn wir die absolute Grenze errei-chen. Es gibt noch Möglichkeiten, aber aus demselbenGrund beachtet es nicht die Sicherheitsspanne, unddie Masse des Planeten hat uns eingefangen, so daßwir nicht springen können. Hier.« Er nahm die Ab-deckung von einem abgeschirmten Bereich der Kon-trollen und drückte einfach einen Knopf. Lichter lie-fen wie verrückt über die Pulte. Sofort gab es eine er-kennbare Kursänderung, und die Bilder auf denSchirmen veränderten sich rasch. Duncan brachte dieAbdeckung ruhig wieder an. »Dies ist ein altes Schiffund auf einem schweren Flug. Ein System hat ver-sagt. Es müßte jetzt wieder in Ordnung sein. Es wirddem Planeten ausweichen und dann wieder auf Kursgehen. Ich denke, damit ist das Problem gelöst. Wennaber die Ursache für diesen Vorfall ein Fehler aufdem Band ist, dann sind wir so gut wie tot.«

Er sprach mit zynischem Tonfall, stand langsamauf und behielt die Scanner im Blick. »Diese Welt ist

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tot«, sagte er dann. »Und das ist seltsam in Anbe-tracht anderer Dinge, die ich im Scanner lese.«

»Du irrst dich«, sagte Melein rauh. »Lies deine In-strumente noch einmal, Tsi'mri! Diese Welt heißtNhequuy und der Stern Syr, und hier und überall inden umgebenden Gebieten lebt die raumfahrendeRasse der Etrau.«

»Schau auf die Infrarot-Anzeige! Schau auf dieOberfläche! Keine Pflanzen, kein Leben. Dies ist einetote Welt, She'pan, was auch immer deine Aufzeich-nungen besagen. Dieses System ist tot. Eine raumfah-rende Rasse wäre bereits aufgetaucht, um einen Ein-dringling so dicht an ihrer Heimatwelt zu begutach-ten. Aber niemand ist gekommen. Nicht hier und nir-gendwo sonst, wo wir gewesen sind; stimmt's? Duhättest keine Antwort auf einen Anruf geben können.Du hättest auf ihre Schiffe nicht reagieren können.Dazu hättest du mich gebraucht, und das ist nicht derFall gewesen. Eine Welt nach der andern, und nichtsdort. Warum nicht – was glaubst du, She'pan?«

Melein blickte ihn an, und ihr unverschleiertes Ge-sicht zeigte den Schock und den hilflosen Zorn. Siegab keine Antwort, und Niun spürte, wie ihm in ih-rem Schweigen Kälte über die Haut kroch.

»Die Angehörigen des Volkes sind Nomaden«,sagte Duncan, »Söldner, überall dort angeworben, woihr gewesen seid. Ihr seid von Stern zu Stern gezogen,habt Kriege gesucht und als Söldner in ihnen ge-kämpft. Und habt sie vergessen. Ihr habt jedes Zim-mer hinter euch geschlossen und dem Kel verboten,sich zu erinnern. Aber was ist aus all euren früherenAuftraggebern geworden, She'pan? Warum gab esnirgendwo Leben, wo du vorbeigeflogen bist?«

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Niun blickte auf die Schirme, die tote Öde, die siezeigten, auf Instrumente, die er nicht ablesen konnte– und blickte zu Melein, wollte hören, wie sie dieseDinge leugnete.

»Geh!« sagte sie. »Niun, bring ihn zurück in dieKel-Halle!«

Duncan stieß sich von der Schalttafel ab, ließ denBlick von ihr zu Niun schweifen; in diesem Momentzögerte Niun, und Duncan drehte sich auf den Fersenum und ging hinaus, schritt in Richtung der Kel-Hallerasch den Korridor hinab.

Niun starrte Melein an. Ihre Haut war bleich, dieAugen geweitet. Nie zuvor hatte sie einen so ängstli-chen Eindruck gemacht, nicht einmal, als sie von Re-gul und Menschen umzingelt worden waren.

»She'pan?« fragte er und hoffte immer noch.»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Und sie weinte, denn

dies war ein Zugeständnis, das eine She'pan nichtmachen konnte. Sie sank auf die Kante eines Sesselsund wollte Niun nicht anblicken.

Er blieb, traute sich schließlich, sie an den Armenzu nehmen und von hier wegzuführen, zurück in ihreeigene Halle, wo man das Vibrieren der Maschinennicht so anklagend spürte. Er drückte sie auf ihrenStuhl und kniete neben ihr nieder, glättete ihre gol-dene Mähne, wie er es getan hatte, als sie beide nochKath'dai'ein gewesen waren, und mit seinem eigenenschwarzen Schleier versuchte er, ihre Tränen zutrocknen und sah, wie ihr Gesicht wieder ruhig wur-de.

Er wußte, daß sie verloren war, daß der Umgangmit den Maschinen über ihre Fähigkeiten ging – undsie wußte, daß er das wußte. Er aber hockte vor ihren

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Knien und hielt ihre Hände und sah mit klaren Au-gen zu ihr auf, bot sich ihr von Herzen an.

»Ruh dich aus«, drängte er sie, »ruh dich aus!Selbst dein Mitleid war rechtgeleitet. Stimmt es nicht,daß selbst die She'panai nicht immer wissen, wanndie Sicht sie bewegt? Das habe ich zumindest gehört.Du hast Duncan behalten, und das war richtig. Undhabe Geduld mit ihm, um meinetwillen habe Geduldmit ihm. Ich werde mit ihm zurechtkommen.«

»Er sieht, was klar ersichtlich ist, Niun, ich weißnicht, was wir getan haben.«

Er dachte an die toten Welten und stieß den Ge-danken wieder von sich. »Wir haben nichts getan. Wirhaben nichts getan.«

»Wir sind Erben des Volkes.«»Wir wissen nicht, ob seine Vermutungen stim-

men.«»Niun, Niun, er weiß es. Bist du so langsam im Be-

greifen dessen, was wir entlang dem Weg des Volkesgesehen haben? Kann es sein, daß so viele Welten ansich selbst gescheitert sind, nachdem wir vorbeige-kommen sind?«

»Ich weiß nicht«, sagte er verzweifelt. »Ich bin nurKel'en, Melein.«

Sie berührte sein Gesicht, und er spürte den Trost,den sie beabsichtigte, die Entschuldigung für ihreWorte, und eine Zeitlang sprachen sie nicht. Vor lan-ger Zeit – es schien lange her zu sein und unmöglichweit weg – hatte er neben einer anderen She'pan ge-sessen, Intel vom Edun Kesrithun, den Kopf an ihrerStuhllehne, und sie war in ihren Drogenträumen zu-frieden damit gewesen, ihn zu berühren und zu wis-sen, daß er da war. So tat er es auch jetzt bei Melein.

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Ihre Hand streichelte rastlos seine Mähne, währendsie nachdachte; und er saß still, konnte nicht daranteilhaben, konnte sich nicht vorstellen, wohin ihreGedanken liefen – nur daß sie in der Dunkelheitwandelten und in Dingen der Pana.

Schließlich hörte er ihren Atem zwischen den Zäh-nen zittern und hörte selbst auf zu atmen, fürchteteihre Stimmung.

»Intels Hand«, sagte sie dann, »liegt immer nochauf uns. Der Kel'en der She'pan: sie hat dich so langebei sich behalten – ich wundere mich, daß du nichtverrückt wurdest – und dich mir übertragen – damitihre erwählte Nachfolgerin nicht nur das Edun Kes-rithun übernahm, sondern das ganze Volk regierte.Damit Intels Entscheidung überlebt. Um zu ihremZiel zu gelangen, wäre sie durch das Blut von jedemgewatet, der sich ihr entgegenstellt hätte. Sie war dieShe'pan. Alt – aber das Alter hat sie nicht geheiligt,hat sie nicht von ihren Absichten geläutert oder ge-fällig gemacht. Götter, Niun, sie war hart!«

Er konnte nicht antworten. Er erinnerte sich an dienarbige Mutter von Kesrith mit den freundlichen Au-gen, deren Hände zärtlich und deren Verstand mei-stens von Drogen benebelt war. Aber er kannte auchdie andere Intel. Sein Magen verkrampfte sich, als ersich an alten Zorn und alten Groll erinnerte – an In-tels besitzergreifende, unnachgiebige Sturheit. Siewar tot. Es war nicht richtig, Groll gegen die Toten zuhegen.

»Sie hätte ein Schiff genommen«, sagte Melein mithohler Stimme, »und die Götter wissen, was sie beimVerlassen Kesriths getan hätte. Wir dienten den Regulnicht mehr, waren, von unserem Eid befreit. Sie

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schickte mich in Sicherheit; ich glaube, sie versuchtezu folgen. Ich will es nicht wissen. Ich will so vieleDinge niemals wissen, die sie keine Zeit mehr fand,mir zu sagen. Sie redete von Heimkehr, vom Kampfgegen die Feinde des Volkes; Rasereien in den Komal-Träumen, wenn ich allein bei ihr saß. Die Feinde, dieFeinde. Sie hätte sie vernichtet und uns dann heimge-führt. Das war ihr großer und unwahrscheinlicherTraum, daß diese Dunkelheit die letzte sein würde,um uns heimzuführen, denn wir waren bereits nurnoch wenige; und sie war vielleicht verrückt.«

Niun schaffte es nicht, sie anzusehen, denn esstimmte, was sie sagte, und war schmerzlich für siebeide.

»Was sollen wir machen?« fragte er. »Darf das Kelum Erlaubnis bitten, zu fragen? Was sollen wir füruns selbst tun?«

»Ich kann dieses Schiff nicht anhalten. Ich wollte,ich könnte es. Duncan sagt, daß er es auch nicht kann.Ich glaube, daß das wahr ist. Und er...«

Es herrschte lange Schweigen. Niun brach es nicht,wußte, daß dergleichen nichts Gutes bringen konnte,und schließlich seufzte Melein.

»Duncan«, sagte sie schwer.»Ich werde ihn von dir fernhalten.«»Du hast ihm die Mittel gegeben, uns zu schaden.«»Ich werde mich mit ihm befassen, She'pan.«Sie schüttelte wieder den Kopf und rieb die Augen

mit den Fingern.Die Dusei kamen: Niun war sich dessen bewußt,

bevor sie auftauchten, sah und erkannte sein eigenesgroßes Tier und hieß es willkommen. Es näherte sichauf die sehnsüchtige, geistesabwesende Art der Dusei

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und sank zu Meleins Füßen nieder, bot seinen geistlo-sen Trost an.

Später, als Melein leichter atmete, spürte Niun eineweitere Gegenwart. Erstaunt sah er das kleinere Dusim Eingang stehen. Es kam ebenfalls herbei und legtesich neben seinem Gefährten nieder.

Melein berührte es, und das Tier strahlte keineFeindseligkeit gegen die Hand aus, die es verletzthatte. Aber an einer anderen Stelle im Schiff bedeu-tete diese Berührung Schmerz. Niun dachte an Dun-can und dessen bittere Einsamkeit und wunderte sichdarüber, daß dieses Dus sich hierhergezogen gefühlthatte, durch die, die Duncan haßte.

Sofern er es nicht brutal weggescheucht hatte oderseine Gedanken das Tier in diese Richtung gedrängthatten.

»Geh und kümmere dich um Duncan!« sagte Me-lein.

Niun erhielt seinen Schleier von ihr zurück undwarf ihn sich über die Schulter, dachte nicht daran,ihn zu tragen. Er stand auf und befahl seinem Dus zubleiben, als es ihm folgen wollte, denn er wollte, daßes Melein tröstete.

Und wie erwartet fand er Duncan in der Kel-Halle.

Duncan saß schweigend in der künstlichen Dämme-rung, die Hände lose im Schoß. Niun ließ sich vorihm auf die Knie nieder, und immer noch sah Duncannicht auf. Der Mensch hatte sich verschleiert; Niun tates nicht, bot ihm seine Gefühle offen an.

»Du hast uns verletzt«, sagte Niun. »Kel Duncan,ist es nicht genug?«

Duncan hob das Gesicht und starrte auf den

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Schirm, wo die Nhequuy genannte Welt nicht mehrsichtbar war.

»Duncan, was willst du noch von uns?«Duncans Dus war bei Melein, berührt und berüh-

rend; er war verraten. Als seine Augen zu Niun glit-ten, gab es in ihnen keine Abwehr, nur noch Schmerz.

»Ich habe«, sagte Duncan, »mich um euretwillenmit meinen Vorgesetzten auseinandergesetzt. Ich ha-be um euch gekämpft. Und wozu? Hatte sie eineAntwort? Sie kannte den Namen der Welt. Was istmit ihr geschehen?«

»Das wissen wir nicht.«»Und mit den anderen Welten?«»Wir wissen es nicht, Duncan.«»Killer«, sagte er, die Augen woandershin gerich-

tet. »Killer von Natur aus.«Niun preßte die Hände zusammen, die kalt gewor-

den waren. »Du gehörst zu uns, Kel Duncan.«»Ich habe mich oft gefragt, warum.« Sein Blick be-

gegnete wieder dem Niuns. Plötzlich zog er denSchleier weg und nahm das quastenverzierte Kopf-tuch ab, machte sein Menschsein offenkundig. »Au-ßer daß ich unverzichtbar bin.«

»Ja. Aber das wußte ich nicht. Wir wußten es vor-her nicht.«

Das kam durch, dachte er; es gab eine kleine Reak-tion in Duncans Augen.

Und dann wandte dieser sich mit einem wilden,abwesenden Blick zur Tür.

Dus-Empfindungen. Niun empfing sie ebenfalls,sogar bevor er das Klicken der Klauen auf den Fliesenhörte. Die Sinne verschwammen. Es war hart, sich andie Bitterkeit zu erinnern, die sie empfunden hatten.

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»Nein!« schrie Duncan, als das Tier hereinkam. Esscheute und hob drohend eine Tatze, senkte sie dannwieder und schob sich vor, den Kopf leicht zur Seitegewandt. Ganz allmählich kam es näher, ließ sichnieder, schob sich die letzte Strecke an Duncans Seite.Duncan faßte es an, legte ihm den Arm um den Nak-ken. Das andere Tier tauchte in der Tür auf und kamruhig zu Niun, legte sich hinter seinem Rücken nie-der. Niun besänftigte es mit freundlichem Streicheln,das Herz pochend unter dem Elend, das von dem an-deren ausgestrahlt wurde – die Kluft zwischenMensch und Dus: sogar die Luft schmerzte darunter.

»Du verletzt es«, sagte Niun. »Gib ihm nach! Gibihm wenigstens ein bißchen nach!«

»Ich habe eine Übereinkunft mit ihm. Ich dränge esnicht und es drängt mich nicht. Nur manchmalkommt es zu schnell, vergißt, wo die Grenze ist.«

»Dusei haben kein Gedächtnis. Für sie gibt es nurdas Jetzt.«

»Glückliche Tiere«, sagte Duncan rauh.»Gib ihm nach! Du verlierst dadurch nichts.«Duncan schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Mri.

Und ich kann nicht vergessen.«Es lag Müdigkeit in seiner Stimme; sie bebte. Für

einen Moment war dort wieder der Mann, der so lan-ge fort gewesen war, Niun streckte die Hand aus unddrückte seinen Arm in einer Geste, die er einem Bru-der des Kel gegenüber gemacht hätte. »Duncan, ichhabe versucht, dir zu helfen. Ich habe alles versucht,was ich konnte.«

Duncan schloß die Augen und öffnete sie wieder;seine Finger auf dem Nacken des Dus hoben sich ineiner Geste des Aufgebens. »Ich denke, daß zumin-

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dest das wahr ist.«»Wir lügen nicht«, sagte er. »Da sind die Dusei. Wir

können es nicht.«»Das kann ich verstehen.« Duncan preßte die Lip-

pen zu einer weißen Linie zusammen, entspannte siewieder, während seine Hand nach wie vor das Dusliebkoste.

»Mit einem Mann in dieser Stimmung würde ichnicht Shon'ai spielen«, sagte Niun, köderte ihn, suchtenach verborgenen Dingen. Sie hatten tatsächlich seiteiniger Zeit nicht mehr gespielt.

Langsam begann das Dus, sein Wohlbefinden zuäußern, entspannte sich unter Duncans Fingern, alsdieser ihm den Arm sanft um den von Fettrollen be-deckten Nacken legte; das Tier seufzte, vergaß ver-gangenen Groll, erfreute sich an augenblicklicherLiebe.

Der Mensch drückte die Stirn auf diesen dickenSchädel und wandte dann das Gesicht Niun zu. SeineAugen zeigten einen mitgenommenen Blick wie beijemandem, der lange nicht geruht hatte. »Es hat keinglücklicheres Leben als ich«, meinte Duncan. »Ichkann ihm nicht geben, was es will, und ich kann michnicht in einen Mri verwandeln.«

Niun holte tief Luft und versuchte zu verhindern,daß sich in seinem Bewußtsein bestimmte Bilderformten. »Ich könnte es töten«, sagte er verhalten undrasch. Der Mensch, der in Kontakt mit dem Tierstand, zuckte zusammen und besänftigte das Dus mitden Händen. Niun verstand; er fühlte sich durch dasbloße Angebot beschmutzt – aber manchmal war soetwas unumgänglich, wenn ein Dus seinen Kel'enverlor und nicht mehr beherrscht werden konnte.

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Dieses Tier hatte niemals den Kel'en gewonnen, denes sich wünschte.

»Nein«, sagte Duncan letztlich, »nein.«Er stieß das Tier weg, und es stand auf und schlen-

derte in die Ecke hinüber. Die Empfindungen derDusei waren jetzt friedlicher Art. So war es besser alszuvor.

»Ich würde mich freuen«, sagte Niun, »wenn duder She'pan deine Entschuldigung zukommen lie-ßest.«

Duncan saß für einen Moment ruhig, die Arme aufden Knien. Schließlich nickte er und änderte die Ge-ste zu der eines Mri. »Wenn sie mich braucht«, sagteer, »werde ich kommen. Sag ihr das!«

»Das werde ich.«»Sag ihr, daß es mir leid tut.«»Auch das werde ich tun.«Duncan betrachtete ihn für einen Moment, raffte

sich dann auf, blieb stehen und sah zu dem Dus hin-über. Er rief es mit einem tiefen Pfiff, und esschnaubte laut vor Interesse, erhob sich und kamherbei, folgte ihm in die Ecke, wo die Lager ausge-breitet waren.

Und für lange Zeit saß dort der Mensch und fuhrmit den Händen über das Tier, streichelte und be-sänftigte es, redete sogar mit ihm, was dem Dus zugefallen schien. Es beruhigte sich und schlief ein, undnach einer Weile tat es der Mensch ebenfalls.

Drei Tage später ertönte die Sirene, und sie ließenNhequuy und seine Sonne hinter sich.

Auch die nächste Welt war ohne Leben.

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15

Duncan wandte sich vom Schirm und den daraufsichtbaren Sternen ab und entdeckte hinter sich dasDus – es war wirklich immer bei ihm, Schatten, He-rold und Teilnehmer an jeder Intimität seines Lebens.Er hielt es nicht für nötig, es zu berühren. Es seufzteund lehnte sich an seinen Rücken. Er spürte seine Zu-friedenheit.

Es war seltsam, daß, wenn ein Schmerz aufhörte,eine beträchtliche Zeit vergehen konnte, bevor manihn vermißte.

Und daß wenn der Schmerz vorüber war, man sichnicht genau an ihn erinnern konnte.

An diesem Ort, in der Kel-Halle, hatte Duncan ineinem bestimmten Moment entdeckt, daß er keinenSchmerz mehr empfand: hier, auf dem Boden sitzend,hatte er es erkannt; und er konnte sich an diesen Au-genblick erinnern, an die Einzelheiten, an den Platz,wo das Dus gelegen hatte, die Tatsache, daß Niungenauso dagesessen hatte, jenseits des Raumes – erhatte an jenem Tag genäht, eine merkwürdige Be-schäftigung für einen Mri-Krieger, aber Duncan hattenur zu genau erfahren, daß ein Mann im Kel sichselbst um all seine Bedürfnisse kümmerte – abgese-hen die Nahrung, die gemeinsam eingenommenwurde.

Niun hatte ein konzentriertes Gesicht gemacht undmit der Nadel einen stetigen Rhythmus verfolgt. Erhatte mit Geschick gearbeitet, wie Niuns schlankeHände über so viele Geschicklichkeiten verfügten. Eswürde Jahre dauern, um die Hälfte von dem zu ler-

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nen, was bei Niun die natürlichen Reflexe und dieLehren seiner Meister ausmachten.

Niun war nicht arrogant – stolz vielleicht, aber errühmte sich nie seiner Fähigkeiten – abgesehen hinund wieder, wenn sie mit den Waffen übten, mit denYin'ein, die Duncan gefertigt hatte, um der Schönheitvon Niuns alten Waffen gleichzukommen. Dannfühlte sich Niun manchmal bewegt – vielleicht ausbloßer Langeweile über das Über mit einem Mann, andem er sich nicht wirklich abschätzen konnte – eineso rasche Bewegung zu machen, daß das Auge ihrnicht folgen konnte, so winzig und geschickt und ver-steckt, daß Duncan kaum wußte, wie ihm geschah.Niun tat dergleichen auch, hatte er bemerkt, wenn erbeim Üben mit Niun in Eitelkeit verfiel. Der Mri be-lehrte so seinen Schüler darüber, daß er sich immernoch zurückhielt.

Zurückhaltung.Sie beherrschte das ganze Dasein eines Kel'en.Und Niuns Zurückhaltung schuf Frieden, wo kei-

ner war, erstreckte sich zu einem Menschen, der ihnprovozierte, zu Dusei, die in ihrer Eingeschlossenheitmanchmal unruhig und zerstörerisch wurden – er-streckte sich sogar bis zu Melein.

Keiner von ihnen, reflektierte Duncan mit plötzli-chem und grimmigem Humor, wollte Niun belästi-gen, weder der Mensch noch die Dusei noch dieKindkönigin, die auf ihn vertraute.

Es war Niuns Frieden, der sie alle beherrschte.Die wirkungsvollsten Killer in der gesamten Schöpfung,

hatte Stavros die Mri genannt.Er hatte vom Kel gesprochen, von Mri wie Niun.Er hatte das gesagt, bevor die Menschheit auch nur

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etwas von der Öde der Sterne geahnt hatte, die siejetzt umgab.

Menschenschiffe würden den Aufzeichnungennachgehen, ihnen von einer toten Welt zur anderenfolgen; und für die Havener, die diese Schiffe be-mannten, würde es keine andere Folgerung geben, alsdaß sie etwas Monströsem zu seinem Ursprung folg-ten.

Duncan liebkoste abwesend die Schulter seines Dusund dachte nach, hegte dieselben angstvollen Gedan-ken, die während der letzten Tage in seinem Gehirngekreist waren – starrte hilflos auf Niun, dessen Vor-stellungsvermögen sicherlich dafür ausreichte zuwissen, was ihnen folgte.

Und doch erwähnte er nichts davon; und Melein,die ihre Fragen gestellt hatte, kam mit keinen weite-ren; Niun ging zu ihr, was Duncan jedoch nicht er-laubt war, der weiterhin bei ihr in Ungnade stand.

Die Mri hatten sich entschlossen zu ignorieren, wasihnen folgte, keine weiteren Fragen zu stellen undnichts zu tun. Niun lebte bei ihm, schlief nachts in of-fensichtlichem Vertrauen neben ihm – und pflegtenur die altertümlichen Fähigkeiten seiner Rasse, dieWaffen der Rituale und Duelle, als ob sie ihm am En-de nützen würden.

Die Yin'ein, antike Klingen, gegen Kriegsschiffe wiedie SABER.

Niun hatte sich wohlüberlegt entschieden.Eine Vorstellung überkam Duncan: Nacht, Feuer

und Mri-Sturheit. Duncan wehrte sie ab, und sie kamzurück, die Erinnerung an die Hartnäckigkeit vonMri, die sich nicht ergeben und keine Kompromisseschließen wollten, deren Konzept von Modernität ein-

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gebettet war zwischen Zeiten der Dunkelheit und desDazwischen und den Wegen von Tsi'mri, die nur Au-genblicke in den Erfahrungen des Volkes waren.

Moderne Waffen.Duncan spürte den Makel dieses Wortes, die im

Hal'ari darin enthaltene Verachtung, und er haßteden Menschen in sich, der zu blind gewesen war, eszu erkennen.

Der letzte Kampf des Volkes.Ihm mit modernen Waffen zu begegnen – wenn es

dazu kam, wenn es für das Volk zu einem hoff-nungslosen Kampf kommen sollte...

Also plante Niun nicht zu überleben: der letzte Mriwürde sich zu den Dingen entschließen, die in seinerLogik einen Sinn ergaben – das war genau das, was ertat.

Die Heimatwelt suchen.Seine alten Wege wiederfinden.Mri sein, bis der Holocaust es beendete.Das war alles, was Niun machen konnte, wenn er

es recht bedachte, außer sich den Tsi'mri zu ergeben.Duncan überlegte, wie weit die Geduld des Mri ging,der es mit einem Außenstehenden unter diesen Be-dingungen aushielt – sogar die Meleins, die NiunsToleranz gegenüber einem Tsi'mri ertrug, selbst dieihre war beachtlich.

Und Niun übte sich nur im Duell mit ihm, gedul-dig und freundlich, als könne er vergessen, wer erwar.

Die Yin'ein. Sie waren für Niun die einzig vernünf-tige Wahl.

Duncan stützte den Arm auf das Knie und nagteauf seiner Unterlippe, spürte die Bestürzung des Dus

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an seinem Rücken, streckte die Hand aus und beru-higte es – fühlte sich seines Menschseins schuldig, dasNiun Sorgen machte. Und doch beunruhigte ihn derGedanke und ließ ihn nicht mehr los – daß er alsMensch nicht das machen konnte, was Niun tat.

Daß es für ihn Alternativen gab, die Niun nichthatte.

Vielleicht würde ihn der Mri letztendlich gehenlassen.

Oder von ihm erwarten, die Waffen gegen andereMenschen zu erheben. Er versuchte sich das vorzu-stellen; und alles was er sich in seiner Hand vorstel-len konnte, war die Dienstpistole, die bei seinen Sa-chen lag – für seinen Tod im großen Maßstab Todauszuteilen: diese Neigung erwachte in ihm. Erkonnte kämpfen, wenn in die Ecke getrieben; er wür-de sich wünschen, ein Dutzend Leben derer zu neh-men, Menschen oder nicht, die seines nehmen woll-ten. Aber zu den Yin'ein greifen... dazu war er nichtMri genug.

Es gab Mittel zum Kämpfen, die die Mri nicht be-nutzten.

Für die sich Menschen entschieden.Ganz langsam begannen die zertrümmerten Stücke

von dem, was ein ObTak gewesen war, sich wiederzusammenzufinden.

»Niun«, sagte er.Der Mri war damit beschäftigt, ein Stück Metall zu

etwas zu formen, das wie Schmuck aussah. Er arbei-tete seit mehreren Tagen daran, gewissenhaft in sei-ner Aufmerksamkeit.

»A?« antwortete Niun.»Ich habe mir überlegt: wir haben ein Versagen der

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Instrumente erlebt. Wenn die She'pan es erlaubt,möchte ich gerne wieder an die Kontrollen und dieInstrumente testen.«

Niun hielt inne. Ein finsterer Ausdruck lag auf sei-nem Gesicht, als er den Blick hob. »Ich werde dieShe'pan fragen«, sagte er.

»Ich möchte ihr gerne«, sagte Duncan, »den Nutzenaus den Fähigkeiten zukommen lassen, die ich besit-ze.«

»Sie wird nach dir schicken, wenn sie dichbraucht.«

»Niun, frag sie!«Das Stirnrunzeln vertiefte sich. Die Hände des Mri

ruhten auf den Knien, hatten die Metallbearbeitungvergessen; dann stieß er einen langen Atemzug her-vor und nahm seine Arbeit wieder auf.

»Ich möchte Frieden mit ihr haben«, sagte Duncan.»Niun, ich habe alles getan, um das ihr mich gebetenhabt. Ich habe versucht, einer von euch zu sein.«

»Du hast andere Dinge getan«, meinte Niun. »Dasist das Problem.«

»Sie tun mir leid. Bitte vergeßt sie! Bitte sie, michwieder zu empfangen, und ich gebe dir mein Wort,daß ich sie nicht beleidigen werde. Es gibt keinenFrieden auf diesem Schiff ohne Frieden mit ihr – auchmit dir nicht.«

Für einen Moment sagte Niun nichts. Dann gab erein langes Seufzen von sich. »Sie hat darauf gewartet,daß du sie fragst.«

Die Mri konnten ihn immer noch überraschen.Duncan setzte sich zurück, und alle seine Überlegun-gen über sie waren über den Haufen geworfen.»Dann wird sie mich empfangen?«

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»Wann immer du dich entscheidest, sie zu fragen.Geh und sprich mit ihr! Die Türen sind nicht ver-schlossen.«

Duncan blieb noch für einen Moment sitzen – derganze Impuls war ihm genommen. Und dann raffteer sich auf und ging zur Tür, das Dus hinter ihm.

»Duncan.«Er wandte sich um.»Mein Bruder im Kel«, sagte Niun sanft, »in jeder

Hinsicht für dich – bedenke, daß ich die Hand derShe'pan bin, und daß, wenn du ihr gegenüber fehl-gehst, ich das nicht dulden darf.«

Für eine Moment war ein Abwehr-Impuls im Raumspürbar: das Dus wich zurück und legte die Ohrenan. »Nein«, sagte Duncan und es blieb stehen. Er zogdas Av'tlen aus seinem Gürtel und hätte alle seineWaffen abgelegt. »Nimm sie, wenn du so etwas vonmir erwartest!« Es war erniedrigend, Waffen zuübergeben; Duncan bot sie im Bewußtsein dessen an,und Niun zuckte sichtlich zusammen.

»Nein«, sagte er.Duncan steckte die Klinge wieder an ihren Platz

und ging, das Dus hinter ihm. Niun folgte ihm nicht;vielleicht verbot es ihm der Stich des letzten Wort-wechsels, und sein Verdacht würde ihm für eine WeileSorgen machen – Duncan rechnete damit, daß MeleinsSicherheit, obwohl Niun neben ihm schlief, obwohl erbeim Waffen-Üben seine Abwehr öffnete, um ihmetwas beizubringen, auf einem anderen Blatt stand.Der Kel'en war außerordentlich tief beunruhigt.

Einem bewaffneten Tsi'mri Zugang zur She'pan zugewähren, das ging sicherlich gegen die Instinkte desMri.

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Aber die Türen waren nicht verschlossen.Die Türen waren nie verschlossen gewesen, ver-

mutete Duncan auf einmal; er hatte niemals darangedacht, es auszuprobieren. Melein selbst hatte hinterunverschlossenen Türen geschlafen, hatte ihm ver-traut; und das erschütterte ihn tief, daß die Mri indieser Hinsicht so unvorsichtig ihm gegenüber seinkonnten.

Und doch nicht unvorsichtig.Gefängnisse, verschlossene Türen, versiegelte Din-

ge, einen Mann seiner Waffen zu berauben – all diesverstieß gegen ihre Natur. Er hatte es von Beginn sei-nes Umgangs mit ihnen an gewußt: keine Gefange-nen, keine Gefangennahme – und selbst im Schreinwar das Pan'en nur abgeschirmt, nicht abgeschlossen.

Sogar die Kontrollen, sogar sie waren ihm jederzeitzugänglich gewesen, zu jedem Zeitpunkt, an dem ersich dazu entschlossen hätte, dort hinzugehen, wo esihm verboten worden war; er hätte ruhig gehen unddie Türen verschließen können und hätte das Schiff inder Hand gehabt – konnte es, in diesem Augenblick.

Er tat es nicht. Er ging zu der Tür, die zu Meleinführte, zu dieser matterleuchteten Halle, mit Symbo-len bemalt und ohne Einrichtung außer einem Stuhlund den Sitzmatten. Er trat ein, die Schritte laut aufden Fliesen.

»She'pan!« rief er, stand und wartete: stand, dennes war die She'pan, die zum Sitzen einlud oder nicht.Das Dus setzte sich neben ihm schwer auf das Hin-terteil, sank schließlich nieder und legte den Kopf aufdie Fliesen. Ein Seufzen brach aus ihm hervor.

Und plötzlich hörte Duncan leichte Schritte hintersich. Er drehte sich um und sah sich einer geisterhaf-

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ten Gestalt im Schatten gegenüber, weißgewandetund schweigend. Er war nicht verschleiert. Er warsich nicht sicher, ob das unhöflich war, und senkteden Blick, um seinen Respekt zu zeigen.

»Warum bist du hier?« fragte sie.»Ich möchte dich um Verzeihung bitten«, sagte er.Sie antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an, als

ob sie auf weitere Erklärungen wartete.»Niun hat gesagt«, fügte er hinzu, »daß du dazu

bereit wärst, mich zu empfangen.«Sie preßte die Lippen zusammen. »Du hast immer

noch Tsi'mri-Manieren.«Zorn überkam ihn; jedoch war diese Feststellung

die simple Wahrheit. Er unterdrückte den Zorn undsenkte den Blick ein zweitesmal zu Boden. »She'pan«,sagte er sanft, »ich bitte dich um Verzeihung.«

»Ich gebe sie dir«, sagte sie. »Komm, setz dich!«Ihre Stimme klang plötzlich huldvoll; das brachte

ihn aus dem Gleichgewicht, und für einen Augen-blick starrte er sie an, wie sie zu ihrem Stuhl ging undsich daraufsetzte, darauf wartete, daß er sich zu ihrenFüßen niederließ.

»Mit deiner Erlaubnis«, sagte er, und als er sich anNiun erinnerte: »Ich sollte zurückgehen. Ich denke,daß Niun mir folgen wollte. Laß mich gehen und ihnholen!«

Ein finsterer Blick legte Meleins glatte Stirn in Fal-ten. »Das würde ihn mit Schande bedecken, Kel Dun-can, wenn du ihn wissen läßt, warum. Nein, bleib!Wenn Frieden im Hause herrscht, wird er es wissen.Und wenn nicht, dann wird er es auch wissen. Undnenne ihn mir gegenüber nicht bei seinem Namen; erist der erste im Kel.«

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»Es tut mir leid«, sagte er, kam herbei und setztesich ihr zu Füßen, und auch das Dus kam und sankzwischen ihnen zu Boden. Das Tier fühlte sich unbe-haglich. Er beruhigte es mit der Hand.

»Was«, wollte Melein wissen, »hat dich veranlaßt,zu mir zu kommen?«

Die Frage schlug ihn mit Verwirrung – sie war grobund abrupt und dazu angetan, in ihn zu lesen. Erzuckte die Achseln und versuchte, an etwas am Randder Wahrheit zu denken, aber es gelang ihm nicht.»She'pan, ich bin eine Hilfsquelle für dich. Und ichwünschte mir, daß du einen Nutzen aus dem ziehst,was ich weiß – solange noch Zeit ist.«

Die Membran zuckte über ihre Augen, und dasDus hob den Kopf. Sie beugte sich vor und besänf-tigte das Tier, ihre Finger fuhren zärtlich über densamtigen Pelz. »Und was weißt du, Kel Duncan, dasdich so plötzlich mit Sorgen erfüllt?«

»Daß ich euch lebendig heimbringen kann.« Erlegte die Hand auf das Dus, verspürte dabei keineAngst, und blickte der She'pan in die goldenen Au-gen. »Er hat mich unterwiesen; ist nicht die Bedie-nung von Schiffen Teil der Fähigkeiten eines Kel'en?Wenn er lernen will, werde ich ihn unterrichten; undwenn nicht – dann werde ich mich selbst um dasSchiff kümmern. Sein Geschick liegt bei den Yin'ein,und darin wird meines nie an ihn heranreichen – aberdies kann ich machen, dies eine. Meine Gabe an dich,She'pan, und für dich von großem Wert, wenn du dieHeimatwelt erreichst.«

»Handelst du?«»Nein. Es gibt kein wenn dabei. Eine Gabe, sonst

nichts.«

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Ihre Finger streichelten weiterhin den warmen Pelzdes Dus. Ihr Blick hob sich. »Bist du mein Kel'en, KelDuncan?«

Für einen Augenblick stockte ihm der Atem. DasHal'ari, das Kel-Gesetz hatte begonnen, in seinemVerstand zu strömen wie Blut in den Adern. Die Fra-ge stand im Raum, es gab nur Ja oder Nein, und da-nach gab es kein zurück mehr.

»Ja«, sagte er, und das Wort kam fast unhörbarüber seine Lippen.

Ihre schlanken Finger glitten zu seinen, nahmenseine breite Menschenhand. »Wirst du dich nicht ge-gen uns wenden, wie du dich gegen deine eigeneRasse wendest?«

Das Dus bewegte sich unter Duncans Schock; erhielt es fest, beruhigte es mit beiden Händen undblickte nach einem Moment Melein in die klaren Au-gen.

»Nein«, urteilte sie in Beantwortung ihrer eigenenFrage, und wie sie darauf kam, aus welcher Quelle sieschöpfte, wußte er nicht. Ihre Sicherheit bestürzte ihn.

»Ich habe einen Menschen berührt«, sagte sie, »undgerade in diesem Augenblick tat ich es nicht.«

Ihn fror. Er hielt sich am Dus fest, bezog Wärmevon ihm und starrte Melein an.

»Was willst du machen?« fragte sie.»Gib mir Zugang zu den Kontrollen! Laß mich die

Maschinen warten, tun, was nötig ist! Wir hatten eineFehlfunktion. Eine weitere können wir uns nicht lei-sten.«

Er erwartete Ablehnung, rechnete mit langen Ta-gen, mit Monaten der Auseinandersetzung, um dasvon ihr zu erreichen.

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Aber die Kontrollen, dachte er, waren nie abge-schlossen gewesen. Und Melein senkte die Bernstein-augen und gab ihm durch diese schweigende Gestedie Erlaubnis. Sie hob die Hand und wies zur Tür.

Er zögerte, raffte sich dann auf, widmete ihr eineungeschickte Geste der Höflichkeit und ging.

Sie folgte ihm. Er hörte ihre leichten Schritte hinterdem Dus. Und als er sich im hellerleuchteten Kon-trollraum an die Konsole setzte, stand sie an seinerSchulter und sah zu. Er konnte ihr weißgewandetesSpiegelbild auf den Schirmen sehen, die das Sternen-feld zeigten.

Er fing an, die Testreihen zu durchlaufen, nach de-nen ihn verlangt hatte, und verbannte Meleins Anwe-senheit aus seinen Überlegungen. Seitdem er dasletztemal von den Kontrollen geschickt worden war,hatte er gefürchtet, daß das Schiff nicht in der Lagesein würde, gänzlich unter Automatik eine so langeund schwere Reise zu machen; aber zu seiner Er-leichterung erwiesen sich alle Systeme als funktions-fähig, nichts versagte, und es gab keine haarbreiten,ruinösen Felder, durch die sie für immer in diesemnicht kartographierten Raum verloren sein würden.

»Alles in Ordnung«, berichtete er Melein.»Hast du etwas besonderes gefürchtet?«»Nur Vernachlässigung, She'pan«, sagte er.Sie stand neben ihm und schien gelegentlich das

Spiegelbild seines Gesichtes zu betrachten, wenn erhin und wieder in das ihres Gesichtes blickte. Er warzufrieden damit, dort zu sein, wo er jetzt war, und dieDinge zu tun, an die sich seine Hände so gut erin-nerten. Er wiederholte Durchläufe, die er bereits ge-macht hatte, nur um zusätzliche Zeit zu gewinnen,

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bis Melein des Stehens müde wurde, sich von seinerSchulter löste und den Platz des Kopiloten jenseitsder Konsole einnahm.

Sie war einsam und vielleicht interessiert an dem,was er tat. Ihm fiel ein, daß ihr derlei Geräte nichtunbekannt waren, nur die von Menschen gefertigten,und er traute sich nicht, in ihrer Anwesenheit zuvielzu versuchen. Sicherlich wußte sie, daß er Operatio-nen wiederholte.

Er ergriff die Chance.VERSTRICHENE ZEIT, befragte er den Datenspei-

cher.Ablehnung blitzte als Antwort. KEINE AUF-

ZEICHNUNGEN.Er fragte nach anderen Einzelheiten. KEINE AUF-

ZEICHNUNGEN, KEINE AUFZEICHNUNGEN, ant-wortete der Speicher.

Etwas Kaltes und Hartes schwoll in seiner Kehle.Vorsichtig checkte er den Status der Navigationsbän-der, ob der entgegengesetzte Kurs verfügbar war, umihn wieder heimzubringen.

UNTER VERSCHLUSS, blitzte ihm der Schirm zu.Er hielt inne, dachte an die mit dem Bandmecha-

nismus verbundene Selbstzerstörung. Ein schreckli-cher Verdacht kroch durch seine Erinnerungen.

Wir wollen nicht, daß zufällig etwas mit Ihnen zurück-kommt.

Stavros' Worte!Schweiß sickerte an seiner Seite hinab. Er spürte,

wie er auf dem Gesicht kribbelte, wischte sich mit derHandkante über den Mund und versuchte, die Gestezu verbergen.

Das Dus kam näher, trat schnüffelnd zwischen sie

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und schob seine Nüstern dicht an die feinen Instru-mente heran. »Verschwinde von hier!« forderte Dun-can. Es legte sich nur nieder.

»Kel'en«, sagte Melein, »was siehst du, das dir Sor-gen macht?«

Er befeuchtete die Lippen und blickte sie an.»She'pan – wir haben kein Leben gefunden... ich kanndie Welten nicht mehr zählen, und wir haben keinLeben gefunden. Was läßt dich damit rechnen, daß esauf eurer Heimatwelt anders aussieht?«

Ihr Gesichtsausdruck wurde unlesbar. »Findest duda einen Grund, Kel'en, zu denken, daß dies nicht derFall sein wird?«

»Ich habe hier einen Grund gefunden – zu glauben,daß dieses Schiff gegen meine Eingriffe abgesichertworden ist. She'pan, wenn dieses Band durchgelaufenist, kann es sein, daß wir keine navigatorischen Un-terlagen mehr haben.«

Die Lider über den Bernsteinaugen zuckten. Sie saßstill, die Hände im Schoß gefaltet. »Hast du geplant,uns zu verlassen?«

»Wir werden vielleicht flugunfähig sein. Wir wer-den keine Wahl mehr haben, She'pan.«

»Wir hatten nie eine.«Er holte tief Luft, wischte sich den auf seinen Wan-

gen kaltgewordenen Schweiß ab und ließ den Atemwieder fahren. Ihre Ruhe war unerschütterlich undvöllig rational: Shon'ai... für sie war der Wurf ge-macht, schon mit der Geburt. Es war wie bei Niun mitseinen Waffen.

»She'pan«, sagte er ruhig, »du hast jede Welt be-nannt, an der wir vorbeigekommen sind. Kennst dudie Zahl derer, die noch vor uns liegen?«

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Sie nickte nach Art des Volkes, ein Neigen des Kop-fes nach links. »Bevor wir die Heimatwelt erreichen«,sagte sie, »kommen noch Mlara und Sha, Hlar undSa'o-no-kli'i.«

»Vier«, sagte er, wie gelähmt durch die plötzlicheKenntnis vom Ende der Reise. »Hast du es ihm ge-sagt?«

»Das habe ich.« Sie beugte sich vor, die Arme aufden weißverhüllten Knien verschränkt. »Kel Duncan,eure Schiffe werden kommen. Sie kommen.«

»Ja.«»Du hast deinen Dienst gewählt.«»Ja«, sagte er. »Am Volk, She'pan.« Und als sie ihn

weiterhin betrachtete, besorgt über seinen Verrat:»Auf ihrer Seite, She'pan, gibt es so viele Kel'ein, daßeiner nicht vermißt werden wird. Aber auf Seiten desVolkes gibt es nur einen – oder zwei, mit mir. DieMenschheit wird einen Kel'en nicht vermissen.«

Melein blickte ihm mit schmerzlicher Intensität indie Augen. »Deine Mathematik ist ohne Fehl, KelDuncan.«

»She'pan«, sagte er sanft, bewegt durch die Dank-barkeit, die er in ihr erkannte.

Sie erhob sich und ging.Überließ ihm das Schiff.Er saß für einen Moment reglos, stellte fest, daß al-

les in seiner Hand lag und er plötzlich eine Last trug,mit der er nicht gerechnet hatte. Hätte er einen Verratvorgehabt, dachte er, hätte er ihn jetzt nicht mehr be-gehen können. Und mit ihnen noch einmal das zumachen, was er auf Kesrith getan hatte, sei es auchnur, um ihr Leben zu retten...

Das wäre keine Handlung der Liebe, sondern der

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Selbstsucht, jetzt und hiernach. Er kannte sie zu gut,um zu glauben, daß es gut für sie wäre.

Er untersuchte die Speicherbänke, die ihre furcht-baren Geheimnisse verbargen, Programme, die sei-nem Zugriff verschlossen waren, Dinge, die vielleichtin dem Moment ausgelöst worden waren, an dem ergegen seine Befehle verstoßen hatte und frühzeitigauf den gespeicherten Kurs gegangen war.

Oder vielleicht – wie ObTaks schon immer geopfertworden waren – war von Anfang an geplant worden,daß die FOX nur als Reiter der SABER zurückkehrenwürde.

Da war das Pan'en mit den Aufzeichnungen darin;aber angesichts der Feuerkraft der SABER war dieFOX ein Nichts – und es war nicht ausgeschlossen,daß der Navigationscomputer am Ende des Bandeszerstört wurde und sie dadurch verkrüppelte.

Er langte wieder zum Pult, gab erneut die Schlüsselein und erhielt immer wieder KEINE AUFZEICH-NUNGEN und UNTER VERSCHLUSS.

Und schließlich gab er die Versuche auf, stieß sichab, kam auf die Füße, langte abwesend nach demDus, das sich sehnsüchtig an ihn drängte, seinenSchmerz spürte und versuchte, ihn davon abzulen-ken.

Vier Welten.Ein Tag oder mehr als ein Monat: die Spannen zwi-

schen den Sprüngen waren unregelmäßig.Die Zeit wirkte plötzlich sehr kurz.

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Mlara und Sha und Hlar und Sa'o-no-kli'i.Niun sah sie vorüberziehen, leblos wie sie waren,

verspürte eine Erregung im Blut, die der nüchterneAnblick nicht gänzlich abtöten konnte.

Sie sprangen wieder, und kurz nach Mittag Schiffs-zeit erschien ein neuer Stern im Zentrum des Feldes.

»Das ist die Heimat«, sagte Melein sanft, als sie sichin der Halle der She'pan versammelten, um gemein-sam mit ihr zuzuschauen.

Auf Hal'ari hieß der Stern Na'i'in.Niun betrachtete ihn, ein bloßer Lichtfleck auf die

Entfernung, von der aus sie in das System eindran-gen, und litt darunter, daß noch eine so lange Reisevor ihnen lag. Na'i'in. Die Sonne.

Und die Welt, die Kutath war.»Mit deiner Erlaubnis«, murmelte Duncan, »ich

gehe besser an die Kontrollen.«

Sie alle, sogar die Dusei, gingen in den kleinen Kon-trollraum.

Und es lag etwas Unheimliches an der Dunkelheitjener Sektion der Pulte, die am aktivsten gewesen wa-ren. Duncan stand davor und betrachtete sie für einenMoment, setzte sich dann an die Kontrollen und ent-fachte anderswo Aktivität, nicht jedoch in der ausge-fallenen Sektion.

Niun verließ die Seite der She'pan und stellte sichrechts von Duncan an das Schaltpult: er kannte sichwenig genug mit den Instrumenten aus, nur sovielDuncan ihm gezeigt hatte – sein Wissen reichte je-

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doch aus, um sicher zu sein, daß etwas nicht stimmte.»Der Navigationscomputer«, sagte Duncan. »Ka-

putt.«»Du kannst uns landen«, sagte Niun ohne Zweifel.Duncan nickte. Seine Hände fuhren über das Pult,

und auf den Schirmen bildeten sich Muster undStrukturen um einen Punkt, der Na'i'in war.

»Wir sind auf Kurs«, sagte er. »Wir haben keineSternflug-Navigation mehr, das ist alles.«

Das war nicht von Belang. Lange nachdem dieShe'pan in ihre Halle zurückgekehrt war, blieb Niunnoch bei Duncan, saß im Sessel auf der anderen Seiteder Konsole und beobachtete die Operationen, dieDuncan durchführte.

Es dauerte weitere fünf Tage, bis Kutath selbst vorihnen Gestalt annahm, der dritte Planet von Na'i'in...Kutath. Duncan führte sie, hielt sich öfter an denKontrollen auf, als nötig gewesen wäre; er nahm sei-ne Mahlzeiten in diesem Raum ein und betrat die Kel-Halle nur zum Waschen und für ein wenig Schlafwährend der Nachtzyklen. Ruhelos ging er immerschon wieder, bevor die Nacht vorbei war, und Niunwußte, wo er ihn dann finden konnte.

Nichts erforderte seine Anwesenheit an den Kon-trollen.

Es gab keinen Alarm, gar nichts.Es war, begann Niun mit wachsender Verzweif-

lung zu vermuten, dasselbe wie vorher auch. Meleinmachte sicherlich ihre eigene Einschätzung des an-haltenden Schweigens, Duncan tat es ebenfalls, undkeiner sprach laut darüber.

Keine Schiffe.

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Keine Reaktion.Am sechsten Tag gab es die ersten deutlichen Bil-

der des Planeten, und Melein kam zu den Kontrollen,um sie sich zu betrachten. Niun legte seine Hand aufihre, ein schweigendes Angebot.

Es war eine rote Welt, und sie war leblos.Und alt. Sehr, sehr alt.Duncan schaltete die Schirme aus. Es lag Schmerz

in seinem Gesicht, als er die beiden Mri betrachtete,als ob er sich selbst die Schuld gäbe. Aber Niun holtetief Luft und ließ sie wieder fahren, unterwarf sichdem, was er bereits sein Leben lang gewußt hatte.

Daß sie schließlich doch die Letztgeborenen waren.Irgendwo im Schiff stöhnten die Dusei, nahmen

den Kummer in sich auf, der ihnen gesandt wurde.»Die Reise des Volkes«, sagte Melein, »hat sehr,

sehr lang gedauert. Wenn wir auch die letzten sind,so werden wir doch heimkehren. Bring uns dorthin,Duncan!«

»Ja«, sagte dieser einfach, senkte den Kopf undwandte sich dem Pult zu, damit er ihre Gesichternicht sehen mußte. Niun empfand das Atmen alsschwierig, spürte eine Enge um sein Herz, wie da-mals, als er das Volk auf Kesrith hatte sterben sehen;das war jedoch ein alter Kummer, und die Trauer lagbereits zurück. Er stand still, während Melein in ihreHalle zurückkehrte.

Dann zog e r sich zurück, dorthin, wo er mit sich a l-lein war, setzte sich zusammen mit seinem Dus niederund weinte, wo doch das Kel nicht weinen konnte.

»Warum sollten wir bekümmert sein?« fragte Melein,als sie sich an diesem Abend wieder trafen, zu ihrem

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ersten Gemeinsamen Mahl seit vielen Tagen und ih-rem letzten vor der Landung. »Wir haben immer ge-wußt, daß wir die letzten sind. Eine Zeitlang glaubtenwir etwas anderes und waren glücklicher, aber es istnur dieselbe Wahrheit, die es immer gewesen ist. Wirsollten weiterhin glücklich sein. Wir sind schließlichheimgekehrt. Wir haben unseren Ursprung gesehen,und das ist ein angemessenes Ende.«

Dies war etwas, das der Mensch verstehen konnte.Er schüttelte einfach den Kopf wie unter Schmerzen,und sein Dus schnupperte trostlos an ihm.

Aber Niun schloß sich gänzlich Meleins Gedankenan: sie waren die Wahrheit. Es gab weit schlimmereDinge als das, was vor ihnen lag: es gab Kesrith, esgab Menschen und Regul.

»Gräme dich nicht um uns«, sagte Niun zu Duncanund faßte ihn am Ärmel. »Wir sind da, wo wir seinwollen.«

»Ich werde wieder an die Kontrollen gehen«, sagteDuncan, sprang auf die Füße, verschleierte sich undverließ ihre Gesellschaft, ohne um Erlaubnis zu fra-gen oder zurückzublicken. Sein Dus folgte ihm undstrahlte Kummer aus.

»Er kann dort nichts tun«, meinte Melein mit einemAchselzucken. »Aber es tröstet ihn.«

»Unser Duncan«, sagte Niun, »wird sich nicht ab-finden. Er ist von Schuldgefühlen besessen.«

»Wegen uns?«Niun zuckte die Achseln, preßte die Lippen zu-

sammen und sah zur Seite.Sie streckte die Hand aus und faßte ihm ins Ge-

sicht, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück und be-trachtete ihn traurig. »Ich habe gewußt, daß das

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möglich war, daß es zu lange her gewesen seinkönnte. Niun, es hat etwa achtzig Dunkelheiten ge-geben, und in jeder ist mehr als eine Generation vor-übergegangen; und es hat etwa achtzig Zeiten desDazwischen gegeben, und die meisten davon habenetwa eintausend Jahre gedauert.«

Er versuchte ein mißbilligendes Lachen undschüttelte den Kopf – es kam nicht als Lachen heraus.»Ich kann mir das in der Entfernung vorstellen, abernicht in Jahren. Zwanzig Jahre sind schon viel für ei-nen Kel'en. Ich kann nicht mit tausend rechnen.«

Sie beugte sich herab und drückte ihm die Lippenauf die Stirn. »Niun, es geht nicht um das Zählen. Esgeht auch über meine Vorstellung hinaus.«

In dieser Nacht und der folgenden schlief Niun imSitzen, den Kopf an ihren Stuhl gelehnt. Melein batihn nicht darum. Er wollte sie einfach nicht alleinlas-sen. Und als Duncan von seiner einsamen Wache kamfür die wenigen Stunden wirklichen Schlafes, die ersuchte, rollte er sich in der Ecke an sein Dus gelehntzusammen, hier und nicht in der Kel-Halle. Es warkeine Zeit, in der auch nur einer von ihnen hätte al-lein sein wollen. Die Einsamkeit von Kutath selbstwar überwältigend.

Am achten Tag wälzte sich Kutath unter sie undfüllte alle Schirme in der Halle der She'pan aus – zor-nig, trocken, zernarbt vom Alter.

Und Duncan trat in die Gegenwart der She'pan,schoß herein wie ein Windstoß, riß sich Mez undZaidhe vom Kopf, um sein Gesicht zu zeigen: esstrahlte.

»Leben!« sagte er. »Der Scanner zeigt es. She'pan,

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Niun – eure Welt ist nicht völlig tot.«Für einen Augenblick bewegte sich keiner von ih-

nen.Und plötzlich schlug Melein die Hände zusammen

und dankte den verschiedenen Göttern, und erstdann wagte Niun, Atem zu holen und zu hoffen.

Melein folgte Duncan zu den Kontrollen, hinter ihrkam Niun, und hinter allen trotteten die Dusei undschnaubten mächtig vor Aufregung. Melein setztesich auf die Armlehne des Sessels, und Niun lehntesich neben ihr an, während Duncan ihnen klarzuma-chen versuchte, worauf seine Suche gestoßen war, ih-nen die Schirme und die Zahlen zeigte und den vi-brierenden Datenstrom, der von Leben kündete.

Leben von Maschinen und sehr, sehr spärlich derBeweis für wachsende Dinge.

»Vom Raum aus wirkt es wie Kesrith«, sagte Dun-can sanft, und seine Worte machten Niun frieren,denn oft genug hatte die alte She'pan Kesrith als dieSchmiede bezeichnet, die das Volk vorbereiten würde– für alles, das vor ihnen lag. »Den Dusei«, meinteDuncan, »sollte es dort gut genug gehen.«

»Ein Mond«, las Niun vom Schirm ab und erin-nerte sich mit Heimweh an die beiden, die über dieHimmel von Kesrith zogen; erinnerte sich an seineHügel und die vertrauten Orte, die er durchstreifthatte, bevor die Menschen kamen.

Diese Welt seiner Vorfahren würde ihre eigenenGeheimnisse haben, ihre eigenen Reize und Schön-heiten und ihre eigenen Gefahren.

Und Menschen – schnell genug.»Duncan«, sagte Melein, »bring uns hinab!«

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Kutath.Duncan sog die Luft ein, die in die Luke herein-

blies, den ersten Atemzug von der Oberfläche desPlaneten, kalt und dünn, mit schwachem Aroma. Erblickte durch die Luke auf den roten und bernstein-farbenen Sand, auf den Kamm ferner, abgerundeterBerge, und eine Sonne, trübgefärbt und verzerrt in ih-rem Himmel.

Und er ging nicht hinab. Das gebührte den Mri, alserste den Erdboden ihres Ursprungs zu betreten. Erstand im Schiff und sah zu, wie sie die Rampe hinab-gingen, zuerst Melein und hinter ihr Niun – Kinder,die zu ihrer alten Mutter heimkehrten. Sie blicktensich um, und ihre Augen sahen die Dinge sicher an-ders als er, ihre Sinne empfanden die Berührung vonKutaths Schwerkraft als vertraut, das Aroma seinerLuft – etwas, das ihr Blut und ihre Sinne ansprechenund sagen mußte: dies ist die Heimat.

Traurig für sie, wenn das nicht so war, wenn dieReise des Volkes wirklich zu lange gedauert hatte,wenn alles verloren war, weswegen sie gekommenwaren. Er glaubte nicht daran; er hatte den Blick inNiuns Augen gesehen, als sie der Welt jenseits derLuke gewahr wurden.

Er spürte die Spannung in seiner Kehle, und dieMuskeln zitterten unter der schrecklichen Kälte desPlaneten und vor Furcht. Wenn er etwas deutlichempfand, dann ein Gefühl des Verlustes – und erwußte nicht, warum. Er hatte es geschafft, hatte sieheimgebracht und sicher gelandet, und doch ver-

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spürte er Traurigkeit.Es war nicht alles, was er getan hatte, dieser Dienst

am Volk.Jenseits des Systems pulsierte ein Signalfeuer, ein

Hinweis auf dem Kurs für einfliegende Schiffe. Undauf Kutath diente das Schiff jetzt selbst als Signalfeu-er. Es pulsierte schweigend, aber es sendete jetzt –würde das tun, solange ihm Energie verblieb. Unddas würde über ihre kurzen Lebensspannen hinaus-gehen.

Freundschaft, Freundschaft, rief das Schiff den Him-meln entgegen, und wenn die Menschenschiffe dieSignale näher begutachten würden, dann gab es danoch mehr.

Er hatte das Niun und Melein gegenüber ver-schwiegen. Er rechnete nicht damit, daß sie irgendei-ne Geste Tsi'mri gegenüber billigen würden, unddeshalb hatte er nicht nach ihrem Einverständnis ge-fragt.

Er sah, wie die Dusei gingen, schnaubten und inder Luft schnupperten, als sie auf ihre krummzehigeGangart die Rampe hinabtrotteten – sie schwabbeltenvor Fett nach ihrer langen gutgefütterten Inaktivitätauf dem Schiff, glänzten und leuchteten im Licht dermatten Sonne. Sie erreichten den Sand und rolltensich freudig darin, schüttelten Wolken roten Staubesvon ihren Samtpelzen, als sie wieder aufstanden. Dasgrößte Tier türmte sich auf die Hinterbeine, sankwieder herab, spielte und blies Staubwolken auf dieMri; Niun unterband das durch eine Schelte.

Die Tiere machten sich dann eigenmächtig auf denWeg, umkreisten die Gegend, erforschten ihre neueWelt. Sie würden keiner Gefahr erlauben, sich den

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Mri zu nähern, ohne Alarm zu schlagen, und ihrmomentanes Verhalten war eines von großem Beha-gen. Unbeschädigt durch den Luftzug des Schiffeswuchs nahebei eine Ansammlung blaugrüner Sten-gel. Die Dusei zerstörten sie, schmatzten die Pflanzenmit offensichtlichem Genuß. Ihre Verdauung wurdemit allem fertig, sogar den meisten Giften; darumkümmerten sie sich nicht.

Wo Pflanzen wuchsen, gab es sicherlich Wasser, seies auch noch so spärlich. Duncan betrachtete daskümmerliche Gewächs mit Befriedigung und Stolz,denn er hatte für die Mri einen Platz gefunden, wo indiesem weitgehend öden Land Leben existierte, hatteihr kleines Schiff in Reichweite von Wasser gelandet...

Und nahe bei der Energiequelle, die der Scanneraufgespürt hatte.

E s gab keinerlei Reaktion a u f ihre Anwesenheit,nicht bei der Landung und auch jetzt nicht. Die Instru-mente des Schiffes tasteten immer noch den Himmelab, bereit, die Sirenen auszulösen und seine Passagie-re zu warnen, in Deckung zu gehen. Der Himmelblieb jedoch leer – sie war gleichzeitig erwünscht undunerwünscht, diese über allem liegende Stille.

Duncan spürte die Wohlgefühle der Dusei wieLotusbalsam und gab sich ihnen hin.

Beinahe schüchtern ging er die Rampe hinab, emp-fand sich als fehl am Platz und als Fremder. Er nä-herte sich schweigend den Mri, hoffte, daß sie seineGegenwart nicht als Beleidigung erachten würden: erkannte Niun genug, um ihn dessen einem Tsi'mri ge-genüber für fähig zu halten.

»She'pan«, hörte er Niun sanft sagen, und siedrehte sich um und bemerkte ihn und streckte ihm

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die Hand entgegen. Sie legten ihre Arme um ihn wieum einen Bruder, und Duncan verspürte einen Im-puls zu weinen, wie es ein Kel'en nicht tun würde. Ersenkte für einen Moment den Kopf und spürte ihreWärme an ihm. Ein starker Wind blies und peitschteihre Gewänder. Duncan legte seinerseits die Armeum die beiden Mri, spürte an einer Seite Meleins Zer-brechlichkeit und an der anderen Niuns magereKraft. Und sie waren fremd, tierwarm, und genossendie Kälte, die ihn zittern ließ.

Die Dusei durchschweiften die Gegend in immergrößerer Entfernung und äußerten ihr Jagdstöhnen,das jedes Wesen mit Schrecken erfüllte, das Ohrenhatte, es zu hören.

Und Duncan und die Mri blickten sich um, undaußer der fremdartigen Gegenwart des Schiffes gabes nur die Erde und den Himmel: in einer Richtungflach, und jenseits davon erhoben sich Berge an derGrenze des Himmels, abgerundet und erodiert durchÄonen. Und in der anderen Richtung fiel das Landhinab in einen rotgelben Dunst mit Purpurschleiern,zeigte eine nackte Tiefe, die am Auge sog und dieSinne verwirrte – nicht einfach ein Tal, sondern eineKante, die den Rand der Welt bildete, eine Entfer-nung, die sich bis zum Horizont erstreckte und dortin den Himmel überging; und sie reckte Klippenarmeempor, die in der Nähe leuchtend rot waren und inden undeutlichen Himmel am fernen Horizont hineinverblaßten.

Duncan hauchte einen Ausruf in seiner Sprache; et-was Verbotenes, aber die Mri schienen es nicht zu b e-merken. Er hatte den Abgrund von oben gesehen, hattesie in der Nähe davon gelandet, weil es der beste Platz

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zu sein schien. Hinabsteigen war leichter als Empor-klettern, hatte er gedacht, als er sich für das Hochlandals Landeplatz entschied, aber er war in sicherem Ab-stand von der Kante geblieben. Von oben hatte es ge-fährlich genug ausgesehen; aber hier, wo sie selbstauf ihre natürliche Perspektive reduziert waren,klafften dermaßen gewaltige Tiefen, daß sie amGrund in Dunst verschwammen; Terrassen, Abhängeund Simse, erodierte Spitzen und Berge... und ganz inder Ferne, rotgelb und silbern, schimmerte etwas, dasein See sein mochte, ein ausgetrockneter Seitenarmdessen, was vielleicht einst ein Meer gewesen war.

Sicherlich ein Salzsee und tot; seit Äonen würdensich dort Mineralien und Salze angesammelt habenwie in Kesriths flachen, austrocknenden Meeren.

Sie standen für eine Weile reglos und betrachtetendie Welt um sich herum, bis selbst die Mri in derKälte zu zittern begannen.

»Wir müssen die Energiequellen finden, von derdu gesprochen hast«, sagte Melein. »Wir müssennachsehen, ob es noch andere gibt.«

»Wir sind nahe dran«, sagte Duncan und hob denArm in die Richtung, in der, wie er wußte, die Ener-giequelle lag. »Ich bin so nahe daran gelandet, wie ichmich getraut habe.«

»Es hat keine Antwort auf deine Kontaktversuchegegeben.«

»Keine«, sagte Duncan und erschauerte.»Wir müssen zusätzliche Gewänder anziehen«,

meinte Niun. »Und wir müssen einen Schlitten mitAusrüstung beladen. Wir werden uns soweit umse-hen, wie wir können – nicht wahr, She'pan? –, unddabei finden, was zu finden ist.«

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»Ja«, sagte Melein. »Wir werden sehen.«Duncan setzte an, sich abzuwenden und das Nöti-

ge in die Wege zu leiten, und da er keine bessere Zeitfand, zögerte er und zog den Schleier beiseite, den erals Schutz vor der Kälte getragen hatte. »She'pan«,sagte er, »es wäre besser – wenn ich im Schiff bliebe.«

»Wir werden nicht zurückkommen«, sagte Melein.Duncan blickte von einem zur anderen, fand

Schmerz in Niuns Augen, erkannte plötzlich denGrund für das Gefühl des Verlustes.

»Es ist nötig«, meinte er, »daß ich im Schiff bleibe –um für euch Wache zu halten, She'pan. Ich werdediesen Stern nicht verlassen. Ich werde bleiben. Abermöglicherweise kann ich sie aufhalten.«

»Die Marker, die du zurückgelassen hast – sind siedafür gedacht?«

Er erschrak in der Erkenntnis, daß Melein nichtgetäuscht worden war.

»Ja«, sagte er rauh. »Um sie wissen zu lassen, daßhier Freunde sind. Und vielleicht hören sie darauf.«

»Dann wirst du nicht im Schiff bleiben«, sagte sie.»Die zurückgelassene Botschaft genügt. Wenn sie sienicht beachten, gibt es nichts mehr zu sagen. DasSchiff hat keine Waffen.«

»Ich könnte mit ihnen reden.«»Sie würden dich zurückholen«, sagte sie.Das stimmte. Er starrte sie an, durchfroren bis auf

die Knochen durch den Wind, der sie peitschte.»Du könntest nicht kämpfen«, sagte sie, wandte

den Blick zum weiten Horizont und streckte den Armdorthin aus. »Wenn sie in all dieser Weite nach unssuchen, dann würden sie dir nicht zuhören; undwenn sie uns nicht suchen, ist alles gut. Komm mit

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uns, Kel Duncan!«»She'pan«, sagte er ruhig, akzeptierte es.Und er drehte sich um und stieg die Rampe hinauf.

Sie holten die Vorräte vom Schiff. Niun gab an, wasgebraucht wurde, und gemeinsam fügten sie Alumi-nium-Rohrwerk zu etwas zusammen, das einen rechtguten Schlitten abgab. Sie luden ihn in den Fracht-fahrstuhl und sicherten die Ausrüstung darauf, dieNiun aussuchte: Wasserbehälter, Nahrung, die leich-ten Matten, die zum Schlafen dienten, Aluminium-stangen zum Errichten eines Zeltes und Wärmedek-ken. Wenn sie auch Tsi'mri-Luxus darstellten, so fanddoch sogar Niun die Kälte draußen das überzeugen-dere Argument.

Sie suchten sich Extrakleidung aus und Stiefel zumWechseln und zogen sich zweite Siga über die ersten.

Und als letztes und wichtigstes von allem suchtensie den Schrein des Pan'en auf, und Niun nahm dasOvoid ehrfürchtig in die Arme und trug es zumSchlitten hinab, verstaute es dort an der Stelle, die da-für vorgesehen war.

»Bring uns hinab!« sagte Melein.Duncan drückte den Schalter, und der Frachtfahr-

stuhl senkte sich langsam zum Erdboden hinunter,wo sie hinaus auf den roten Sand traten.

Es war bereits später Nachmittag.Hinter ihnen stieg der Fahrstuhl wieder auf und

hielt krachend an seinem Platz, ein fremdartiges Ge-räusch in dieser Ödnis, und danach gab es kein ande-res Geräusch mehr als das des Windes. Die Mristapften los und wandten den Blick kein einzigesmalzurück; aber einmal, zweimal, ein drittesmal konnte

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Duncan nicht an sich halten und sah über die Schulterzurück. Die gewaltige Masse des Schiffes wurde klei-ner hinter ihnen, und sie nahm dabei eine seltsame,gefrorene Qualität an, schimmerte in dem rotgelbenLicht, verschwamm mit der Landschaft: kein Licht,keine Regung, kein Geräusch.

Dann geriet eine Bodenerhebung dazwischen, unddas Schiff verschwand aus dem Blickfeld. Duncanspürte einen plötzlichen Stich der Verlassenheit,spürte die Berührung der Mri-Kleidung auf seinerHaut, die für ihn natürlich geworden waren, spürtedie scharfe Kälte des Windes, die er sich ersehnt hat-te, und war sich immer noch dessen bewußt, daß erallein war. Sie gingen auf die Sonne zu, auf die Quelleder Energie, die die Instrumente aufgespürt hatten,und es kam Duncan in den Sinn, daß er, sollten sieandere Mri finden, es schwer haben würde, seinenGefährten seine Anwesenheit unter ihnen zu erklä-ren.

Daß eine Zeit kommen konnte, wenn seine Anwe-senheit sich für Niun und Melein mehr als nur unbe-quem erweisen würde.

Das wäre ein schlechtes Ende, allein und als Frem-der.

Es traf ihn, daß er in seiner Verrücktheit mit denendie Plätze getauscht hatte, die er bemitleidet hatte,und am schmerzlichsten von allem war, er mochtenicht glauben, daß Niun ihn willentlich im Stich las-sen würde.

Na'i'in ging unter und versorgte sie mit einem rötli-chen Dämmerlicht, das das sterbende Meer in dunsti-ge Vergessenheit tauchte, ein großer und erschrek-

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kender Abgrund zu ihrer Linken, mit Felsspitzen, diedurch den Dunst hochragten und den Eindruck ver-mittelten, als ob sie nicht in der Erde verankert wä-ren. Zu Beginn dieses Sonnenuntergangs legten sieeine Pause ein, trugen zweifache Gewänder gegen dieKälte und waren noch warm vom Gehen, und sienahmen gemeinsam eine Mahlzeit ein. Die Duseitauchten nicht auf, obwohl sie geglaubt hatten, daßder Duft des Essens sie anlocken würde. Niun sahsich während der Rast oft um, blickte ebenso wieDuncan auf ihrer Spur zurück und sorge sich um diefehlenden Tiere.

»Sie stammen von einer Welt, die nicht wenigerrauh ist«, meinte Niun schließlich, »und wahrschein-lich schweifen sie auf der Suche nach ihrer eigenenMahlzeit umher.«

Aber er machte ein finsteres Gesicht und beobach-tete immer noch den Horizont.

Und ein seltsames Phänomen trat auf, als die Sonneschwächer wurde. Durch den schwachen Dunst inder Luft erhoben sich Berge ins Blickfeld, die vorhernicht sichtbar gewesen waren, und das Land wuchsund dehnte sich vor ihnen aus, schuf sich neue Gren-zen, als die Sonne hinter die Hügel sank.

An den Ufern des sterbenden Meeres erhoben sichTürme und schlanke Spitzen, nur eine Nuance dunk-ler als der rotgelbe Himmel.

»Ah!« hauchte Melein und stand auf, und auch diebeiden Männer erhoben sich und blickten zum Hori-zont, auf die wundersame Stadt, die vor ihnen hing.Sie war nur für wenige Momente klar erkennbar undschwand dann im Schatten, als der Rand Na'i'ins un-ter den Horizont glitt und die Dunkelheit brachte.

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»Das war sicherlich, was die Instrumente aufge-spürt haben«, meinte Duncan.

»Etwas ist dort lebendig.«»Vielleicht«, sagte Niun. Sicher verlangte ihn da-

nach, es zu glauben, aber er ließ sich weder Hoffnungnoch Furcht anmerken. Zu allererst akzeptierte er dasSchlimmste – das hatte er immer getan. Dieses Ver-halten schien die Mri geistig gesund zu erhaltendurch eine Geschichte hindurch, die außer Zerstö-rung wenig enthielt.

Melein setzte sich wieder auf ihre Matte, schloß dieArme um die Knie und sagte überhaupt nichts.

»Es könnte sehr weit weg sein«, meinte Duncan.»Wenn es die Quelle von dem ist, was du entdeckt

hast?« fragte Niun.Duncan zuckte die Achseln. »Vielleicht ein Tages-

marsch weit.«Niun runzelte die Stirn und senkte den Mez etwas,

um den größten Teil seines Gesichtes freizulegen.»Sag mir die Wahrheit: Schaffst du einen solchenWeg?«

Duncan nickte auf Mri-Art. »Die Luft ist dünn, abernicht zu dünn für mich. Die Kälte macht mir am ehe-sten zu schaffen.«

»Wickle dich ein! Ich denke, daß wir über dieNacht hier bleiben.«

»Niun, ich werde keine Last für dich sein.«Niun dachte darüber nach und nickte dann. »Mri

sind keine Lastenträger«, sagte er. Duncan hielt es fürKel-Humor – und die exakte Wahrheit. Er grinste,und Niun tat es ebenfalls, eine plötzliche und überra-schende Geste, die schnell verging.

Die Schleier wurden wieder angebracht. Duncan

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legte sich in eine Wärmedecke gewickelt zum Schla-fen nieder und empfand mehr Frieden im Herzen, als– wie er wußte – unter solchen Umständen rationalwar. In der kalten Luft gaben Decke und Gewänderzusammen herrlich viel Behaglichkeit und Wärme.Über ihm bildeten seltsam wenige Sterne am klarenHimmel unvertraute Muster. Er erfand eigene: einDreieck, eine Schlange und ein Mann mit einem gro-ßen Dus an den Fersen. Die Anstrengung erschöpftesein schwindendes Bewußtsein, und er schlief ein. Ererwachte wieder, als Niun ihn an den Schulternschüttelte und davon unterrichtete, daß er mit demWachehalten an der Reihe war. Die Dusei waren nochnicht zurückgekommen.

Er saß für den Rest der Nacht in Wärme eingewik-kelt und blickte zum Horizont, der seltsam wirktedurch das Wachsen von Stengeln auf dem die Ebenenbeherrschenden Kamm, beobachtete in Einsamkeit,wie Na'i'in über ihrer Spur aufging, ein Anblick vonherzerfüllender Schönheit.

Das war mehr als ein fairer Handel, dachte er.Als das Licht zunahm, regten sich die Mri; sie

nahmen ein Morgenmahl ein, waren bedächtig in ih-ren Vorbereitungen und zufrieden damit, wenig zusagen und sich oft umzuschauen.

Und mit dem auffrischenden Wind kam ein selt-samer ferner Ton, der sie in ihren augenblicklichenHaltungen erstarren und zuhören ließ; und dannlachten Niun und Melein laut und erleichtert.

Die Dusei waren in der Nähe auf der Jagd.Sie packten und beluden den Schlitten. Duncan zog

ihn. Niun, Kel'anth, Ältester des Kel, konnte eine sol-che Arbeit nicht übernehmen, solange es noch jemand

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anderen dafür gab. Dies war seit langem die Ord-nung der Dinge, und Duncan akzeptierte sie, ohneFragen zu stellen. Aber der Mri beobachtete ihn, undals sie sich der ersten Erhebung näherten, legte Niunschweigend die Hand auf das Seil und nahm es ihmweg, schlang es sich um die eigene Schulter.

Es war für den Mri keine harte Arbeit, denn das Landwar relativ flach, und die Metallkufen glitten leichtüber den pulverigen roten Sand hinweg. Die Kälte,die in der Dämmerung ihren Atem hatte gefrierenlassen, ließ immer mehr nach, bis am mittleren Vor-mittag Niun und Melein ihre Extragewänder ablegtenund mit sichtlichem Behagen weitergingen.

Während einer Ruhepause erschien eines der Duseiam Horizont, stand dort für einen Moment, und dasandere gesellte sich zu ihm. Immer wieder tauchtendie Tiere auf und verschwanden ebenso schnell wie-der. Während dieser letzten Abwesenheit waren sieschon seit einer Weile verschwunden. Duncanwünschte sich seines zurück, war um es besorgt undüber sein irrationales Verhalten bekümmert, aber eskam nur den halben Weg und blieb dann stehen. Essah anders aus, so daß er es nicht erkannt hätte, wä-ren mehr als nur zwei auf ganz Kutath vorhandengewesen und das größere nicht weiter hinten auf demKamm des Abhangs. Beide sahen anders aus.

Magerer. Die Wohlgenährtheit war über Nacht ver-schwunden.

Das Dus warf sich plötzlich wieder herum und ge-sellte sich zu seinem Gefährten auf dem Kamm. Beideverschwanden hinter dieser niedrigen Bodenwelle.Beim Weitergehen hielt Duncan den Blick dorthin ge-

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richtet, um sie wieder auftauchen zu sehen, und erblinzelte, denn es schien unmöglich zu sein, daß et-was so Großes in einem so flachen Land so leicht ver-schwinden konnte.

»Was ist mit ihnen los?« fragte er Niun. Der Mrizuckte die Achseln und ging wieder hinter Meleinher, was nach Duncans Vermutung bedeutete, daß eres nicht wußte.

Und wenig später, als ihr Weg sie in die Nähe eini-ger der blaugrünen Stengel führte, schnitt Niun einStück davon mit dem Av'tlen ab und sah, wie diePflanzenwunde sich mit Wasser füllte.

»Ich würde das nicht probieren«, meinte Duncanunbehaglich.

Aber der Mri nahm wenig, sehr wenig davon inden Mund und spie es einen Moment später wiederaus. »Nicht so schlecht«, meinte er. »Süß. Vielleicht istdas Fruchtfleisch genießbar. Wir werden sehen, obich davon krank werde. Die Dusei waren nicht derMeinung.«

Es war ihm immer noch ein Geheimnis, wie es zwi-schen Dus und Mann eine Kommunikation von sodeutlicher Natur geben konnte. Aber Duncan erin-nerte sich an das Gefühl, das sie bei der ersten Ent-deckung der Pflanzen gehabt hatten: intensives Beha-gen.

Niun wurde nicht krank. Nach Mittag probierte ernoch etwas mehr, und verkündete am Abend, daß e sakzeptabel sei. Duncan versuchte es, und es war süßund wie gezuckertes Obst, angenehm und kalt. Alsletzte nahm Melein etwas davon zu sich, nachdem dasLager aufgeschlagen und es klar geworden war, daßweder Mri noch Mensch daran Schaden gelitten hatten.

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Die Sonne glitt zum Rand des Abgrunds hinab undzerteilte sich in Streifen, verweilte für einen letztenAugenblick. Inmitten des Dunstes tauchte die Stadtwieder auf.

Sie war groß und ruhte fest auf dem Erdboden undwar keine fließende Illusion. Die Türme zeichnetensich deutlich im Licht ab, bevor es verschwand.

»Es steht im Pan'en geschrieben«, sagte Meleinsanft, »daß es eine Stadt der Türme gab – An-ehonmit den gelben Türmen. Auch andere Städte sinddort genannt: Zohain, Tho'e'i-shai und Le'a'haen. DasMeer war Sha'it und auch die Ebenen hatten ihreNamen.«

Da waren der Wind und das Flüstern der strömen-den Sandkörner. Das war alles, was sich außer ihnenbewegte, die sie als Fremde kamen, und einer von ih-nen als wahrhaft Fremder.

Aber Melein nannte ihnen die Namen, und Kutatherlangte um sie herum Substanz, so schrecklich es inseiner Verlassenheit auch war. Niun und Meleinsprachen miteinander und lachten irgendwie in alldieser Stille, aber die Stille drang bis auf die Knochenund raubte den Atem, und Duncan konnte sich füreinen Moment kaum bewegen, bis Niun sein Hand-gelenk packte und ihm eine Frage stellte, die zu wie-derholen er den Mri verlegen bitten mußte.

»Duncan?« fragte Niun daraufhin, spürte die Be-stürzung in ihm.

»Es ist nichts«, sagte Duncan und wünschte sichnutzlos das Dus zurück. Er starrte an den Mri vorbeiin den sich verdunkelnden Abgrund eines sterbendenMeeres und wunderte sich darüber, daß sie an einemsolchen Ort lachen konnten.

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Und daß Melein in ihrem Geist die ungeheurenWasser sah, die in dieser Leere geschwappt und ge-wogt hatten: das ließ ihm mehr als alles andere erneutgewahr werden, welche Zeitspanne diese beiden Mridurchquert hatten.

Niun drückte seinen Arm und zog sich zurück,wickelte sich in seine Decke und legte sich zum Schla-fen nieder, wie auch Melein sich für die Nacht nie-derließ.

Duncan übernahm die Wache, hüllte sich in seineWärmedecke und fühlte sich warm trotz der Luft, inder sein Atem gefror. Der im dritten Viertel stehendeMond war aufgegangen. Ein Streifen hoher Wolkenzog im Norden auf, konnte aber die Sterne nicht ver-hüllen.

Einmal spürte er die Gegenwart des Dus. Es kamnicht nahe heran, aber es war da, als eine Beruhigungirgendwo in ihrer Nähe.

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18

Vor Schwäche zitternd drückte Sharn den Knopf, derden Nahrungsspender in ihre Reichweite brachte. Ei-ne andeutungsweise Neigung des Körpers brachte ih-ren Mund daran, und eine Zeitlang war sie damit zu-frieden, zu trinken und die Wärme in ihren Bauchströmen zu lassen. Der Schlauch erhöhte bereits dieZufuhr von Nährstoffen in ihre Venen, aber der langeNahrungsentzug hatte psychologische Folgen, diekeine Schlauchernährung mindern konnte.

Um sie herum schliefen auf der Brücke derSHIRUG zehn Junglinge, immer noch tief in der Hi-bernation, in der sie größere Abschnitte der langenReise verbracht hatten. Nur Suth und ein Geleg-Jungling namens Melek waren die ganze Zeit wachgeblieben, abgesehen von den kurzen Schlafperioden,in die sie die Sprünge geworfen hatten. Suth war be-reits völlig wach und kam eilig auf Sharn zu, warpflichtgemäß besorgt um die Älteste, zu der er als BaiHulaghs Leihgabe gehörte.

»Darf ich dienen?« fragte er rauh. Fieberglanz glit-zerte in seinen Augen. Die Knochenplatten seinerWangen waren weiß umrändert und umwölkt, einungesundes Zeichen. Sharn erkannte das Leiden desJunglings, der eine so lange Reise gänzlich wachdurchgestanden hatte, und bot Suth – eine selteneHöflichkeitsgeste – denselben Spender an, den sie be-nutzte. Suth wurde vor Freude dunkelrot und nahmihn hungrig, trank mit großen, geräuschvollenSchlucken, die seinen zitternden Gliedern sicherlichneue Kraft zuführten. Dann gab er ihr den Spender

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zurück, Verehrung in den Augen.»Weck die anderen!« befahl sie ihm daraufhin, und

der Jungling gehorchte auf der Stelle.Das Navigationsband stand auf Null.Sie waren angekommen.Ein rascher Blick auf den Scanner zeigte das ganz

in der Nähe fliegende Menschenschiff, aber die Men-schen würden jetzt kaum schon wieder handlungsfä-hig sein. Während der Reise war Sharn öfters aufge-wacht, um sich mit Suth zu beraten, und sie hatte je-desmal gewußt, daß die Menschen langsamer als dieRegul nach Sprüngen wieder zu sich kamen: sie be-nutzten Drogen, weil sie nicht über den biologischenVorzug der Hibernation verfügten. Einige wenigewaren bereits wieder an der Arbeit, aber immer nochbenebelt. Das war bekannt; die Mri, die weder Dro-gen noch Hibernation benötigten, waren immer inder Lage gewesen, daraus Vorteile zu ziehen.

Und um sie herum erstreckte sich das Heimatsy-stem der Mri.

Dieser Gedanke ließ Sharns Blut kälter werden undihre zwei Herzen zur Unzeit heftig pumpen. Von ih-rer Fernbedienungskonsole aus rief sie neue Plan-schemata ab, aktivierte ihre Instrumente und steuertedas Schiff von der menschlichen Begleitung weg, so-lange diese noch benommen war. Ein automatischerAnruf ertönte unter den Instrumenten; ein menschli-cher Computer unterrichtete sie darüber, daß sie ausdem Plan ausbrach. Sie kümmerte sich nicht darumund erhöhte die Geschwindigkeit im Realraum.

Die inneren Planeten waren ihr Ziel. Hinter ihrregten sich die erwachenden Menschen und sandtenihr wütende Rückkehrforderungen nach. Sie igno-

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rierte sie. Sie war Alliierte, kein Vasall, und fühltesich nicht an die Befehle der Menschen gebunden.Um sie herum erwachten die Junglinge unter der Be-handlung des geschickten Altersgenossen, den ihrder Bai mitgegeben hatte – diese Zurverfügungstel-lung seines persönlichen Dieners war ein Maß fürseine Wertschätzung. Sharn hegte verwirrende Ge-danken über ihre eigene mögliche Gunst, ebenso wieüber ihre augenblickliche Gefährdung.

»Wir werden als Voraussonde dienen«, sendete sieschließlich den verärgerten Menschen, ließ sich zu ei-ner Antwort herab. »Es ist erforderlich, menschlicheVerbündete, daß wir alle rasch erfahren, welcher Artvon bewaffneter Bedrohung wir gegenüberstehen,und die SHIRUG verfügt über die nötige Beweglich-keit, auszuweichen.«

Es war nicht die Gewohnheit der Regul, vorauszu-gehen.

Aber Regul-Interessen standen auf dem Spiel. Einetote Welt nach der anderen: die unglaublichen Auf-zeichnungen von dieser Verwüstung verstärkten dieEntscheidungen, die auf Kesrith getroffen wordenwaren. Das Überleben des Doch war gleichbedeutendmit dem persönlichen Überleben, und mehr als das...es war in sich selbst unglaublich, dieses Bewußtseinder Bedrohung gegen die Regul-Rasse, mit der keinRegul jemals gerechnet hatte.

Sie konnte auf den Schirmen erkennen, daß dasMenschenschiff in Fragmente zu zerfallen schien. DieSABER setzte ihre Reiter ab, den kleinen systeminter-nen Jäger SANTIAGO und die harmlose SondeFLOWER. Weder die Kriegsschiffe noch die Sondehatten die sternflugtaugliche Beweglichkeit der

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SHIRUG, die von mittlerer Größe war und schwerbewaffnet, die direkt aus dem System und wieder zu-rück springen und planetennahe Manöver ausführenkonnte, die für die gewaltige und zerbrechliche SA-BER, ganz Panzerung und Feuerkraft, katastrophalenden würden.

Die Menschen waren nicht erfreut. Die SABERnahm Geschwindigkeit auf, und ihre Reiter bliebendicht bei ihr. Das war keine Verfolgung. Sharn wareine Zeitlang nervös und fuhr die sich erholendenJunglinge mürrisch an, entschied jedoch letztlich, daßdie Menschen keine Maßnahmen gegen sie ergreifenwollten, nicht solange sie alle in Reichweite der Mriwaren. Ihre Drohungen, hätten sie welche geäußert,würden darin keinen Unterschied gemacht haben.Sharn hatte ihre Befehle von Hulagh, und währendsie der manchmal junglinghaft-impulsiven Entschlos-senheit des Alagn-Ältesten mißtraute, so vertraute siedoch seinem Wissen und seiner Erfahrung, die hun-dertzwölf Jahre mehr umfaßte als ihre.

Insbesondere kannte Hulagh die Menschen undvertraute offenkundig darauf, daß der gültige Friedenicht gebrochen werden würde, auch dann nicht,wenn die Regul hart an die Grenze gingen. Das warein unangenehmes Vorgehen. Regul waren keineKämpfer; ihre Aggressivität war nur verbaler undtheoretischer Art. Sharn hätte sich weit sicherer ge-fühlt, wenn sie einen Mri an Bord gehabt hätte, dersich um so irrationale Vorgänge wie Ausweichen undKampf kümmerte. Zufallsaktionen waren etwas, dasdie Mri hervorragend beherrschten. Aber natürlichstanden sie jetzt den Mri gegenüber, und die unge-wohnte Aussicht auf einen Kampf gegen Mri verun-

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sicherte Sharn zutiefst.Vernichten.Vernichten und den Menschen das Durcheinander

hinterlassen, um damit aufzuräumen. Regul wußten,wie man die niederen Rassen benutzte. Regul ent-schieden; die niedere Rasse hatte einfach mit der Si-tuation zu tun... Und Hulagh fand in seiner Erfah-rung, daß die Menschen genau dies taten.

Ein schwach pulsierendes Signal kam herein. Mithämmernden Herzen stellte Sharn den Empfänger einund amplifizierte.

Freundschaft, sagte das Signal, Freundschaft.In menschlicher Sprache.Verrat!Genau das hatte Hulagh befürchtet, daß die Mri,

aus dem Dienst an den Regul ausgeschieden, sichwieder vermieten würden. Es gab einen Menschennamens Duncan, der in Verbindung mit den Mristand und darauf hinarbeitete.

Sharn nahm die Quelle des Signals ins Visier undfeuerte. Es erlosch.

Wenige Augenblicke später schnatterten menschli-che Stimmen sie an und wollten wissen, warum siegefeuert hatte und auf welches Ziel. Also hatten siedas Signal nicht aufgefangen.

»Trümmer«, antwortete Sharn. Regul logen nicht,aber sie sagten auch nicht immer die Wahrheit.

Vielleicht akzeptierten die Menschen diese Ant-wort. Es gab keinen Kommentar.

Die SHIRUG erweiterte ihren Vorsprung. Mögli-cherweise hatte sie einen Geschwindigkeitsvorteil.Möglicherweise waren die Menschen damit zufrie-den, daß sie die innere Systemverteidigung auf die

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Probe stellte, nahmen sie beim Wort und dachtennicht weiter darüber nach. Sharn bezweifelte das. Sievertraute eher auf die Schnelligkeit der SHIRUG: Zu-schlagen und sich zurückziehen, dafür war das Schiffgebaut worden. Die SABER war ein Träger, der ausdem Stand feuerte. Zweifellos war der systeminterneJäger SANTIAGO das Element der Schnelligkeit inKombination mit dem Träger, stellte aber keine Be-drohung für die SHIRUG dar. Die FLOWER spielte indieser Rechnung keine Rolle, allenfalls als Feuerleit-stelle.

Sharn sorgte sich nicht weiter darum. Hulaghs In-formationen waren genau, wie sie auch bisher folge-richtig und genau gewesen waren. Die SHIRUG, ge-mäß der Operationsvereinbarung ihrer Reiter be-raubt, war immer noch in allen Dingen außer Panze-rung und Feuerkraft im Vorteil.

Sie widmete dieser Sache ihre ganze Aufmerksam-keit und überließ es Suth, sich um das Geschwätz derMenschen zu kümmern. Jetzt ging es darum, denPlaneten zu lokalisieren, ihn als erster zu erreichen.

Ihn zu vernichten und es den Menschen zu über-lassen, mit dem Rest fertigzuwerden.

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19

Das Stehenbleiben schmerzte, wo die Stadt im Blick-feld war, so nahe, so qualvoll nahe – aber die Nachtwar über ihnen, und Niun sah, daß Duncan sich ab-plagte: sein Atem ging hörbar. Und schließlich bliebMelein stehen, ließ einen Blick zu Duncan schweifen,der allein für Niun gedacht war, signalisierte damitihre Absicht, nicht weiterzugehen.

»Am besten bleiben wir für die Nacht hier«, meintesie.

Duncan akzeptierte die Entscheidung, ohne Meleinauch nur anzublicken, und sie breiteten die Sitzmat-ten auf dem kalten Sand aus und betrachteten denSonnenuntergang. Seine Strahlen verliehen den Tür-men der Stadt vor dem Hintergrund der Hügel eineandere Färbung.

»Es tut mir leid«, sagte Duncan plötzlich.Niun sah ihn an. Duncan blieb verschleiert – nicht

aus dem Wunsch nach Zurückgezogenheit, dachteNiun, sondern weil ihn die Luft so weniger schmerz-te. Er spürte die Stimmung hinter diesem Schleier, ei-ne Absonderung, die in sich selbst eine Wunde war.

»Sov-kela«, grüßte Niun ihn sanft, Kel-Bruder, derfreundlichste Ausdruck für Zuneigung nach Wahr-bruder. »Komm, setz dich zu uns! Es ist kalt.«

Für die Mri war es weniger kalt, aber Duncan kamund schien sich darüber zu freuen, fühlte sich sovielleicht auch wohler, denn er hatte nicht sovielKörperhitze wie sie. Er und Niun lehnten sich Rückenan Rücken, da sie sich so am besten ausruhen konn-ten. Sogar Melein ließ sich schließlich dazu herab, den

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Rücken an Niuns Knie zu legen. Sie redeten nicht,sondern starrten nur zur Stadt hinüber, die jetzt inDunkelheit versunken war, und hinauf zu den Ster-nen, die hier in geringerer Zahl vorhanden waren alsan den Himmeln, die Duncan zuvor kennengelernthatte, so daß er sich fragte, ob sie sich hier am Randder Galaxis befanden, erstgeboren vielleicht, währendDuncans Volk aus den weiter innen liegenden Berei-chen kam. Es war eine sehr lange Reise gewesen, diedes Mri-Volkes ins Innere der Milchstraße.

Fast wünschte er sich, daß ihr Marsch zur Stadtewig dauern würde, daß sie für immer auf sie zugin-gen, immer weiter mit Hoffnung und ohne zu wissen,welche Wahrheit dort lag.

Und doch hatte Duncan behauptet, an jenem OrtEnergieverbrauch festgestellt zu haben.

Niun biß sich auf die Lippe und verlagerte denKörper, so daß alle drei sich unbehaglich bewegten,und wußte tief im Innern, was ihn plötzlich beunru-higt hatte.

Dus-Gegenwart.»Sie sind wieder da«, sagte er ruhig. »Ja«, sagte

Duncan nach einem Moment.Etwas schlurfte durch den Sand. Es gab ein

schnaubendes Geräusch. Endlich tauchten die Tiereauf, hielten die Köpfe gesenkt und ließen die Blickeabwesend von einer Seite zur anderen schweifen, alsob sie jetzt auf einmal nicht mehr wüßten, was siehier tun sollten. Und diesmal scheuten sie nicht, son-dern kamen herbei. Melein wich aus, und Niun undDuncan empfingen die Tiere, die nach ihnen gesuchthatten.

Gedanken des Vergnügens. Niun liebkoste den

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massigen Kopf, der ihn gegen die Rippen stieß, undfuhr mit der Hand über einen Körper, der dünn unddessen Fell rauh geworden war. Jede Rippe stand vor.

»Es ist verändert!« rief Duncan aus. »Niun, beidesind dünner. Könnte es sein, daß sie Junge bekom-men haben?«

»Niemand hat je bestimmen können, ob es sich beieinem Dus um ihn oder sie handelte.« Niun machtesich über die Veränderung bei ihnen Sorgen, warauch gereizt darüber, daß Duncan auf den Gedankengekommen sein sollte, den er erst halb geformt hatte,Duncan, dem die Tiere neu waren. »Manche habengesagt, sie wären beides. Aber das Volk hatte dieseVeränderung bei ihnen noch nicht erlebt. Wir habennie...«, fügte er wahrheitsgemäß hinzu, »junge Duseigesehen.«

»Es ist möglich«, meinte Melein, »daß es keine jun-gen Dusei gibt, nicht wie wir uns Junge vorstellen.Wo sie herkommen, kann nichts überleben, das hilf-los geboren würde.«

Niun stand auf und ließ den Blick über die mond-helle Landschaft schweifen, aber Dusei konnten sichgut verbergen, und falls es dort draußen Junge gab,konnte er sie nicht entdecken. Aber als er sich wiedersetzte, den Kopf des Dus im Schoß, spürte er immernoch ein Gefühl des Unwohlseins um das Tier.

»Es ist gefährlich«, meinte Duncan, »eine neueRasse auf einer Welt zu verlieren, besonders eine soempfindliche wie diese.«

Duncan hatte gesprochen. Niun hatte einen Ge-danken und vermied es aus Liebe, ihn zu äußern.

Und auf einmal senkte Duncan den Kopf, und eszeigte sich Unruhe in den Dus-Gefühlen.

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»So ist das«, sagte Melein freundlich, »aber ohnesie würden wir uns einsam fühlen.«

Duncan betrachtete sie schweigend, legte schließ-lich die Arme um den Nacken seines Tieres, senkteden Kopf und schlief. Niun machte zwischen ihnenPlatz für Melein, und sie schliefen, zum erstenmal allezusammen seit Verlassen des Schiffes, denn die Duseiwaren bei ihnen und wachten über sie und spendetenihnen mit ihrer Körperhitze Behaglichkeit.

Dusei vermehrten sich, erzeugten weitere Dusei, dieals erwachsene Tiere geboren wurden und die Weltfüllten, bis ganz Kutath ihnen gehörte, und sie beleb-ten die Straßen der toten Städte und waren nicht aufMri angewiesen.

Niun erwachte und war sogleich bestürzt über dieDus-Gedanken, die sich am Rande des Alptraumsherumtrieben, spürte kalten Schweiß auf seinem Ge-sicht und daß die anderen in gleicher Weise bestürztwaren, verblüfft vielleicht über das, was sie geweckthatte. Duncan ließ den Blick über die Hügel schwei-fen, als sei irgendein Nachtwanderer in ihre Nähe ge-kommen.

»Es ist nichts«, sagte Niun.Er gestand seinen Traum nicht ein; der Schrecken

war ihm noch gewahr. Er hatte sich nie zuvor im Le-ben den Dusei ausgesetzt gefühlt, sondern nur an ih-nen teilgehabt. Menschliche Gegenwart – es warDuncans Gegenwart, die dergleichen genährt hatte,Verdacht, wie vorher keiner gewesen war.

Dusei, erinnerte er sich, haben kein Gedächtnis. Fürdiese beiden Dusei existierte Kesrith nicht mehr. Siewürden sich nie mehr daran erinnern, bis sie es wie-

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dersahen, und das würde nie geschehen. Personenund Orte: das war alles, was in ihren dicken Schädelnblieb... und jetzt gab es für sie nur noch Kutath. Siewaren demzufolge Eingeborene, eins mit dem Land,eher als die Mri und der Mensch.

Niun schloß wieder die Augen, beschämt über denTraum, von dem – da war er sich sicher – zumindestMelein etwas ahnte, wenn sie auch fälschlich dieSchuld Duncan zuschieben mochte und sich dadurchbeschmutzt fühlte, daß sie an den dus-geborenenNachtängsten eines Menschen teilgehabt hatte. DieTiere strahlten jetzt Behaglichkeit aus. Niun ergabsich ihr, entspannte sich in dieser Wärme und wiesdie Angst von sich.

Das Dus würde sich in keiner Weise erinnern.

Am Morgen beeilten sie sich nicht sehr; sie kanntenDuncans Grenzen in der dünnen Luft und wolltenihn nicht härter antreiben.

Und sie waren vorsichtig. Sie folgten bei ihrer An-näherung den Bodenwellen und zeigten sich nachDus-Art der Stadt nicht offener, als sie mußten.

Aber je näher sie kamen, desto weniger nützlichschien solche Vorsicht zu sein.

Alt, sehr alt. Niun sah deutlich, was er vermutethatte: zerfallene, nicht reparierte Turmspitzen, überallem der Schmutz des Verfalls. Keiner von ihnensagte etwas darüber; das war nichts, was sie einge-stehen wollten.

Und letztlich verzichteten sie auf Vorsicht. DerWind, der seit Tagen freundlich an ihnen gezogenhatte, schwoll auf einmal an und peitschte Sand-schleier auf, die ausreichten, sie abzuschirmen, und

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die Kraft des Windes erschöpfte sie. Die Dusei gingenmit zusammengepreßten Nasenlöchern und gesenk-ten Köpfen, schnaubten hin und wieder und stelltenzweifellos die geistige Gesundheit derer in Frage, dieauf dem Weitergehen beharrten. Niuns Augenbrannten trotz des Schutzes durch die Membran, under senkte das Visier des Zaidhe, wie es Duncan schonim ersten Moment getan hatte, als der Sand zu wehenbegann. Melein senkte den gazeartigen innerenSchleier ihres Kopftuches, den Sarahe, der ihr ganzesGesicht bedeckte und sie in eine gesichtslose Gestaltin Weiß verwandelte, wie es die Männer in Schwarzwaren.

Unter anderen Umständen hätte die Klugheit siegetrieben, Schutz zu suchen. Es gab Stellen, die dafürgeeignet waren. Aber sie gingen langsam weiter undwechselten sich an dem eigensinnigen Schlitten ab.

Sand ergoß sich in Strömen durch die Straßen derStadt. Sie traten wie Geister zwischen die Ruinen,und während sie noch gingen, verschwanden bereitsihre Spuren hinter ihnen. Turmspitzen erhoben sichüber ihnen, die Umrisse hinter rostroten Staubschlei-ern nicht ganz auszumachen, außer wenn sie sich vorder Sonne abzeichneten, die die Düsterkeit durch-drang. Und der Wind heulte wie die Stimme einesDämonen die engen Straßen herab und ließ Sand ge-gen ihre Visiere prasseln.

Bögen spannten sich von spitzen Türmen zu Zylin-derbauten; Zylinder, so breit wie hoch, türmten sichvor der sandverschleierten Sonne auf... nirgendwo inNiuns Gedächtnis waren derartige Bauten enthalten.Er blickte sich um und betrachtete sie und fand nichtsVertrautes an ihnen, nichts, das ihm sagte: hier hat das

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Volk gelebt. Furcht senkte sich auf ihn, eine tiefe seeli-sche Depression.

Sie mußten sich eine Zeitlang ausruhen, geschütztim Inneren eines zerbrochenen Turmes, niederge-drückt durch das Heulen des Windes draußen. Dun-can hustete, ein flaches und müdes Geräusch, dasschließlich aufhörte, nachdem ihn die Mri überredethatten, etwas von ihrem Wasser zu trinken. Er zogsich einen zweiten Schleier über das Gesicht, der fürihn das tat, was die Götter in ihrer Weisheit für dieMri getan hatten, der ihn davor schützte, den feinenStaub einzuatmen.

Von der Stadt jedoch, von dem, was sie sahen,sprach keiner von ihnen. Sie ruhten sich aus und gin-gen danach wieder in den Sturm hinaus. Duncanübernahm den Schlitten, der abwechselnd durchSand zischte und über Stein scharrte. Obwohl er eineLast war, wollten sie nicht auf das verzichten, was ertrug, als sich die Frage erhob.

Melein führte sie in Richtung auf das Stadtzen-trum, in die Richtung, die Niun auch gewählt hätte:zum Herzen des Straßenlabyrinthes, denn die gehei-ligten Orte, die Schreine, befanden sich stets im Zen-trum, und immer zur Rechten des Zentrums erhobsich der E'ed su-shepani, der angebaute Turm derShe'pan. In jedem Mri-Bauwerk in der gesamtenSchöpfung kannte ein Mri seinen Weg: so war es inder Zeit der Städte sicherlich auch gewesen.

Die Dusei verschwanden erneut. Niun sah sich um,und sie waren weg, obwohl er ihre Berührung nochspürte. Duncan wandte ein blindes, schwarz mas-kiertes Gesicht in dieselbe Richtung, blickte dannwieder in die Richtung, in die Melein ging, und warf

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sein Gewicht in die Seile. Das Kreischen der Kufenauf nacktem Stein übertönte einen Moment lang dasHeulen des Windes, verklang, als sie wieder auf Sandgingen.

Und die Türme standen hier weniger dicht, und sietraten auf einen großen Platz.

Dort stand das Edun, das Haus, das sie gesuchthatten... schräge Wände, vier Türme mit einem ge-meinsamen Fundament: das Haus, das sie aus Erdeerrichtet gekannt hatten, gedrungen und unfertig.Dieses jedoch bestand aus safrangelbem Stein, ver-hüllt durch die Sandschleier, und Bögen verliefen zuden oberen Gebäudeteilen, eine ehrfurchtgebietendeMasse, die Niuns gesamte Erinnerungen grob undklein erscheinen ließ... das Lied, dessen Echo sein Al-ter war.

»Götter«, hauchte Niun, der jetzt wußte, was dasVolk einmal hatte schaffen können.

Hier würde der Schrein sein, wenn es einen gab;hier würde das Herz des Volkes sein, wenn noch et-was davon lebte. »Kommt!« drängte Melein sie.

Mit Mühe begannen sie den Anstieg zu den Toren.Duncan plagte sich mit dem Schlitten ab, und Niunpackte das Seil und half ihm. Die Tore waren geöff-net. Meleins weiße Gestalt trat als erste in die Dun-kelheit, und Niun ließ Duncan stehen, alarmiertdurch ihre Unbesonnenheit.

Das dunkle Innere enthielt keine Bedrohung; eswar dort ruhiger, und die Wolken aus Sand undStaub verfolgten sie nicht weit hinein. In diesem fah-len Licht, das durch das Tor hereindrang, faltete Me-lein den Schleier über ihre Mähne zurück. Niun hobsein Visier und ging zurück, um Duncan zu helfen,

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der den Eingang erreicht hatte. Die Schlittenkufenkreischten kurz, als sie das Gefährt hineinzogen. DasGeräusch hallte von den im Schatten liegenden Wän-den und der gewölbten Decke wider.

»Hütet eure Augen!« sagte Melein.Niun drehte sich um und sah sie nach einer

Schalttafel am Eingang langen. Licht flammte auf,kalt und plötzlich. Die Membran reagierte augen-blicklich, und selbst durch ihren Schleier hindurcherkannte Niun schwarzes Netzwerk, das an denWänden rings um sie aufragte. Eine Schrift, ähnlichund doch unähnlich der, die Melein angefertigt hatte– steif, eckig und mächtig. Selbst von Meleins Lippenlöste sich ein Ausruf, Ehrfurcht über das, was siebloßgelegt hatte.

»Die Böden sind sauber«, merkte Duncan mit ver-fremdeter Stimme an, wischte sich Tränen aus demstaubigen Gesicht und hinterließ Schmutzstreifendarin. Niun sah die Korridore hinab, die sich strah-lenförmig von der Halle aus erstreckten und stelltefest, daß nur bis zum Rand dieses Raumes Staub lag;dahinter war der Boden sauber und glänzend. EinKribbeln machte sich in Niuns Nacken bemerkbar,wie ein Dus-Sinn. Dieser Ort hätte ihn mit Hoffnungerfüllen sollen. Es war eher eine Auffassung, das Be-wußtsein, in dieser Halle fremd zu sein. Er fragtesich, wo die Dusei waren, warum sie weggegangenwaren, und er wünschte sich, die Tiere jetzt bei sichzu haben.

»Kommt!« sagte Melein. Sie sagte es in gedämpf-tem Tonfall, und doch löste ihre Stimme immer nochEchos aus. »Bringt das Pan'en! Ihr müßt es tragen.«

Sie hoben es vom Schlitten, und Niun legte es vor-

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sichtig in Duncans Arme. Es war eine Last, die zutragen eine Ehre für ihn gewesen wäre, aber er dach-te, daß es ihm zufiel, es zu verteidigen, und daskonnte er nicht machen, wenn er es in den Armenhielt. »Kannst du es tragen, Sov-kela?« erkundigte ersich, denn das Ovoid war schwer und seltsam aus-balanciert, und Duncan atmete hörbar. Er neigte je-doch den Kopf nach Art der Mri, versicherte, es zuschaffen, und sie folgten Melein mit leisen Schrittenin die erleuchteten und glänzenden Korridore.

Der Schrein des Hauses mußte zwischen den An-bauten des Kel und des Sen liegen. Das Kel, dieWächter der Tür, Das-Gesicht-das-nach-außen-gewandt-ist, kam immer zuerst; dann der Schrein,das Heilige; und dann der Anbau des Sen, der Turmfür den Geist des Volkes, Das-Gesicht-das-nach-innen-gewandt-ist, das Unverschleierte. Solch einenSchrein gab es in der Tat, einen kleinen und schatti-gen Raum, in dem die Lampen kalt waren und dasGlas der Gefäße vor Alter trübe geworden war.

»Ai«, seufzte Melein und faßte an die korrodierteBronze des Pana-Schirms. Niun wandte die Augenab, denn er sah dahinter nur Dunkelheit, und nichts,das im Heiligen verblieben war.

Sie zogen sich rasch von diesem Ort zurück undsammelten Duncan wieder auf, der aus Scheu vordem Eintreten an der Tür gewartet hatte. Und Niundachte, daß er Duncans besorgten Blick verstand: gä-be es hier noch Angehörige des Volkes, dann hätteder Schrein des Hauses Feuer enthalten. Niun faßteim Gehen an die kalte Oberfläche des Pan'en, eineBekräftigung und Reinigung nach der Verlassenheitdes Schreins.

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Und doch waren da die Lampen mit ihrem kalten,klaren Licht; und überall makellose Fliesen, wo dochüberall draußen dicker Staub lag. Dieser Ort lebte. Erbezog aus irgendeiner Quelle Energie. Melein blieban einer weiteren Schalttafel stehen, und auch in an-deren Korridoren ging das Licht an, in der Tiefe desSen-Turmes und weiter rechts in dem, was einmalder Turm einer seit langem toten She'pan gewesenwar.

Und am bittersten von allem war der Zugang zumKath-Turm, der sie mit seiner Leere verspottete.

»Es könnte Verteidigungsanlagen geben«, meinteDuncan.

»Das trifft zu«, sagte Melein.Dann jedoch drehte sie sich um und begann, den

Aufgang zum Sen-Turm hinaufzusteigen, wohin ihrKel'ein nicht folgen durften. Niun stand hilflos undängstlich da, bis sie stehenblieb und ihm aufforderndzunickte, die Erlaubnis zur Übertretung gab.

Duncan folgte ihm schwer atmend mit dem Pan'en;und langsam stiegen sie die sich windende Rampehinauf, kamen dabei an klobigen Markierungen vor-bei, die den Zeichen des alten Edun ähnelten, jedochseltsam und von maschineller Präzision waren.

Mehr Lichter: sie durchquerten den endgültigenZugang zur Sen-Halle und traten hinter Melein in ei-nen gewaltigen Raum, in dem ihre Schritte wider-hallten. Er war kahl. Es gab keine Teppiche und keinePolster, nichts außer einem verrosteten Eßgeschirraus Messing, das auf einem safrangelben Steinsockelstand. Es sah so aus, als würde es eine einzige Berüh-rung zerstören.

Die Korrosion hatte Abfall aus ihm gemacht.

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Es gab jedoch keine Spur von Staub, nichts, außerauf diesem Sockel, wo er so dicht lag, wie man esnach einer so langen Zeit auch erwarten würde.

Melein ging weiter, durch andere Eingänge in ei-nen Bereich, der ihr, die sechs Jahre lang Sen'e'en ge-wesen war, sicherlich vertraut war; und erneut bliebsie stehen und befahl den Männern, bei ihr zu bleibenund Dinge zu sehen, die dem Kel auf ewig verbotengewesen waren. Vielleicht, dachte Niun traurig,spielte das alles keine Rolle mehr.

Lichter flammten unter ihrer Hand auf. Maschinenlagen vor ihnen, ein gewaltiger Raum voller Maschi-nen – hintereinander gestaffelt: er ähnelte demSchrein von Sil'athen, war jedoch weit größer. Niunzögerte ehrfürchtig, blieb ungebeten hinter MeleinsRücken. Sie verbot es ihm nicht, und Duncan folgte.

Computer und Monitorbänke: er verglich Teile die-ser Ansammlung mit den Kontrollpulten des Schiffes,andere konnte er überhaupt nicht identifizieren. DieWände waren völlig weiß. Fünf Symbole prangtenüber dem Zentrum der Instrumentenbänke, so groß,daß sie nur die ausgebreiteten Arme eines Mannesmessen konnten. Sie waren aus glänzendem und kor-rosionsfestem Metall geformt, wie das Material desPan'en, das sie bei sich trugen.

»An-ehon«, sagte Melein laut, und der Klang ihrerStimme tönte wie ein Donnerschlag in das langeSchweigen.

Flackernd erwachten die Maschinen zum Leben,mit einer Plötzlichkeit, die Niun ungewollt zusam-menzucken ließ, und er hörte den Ansatz eines Auf-schreies von Duncan, der jedoch sofort erstickt wur-de. Der Mensch kniete neben ihm nieder, um das

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Pan'en abzusetzen, und stand wieder auf, die Handan der Pistole.

»Ich empfange«, sagte eine tiefe und seelenloseStimme. »Fahre fort!«

Melein hatte die Stimme beim Namen der Stadt ge-rufen. Niuns Haut kribbelte, zuerst wegen der Er-kenntnis, daß er ein Symbol gesehen und es verbote-nerweise ausgesprochen gehört hatte... und dann,weil eine solche Schöpfung ihnen antwortete. Er sah,wie selbst Melein einen Schritt zurückwich, die Handauf dem Herzen.

»An-ehon«, redete sie die Maschine an, und selbstder Boden schien im Rhythmus mit dem dröhnendenFlackern der Lichter zu pulsieren. Es war tatsächlichdie Stadt, die zu ihnen sprach, und sie hatte dasHal'ari benutzt, die Hohe Sprache, die unverändertdurch alle Zeitalter der Mri hindurch weitergegebenworden war. »An-ehon, wo ist dein Volk?«

Ein helleres Lichterflackern lief an den Bänkenentlang.

»Unbekannt«, verkündete die Maschine dann.Melein holte tief Atem – stand reglos für mehrere

Momente, in denen sich Niun nicht zu bewegenwagte. »An-ehon«, sagte sie dann, »wir sind deinVolk. Wir sind heimgekehrt. Wir sind Abkömmlingedes Volkes von An-ehon und von Zohain und Tho'e'i-shai und Le'a'haen. Kennst du diese Namen?«

Wieder zeigte ein Flackern von Lichtern und Klän-gen äußerste Erregung in der Maschine an. Niun trateinen Schritt vor und streckte zur Vorsicht mahnendeine Hand zu Melein aus, aber sie stand fest undschenkte ihm keine Beachtung. Bis in die entfernte-sten Bereiche der Halle hinein erwachte Bank auf

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Bank zum Leben; Sektion auf Sektion leuchteteselbsttätig auf.

»Wir sind hier«, sagte eine andere Stimme. »Ich binZohain.«

»Nenne deinen Namen, Besucher!« sagte An-ehonstiefere Stimme. »Bitte nennt eure Namen! Ich sehejemanden, der nicht vom Volk ist. Bitte belegt eureAutorisierung, uns anzusprechen, Besucher!«

»Ich bin Melein s'Intel Zain-Abrin, She'pan desVolkes, das von Kutath hinausging.«

Die Lichter pulsierten in zunehmendem Einklang.»Ich bin An-ehon. Ich gehorche den Befehlen derShe'pan des Volkes. Zohain und Tho'e'i-shai undLe'a'haen sprechen jetzt durch mich. Ich nehme ande-re wahr. Ich erkenne jemandem vom Nicht-Volk.«

»Sie sind mit meiner Erlaubnis hier.«Die Lichter pulsierten jetzt in völligem Einklang.

»Darf An-ehon um Erlaubnis bitten, zu fragen?« be-gann die Maschine mit der rituellen Höflichkeit vonjemandem, der etwas von einer She'pan wissen woll-te; und der Ursprung dessen ließ kalte Schauer überNiuns Haut rieseln.

»Frage!«»Wer ist diese Person des Nicht-Volkes? Sollen wir

sie akzeptieren, She'pan?«»Akzeptiert ihn! Er ist Duncan-ohne-eine-Mutter.

Er kommt aus der Dunkelheit. Dieser Mann des Vol-kes ist Niun s'Intel Zain-Abrin, Kel'anth meines Kel;dieser andere ist ein Schatten-der-an-unserer-Tür-sitzt.«

»Andere Schatten haben die Stadt mit dir betreten.«»Die Dusei sind ebenfalls Schatten in unserem

Haus.«

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»Da ist ein Schiff, dem wir erlaubt haben zu landen.«»Es hat uns gebracht.«»Es gibt ein Signal, jedoch nicht in der Sprache des

Volkes.«»An-ehon, laß es damit fortfahren!«»She'pan«, kam die Antwort.»Gibt es keine Angehörigen des Volkes in deinen

Grenzen?«»Nein.«»Gibt es überhaupt noch welche?«»Neu formulieren.«»Hat sonst irgend jemand vom Volk überlebt, An-

ehon?«»Ja, She'pan, viele leben.«Die Antwort traf, blieb für mehrere Herzschläge

unbegriffen, denn Niun hatte auf ein nein gewartet.Ja. Ja, viele, viele, VIELE!

»She'pan!« rief Niun aus, und Tränen brannten ihmin den Augen. Und doch bewegte er sich nicht, at-mete tief, um seine Schwäche zu überwinden, spürteDuncans Hand auf der Schulter, die ihm anbot, wasauch immer den Menschen bewegte, und nach einemMoment wurde er sich dessen bewußt. Freude,dachte er; Duncan freute sich für sie. Das rührte ihn,und gleichzeitig ärgerte ihn die menschliche Berüh-rung. – Mensch.

Bevor er An-ehon sprechen gehört hatte, hatte erkeine Abneigung gegen Duncans Menschsein ver-spürt; bevor er erfahren hatte, daß es noch andere Mrigab, hatte er den Unterschied zwischen sich undDuncan nicht so kraß empfunden.

Scham überkam ihn, daß er mit dem Menschen imGefolge vor andere des Volkes treten sollte – selbst-

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bezogene Scham, ehrlos und schmerzlich. Vielleicht er-kannte Duncan sie sogar. Niun hob den Arm, legte ihnin gleicher Weise auf Duncans Schulter und drücktesie mit den Fingern.

»Sov-kela«, sagte er mit leiser Stimme.Der Mensch sagte nichts. Vielleicht fand auch er

keine Worte.»An-ehon«, redete Melein die Maschine an, »wo

sind sie jetzt?«Eine Graphik blitzte auf dem Zentralschirm auf;

Punkte blitzten.Zehn, zwanzig Stellen. Der Globus formte sich,

drehte sich im Blickfeld, und noch andere Stellentauchten auf.

»Es gab keine Energiespuren an diesen Stellen«,murmelte Duncan. Niun verstärkte den Druck seinerHand, mahnte ihn zum Schweigen.

Melein drehte sich zu ihnen um und wies sie mitgeöffneten Händen fort. »Geht! Wartet unten!«

Vielleicht war es wegen Duncan; aber es war eherwahrscheinlich, daß jetzt Sen-Angelegenheiten be-gannen, die das Kel nichts angingen.

Das Volk hatte überlebt.Melein würde es führen; es fiel Niun plötzlich ein,

daß er all das Geschick brauchen würde, das ihn sei-ne Meister gelehrt hatten – daß er als erstes, nachdemdas Volk gefunden war, würde töten müssen; unddas war bitterer, als das Töten je zuvor für ihn gewe-sen war.

»Komm!« sagte er zu Duncan. Er beugte sich herab,um das Pan'en selbst in die Arme zu nehmen, ver-traute ihre Sicherheit jetzt der Stadt an, die Meleingehorchte.

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»Nein«, sagte Melein. »Laß es hier!«Er gehorchte, führte Duncan hinaus und wieder

hinab, wo sie ihre anderen Sachen gelassen hatten;und dort bereiteten sie sich darauf vor, zu warten.

Die Nacht senkte sich auf sie herab. Nichts regte sichim Sen-Turm. Niun saß da und sorgte sich über Me-leins langes Schweigen, und Duncan wagte es nicht,ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Einmal überließNiun ruhelos dem Menschen das Wachehalten undstieg zur Kel-Halle hinauf. Dort war nur Leere; derRaum war ungeheuer viel größer als die erdwandigeKel-Halle, die er zuvor gekannt hatte. An die Wändewaren Bilder gemalt, Karten, vom Alter verblaßt, undsie zeigten eine Welt, die zu bestehen aufgehört hatte.Der Anblick bedrückte ihn.

Er verließ diesen Ort wieder, fürchtete um Duncan,allein in der Haupthalle, machte sich die gewundeneRampe hinab auf den Weg. Ein zwitscherndes me-chanisches Ding stürzte hinter ihm hervor... er wir-belte herum und griff zur Pistole, aber es war nur einAutomat, ein Reinigungsgerät, wie es auch die Regulbenutzten. Es beantwortete die Frage, was das Ge-bäude sauberhielt und die Reparaturen durchführte,die die alten Maschinen in Gang hielten.

Er zuckte die Achseln, ein halbes Schaudern, undging zu Duncan hinunter – überraschte den Men-schen, der sich dann wieder zurücklehnte, beküm-mert und erleichtert zugleich.

»Ich wünschte, die Dusei kämen zurück«, meinteDuncan.

»Ja«, stimmte Niun zu. Ohne die Tiere waren sieeingeschränkt. Sie wagten es nicht, die äußere Tür

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unbewacht zu lassen. Er blickte in diese Richtung, inder nur die Nacht wartete, und fing dann an, ihreBündel zu durchsuchen. »Ich möchte der She'pan et-was zu essen hinaufbringen. Ich denke nicht, daß wirheute nacht weitergehen. Und achte darauf, es treibensich hier einige kleine Maschinen herum! Ich halte siefür harmlos. Beschädige keine!«

»Mir fällt ein«, sagte Duncan ruhig, »daß An-ehongefährlich sein könnte, wenn sie wollte.«

»Das denke ich auch.«»Sie sagte... daß sie dem Schiff erlaubt hat zu lan-

den. Das bedeutet, daß sie es hätte verhindern kön-nen.«

Niun holte langsam Luft und ließ sie wieder fah-ren, nahm ein Essenspäckchen und eine Flasche,während Duncans Worte an ihm nagten. Der Menschhatte es gut gelernt, seine Gedanken nicht auf demGesicht zu zeigen; er konnte es nicht mehr mit abso-luter Sicherheit lesen. Die Implikationen bestürztenihn; es war nicht die Landung ihres eigenen Schiffes,an die Duncan dachte.

Andere.Die Menschen, die kommen würden.Einen solchen Gedanken teilte Duncan ihm mit.Er stand auf und ging, ohne zurückzublicken, stieg

den Weg zur Sen-Halle hinauf, während Gedankenan Verrat in ihm wühlten; und doch nicht Verrat,wenn Duncan zu Melein stand.

Was war dieser Mensch wirklich?Vorsichtig betrat er die äußere Halle des Sen, rief

laut, denn die Tür stand offen; er konnte die Stimmeder Maschine hören, die seine Worte vielleicht über-tönte.

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Aber Melein kam. Ihre Augen waren umschattetund hatten einen benommenen Blick. Ihre Müdigkeiterschreckte ihn.

»Ich habe dir etwas zu essen gebracht«, sagte er.Sie ergriff das Angebotene mit den Händen. »Dan-

ke«, sagte sie und wandte sich ab, ging langsam in je-nen Raum zurück. Er zögerte und sah, was er nichtsehen sollte, das offene und mit goldenen Blättern ge-füllte Pan'en... sah, wie pulsierende Lichter Meleinwillkommen hießen, sterbliches Fleisch, das sich mitMaschinen unterhielt, die Städte waren. Sie standdort, und Licht übergoß ihre weißgewandete Gestalt,bis sie blauweiß wie ein Stern flackerte. Das Essen-späckchen entfiel ihrer losen Hand und rollte überden Boden. Die Flasche entglitt ihrer anderen Handund schlug auf dem Boden auf, ohne ein Geräusch zumachen. Sie schien es nicht zu bemerken.

»Melein!« schrie Niun und stürzte vor.Sie drehte sich um, streckte die Hände aus, verbot

es ihm, Panik auf ihrem Gesicht. Blaues Licht brachdurch sein Blickfeld; er warf sich zurück, krachte ge-gen die Tür, halb benommen.

Stimmen hallten, und eine davon war die Meleins.Er rappelte sich auf ein Knie auf, als sie nach ihmlangte und ihn anfaßte. Er kam wieder auf die Füße,obwohl sein Herz immer noch unter dem Schockhämmerte, der durch ihn hindurchgefahren war.

»Alles in Ordnung mit ihm?« fragte An-ehons Stim-me. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte Melein.»Komm weg von hier!« drängte Niun sie. »Komm

mit! Verlaß dieses Ding, zumindest bis zum Morgen!Was ist Zeit für diese Maschine? Komm weg von ihr

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und ruh dich aus!«»Ich werde hier essen und schlafen«, sagte sie. Ihre

Hände liebkosten seinen Arm, ließen los, als sie vonihm zurücktrat und sich in den Raum mit der Ma-schine zurückzog. »Versuche nicht, hereinzukom-men!«

»Ich fürchte dieses Ding.«»Es soll gefürchtet werden«, nahm sie sich Zeit zu

sagen, und ihre Augen drückten eine unbeschreibli-che Müdigkeit aus. »Wir sind nicht allein. Wir sindnicht allein, Niun. Wir werden das Volk finden. Achteauf dich selbst, Kel'en der She'pan!«

»Wo werden wir sie finden und wann, She'pan?Weiß es die Maschine?«

»Es hat Kriege gegeben; das Volk ist zusammenge-schmolzen, und Mri haben gegeneinander gekämpft.Die Meere sind ausgetrocknet; auf der Suche nachWasser wurden die Städte verlassen. Nur Maschinensind hier geblieben: An-ehon sagt, daß sie She'paneilehrt, wenn sie herkommen, um von ihr zu lernen.Geh hinaus! Ich weiß noch nicht alles. Und ich muß.Die Maschine lernt auch von mir; sie wird das Wissenmit allen Städten des Volkes teilen und vielleichtauch mit der Einen, die sie die Lebende Stadt nennt.Ich weiß es nicht, ich begreife noch nicht, welches dieVerbindung zwischen den Städten ist. Aber ich habeAn-ehon in der Hand. Sie hört auf mich, und durchsie werde ich Kutath in die Hand bekommen.«

»Ich bin die Hand der She'pan«, sagte er, betäubtdurch die Tollkühnheit ihrer Vision.

»Schau nach Duncan!«»Ja«, sagte er, folgte ihrer Geste der Entlassung und

ging. Er spürte in seinen Knochen noch den Schmerz,

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den die Waffe der Maschine hinterlassen hatte. Auchwar er immer noch benommen, und vieles von dem,was Melein gesagt hatte, wanderte durch sein Be-wußtsein, ohne daß er es hätte halten können... er be-griff nur, daß Melein vorhatte zu kämpfen und sieihn demzufolge brauchen würde.

A'ani. Herausforderung. She'panei teilten nicht. DieShe'pan überlebte, der der geschickteste Kel'en dien-te.

Melein bereitete sich vor.Schweigend kehrte er in die untere Halle zurück,

kauerte sich in einer Ecke zusammen und massiertesich die schmerzenden Arme, dachte besorgt daran,daß es zum Töten kommen würde.

»Geht es ihr gut?« drang Duncan unwillkommen insein Schweigen ein.

»Sie will dort nicht weg. Sie spricht mit ihr, mit ih-nen Sie spricht von Kriegen, Kel Duncan.«

»Ist das ungewöhnlich für das Volk?«Niun betrachtete ihn, wollte wütend sein und er-

kannte, daß es nur um die falschen Worte ging.»Kriege. Mri-Kriege. Kriege ohne Fernwaffen.« Ergriff zu dem verbotenen Mu'ara, und daraufhinschien Duncan ihn zu verstehen und schwieg sofortwieder.

»Ich wünschte, die Dusei kämen«, erklärte Niunplötzlich, zwang seine Gedanken weg von den ebenbesprochenen Aussichten; und in seiner Ruhelosig-keit ging er zum Tor und wagte es, die Tiere zu rufen,stieß diesen rhythmischen Ruf aus, der manchmal –aber nur manchmal – die Tiere herbeilockte.

Diesmal klappte es nicht. In dieser Nacht gab eskeine Antwort, und in der nächsten auch nicht.

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Aber in der dritten, als Melein immer noch im Sen-Turm war und sich die beiden Männer unten in ihrerIsolation quälten, ertönte ein vertrautes Schnaufenund Klauenklappern auf den äußeren Stufen, und eserfolgte der eigentümliche Druck auf die Sinne, derdie Dusei ankündigte.

Es war die erste Nacht, in der sie beide wagten, tiefzu schlafen, in der Wärme ihrer Tiere und sich dessensicher, daß sie gewarnt würden, sofern eine Gefahrauftrat.

Es war Melein, die kam; mit einem Händeklatschenschreckte sie sowohl die Männer als auch die Tiereauf, die entsetzt darüber waren, daß jemand sie imSchlaf überrascht hatte, auch wenn es einer der ihrenwar.

»Kommt!« sagte sie und fügte hinzu, sobald beideauf den Füßen standen und bereit waren, ihren Be-fehlen zu folgen: »Das Volk ist nahe. An-ehon hat einSignalfeuer für sie angezündet. Sie kommen.«

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20

Der Sturm der vergangenen Tage hatte Sandaufhäu-fungen in der Stadt hinterlassen, hohe Dünen, derenFormen in dem Licht, das über den Platz zuckte, ei-nen unwirklichen Eindruck machten.

Duncan blickte zurück zu dessen Quelle, ein Si-gnalfeuer von der Spitze des Edun, das unter demimmer noch dunklen Himmel gewaltig blitzte und je-den herbeirief, der in Sichtweite der Stadt seinmochte. Und das Volk würde diesem Ruf folgen.

Sie nahmen nichts mit sich: das Pan'en, der Schlit-ten, alles was sie besaßen, ließen sie im Edun zurück.Wenn alles gut verlief, würden sie zurückkehren;wenn nicht, würden sie es nicht mehr brauchen. Esgab, vermutete Niun, obwohl er nicht übermäßigüber ihre Chancen gesprochen hatte, keine Frage derFlucht, was auch immer geschah.

Die Dusei waren beunruhigt, und das um so mehr,je näher sie den Grenzen der Stadt kamen. Niunscheuchte sie mit einem scharfen Befehl; dies warkeine Situation für Dus-Gefühle. Die Tiere verließensie und verschwanden rasch in der Dunkelheit undden Ruinen.

»Sollte ich nicht auch gehen?« fragte Duncan.Beide Mri blickten ihn an. »Nein«, sagte Niun.

»Nein«, wiederholte Melein. Es schien ihm, als ob dasAngebot sie beleidigte.

Und in der Dämmerung tauchte auf einem Dünen-kamm gegenüber der Stadt eine schwarze Linie auf.

Kel'ein.Das-Gesicht-das-nach-außen-gewandt-ist.

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»Shon'ai«, sagte Niun ruhig. Shon'ai sa'jiran, dieWendung ist genommen. Der Wurf ist gemacht – esgab kein Zurück mehr. »She'pan, willst du wartenoder kommst du mit?«

»Ich werde mit dir gehen – für den Fall, daß es aufder anderen Seite einen überängstlichen Kel'en gibt.Noch gibt es She'panei. Wir werden sehen, ob dasGesetz noch respektiert wird.«

Und im ersten Licht Na'i'ns kam die schwarze Linienäher, eine einzelne Reihe. Sie drei gingen den ande-ren entgegen, und keine Worte wurden gesprochen.

Die Reihe hielt an, und zwei Kel'ein lösten sich ausihr und traten vor.

Melein blieb stehen. »Komm!« sagte Niun zu Dun-can.

Sie gingen ohne sie. »Sprich nichts«, sagte Niun,»und bleib an meiner Linken!«

Und kaum in Rufweite blieben die fremden Kel'einstehen und grüßten sie. Es war Mu'ara, und außerShe'pan konnte Duncan kein Wort davon verstehen.

»Ist das Hal'ari beim Volk vergessen?« rief Niunzurück.

Die beiden Fremden kamen ein Stück näher undhielten wieder an. Duncan spürte ihre Augen aufihm, auf dem Teil seines Gesichts, den der Schleiernicht verbarg. Sie wußten, daß etwas nicht stimmte;er spürte das in ihrem zu sehr forschenden Blick.

»Was bringst du da?« wollte der Ältere von Niunwissen, und er sprach Hal'ari. »Was ist das, Kel'en?«

Niun sagte nichts.Die Augen des Fremden blickten an Niun vorbei

und kehrten wieder zu ihm zurück. »Dies ist SochilsLand. Wer immer ihr seid, unterrichtet eure She'pan

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darüber und erbittet ihre Gnade, fortgehen zu dürfen.Wir wollen diese Begegnung nicht.«

»Ein Schiff ist auf eurem Land niedergegangen«,sagte Niun.

Auf der anderen Seite herrschte Schweigen. Siewußten vom Schiff und waren beunruhigt. Es be-durfte keiner Dusei, um das in der Luft zu spüren.

»Wir gehören zu Melein s'Intel«, sagte Niun.»Ich bin Hlil s'Sochil«, sagte der Jüngere und schob

die Hand zu einer drohenden Geste hinter den Gür-tel. »Und du, Fremder?«

»Ich bin Daithon Niun s'Intel Zain-Abrin, Kel'anthdes Kel von Melein.«

Hlil nahm sofort eine entspanntere Haltung einund vollführte eine kleine Geste des Respektes. Erund sein älterer Gefährte waren in grobes und ver-blaßtes Schwarz gekleidet, jedoch mit zahlreichenJ'tai geschmückt, Ehrenzeichen, die in der kaltenSonne glitzerten und blinkten. Und die Waffen, diesie trugen, waren Yin'ein, die mitgenommen und ab-genutzt aussahen.

»Ich bin Merai s'Elil Kov-Nelan«, sagte der Ältere.»Daithon und Kel'anth des Kel von Edun An-ehon.Was sollen wir unserer She'pan sagen, Kel'anth?«

»Sagt ihr, dies ist eine Herausforderung!«Für einen Moment herrschte Schweigen. Merais

Augen schweiften zu Duncan, besorgt über eine Ge-genwart, die nicht hierher gehörte; bekümmert,dachte Duncan, über Fragen, die er stellen würde,wenn er könnte. Sie wußten vom Schiff; und MeraisBernsteinaugen zeigten Begreifen.

Aber auf einmal neigte Merai den Kopf und gingzusammen mit Hlil zurück.

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»Sie nehmen in mir etwas wahr, das nicht stimmt«,meinte Duncan.

»Ihre She'pan wird kommen. Die Frage geht jetztan sie. Steh still und falte die Hände hinter dir! Tunichts, zu dem du nicht aufgefordert wirst!«

So standen sie, und der Wind ließ ihre Gewänderleicht flattern und blies feine Sandschleier auf. Nacheiner Weile durchbrachen Schritte die Stille; Meleingesellte sich zu ihnen.

»Ihr Name ist Sochil«, sagte Niun, ohne sich zu ihrumzublicken. »Wir haben ihren Kel'anth über deineAbsichten unterrichtet.«

Sie sagte nichts, sondern wartete.Und in völligem Schweigen kam das Volk, der

Kel'anth an der Spitze, bildeten einen Kreis um sie,Reihe auf Reihe, so daß es keine Rückzugsmöglich-keit mehr gab, hätten sie die Absicht gehabt zu flie-hen. Duncan stand wie seine Gefährten reglos wie einStein, und desgleichen tat das feindliche Kel, und siealle drei spürten die auf sich gerichteten Blicke, dennsicherlich gab es auch in Niun und Melein etwasFremdes: die Feinheit ihrer Kleidung; die Zahen'ein,die sie außer den Yin'ein trugen; die Andersartigkeitihrer Zaidhes, mit den dunklen Plastikvisieren undder sorgfältigen Faltung, während die der anderennur eckige und verschlungene Tücher waren, und de-ren Schleier waren in die Kopftücher verflochten undnicht mit einem Metallband befestigt wie bei Duncan,Niun und Melein. Die Gewändersäume der anderenwaren zerfetzt, die Ärmel durchgescheuert. Ihre Waf-fengriffe bestanden aus Knochen und lackiertem Ge-webe, während die Niuns aus Messing und Gold undChoseide-Umhüllungen bestanden. Duncan hielt so-

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gar seine eigenen Waffen für feiner gearbeitet als diedieser Fremden.

Niun war eine ehrfurchtgebietende Gestalt unterihnen: Duncan kannte den Namen nicht, den sich Ni-un gegeben hatte – Dai-thon glich einem Wort fürSohn und war doch anders; plötzlich jedoch vermu-tete er, daß der Verwandte einer She'pan dieser vomRang her nahekam.

Und da war er, Duncan-ohne-eine-Mutter. Er fingan, sich zu fragen, was aus ihm werden würde – undwas das für ein Gerede über Herausfordern war. Erverfügte nicht über das Geschick. Er konnte nicht dieYin'ein gegen einen dieser anderen ergreifen. Erwußte nicht, was Niun von ihm erwartete.

Tu nichts, zu dem du nicht aufgefordert wirst! Erkannte die Mri gut genug, um Niun wörtlich zunehmen. Leben standen auf dem Spiel.

Goldene Gewänder tauchten hinter den schwarzenauf. Dort stand das Sen, die Gelehrten des Volkes,und sie kamen unverschleiert, alte und junge, Männerund Frauen, denen zum größten Teil die Seta'al fehl-ten, wenn auch einige sie trugen, die blauen Kel-Narben. Das Sen verteilte sich zwischen den Kel'ein,die Arme gefaltet, und wartete.

Aber als Melein vortrat, verschleierten sich dieSen'ein und wandten sich ab. Und durch ihre Mittekam eine alte, weißgewandete Frau.

Sochil, die She'pan. Ihre Gewänder warenschwarzgerändert, während die Meleins völlig weißwaren. Sie trug keine Seta'al, im Gegensatz zu Melein.Sie kam herbei und blieb stehen, Melein gegenüber.

»Ich bin Sochil, She'pan der Ja'anom-Mri. Du bisthier nicht auf deinem eigenen Gebiet, She'pan.«

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»Diese Stadt«, sagte Melein, »ist die Stadt meinerVorfahren. Sie gehört mir.«

»Geh fort von meinem Land! Geh unbehelligt! Diesist neutraler Boden. Niemand kann An-ehon bean-spruchen. Hier kann es keine Herausforderung ge-ben.«

»Ich bin Melein, She'pan des gesamten Volkes; undich bin heimgekehrt, Sochil.«

Sochils Lippen bebten. Ihr Gesicht war von Sonneund Wetter gezeichnet. Ihre Augen begutachtetenMelein, und das Beben der Lippen blieb. »Du bistwahnsinnig. She'pan des Volkes? Du bist mehr alswahnsinnig. Wieviele von uns willst du töten?«

»Das Volk hat die Welt verlassen; und ich bin dieShe'pan aller, die sie verlassen haben, und aller, dieheimgekehrt sind, und all der Städte, die uns ge-schickt haben. Ich fordere dich heraus, Sochil!«

Sochils Augen flatterten, als die Membran dar-überblinzelte, und sie hob die Hände zu einer abweh-renden Geste. »Verflucht sollst du sein!« schrie sie,und sie verschleierte sich und zog sich zwischen ihreSen'ein zurück.

»Du bist herausgefordert«, sagte Melein mit lauterStimme. »Entweder überläßt du mir deine Kinder,She'pan der Ja'anom-Mri, oder ich werde sie mirnehmen.«

Die She'pan zog sich ohne eine Antwort zurück,und ihr Kel bildete eine Mauer, die sie schützte. Nie-mand bewegte sich, niemand sprach. Schmerz krochin verspannte Muskeln hinein. Die windzugewandteKörperseite wurde erst kalt, dann taub.

Und dann kam Kel'anth Merai mit zwei Kel'ein, ei-nem Mann und einer Frau.

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»She'pan«, sagte Merai und vollzog eine Geste desRespekts vor Melein, »ich bin Kel'anth Merai s'ElilKov-Nelan. Die She'pan bietet dir zwei Kel'ein an.«

Melein brachte ihre Arme in eine Haltung, die Er-schrecken und Verachtung ausdrückte. »Will sie han-deln? Dann soll sie mir ihr halbes Volk geben.«

Das Gesicht des Kel'anth verriet nichts, aber diejungen Kel'ein an seiner Seite wirkten entsetzt. »Ichwerde es ihr berichten«, sagte der Kel'anth, riß sichvon ihnen los und zog sich in die schwarzen Reihenzurück, die Sochil beschützten.

»Sie wird nicht annehmen«, sagte Melein voraus,ein Flüstern zu Niun, das beinahe im Wind verloren-ging.

Es wurde eine lange Wartezeit. Endlich machtendie Kel'ein Platz, und Sochil kam zurück. Sie war ver-schleiert und hatte die Hände in die weiten Ärmel ih-rer Gewänder gesteckt.

»Geh weg«, sagte sie dann sanft. »Ich bitte dich,geh weg und laß meine Kinder in Frieden! Was hastdu mit ihnen zu schaffen?«

»Ich sehe, daß sie hauslos sind, She'pan. Ich willihnen ein Haus geben.«

Es entstand eine Pause. Schließlich deutete SochilsArm mit einer umfassenden Bewegung auf das Land.»Ich sehe, daß du machtlos bist, feine She'pan mit deneleganten Gewändern. Ich sehe, daß du kein Landhast, kein Kel, kein Kath, kein Sen. Zwei Kel'ein, sonstnichts. Aber du willst meine Kinder nehmen und ih-nen ein Haus geben.«

»Das werde ich.«»Dies«, sagte Sochil und stach mit dem Finger nach

Duncan, »wird dies zum Volk gezählt, wo du gewe-

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sen bist? Ist das der Lohn für mein Kel, wenn es dei-nen Kel'anth besiegt? Was ist dies, das du uns bringst,gekleidet in die Gewänder eines Kel'en? Laß uns seinGesicht sehen!«

Niuns Hand fuhr warnend zum Gürtel.»Du entwürdigst dich selbst«, sagte Melein. »Und

all das ist gegenstandslos, She'pan. Ich habe dir ge-sagt, was ich will und was ich tun werde. Ich werdedeinem Volk ein Haus geben, entweder dem ganzenoder dem halben, das liegt bei dir. Und ich werdeausziehen und Clan auf Clan übernehmen, bis ich allehabe. Ich bin die She'pan des Volkes, und ich werdedeine Kinder bekommen, die Hälfte jetzt, später alle.Aber wenn du mir die Hälfte überläßt, werde ich sienehmen und die Herausforderung zurückziehen.«

»Das geht nicht. In den Städten der Hochebenengibt es kein Wasser. Fremde She'pan, du bist wahn-sinnig. Du begreifst nicht. Wir können nichts aufbau-en; wir können nicht den Weg der Elee beschreiten.Wir sind dem Land genug, und es ist uns genug. Duwirst uns töten.«

»Frag An-ehon, die dein Lehrer war, Sochil, undlerne, daß es möglich ist.«

»Du träumst. Tochter meiner Vorfahren, duträumst.«

»Nein«, sagte Melein. »Mutter der Ja'anom, du bistein schlechter Traum, den dein Volk träumt, und ichwerde deinen Kindern ein Haus geben.«

»Du wirst sie töten. Ich werde sie dir nicht überlas-sen.«

»Willst du teilen, She'pan, oder willst du heraus-fordern?«

Tränen standen in Sochils Augen, die herabliefen

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und ihren Schleier durchfeuchteten. Sie blickte ängst-lich auf Niun, dann wieder auf Melein. »Er ist sehrjung. Ihr seid beide sehr jung und in seltsamer Gesell-schaft. Die Götter wissen, daß du nicht weißt, was dutust. Wie könnte ich meine Kinder teilen? – She'pan,sie fürchten sich vor dir.«

»Antworte!«Sochils Kopf fuhr zurück. Ihre glitzernden Augen

blinzelten und vergossen Tränen, und sie wandte sichum und schritt davon.

Ihr Volk stand schweigend da. Sie hätten etwas tunkönnen, dachte Duncan, hätten ihr ihre Unterstüt-zung zeigen können. Aber Melein würde sie bean-spruchen, und sie würden nur dann Sochils Volkbleiben, wenn diese die Herausforderung erwiderte.

Sochil blieb zwischen den Reihen ihres Kel stehenund drehte sich plötzlich um. »A'ani!« schrie sie. Daswar die Herausforderung.

Melein wandte sich Niun zu, und bedächtig legteer den Gürtel mit den Zahen'ein ab und überreichteDuncan die modernen Waffen. Dann verbeugte ersich vor Melein, drehte sich um und trat vor.

Desgleichen tat Merai s'Elil.Duncan stand still, spürte das Gewicht des Gürtels

in den Händen. Melein faßte ihn am Ärmel. »KelDuncan, du verstehst... du darfst dich nicht einmi-schen!«

Und sie verschleierte sich und verschwand zwi-schen den feindlichen Kel'ein, und Sochil folgte ihr.Hinter ihnen formte sich der Wall der Kel'ein vonneuem.

Es herrschte Schweigen, abgesehen vom unablässi-gen Pfeifen des Windes.

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In der Mitte des Kreises nahmen Niun und Meraiihre Positionen ein, standen einander in anderthalbfa-cher Fechtdistanz gegenüber. Jeder hob eine Hand-voll Sand hoch und warf sie in den Wind.

Dann fuhren die Av'ein-kel, die großen Schwerter,flüsternd aus den Scheiden.

Ein Schlagabtausch, wobei sie die Positionen wech-selten; die Klingen blitzten und klangen leicht gegen-einander, standen still. Ein zweiter Schlagabtausch,und Kel Merai hielt inne, schien einfach zu vergessen,wo er war – und stürzte. Die Klinge schien ihn garnicht berührt zu haben.

Aber etwas Dunkles breitete sich unter ihm aufdem Sand aus.

Niun beugte sich hinab und hob mit den FingernSand auf, schmierte ihn sich auf die Stirn... fing an,mit einer zweiten Handvoll Sand seine Klinge zu rei-nigen, als gäbe es sonst auf der Welt nichts anderes,als gäbe es um ihn keinen Zuschauerkreis von Frem-den.

Dann straffte er sich, steckte das Av'kel in dieScheide, stand reglos.

Eine Zeitlang war nur das Flattern der Gewänderim Wind zu hören. Dann erhob sich ein Wehklagenvom Volk hinter den Reihen des Kel.

Duncan stand reglos und verloren; er sah und hörtezu, beobachtete das sich Verschieben der Reihen –und Niun verließ ihn. Er war in dem Durcheinandervergessen.

Männer trugen den toten Kel'anth ruhig fort, aufdie Wüste zu. Kurz darauf kamen Kel'ein mit einemweiß umhüllten Bündel, und das erschütterte Dun-cans Vertrauen: Sochil, dachte er in der Hoffnung,

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sich nicht zu täuschen. Wie sie gestorben war, durchwessen Hand, das zu wissen hatte er keine Möglich-keit. Viele Kel'ein begleiteten diesen Leichnam. Ande-re stellten schwarze Zelte auf, errichteten ein Lager.

Die fahle Sonne versank, und der Wind wurde kalt;Duncan stand in der Dämmerung am Rand des La-gers und beobachtete die Rückkehr der Begräbnis-gruppen... setzte sich schließlich auf den Boden, denndie Beine wurden ihm taub und er hatte nicht mehrdie Kraft, in der Kälte und dem Wind zu stehen.

Ein Schnaufen ertönte in seiner Nähe – sie warenleichtfüßig, die Dusei, wenn sie Wert darauf legten.Er spürte sie, und sie kamen und schnupperten anihm, erkannten ihn. Eines wagte sich fort, und er riefes zurück, Niuns Dus. Es kam und ließ sich unbehag-lich neben ihm nieder. Er freute sich darüber, daß sieda waren, fühlte sich bei ihnen weniger einsam undhatte weniger Angst.

Und nach Einbruch der Dunkelheit sah er einenhochgewachsenen Schatten aus dem Lager kommen,sah das Schimmern des Mondlichtes auf bronzenenWaffengriffen und dem Visier des Zaidhe, und er-kannte Niun sogar auf große Entfernung.

Er stand auf. Niun winkte ihm zu kommen, unddie Dusei trotteten hinter ihm her.

Es gab keine Erklärungen, nichts. Die Dusei fingenNiuns Stimmung auf, die immer noch angespanntwar. Sie gingen mit den Tieren in die Mitte des selt-samen Lagers und in das größte Zelt.

Schwarze Gewänder füllten es aus, Köpfe undKörper gleichermaßen von Kel-Tuch umhüllt, ver-schleiert und ausdruckslos. Auf einer Seite des Innen-raumes gab es eine kleine Ansammlung der ältesten

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Goldgewandeten, die unverschleiert waren, und einealte Blaugewandete – die Kath'anth, Älteste des Kath,vermutete Duncan plötzlich.

Und die weiße, unverschleierte Gestalt auf demStuhl am Ende des Zeltes, das war Melein.

Goldene Haut, goldene und membrangeschützteAugen – alle glichen sie einander, und nur die Tiereund er selbst waren hier fremd. Duncan folgte Niunund den Tieren durch den Gang zwischen den Sitz-reihen zu Melein, und sein Herz klopfte in verlorener,vergessener Angst, denn die Dusei nahmen die herr-schende Anspannung in sich auf und warfen sie aufihn zurück, und er verkniff es sich, sie zum Zorn an-schwellen zu lassen. Dies waren keine Feinde, zu-mindest im Augenblick nicht.

Und auch nicht seine Freunde.Die Dusei gingen bis zu Melein, bevor sie sich um-

wandten, während Niun neben ihr seinen Platz ein-nahm und Duncan die beschattete Stelle hinter ihraufsuchte. Die Tiere fingen an, auf und ab zu gehen,auf und ab, beäugten die Menge mit kaum gezügelterFeindseligkeit.

»Yai!« verbot Niun es ihnen. Das kleinere hob sichhalb auf die Hinterbeine und sank langsam wiederherab, kein Spiel diesmal. Die Versammlung wichnicht, aber intensive Wellen der Furcht beherrschtensie. Die Dusei schnaubten, kehrten um und ließensich zwischen Niun und Duncan nieder.

Hlil s'Sochil erhob sich aus der vordersten Reihedes Kel und entschleierte sich. Andere folgten seinemBeispiel. Hlil kam und brachte eine Handvoll kleinergoldener Gegenstände, bot sie Niun an, und dieserentschleierte sich und nahm sie mit einer Verbeugung

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entgegen. Daraufhin lockerte sich die Stimmung derMenge.

J'tai. Ehrenmedaillen – die von Merai. Duncanlauschte, sah zu, wie zwei Kel'e'ein kamen, eine be-jahrte Frau und eine jüngere: beiden gab Niun je einJ'tal – sie waren Verwandte Merais, stolz und grim-mig. Sie berührten Niuns Hände, verneigten sich undgingen, ließen sich wieder zwischen ihren Kamera-den nieder.

Weitere Schleier wurden abgelegt, bis schließlichdas gesamte Kel die Gesichter dem Blick der Mutteraussetzte, die sie genommen hatte.

Duncan behielt seinen an, schämte sich seinerFremdheit in dieser Gemeinschaft, haßte seine Schamgleichzeitig.

Kel'ein kam, neun von ihnen, alte und junge, umMeleins Hand sich an die Stirn zu pressen und ihreNamen zu nennen. Sie bezeichneten sich als Ehemän-ner Sochils.

»Ich nehme euch an«, sagte Melein, nachdem alledie rituelle Begrüßung vollzogen hatten. Und dannstand sie auf und faßte Niun am Arm. »Er ist von ei-ner Geburt mit mir, und er ist der Kel'en der She'panund der Kel'anth ihres Kel. Will ihn jemand heraus-fordern?«

Köpfe senkten sich – es gab keine Herausforde-rung.

Und zu Duncans Entsetzen faßte ihn Melein an derHand und führte ihn nach vorne.

»Niemand ist verschleiert«, flüsterte sie.Er ließ den Schleier fallen, und nicht einmal die

Disziplin des Kel konnte die erschreckten Blicke ver-hindern.

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»Dies ist Kel Duncan, Duncan-ohne-eine-Mutter. Erist ein Freund des Volkes. So lautet mein Wort. Nie-mand wird ihn anrühren.«

Wieder senkten sich die Köpfe, diesmal wenigerbereitwillig. Entlassen zog sich Duncan wieder in denSchatten zurück und stellte sich neben die Dusei.Herausforderung: wenn es eine geben sollte, mußteNiun sie erwidern, würde Niun darauf antworten.Duncan war nicht fähig, sich unter Mri um seine ei-gene Verteidigung zu kümmern, Duncan-ohne-eine-Mutter, der Mann ohne Ursprung.

»Und hört mir jetzt zu«, sagte Melein sanft undsetzte sich wieder auf den Stuhl, das einzige Möbel-stück im Zelt. »Hört mir zu, und ich werde eine Dun-kelheit dem Verständnis meiner Gefährten öffnen!Sagt mir, woran ihr euch erinnert! Dies sind die Din-ge, die ich weiß:

Daß diese Welt die Mri hervorgebracht hat und dieElee und Surai und Kalath; und während die Jahreverstrichen, nahmen die Elee die Surai und Kalath insich auf, und die Mri lebten im Schatten der Elee...

Seitdem An-ehon besteht, teilten sich Elee und Mridieselben Städte...

Die Elee errichteten und die Mri verteidigten...Die Sonne starb, und der Wohlstand schwand, und

die Schiffe verließen die Welt. Sie waren langsam,diese Schiffe, aber mit ihnen nahmen die Mri Weltenein. Dort gab es Wohlstand...

Und Krieg. Zahen'ein-Kriege. Kriege von Fremden.«»Das stimmt«, sagte das Sen, und das Kel und die

Kath'anth murmelten erstaunt.»Wir hätten das Volk von Kutath zu Meistern ge-

macht. Die Elee wiesen uns zurück. Einige Mri wie-

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sen uns zurück. Wir führten den Krieg weiter. Ob wirgewonnen oder verloren haben, weiß ich nicht. Einigevon uns blieben und einige von uns verließen dieseWelt. Langsame Schiffe und langsame Zeitalter.Manchmal kämpften wir. Achtzigmal und öfter tratenwir in den Dienst von Fremden. Was wir auf unseremHeimweg gesehen haben: Die Spur des Volkes, dashinausging, Ja'anom, ist Verwüstung.

Wir sind heimgekehrt. Wir glaubten, die letzten zusein, und wir sind es nicht. Dreiundachtzig Dunkel-heiten. Dreiundachtzig. Wir sind die einzigen Über-lebenden von all den Millionen, die hinausgingen.«

»Ai«, murmelte das Volk, und in den Augen spie-gelte sich der Kampf ums Begreifen.

Der älteste Sen'en erhob sich daraufhin, ein vomAlter gebeugter Mann. »Wir haben Dunkelheiten ge-kannt. Die, in die ihr hinausgingt, war eine davon.Die, in der wir blieben, war eine andere. Tsi'mri ka-men. Wir fielen ihnen nicht anheim, und sie kehrtennicht zurück. Dann waren wir stark, aber die Kraftschwand. Kein Tsi'mri kam jemals wieder. Und dieStädte starben, und in den letzten Jahren kämpftensogar die Elee gegeneinander. Es war ein Krieg derLastenträger, und ein verheerender Krieg. Wir hattendann eine She'pan, die Gar'ai hieß. Sie führte uns hin-aus in die Berge, wo die Elee nicht leben konnten.Selbst damals leugneten einige vom Volk ihre Sichtund wollten nicht mitkommen, und sie blieben in denElee-Städten und starben, kämpften für Lastenträger.Jetzt sind die Elee im Schwinden begriffen, währendwir stark sind. Das ist so, weil wir nicht festgehaltenwerden können. Wir sind der Wind des Landes,She'pan; wir gehen und wir kommen, und das Land

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genügt uns. Wir bitten dich, führe uns nicht zurück.Es gibt nicht genug Wasser für die Städte. Das Landwill es nicht so haben. Wir werden untergehen, wennwir es verlassen.«

Melein schwieg für eine geraume Weile, ließ dannden Blick über die Versammlung schweifen. »Wirkommen aus einem Land wie diesem. Wir falten nichtunsere Hände und warten auf den Tod. Das ent-spricht nicht dem, was die She'pan meiner Geburtmich lehrte.«

Die Worte trafen wie ein Schlag. Kel'ein richtetensich auf, der Sen'anth sah verwirrt aus, und die Ka-th'anth rang ihre Hände.

»Tsi'mri folgen uns«, sagte Melein. »Sie sind be-waffnet.«

Die Dusei sprangen auf. Duncan beugte sich zu ih-nen herab und schlang die Arme um sie, flüsterte ih-nen etwas zu.

»Was hast du uns gebracht?« schrie der Sen'anth.»Etwas, dem wir uns stellen müssen«, entgegnete

Melein hart, und Körper gefroren in den Haltungen,die sie eingenommen hatten. »Wir sind Mri! Wirwurden angegriffen und herausgefordert, und willdieses Überbleibsel leugnen, daß auch ihr Mri seidund daß ich die She'pan dieses Edun bin und desganzen Volkes?«

»Kel'anth«, hauchte ein alter Kel'en, »bitte um Er-laubnis zu fragen... wer und wann und mit welchenWaffen?«

»Ich gebe die Antwort«, sagte Niun. »Das Volk hateine weitere Chance. Neues Leben. Leben durchquertdiese Wüste aus toten Welten zu uns. Es folgt uns aufder Spur, und es kann ergriffen werden!«

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Duncan hörte es und klammerte die Fäuste um sofester in die lose Haut der Dusei, zitterte beinahe inder Fieberwärme des Zeltes. Sie hatten ihn vergessen.Ihre Augen waren auf Niun gerichtet, auf den frem-den Kel'anth, auf eine She'pan, die ihnen Verspre-chungen machte und sie bedrohte.

Hoffnung.Sie glitzerte in den goldenen Augen des schwarz-

gewandeten Kel, wagte sich schüchtern in die be-rechnenden Gesichter des Sen. Nur die alte Kath'ensah ängstlich aus.

»An-ehon hat mir berichtet«, sagte Melein. »Undich habe in An-ehon und all die mit ihr verbundenenStädte die Summe all dessen gegossen, was das Volkauf seinen Wanderungen erfahren hat. Wir sind be-waffnet, meine Kinder. Wir sind bewaffnet. Wir wa-ren die letzten, mein Kel'anth und ich. Jetzt nichtmehr. Jetzt nicht mehr. Ein letztesmal geht das Kelhinaus, und diesmal nicht, um sich zu verdingen.Diesmal nehmen wir keine Bezahlung. Diesmal zie-hen wir für uns selbst hinaus.«

»Ai-e!« schrie jemand vom Kel, ein Ruf, der die an-deren mitriß und Duncans Herz zusammenkrampfte.Dus-Gefühle überspülten ihn, verwirrt, drohten umseinetwillen, regten sich um Niuns willen.

Mit einem betäubenden Schrei sprangen die Kel'einauf die Füße, und die Sen'ein verschränkten ihre Ar-me und standen ebenfalls auf, unbeugsame Augenleuchteten berechnend. Und als letzte erhob sich dieKath'anth, und Tränen strömten ihr übers Gesicht.

Tränen um die Kinder, dachte Duncan, und auch erverspürte einen Kloß in der Kehle.

»Brecht die Zelte ab!« rief Melein. »Wir werden uns

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eine Zeitlang in der Stadt ausruhen; das zurückholen,was wir dort gelassen haben; uns gegenseitig Fragenstellen. Brecht die Zelte ab!«

Das Zelt begann sich rasch zu leeren; es erhobensich Rufe in der Mu'ara der Ja'anom und übermittel-ten Befehle.

Und Niun stand da und betrachtete die Rücken deranderen, und als Melein in die Nacht hinausgegangenwar, stand Duncan auf und folgte ihr mit Niun, unddie Dusei trotteten hinterher.

Melein verließ sie und trat unter das Sen, und daswar kein Ort für Kel'ein. Duncan stand zitternd imkalten Wind, und schließlich zog Niun ihn hinüber zueiner freien Stelle, wo sie zuschauen konnten, wie dieZelte zusammensanken, wo sie leichter atmen konn-ten.

Die Dusei drängten sich verstört an sie.»Mach dir keine Sorgen um mich!« sagte Niun

plötzlich zu ihm.»Das tue ich nicht.«»Das Töten«, sagte Niun, »war bitter.«Und mit der Mißachtung eines Mri für Möbelstük-

ke ließ er sich auf dem Sand nieder, wo er zuvor ge-standen hatte. Duncan kniete neben ihm nieder undsah zu, wie Niun ein gefaltetes Tuch aus seinen Ge-wändern hervorzog, das die J'tai enthielt, die erdurch Merais Tod gewonnen hatte. Er beobachtete,wie Niun anfing, sie so an den Gürtel zu knoten, da-mit sie an ihren Bändern frei über seinem Gewandhängen konnten.

Komplizierte Knoten. Mri-Knoten. Niuns schlankeFinger webten Muster, die Duncan noch nicht mei-sterte; Bedeutungen, die er noch nicht gelernt hatte;

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Verworrenheiten um der Verworrenheit willen.Er versuchte, nur daran zu denken, seinen Ver-

stand vor dem zu verschließen, was er im Zelt erlebthatte, dem Ruf, der ihm noch in den Ohren klang, vorden Hunderten von erhobenen Stimmen – für die erder Feind war.

Und dann tauchten die Blaugewandeten auf undbrachen das Versammlungszelt ab; die ältesten Jun-gen und Mädchen legten die Zeltstangen um, trugendie Hauptlast der Arbeit, während die Frauen unddie Kinder im mittleren Alter ihnen halfen. Nur diekleinsten Kinder ließen in den Armen ihrer Mütterein Wimmern in dem ganzen Durcheinander ertönen;und die Kleinsten unter denen, die schon laufenkonnten, begannen zwischen den geschäftigen Älte-ren ein Kehrreimspiel – sie begriffen nichts von denVeränderungen, die ihre Welt auf den Kopf gestellthatten.

»Das-Gesicht-das-lächelt«, bezeichnete sie Niun.»Ah, Duncan, es tut gut, das zu sehen.«

Kälte umklammerte Duncan – ein Omen, soschwerwiegend wie die angebliche Sicht derShe'pan... die Kinderstimmen in der Dunkelheit,während das Zelt zusammensank, Gelächter...

Die Türme, die auf Kesrith eingestürzt waren...»Laß mich zurückgehen!« sagte Duncan auf einmal.

»Niun, frag die She'pan! Laß mich jetzt, heute nacht,zum Schiff zurückkehren!«

Der Mri drehte sich um und blickte ihn an – eindurchdringender und fragender Blick. »Angst voruns?«

»Um euch. Um sie.«»Du hast deine Signalgeber zurückgelassen. Die

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She'pan hat bereits gesagt, daß das reicht. Sie hat dirihre Entscheidung in dieser Sache bekanntgegeben.Wenn du zurückgehst, werden die anderen dich wie-der holen, und das werden wir nicht zulassen.«

»Bin ich ein Gefangener?«Niuns Augen blinzelten. »Du bist Kel'en dieses Kel,

und wir geben dich nicht her. Möchtest du zurückge-hen?«

Für einen Moment konnte Duncan nicht antworten.Die Kinder riefen und lachten laut, und er schrecktedarunter zusammen. »Ich bin von diesem Kel«, sagteer schließlich. »Und dort könnte ich ihm am bestendienen.«

»Es liegt bei der She'pan, das zu entscheiden, undsie hat bereits entschieden. Wenn sie dich zu schickenwünscht, dann wird sie es tun.«

»Das wäre besser. Hier bin ich nicht erwünscht.Und dort könnte ich von Nutzen sein.«

»Ich würde selbst einen Tod erleiden, wenn du zuSchaden kämst. Bleib in meiner Nähe. Kein Kel'en,der die Seta'al errungen hat, würde dich herausfor-dern, aber die Narbenlosen könnten es... jedoch wirdsich kein Narbenloser mir gegenüber eine Übertre-tung leisten. Verbanne solche Gedanken aus deinemBewußtsein. Dein Platz ist hier, nicht dort!«

»Es ist nicht, weil ich von denen weglaufen will,die ich frage. Es liegt an dem, was ich höre. Weil ihrnicht von allem, was ihr gesehen habt, auch gelernthabt. Tote Welten, Niun.«

»Sov-kela«, sagte Niun, und seine Stimme klangscharf, »hüte dich!«

»Ihr bereitet euch auf einen Kampf vor.«»Wir sind Mri.«

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Das Tier neben ihm regte sich. Duncan hielt sich anihm fest, das Blut hämmerte ihm in den Ohren. »DasÜberleben der Rasse.«

»Ja«, sagte Niun.»Für das würdest du – was tun, Niun?«»Alles.«Für lange Zeit herrschte Schweigen.»Wirst du«, fragte Niun, »darum ersuchen, zu ih-

nen zurückzukehren?«»Ich gehorche den Befehlen der She'pan«, sagte

Duncan schließlich. »Bei meiner eigenen Rasse kannich nicht noch mehr verdammt werden, als ich bereitsbin. Höre nur manchmal auf mich! Ist es Rache, wasihr möchtet?«

Der Mri blähte die Nasenflügel und atmete schnell.Die langgliedrigen Hände fuhren merkwürdig ele-gant über die Samthaut des Dus. »Das Überleben derRasse. Das Volk sammeln und eine Heimatwelt ha-ben. Mri sein.«

Er hatte seine Antwort. Der Mensch in ihm würdees nicht verstehen, aber das Kel-Gesetz tat es... dieSumme all dessen sein, was Mri je gewesen waren –und das bedeutete, durch nichts gebunden zu sein.

Keine Abkommen, keine Bedingungen, keine Ver-sprechungen.

Und wenn es den Mri gefiel zuzuschlagen, dannwürden sie es tun, aus Mri-Gründen.

Im Hal'ari gab es vier Worte für Frieden. EinmalAi'a, was Frieden mit sich selbst bedeutete und einenfesten Platz zu haben. Dann An'edi der Frieden desHauses, der auf der She'pan beruhte; und dann Ku-ta'i, die Stille der Natur; und schließlich Sa'ahan, derFrieden der Stärke.

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Vertragsfrieden war ein Mu'ara-Wort, und dasMu'ara lag in der Vergangenheit, mit den Regul, dieihn gebrochen hatten.

Melein hatte der Macht wegen getötet und würdeweiterhin töten, um das Volk zu einigen.

Sie würde die Elee, ihre früheren Verbündeten,einverleiben.

Würde ganz Kutath einnehmen.Wir werden Schiffe haben, konnte Duncan sie in sei-

nem Herzen sagen hören.Und sie kannten den Weg nach Arain, zu den Ge-

bieten der Menschen und Regul.Es war nicht Rache, die sie suchten, nichts derart

Menschliches, sondern Frieden – Sa'ahan-Frieden, denes nur in einem Mri-Universum geben konnte.

Kein Kompromiß.»Komm!« sagte Niun. »Sie sind fast fertig. Wir bre-

chen jetzt auf!«

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21

Murmelnde Stimmen erfüllten das Haus, die von Er-wachsenen und die von Kindern. Die Angehörigendes Volkes blickten sich um, von Neugier erfülltdurch diesen Ort, den seit so vielen Hunderten vonJahren nur Sen'ein gesehen hatten... bewunderten dieLampen und die Energie, die sie speiste – stauntenaber keineswegs darüber, da sie Mri waren. DieKräfte waren da; sie standen zur Benutzung zur Ver-fügung. Viele Dinge waren nicht zum Begreifendurch Kath oder Kel bestimmt, aber zur Nutzung mitErlaubnis.

Und der Schrein enthielt wieder Licht: mit den ei-genen Händen zündete Melein die Lampen an, unddas Pan'en wurde gebracht und hinter den korro-dierten Schirmen abgesetzt, um nur dann transpor-tiert zu werden, wenn das Volk selbst zog, um durchdie Angehörigen des Hauses verehrt zu werden, so-lange sie blieben. Gesänge wurden gesprochen, dasShon'jir der Mri, die von Kutath hinausgegangen wa-ren; und das An'jir der Mri, die auf der Heimatweltgeblieben waren.

Wir sind die, die nicht hinausgingen:Landbegeher, Himmelsseher;

Wir sind die, die nicht hinausgingen:Weltbewahrer, Glaubenshüter;

Wir sind die, die nicht hinausgingen:und schön ist unser Morgen;

Wir sind die, die nicht hinausgingen:und schön ist uns're Nacht.

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Die rhythmischen Worte gingen in der Luft um: dielange Nacht, dachte Duncan, neben Niun stehend...ein Volk, das auf dem sterbenden Kutath sein Endeerwartet hatte.

Bis Melein kam.Die Gesänge versanken im Schweigen; die Halle

war still; das Volk ging seiner Wege.Da war die Kel-Halle.Einen langen, spiralförmig verlaufenden Weg hin-

auf, zu einer schattigen Halle, die plötzlich in Lichtgetaucht wurde... das Kel breitete Teppiche aus, dieden Boden ihrer Zelte gebildet hatten und noch san-dig waren: die Reiniger glitten in der Vorhalle herum,hielten sich jedoch vom Kel fern.

Das Kel ließ sich in seinem Kreis nieder. Damit warin der Zurückgezogenheit der Halle die Zeit für Neu-gier gekommen. Augen wanderten über Niun, überdie Dusei, und größtenteils über Duncan.

»Er wird willkommen geheißen«, sagte Niunplötzlich und rauh, beantwortete ungesprochene Fra-gen.

Es gab finstere Blicke, aber keine Worte. Duncanließ die Augen über den Kreis schweifen, begegnetegoldenen Augen, die seinen Blick erwiderten undihm nicht auswichen – Blicke ohne Liebe, ohne Ver-trauen, aber auch – dachte er – ohne Haß. Einem nachdem anderen blickte er so in die Augen, ließ sich aus-giebig betrachten; und er hätte fast auch das Zaidheabgenommen, um ihnen den Rest seiner Fremdartig-keit zu zeigen. Aber dergleichen war entwürdigendund, wenn im Zorn angeboten, auch beleidigend, einTadel ihnen gegenüber. Sie konnten es nicht erwar-ten; es wäre die Tiefe jeder Kränkung gewesen.

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Eine Tasse wurde gereicht, erst Niun und dannDuncan: Wasser der blauen Stengelpflanze in einerMessingtasse Duncan befeuchtete seine Lippen undreichte das Gefäß an Hlil weiter, der nach ihm kam.Hlil zögerte nur einen winzigen Augenblick lang, alsob man von ihm erwartete, nach den Dusei zu trin-ken; doch dann hob er die Tasse an die Lippen undreichte sie weiter.

Einer nach dem anderen tranken sie in Frieden,auch die Kel'e'ein, die beiden mit Merai verwandtgewesenen Frauen. Es gab keine Zurückweisung.

Dann legte Niun sein Langschwert in DuncansSchoß, und in einer merkwürdigen und ausgearbei-teten Zeremonie zogen alle Kel'ein gleichermaßen,und die Av'ein-kel – auch Duncans – wurden vonMann zu Frau durch den ganzen Kreis weitergege-ben, bis jeder wieder sein eigenes in der Hand hielt.

Dann sprach jeder, einer nach dem anderen, seinenNamen voll aus. Einige trugen Namen von beidenEltern, manche hatten nur den Sochils. Und Duncannannte mit zu Boden gerichtetem Blick den seinen,Duncan-ohne-eine-Mutter, und fühlte sich seltsamverloren unter diesen Wesen, die wußten, wer sie wa-ren.

»Das Kel-Ritual«, sagte Niun, nachdem sie damitfertig waren, »ist immer noch dasselbe.«

Es gefiel ihnen vielleicht zu wissen, daß dem sowar; es gab Gesten der Zustimmung.

»Ihr werdet uns«, sagte Niun, »das Mu'ara derHeimatwelt lehren.«

»Aye«, sagte Hlil bereitwillig.Es herrschte langes Schweigen.»Einen Teil des Rituals, wie ich es kenne«, sagte

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Niun, »höre ich nicht.«Hlil biß sich auf die Lippe... ein Mann mit Narben

eher denn Seta'al, Hlil s'Sochil, grobgesichtig für ei-nen Mri, die schlank waren und feinknochig. »UnserKath... unser Kath hat Angst vor diesem...« Hlil hieltkurz vor dem Tsi'mri inne und richtete den Blick vollauf Duncan.

»Möchtest du«, fragte Niun mit harter Stimme, »ei-ne formelle Erklärung dazu abgeben?«

»Wir sind beunruhigt«, sagte Hlil und blickte zuBoden.

»Wir.«»Kel'anth«, sagte Hlil leise, »es ist dein Recht, und

seines.«»Nein«, sagte Duncan ruhig, aber Niun gab vor, es

nicht zu hören, sondern sah sich um und wartete.»Das Kath wird euch willkommen heißen«, sagte

eine der alten Kel'e'ein.»Das Kath wird euch willkommen heißen«, wie-

derholten daraufhin die anderen, und zuletzt Hlil.»So«, sagte Niun und erhob sich – wartete auf

Duncan, während die anderen sitzenblieben, undDuncan vermied es, ihren Blicken zu begegnen.

Die Dusei wollten mitkommen, aber Niun verbot esihnen.

Und sie beide verließen als einzige die Kel-Halleund gingen die Rampe hinab. Es war spät im letztenTeil der Nacht. Duncan fror, und ihm graute vor derBegegnung, zu der sie gingen: das Kath, die Frauenund Kinder des Hauses, und vielleicht – so hoffte er –nur Zeremonie und Ritual, in dem er ruhig und un-bemerkt bleiben konnte.

Sie stiegen den Kath-Turm hinauf; die Kath'anth

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empfing sie an der Tür. Schweigend führte sie siehinein, wo erschöpfte Kinder auf Matten und Teppi-chen ausgestreckt lagen, ebenso einige der Älteren,männlich und weiblich, die schlaflos durch die Auf-regungen der Nacht aus den Schatten heraus auf Ni-un und Duncan starrten.

Sie kamen an eine Tür zu einer engen Kammer.»Geh hinein!« sagte die Kath'anth zu Duncan; er tates und fand den Raum nur mit Teppichen und sonstnichts ausgestattet. Die Tür ging zu; Niun und dieKath'anth hatten ihn hier zurückgelassen, in dieserdurch eine Öllampe nur matt erleuchteten Kammer.

Also ließ er sich in einer Ecke nieder, furchtsam zu-erst, und wurde sich schließlich dessen bewußt, daßer fror und schläfrig war, und daß die Kath'ein ihnvielleicht verabscheuten und überhaupt nicht kom-men würden. Es war ein bitterer Gedanke, aber im-mer noch besser als die Schwierigkeiten, die er vor-hersah. Er wollte nur alleingelassen werden, vielleichtbis zum Ende der Nacht schlafen und danach nichtbefragt werden.

Und die Tür ging auf.Eine Blaugewandete kam herein und trug ein klei-

nes Tablett mit Essen und Getränken; die Tür schloßsich ohne ihr Zutun, und sie brachte Duncan das Ta-blett, kniete nieder, um es vor ihm abzusetzen, wobeidie Tassen laut klapperten. Sie trug keinen Schleier,auch nicht auf ihrer Mähne; sie war etwa so alt wie er,und nach dem, was er im Lampenlicht von ihrem ge-senkten Gesicht sehen konnte, war sie entzückend.

Durch ein Blinzeln verschüttete Tränen rollten anihren Wangen herab.

»Hat man dich gezwungen zu kommen?« fragte er.

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»Nein, Kel'en.« Sie hob das Gesicht, und so freund-lich es auch war, zeigte es doch hartnäckigen Stolz.»Ich bin an der Reihe und habe es nicht abgelehnt.«

Er dachte daran, sich mit ihr zu beschäftigen, unddie Kälte blieb in ihm. »Es wäre bitter. Würde es dasKath kränken, wenn wir nur hier sitzen und uns un-terhalten?«

Goldene Augen musterten durch schimmerndeTränen sein Gesicht. Die Membran blinzelte undklärte sie.

»Wäre es eine Kränkung?« fragte er wieder.Stolz. Mri-Ehre. Er sah den Widerstreit in ihren

Augen, die ebenso Kränkung argwöhnten wieFreundlichkeit. Er hatte diesen Argwohn oft genug inNiuns Augen gesehen.

»Nein«, beruhigte sie und glättete ihre Kleider, undeinen Moment später legte sie den Kopf schräg undstraffte das Kinn. »Trotzdem wird mein Sohn dichVater nennen.«

»Ich verstehe nicht.«Sie sah ebenso verwirrt aus wie er. »Ich meine – ich

werde nicht bekanntmachen, was du wünschst. DerName meines Sohnes ist Ka'aros, und er ist fünf Jahrealt. Es ist eine Höflichkeit, verstehst du nicht?«

»Sind wir – für immer zusammen?«Sich selbst zum Trotz lachte sie laut auf, und ihr

Lachen war freundlich und die Berührung ihrerHand auf seiner angenehm. »Kel'en, Kel'en... nein.Mein Sohn hat dreiundzwanzig Väter.« Ihr Gesichtwurde wieder sachlich und doch sehnsüchtig. »Ichwerde es dir zumindest gemütlich machen. Willst duschlafen, Kel'en?«

Er nickte nach Mri-Art, war verblüfft und müde

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und fand dieses Angebot als am wenigsten mühselig.Ihre freundlichen Finger nahmen ihm sanft das Zaidheab, und sie starrte erschrocken auf seine Haare – ob-wohl er sie nach Mri-Art schulterlang hatte wachsenlassen, war es doch nicht die struppige, bronzeneMähne ihrer Rasse. Sie faßte das Haar an, ungehin-dert durch den Formalismus der Kel-Kaste, zupfte aneiner Locke, entdeckte die Form seiner Ohren undstaunte darüber.

Und von dem zugedeckten Holzteller auf dem Ta-blett nahm sie ein wohlriechendes, feuchtes Tuch undreinigte damit äußerst sorgfältig sein Gesicht und sei-ne Hände – es war eine Linderung für Sand- undSonnenbrände; und als sie darauf beharrte, lockerte erseine Gewänder und legte sich nieder, benutzte ihreKnie als Kopfkissen. Sie breitete seine Gewänder überihm aus und liebkoste sanft seine Stirn, so daß er sichals er Welt entrückt vorkam und es ihm leichtfiel, sichzu entspannen.

Er wollte es jedoch nicht: Verrat und Mord kamenihm in den Sinn – er mühte sich, wachzubleiben, seinMißtrauen nicht zu zeigen, und trotzdem nicht dasBewußtsein dessen zu verlieren, was geschah.

Er entschwebte jedoch für einen Moment und er-wachte sicher wieder in ihren Armen. Er liebkoste ih-ren wiegenden Arm, langsam und schläfrig, bis er ihrin die goldenen Augen sah und sich an sein Verspre-chen erinnerte, sie nicht anzurühren.

Er nahm die Hand weg.Sie beugte sich herab und berührte mit den Lippen

seine Stirn. Das bestürzte ihn.»Wenn ich in einer anderen Nacht wiederkäme«,

sagte er, denn die Zeit war kurz, und es schien plötz-

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lich tausend Dinge zu geben, die er vom Kath wissenwollte – von dieser Kath'en, die so gütig zu einemTsi'mri war, »wenn ich wiederkäme, könnte ich nachdir fragen?«

»Jeder Kel'en darf fragen.«»Darf ich fragen?«Da begriff sie und sah verlegen aus und beküm-

mert – und auch er begriff und zwang sich zu einemLächeln.

»Ich werde nicht fragen«, sagte er.»Es wäre schamlos von mir zu sagen, daß du

könntest.«Da war er völlig verwirrt, lag da und starrte zu ihr

auf.Ein weicher, trällernder Ruf erklang irgendwo in

der Kath-Halle.»Es ist Morgen«, sagte sie und machte Anstalten zu

gehen. Sie erhob sich, als er sich aufsetzte, und gingzur Tür.

»Ich kenne deinen Namen nicht«, sagte er im Auf-stehen – eine menschliche Höflichkeit.

»Kel'en, ich heiße Sa'er.«Und sie vollzog eine anmutige Geste des Respekts

und verließ ihn.Da bedauerte er, daß er abgelehnt hatte... bedauerte

mit einem seltsamen Sinn für das Kommende – daßvielleicht in einer anderen Nacht die Dinge anderssein würden.

Sa'er: das ähnelte dem Wort für Morgen – es paßtezu ihr.

Seine Gedanken rangen sich nach Elag/Haven zu-rück, zu rauhen und sorglosen Zeiten, und die Erin-nerung war scheußlich, direkt nach Sa'er.

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Man verletzte, das wußte er von allen Prinzipiendes Kel-Gesetzes, einen Kath'en nicht, weder Kindnoch Frau. Er verspürte in sich eine tiefe Gewißheit,daß er bei dieser Begegnung das Richtige getan hatte.

Und er hatte den wachsenden Glauben daran, daßsie getreu ihren Worten das Vertrauen nicht brechenwürde; sie würde ihn nicht vor anderen klein ma-chen; sie würde das nächstemal nicht mit Tränenkommen, sondern mit einem Lächeln für ihn.

Fröhlich gestimmt durch diese Gedanken, machteer es sich auf den Teppichen bequem und zog sich dieStiefel an, brachte die Gewänder wieder richtig an,befestigte Gürtel und Waffen, die er beiseite gelegthatte. Im Stehen band er sich das Kopftuch um, dasfür den Anstand wesentlicher war als die Gewänder;den Mez jedoch schlang er sich um den Hals und überdie Schulter.

Dann ging er in die Halle hinaus und lief in plötzli-cher Verlegenheit rot an, denn im selben Augenblickstand dort Niun; und er hoffte, daß ihn die Zurück-haltung des Kel vor Fragen bewahrte.

Der Mri, dachte er, sah sehr zufrieden aus.»War es gut bei dir?« fragte Niun.Er nickte.»Komm!« sagte Niun. »Da ist noch eine Höflichkeit

zu erweisen.«Die Kath-Halle wirkte unter der Tagesbeleuchtung

anders. Die Matten waren weggeräumt worden, unddie Kinder tobten bei ihrer Ankunft wie verrücktumher, rannten jedes zu einer Kath'en, und mit er-staunlicher Schnelligkeit bildete sich eine Reihe, diedie beiden Kel'ein zur Tür geleitete.

An erster Stelle stand die Kath'anth, außerhalb der

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Reihe, und sie umfaßte Niuns Hände und lächelte ihnan. »Berichte dem Kel, daß wir die Geräte dieses Ortesnicht begreifen, aber es wird ein Mittagessen geben.«

»Vielleicht könnte ich mit den Geräten helfen«,schlug Duncan vor, als die Kath'anth seine Hände er-griff. Und die Kath'anth lachte, und Niun desglei-chen, und ebenso lachten alle Kath'ein, die es gehörthatten.

»Er oder ich könnten es«, sagte Niun und verbargseine Verlegenheit hinter Würde. »Wir haben vieleFähigkeiten, er und ich.«

»Wenn das Kel sich herabläßt«, sagte die Kath'anth.»Schicke nach uns, wenn wir gebraucht werden!«

sagte Niun.Und sie gingen von ihr zur Reihe der Kath'ein; Ni-

un ging als erster und ergriff ernst die Hände einerKath'en, verneigte sich vor ihr, nahm die Hände ihrerkleinen Tochter und vollzog dasselbe Ritual mit die-ser.

Da begriff Duncan, trat zu Sa'er und tat dasselbe;und er nahm die Hand ihres Sohnes, als der Junge sieihm anbot, Handgelenk an Handgelenk, wie sichMänner gegenseitig anfaßten.

»Er ist Kel Duncan«, sagte Sa'er zu ihrem Sohn,und dann zu Duncan: »Er ist Ka'aros.«

Das Kind starrte ihn mit geweiteten Augen an, inder einem Kind eigenen Ehrlichkeit, und erwiderteDuncans scheues Lächeln nicht. Sa'er gab dem Jungeneinen Stups. »Sir«, sagte er, und die Membran zuckteüber die Augen. Er hatte noch nicht die Mähne einesErwachsenen – seine war kurz und zeigte die Ohren,an den Läppchen mit je einer kleinen Locke ausdurchsichtigem Flaum bedeckt.

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»Guten Tag«, sagte Sa'er und lächelte Duncan an.»Guten Tag«, wünschte er ihr und gesellte sich

wieder zu Niun, der an der Tür wartete. Schweigenherrschte in der Halle. Sie gingen hinaus und hörtendann hinter sich das Murmeln von Stimmen, undwußten, daß dort jetzt Fragen gestellt wurden.

»Ich mag sie«, gestand er Niun; und dann ging ernoch weiter: »Wir haben nicht miteinander...«

Niun zuckte die Achseln und legte sich den Schlei-er an. »Es ist wichtig, daß ein Mann beim Kath einenguten Namen hat. Die Kath'en war mehr als freund-lich beim Abschied. Hättest du sie gekränkt gehabt,dann hätte sie es bekanntgemacht, und das wäre zudeinem ernsten Schaden im Haus gewesen.«

»Ich war überrascht, daß du mich dorthin gebrachthast.«

»Ich hatte keine Wahl. So wird es immer gemacht.Ich konnte dich nicht ins Kel bringen wie eineKel'e'en, ohne diese Nacht.«

Duncan schlug seinen Schleier ein und atmeteleichter in dem Wissen, daß er sich richtig verhaltenhatte. »Du hast dir sicher Sorgen gemacht.«

»Du bist Kel'en. Du hast gelernt zu denken, wie wires tun. Ich bin nicht überrascht, daß du dich für eineNacht der Erholung entschieden hast. Es war weise,und...«, fügte er hinzu, »wenn du einer Kath'en dieKa'islai schickst und sie sie nicht zurücksendet, dannmußt du gehen und sie dir holen.«

»Wird es so gemacht?«Niun lachte leise. »So habe ich gehört. Ich selbst bin

naiv in solchen Dingen.«Sie erreichten die Haupthalle, und Duncan folgte

Niun, als dieser im Schrein seine Morgenandacht ver-

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richtete; er stand dort schweigend und dachte merk-würdigerweise an einen Ort in seiner Kindheit, spürtein einem anderen Bereich seiner Gedanken ein Dus,eingesperrt in der Kel-Halle, das sich ärgerte und un-geduldig war.

Und urplötzlich ertönte die Maschinenstimme An-ehons, die tief und donnernd durch alle Hallen drang,durch Stein und Fleisch:

Alarm... Alarm... ALARM!Duncan stand wie betäubt, als Niun an ihm vorbei-

stürzte. »Bleib hier!« rief Niun ihm zu und eilte zumZugang der Sen-Halle, wo ein Kel'en nichts zu suchenhatte. Duncan hielt mitten im Schritt inne, blicktenach links und rechts, sah weitere Kel'ein den Kel-Turm hinabeilen; und da waren die Kath'ein undMelein selbst, die vom Turm der She'pan herabge-kommen war und fast rennend auf den Sen-Eingangzustrebte, mitten durch die erschreckten Fragen, dieihr zugeworfen wurden.

»Laß mich hinein!« rief Duncan ihr zu, als er sieeinholte, und sie verbot es ihm nicht. Er folgte ihrhinauf in die Sen-Halle, wo alarmierte Sen'ein wieaufgestörte Insekten umherschwirrten, golden umNiuns Schwarz herum, das vor An-ehons flackerndenLichtern stand und ihr Fragen stellte. Als Antwortleuchteten Bildschirme mit einem Anblick auf, denselbst der ungeschlachteste Kel'en begreifen konnte:die Wüste, und ein sterbendes Glühen in einer auf-steigenden Wolke am fernen Horizont.

Das Schiff!Melein bahnte sich ihren Weg zwischen den Sen'ein

hindurch, die sich beiseite drängten, und während siedie Hände auf die Armaturen vor sich legte, waren

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ihre Augen auf die Schirme gerichtet.Duncan versuchte ihr zu folgen, aber die Sen'ein

hielten ihn zurück, versperrten ihm mit den Händenden Weg.

»Der Schlag erfolgte aus dem Raum«, dröhnte An-ehon, während der wahnsinnige Alarm aus einemanderen Kanal toste.

»Schlag zurück!« befahl Melein.»Nein!« schrie Duncan ihr zu. A b e r An-ehons s o

rasch wie ein Flackern erfolgende Reaktion zeigte dasZielmuster des Gegenschlages, der den Orbit durch-schnitt.

Linien blitzten rasch, Perspektiven verschoben sich.»Erfolglos«, dröhnte An-ehon.Und die Armaturen flammten auf, und die Luft

war mit einem Geräusch erfüllt, das tief unterhalb derHörschwelle begann und wie Donner endete. DerBoden und sogar die Fundamente erzitterten.

»Angriff wurde erwidert«, sagte An-ehon. »DieSchirme haben gehalten.«

»Hör auf damit!« brüllte Duncan, stieß Sen'ein grobzur Seite und brach zu Melein durch, blieb stehen, alsNiun selbst ihm den Arm in den Weg streckte. »Hörmir zu! Das da oben wird ein Klasse-Eins-Kriegsschiffsein. Du kannst es nicht vom Boden aus schlagen. Wirhaben jetzt kein Schiff mehr, keine Fluchtmöglichkeit– erwidere das Feuer nicht! Sie können diese Welt inAsche verwandeln. Laß mich mit ihnen sprechen,She'pan!«

Meleins Blick war schrecklich, als sie ihn ansah,enthielt Verdächtigung und Wut... in diesem Augen-blick war er der Fremde und nah davor, Opfer ihresZorns zu werden.

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Wieder kam der Donner. Die Mri hielten sich ihreempfindlichen Ohren, und Melein rief einen weiterenAngriffsbefehl.

»Ziel verschwindet außer Reichweite«, sagte An-ehon, als der Lärm nachließ. »Es wird bald über Zo-hain stehen. Zohain wird angreifen.«

»Ihr könnt dagegen nicht kämpfen!« schrie Duncansie an und packte Niun am Arm, erhielt von dem Mrieinen Blick, der dem Meleins entsprach. »Niun, erklä-re es ihr! Eure Schirme werden auf Dauer nicht hal-ten. Laß mich mit denen da oben reden!«

»Du siehst, was du mit deinem Signal erreichthast«, sagte Niun. »Das ist ihre Antwort auf deinFreundschaftssignal. Das ist ihr Wort dazu.«

»Zohain ist gefallen«, sagte An-ehon. »Die Schirmehaben nicht gehalten. Ich empfange Alarm vonLe'a'haen... ein weiterer Angriff nähert sich dieserZone. Alarm... Alarm... ALARM... ALARM...!«

»Bringt euer Volk raus!« schrie Duncan sie an.Der Schrecken stand in Meleins und Niuns Augen –

der Alptraum wiederholte sich. Der Boden erzitterte.Ein polterndes Krachen ertönte außerhalb des Edun.

»Geht!« schrie Melein. »Die Berge, flieht in die Ber-ge!«

Aber weder sie noch Niun taten das, während dasSen zur Tür stürmte und hinaus, seine Besitztümerund alles zurückließ. Sogar über die Geräusche An-ehons hinweg konnten die Schreie in anderen Teilendes Edun gehört werden.

»Geht hinaus – geht hinaus, ihr beiden!« flehteDuncan. »Wartet auf eine Unterbrechung des An-griffs und flieht hinaus! Laßt mich es mit der Maschi-ne versuchen!«

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Melein kümmerte sich nicht um ihn, sondern wandtesich an Niun. »Kel'anth, führe dein Volk!« Und nochbevor Niun eine Bewegung machen konnte, blicktesie zu den Maschinenbänken, die An-ehon waren.»Kämpfe weiter! Vernichte die Eindringlinge!«

»Diese Stadt hält«, dröhnte die Maschine. »ÄußereAnlagen können ihrer Schirme beraubt werden, umden Edun-Komplex zu schützen. Wenn diese Stadtfällt, gibt es noch weitere. Wir sind dabei, die Vertei-digung zu koordinieren. Wir stehen unter mehrfa-chem Angriff. Wir empfehlen sofortige Evakuierung.Wir empfehlen der She'pan, ihre Person in Sicherheitzu bringen. Die Erhaltung ihrer Person ist von vor-rangiger Bedeutung.«

»Ich gehe«, sagte Melein und fügte zu Duncan ge-wandt hinzu, denn Niun war bereits fort: »Komm,beeil' dich!«

Er stürzte an ihr vorbei zur Konsole. »An-ehon«,sagte er, »gib mir eine Verbindung...«

»Laß es nicht zu!« schrie Melein, und die Maschinegriff an, mit einer Gewalt, die die Luft zum Leuchtenbrachte und Duncan betäubt und kalt zu Bodenschleuderte.

Er sah, wie Meleins Gewänder an ihm vorbeistri-chen; sie rannte, rannte mitten durch die Sen-Halle,während der Boden unter einem erneuten Angriff er-zitterte... er schüttelte sich unter Duncan, der wieder-holt versuchte, die tauben Glieder unter sich zu zie-hen. Der Boden bockte auf.

»Alarm... Alarm... ALARM...!« schrie An-ehon.Duncan rollte mit dem Kopf, drehte sich auf einer

Schulter um und sah, wie einige Bereiche der Bänkedunkel wurden.

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Und wieder schüttelte sich der Boden, und dieLichter begannen matter zu werden.

Dann war eine Zeitlang Ruhe.Duncan konnte schließlich wieder die Beine bewe-

gen, die Arme, kam auf die Füße und taumelte durchdie verwüstete Sen-Halle in den sich zur Haupthallehinabwindenden Korridor. Dort begegnete ihm eingroßer Schatten, sein Dus, das ihn durch Andrückendes Körpers fast umwarf. Dann benutzte er es alsStütze und stolperte an dem Durcheinander in derHalle vorbei und hinaus ins Licht, in die offene Stadt– dort sah er die Toten, alte Sen'ein, Kinder des Kath –einen Kel'en, durch eine eingestürzte Wand zer-malmt.

Er fand Sa'er, eine verkrümmte blaue Gestalt amFuß der Rampe, die goldene Hand um einen Steingeklammert, die Augen geöffnet und das Gesicht mitdem Sand Kutaths eingestaubt.

»Ka'aros!« rief er mit aller Kraft, als ihm ihr Sohneinfiel, doch er erhielt keine Antwort.

Die Spur des Volkes waren Tote – die Alten, dieZerbrechlichen, die Jungen: all das, was freundlichwar, dachte er, alles.

Er hörte ein Geräusch wie Donner, sah auf und er-kannte einen Blitz, einen Lichtfleck – etwas, das inder Atmosphäre operierte. Und während er mit allerKraft rannte, erwartete er den weißen Blitz, der ihntöten würde, als er den geschützten Bereich verließ.

Aber es verschwand hinter dem Horizont. Das Ge-räusch erstarb.

Außerhalb der Stadt, außerhalb der traurigen Zer-störung, erstreckte sich die Reihe der lebenden undgehenden Gestalten. Er beeilte sich, ihnen zu folgen,

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verzweifelt und erschöpft. Das Dus, in dem sich Blut-gefühle regten, begleitete ihn, empfing seinen Zornund seine Angst und warf beides verstärkt zurück.

Endlich hatte er d ie letzten der Marschsäule einge-holt; seine Kehle war trocken, seine Lungen schmerztendurch das Husten. Blut strömte ihm aus der Naseund schmeckte im Mund nach Salz und Kupfer.

»Der Kel'anth?« fragte er. Eine schmaläugigeKel'e'en deutete zur Spitze der Marschsäule. »DieShe'pan?« wollte er wissen. »Ist sie unverletzt?«

»Ja«, sagte jemand, als ob es schon eine Beschmut-zung sei, ihm nur zu antworten.

Er ging weiterhin schneller als die anderen, um dieSpitze der Kolonne zu erreichen, kam an Kel'ein vor-bei, die Kath-Kinder trugen, an Kath'ein, die Säuglin-ge trugen, und an Kel'ein, die die Alten stützten,wenn auch wenig der Alten überlebt hatten.

Sie gingen auf die Berge zu, die ihnen Unterschlupfversprachen, und sie waren dabei auf diesem kahlen,nackten Sand hilflos ausgesetzt. Duncan sah, daß sichdie Marschsäule über eine Bodenwelle hinweg er-streckte, und es schien noch unmöglich weit bis zurSpitze zu sein – bei der Geschwindigkeit, mit der eres versuchte, schien es über seine Kraft zu gehen. Erblieb stehen und schnitt sich ein Stück von einemStengel ab, den schon jemand anders nur als Stummelzurückgelassen hatte – eine Beute, die auch anderesahen, und er bot sie ihnen an, jedoch wollte sich kei-ner dazu herablassen, sie anzufassen. Er überließ ih-nen den Rest, sog das Wasser aus einer abgeschnitte-nen Scheibe und schaffte es, auf den Füßen zu bleibenund in der Mitte der Marschsäule – außerhalb vonihr, denn er spürte den Haß der anderen, die Blicke,

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die das Sen ihm zuwarf.Er hatte sich selbst vor dem Sen verraten; sie wuß-

ten, sie hatten gesehen, wer er war – und woher erkam, das vermuteten sie... Sie konnten nicht denGrund dafür kennen, warum sie angegriffen wurden;aber sie wußten, daß sie Mri waren und die Ein-dringlinge Tsi'mri, und daß sie unter Händen starben,wie er sie hatte.

Sie wurden nicht angegriffen. Duncan war darübernicht erstaunt, denn für ein großes Schiff in einerUmlaufbahn gab es wenig Grund, seine Energien aufein so kleines Ziel zu verschwenden, wie sie es dar-stellten. Aber die Stadt geriet periodisch unter Feuer.Sie konnten zurückschauen und sehen, wie dieSchirme unter dem Ansturm der Strahlung in allenRegenbogenfarben flackerten, und wie die ganzeStadt zunehmend stärker zerstört wurde. Diese Stadt,die sich wie ein Traum vor der untergehenden Sonneabgezeichnet hatte, glühte und starb wie schwelendesFeuer, und die Türme stürzten ein, und die Häßlich-keit breitete sich über sie.

»A-ei«, trauerte eine alte Kath'en. »A-ei.«Und die Kinder wimmerten verstört und wurden

beruhigt.Das Sen schüttelte die Köpfe, und Tränen zeigten

sich auf den Gesichtern der Älteren.Beim Kel gab es keine Tränen, nur brennende, wü-

tende Blicke. Duncan wandte das Gesicht von ihnenab und ging immer weiter, während die anderen sichausruhten, bis er schließlich Meleins weiße Gewändererblickte und den großen Kel'en mit dem Dus nebenihr erkannte.

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Sie waren beide unverletzt; es war gut, das zu wis-sen, und es nahm einen Teil seiner Furcht von ihm. Erbehielt sie für den Rest des Tages im Blickfeld, undals sie schließlich beim Anbruch des Abends lagerten,ging er zu ihnen.

Niun spürte Duncans Anwesenheit. Das Dus kamzuerst, und dann wandte sich Niun um und sah ihnnäherkommen.

Duncan ließ sich in ihrer Nähe schweigend nieder.»Alles in Ordnung mit dir?« fragte ihn Niun.Er nickte.Melein wandte das Gesicht von ihm ab. »Zweifel-

los«, sagte sie endlich, »war deine Absicht gut, Dun-can. Das glaube ich. Aber es wäre nutzlos gewesen.«

»She'pan«, murmelte er mit einer Geste der Vereh-rung, war selbst für diese Worte dankbar; er unterließes, mit ihr zu streiten. Zwischen so vielen Toten hatteStreit keinen Platz.

Niun bot ihm ein Stück von einer Pflanze an. Dun-can zeigte jedoch seines und lehnte ab, und mit demAv'tlen schnitt er ein Stück von seiner Beute ab, das,als er daran saugte, kränklich süß schmeckte. Er hatteeinen Knoten im Bauch, der sich nicht auflösen woll-te.

Ein Schrei erhob sich vom Kel. Hände deuteten.Das, was wie ein dahinschießender Stern aussah, flogüber sie hinweg und senkte sich zum Horizont hinab.

»Sie landen«, brummte Duncan, »dort, wo dasSchiff war. Jetzt wird die Suche beginnen.«

»Laß sie in die Berge kommen und nachschauen«,meinte Niun.

Duncan hielt sich den Bauch mit der Hand und hu-stete, und er wischte sich die Schmerzenstränen aus

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dem Gesicht. Er stellte fest, das er zitterte.Er wußte auch, was getan werden mußte.Er ruhte sich aus. Als es Zeit war, entschuldigte er

sich mit einem gemessenen Achselzucken, mit demein Mann ein privates Geschäft andeutete, stand aufund verließ die anderen; das Dus folgte ihm. Er hatteAngst und versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken,denn das Dus konnte es weitersenden. Vor sich er-blickte er die Wüste; er spürte die Schwäche seinerGlieder und der Schrecken überwältigte ihn beinahe,aber er hatte keine Wahl.

Das Dus sandte plötzlich einen Schutzimpuls ausund drehte sich um.

Er blickte zurück, erkannte das andere Dus.Da war ein schwarzer Schatten ein Stück seitlich

des Tieres. Duncan erstarrte, als ihm einfiel, daß Niungenau wie er ein Gewehr hatte.

Niun kam über den Sand auf ihn zu, eine schwarzeGestalt in der Dunkelheit. Der Wind ließ seine Ge-wänder flattern, der Mond blinkte auf den Messing-griffen der Yin'ein und dem Plastikvisier, ebenso aufden J'tai, die er errungen hatte. Krummzehig und mitgesenktem Kopf ging das große Dus neben ihm her.

»Yai«, beruhigte Duncan sein Tier und ließ es Platznehmen.

Auf Sprechdistanz blieb Niun stehen, die Handwarnend hinter einen Gürtel geschoben. »Du hastdich weit von der Marschsäule entfernt, Sov-kela.«

Duncan wies mit dem Kopf über die Schulter zumHorizont. »Laß mich gehen!«

»Um dich wieder zu ihnen zu gesellen?«»Ich diene der She'pan.«Niun betrachtete ihn lange und eingehend und ließ

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schließlich den Schleier fallen. Duncan tat es ihmgleich und wischte sich über das Blut, das auf denLippen zu trocknen begann.

»Was willst du machen?« fragte Niun.»Sie zum Zuhören bringen.«Niun machte eine hoffnungslose Handbewegung.

»Das ist bereits gescheitert. Du wirfst dich nur selbstweg.«

»Bring das Volk in Sicherheit! Laß mich dies versu-chen! Vertrau mir darin, Niun!«

»Wir werden uns nicht ergeben.«»Das weiß ich. Ich werde es ihnen sagen.«Niun sah an sich hinab. Mit seinen schlanken Fingern

fummelte er an einem der verschiedenen Gürtel. Er lö-ste eines der J'tai, trat zu Duncan und band den Rie-men geduldig mit einem komplizierten Knoten fest.

Duncan betrachtete es, nachdem er fertig war, sahein seltsames und fein gearbeitetes Blatt, eines derdrei J'tai, die Niun von Kesrith hatte.

»Einer meiner Meister hat es mir gegeben, einMann namens Palazi, der es vom Planeten Guragenhatte. Dort wuchsen Bäume.

Es bringt Glück, hat er gesagt. Lebewohl, Duncan.«Er reichte ihm die Hand.Duncan ergriff sie. »Lebwohl, Niun.«Und der Mri wandte sich ab und ging fort, gefolgt

von seinem Dus.Duncan sah zu, wie sie im Schatten verschwanden,

wandte sich dann selbst um und schlug die Richtungein, die er sich zurechtgelegt hatte, und eine Zeitlangsah er Sand und Felsen in seinem Blickfeld verzerrt.Er brachte den Schleier wieder an und war dankbarfür die Wärme des Tieres, das an seiner Seite ging.

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22

Tierbewußtsein, Tiergespür. Es beschützte. Duncaninhalierte vorsichtig die kalte Luft und stolperte,während er einen leichten Abhang hinabging – bei-nahe knickte ihm der Knöchel um: Tod in den Ebe-nen. Er ließ sich das eine Warnung sein und ruhtesich aus, ließ sich auf dem kalten Sand nieder, lehntesich an das Dus und ließ die Müdigkeit aus seinenGelenken fließen. Ein kleines Stück des blaugrünenStengels war noch in der Gürteltasche. Er zog seinAv'tlen und schnitt sich etwas davon ab, kaute daraufherum und spürte, wie die heilende Süße seinerKehle wohltat.

Während der brennenden Tage hatte er erkennenmüssen, daß sein Versuch verrückt war – es war eineverrückte Vorstellung, das Wrack rechtzeitig errei-chen zu können, anzunehmen, daß die Landetruppendort geblieben waren, wo es kein Leben gab.

Er hatte jedoch keine Wahl. Beim Volk war er einNichts und gleichzeitig ein Problem, auf das Niunverzichten konnte, ein Streitpunkt, wegen dem ervielleicht hätte töten müssen. Er war ein Problem fürMelein, die ihn erklären mußte.

Er diente der She'pan. Das stand für ihn jetzt nichtmehr in Frage: wenn er ging und nichts fand, erwiesdas doch nur, daß seine Bemühungen nichts wert wa-ren, wie die von An-ehon nichts gewesen waren – je-mand anders würde dann die Last tragen. DieShe'pan hatte andere Kel'ein.

Er rappelte sich auf und ging weiter, stolperte, alsdas Dus ihn plötzlich zähnefletschend ansprang. Er

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blinzelte in stumpfem Erstaunen, als eine Sandwolkeneben einem Stein emporgeblasen wurde und sichetwas unterhalb des Sandes bewegte; es war nichtwie der flatternde breite Mantel eines Gräbers, son-dern etwas Geschmeidiges und Schmales, das wie einGräber eine kleine Grube schaufelte, einen Trichteraus Sand.

»Yai!« rief er das Dus mit rauher Stimme zurück,als es Anstalten machte, sich daraufzustürzen und esmit seinen langen Giftklauen ans Licht zu zerren. Wasimmer dort war, Duncan kannte weder seine Größenoch seine Gefährlichkeit. Er empfing den Jagdim-puls des Dus, rang ihn mit seiner Willenskraft nieder.Sie umrundeten das Gebiet und kletterten einen na-hen Kamm hinauf. Als er hinabsah, erkannte er, daßdie Gegend mit solch kleinen Gruben übersät war. Siewaren regelmäßig angeordnet, wie Punkte auf kon-zentrischen Kreisen. Sie bildeten eine Anordnung, diegroß genug war, um ein Dus zu umfassen.

»Komm!« forderte er das Tier auf, und sie gingenweiter, wobei das Dus unbefriedigt schnaubte, weil esimmer noch umkehren wollte.

Aber von irgendeiner anderen Gegenwart hatte eskein Anzeichen gegeben. Es gab die Kälte und denWind und das strömende Licht Na'i'ins; es gab ihreeigenen Spuren, die der Wind rasch verwischte, undeinmal – nur ein einzigesmal – eine hochgewachseneschwarze Gestalt auf einem Dünenkamm.

Einer der Kel'ein, ein Läufer des Volkes, vielleichtvon einer anderen Gruppe, der sich in Überheblich-keit sehen ließ. Duncan hatte sich dem ausgesetzt ge-fühlt, an sein mangelndes Geschick mit den Yin'eingedacht... das Unbekannte unter dem Sand er-

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schreckte ihn nicht halb so sehr, wie der Gedanke anein Zusammentreffen mit anderen Mri...

... an ein Zusammentreffen mit einer anderenShe'pan. Es war, dachte er, Furcht von einer Art, wieMri sie verspürten – ein Zögern, aus der Vertrautheitmit Meleins Gesetz auszubrechen. Aus dieser Furchtheraus hielt er sich mit der Umsicht eines Mri an tiefeStellen, an Abhänge, an Deckung, wie das Land siebot; und seine Augen, durch das gesenkte Visier be-hindert, beobachteten vorsichtig den nackten Hori-zont, wenn er sich wieder über eine ebene Stelle wa-gen mußte.

Um die Mittagszeit kam die mächtige Schneise desverdunstenden Meeres in Sicht. Er starrte in die dun-stige Tiefe hinab, in die hinein sich windgetriebeneSandschleier ergossen, und angesichts derartiger Di-mensionen verlor er seinen Sinn für Höhe und Tiefe.Als er jedoch forschend zum Horizont blickte, wußteer, wo er sich befand, gar nicht weit von seinem Ziel.

Er ging weiter, und inzwischen quälte der Mangelan fester Nahrung seinen Magen. Der Schmerz in sei-ner Seite war ständig gegenwärtig, und der in seinerBrust pochte im Rhythmus mit der Ebbe und Flut sei-nes Lebens.

Dus.Er spürte es und sah auf, als hätte ihn jemand beim

Namen gerufen. Niun? fragte er sich beim Umschau-en und glaubte es doch nicht. Niun war beim Volk,sicher hatte er weder Melein noch die ihm Anver-trauten verlassen. Da waren Kath und Sen, die einensolchen Weg nicht zurücklegen konnten, wie er esgetan hatte, der er Kel'en war und unbehindert.

Und doch gab es die Dus-Gefühle.

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Links. Rechts. Prüfend betrachtete er den Horizont,streichelte die samtpelzigen Fleischmassen im Nak-ken seines Tieres, befragte dessen Geist. Er empfingeinen Schutzimpuls von ihm.

Also war es keine Einbildung.Die Haare auf seinem Nacken kribbelten, während

er weiterging und sich ständig des Gewichtes bewußtwar, das auf seinen Sinnen lastete.

Bruder-Gegenwart.Dus-Bruder.Das Dus neben ihm fing an, ein Lied der Zufrie-

denheit zu singen, der Harmonie, das Duncan denSchmerz und die Sinne raubte, bis er feststellte, daß ereine weite Strecke zurückgelegt hatte und den Wegnicht mehr kannte.

Nein, sendete das Tier, nein, nein, nein! Er dachte andas Schiff, immer wieder, sehnte sich danach, drängtein seine Richtung.

Bestätigung.Und Drohung!Dann kam Dunkelheit, plötzlich und sanft und tief,

voller Drohung und voller reißender Klauen und bei-ßender Fänge, und über allem eine Gegenwart, dieDuncan nicht loslassen wollte. Immer noch gehenderlangte er wieder das Bewußtsein, erschauerte peri-odisch im trockenen, kalten Wind. Seine Hände undArme waren sandverbrannt und blutig und infor-mierten ihn so darüber, daß er einmal gestürzt war,ohne es zu wissen.

Das Schiff, sandte er seinem Dus einen Gedanken.Feindselige Gefühle hüllten ihn ein. Er schrie in der

Dunkelheit auf, und das Dus warf sich ihm in denWeg und stoppte ihn. Er stand zitternd da, während

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es an ihm reibend um seine Beine strich – eine gewal-tige, schwere Kreatur, die ihn umkreiste und ein Mu-ster aus Schritten wob.

Andere kamen, zwei, fünf, sechs Dusei, ein Drittelso groß wie das Tier, das Schutz um ihn wob. Duncanzitterte vor Angst, als sie dicht an ihn herankamenund ihn umzingelten, als eines nach dem anderensich auf Mannshöhe aufbäumte und wieder herab-sank, wobei sie den Sand in Wolken aufstäuben lie-ßen.

Ein Sturmgefühl lag in der Luft, eine schwer mitDrohung beladene Wahrnehmung.

Sturmfreunde wurden sie von den Mri genannt, diegroßen, massigen Brüder des kalten Windes.

Und kein derartiges Wesen hatte es zuvor auf demunfruchtbaren Kutath gegeben, kein solches Monsterhatte diese Welt gekannt.

Sie sind mit eigenen Absichten hergekommen, dachteDuncan auf einmal, kalt und erschrocken. Er erin-nerte sich, wie sie das Schiff betreten hatten, sie, de-ren Herzen er nie erreicht hatte und die auf der lan-gen Reise mit ihnen gelebt hatten.

Eine Zuflucht vor Menschen und Regul. Sie warenvon ihrer Welt geflohen. Sie hatten sich eine neue er-wählt, sich für die ihnen offenstehende Flucht ent-schieden, die er ihnen ermöglicht hatte.

Sie kamen dichter heran, und sein Dus strahlteDunkelheit aus. Körper berührten sich und ein be-täubender Puls erfüllte die Luft, grollend wie einSturm oder ein Erdbeben. Sie drehten ihre Kreise,immer weiter, berührten sich. Duncan warf sich aufdie Knie und legte die Arme um den Nacken seinesTiers, hielt es so fest, spürte die Nase eines fremden

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Dus in seinem Nacken, roch den heißen Atem desTieres, die Hitze, die ihn umhüllte und fast erstickte.

Das Schiff, fiel ihm ein, ihnen zuzusenden; er warfihnen den Untergang An-ehons mit seinem Geist zuund die einstürzenden Türme Kesriths. Vergnügenwurde erwidert und entsetzte ihn.

Nein! schrie er auf, erst innerlich, dann laut. Sie flo-hen ihn.

Er sandte ihnen Bilder einer wasserlosen Wüste,einer sterbenden Sonne, von Dusei, die in nutzloserVerlassenheit lebten.

Ihr Zorn überflutete ihn, und sogar sein eigenesTier erschauerte und wich zurück. Es floh, und erkonnte es nicht halten.

Er war allein, verlassen und blind. Plötzlich kannteer keine Richtung mehr, hatte keinen Sinn mehr fürdie Welt. Seine Sinne waren klar, eisklar, und dochwar er abgeschnitten und ohne die innere Richtung,die er so lange gekannt hatte.

»Komm zurück!« schrie er dem zögernden Dus zu.Er sandte ihm Bilder eines Edun, Bilder von flie-

ßendem Wasser, von Kesriths Stürmen und landen-den und startenden Schiffen. Ob es auf dieser Ebeneetwas empfing, wußte er nicht. Er warf Begehrennach ihm, verzweifeltes Verlangen und das Abbilddes Schiffes.

Es gab ein versuchsweises Tasten, keinen Schutz-impuls.

»Komm!« rief er das Tier laut, streckte die Händenach ihm aus. Er sandte ihm die Gefährtenschaft derMri – das Zusammengehen von Mann und Dus. Le-ben, sendete er.

Das Tier zögerte. Der Schutzimpuls warf peit-

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schende Furcht über Duncans Sinne, aber er weigertesich, sie zu akzeptieren.

Leben, beharrte er.Es kam. Überall um sich herum spürte er den

Schutzimpuls, stark und voller Angst, so daß ihm derSchweiß ausbrach, der im Wind sofort wieder trock-nete. Aber dieses Dus war da. Es begann, neben ihmherzugehen, schützte ihn mit aller Kraft.

Verräter an seiner Art. Menschenverräter und Dus-verräter. Duncan hatte es korrumpiert, und es dienteihm, ging mit ihm, fing an, wie er zu sein. Furchthüllte sie in Dunkelheit, und die Nachmittagssonneschien eine Zeitlang matter zu leuchten; dann warendie anderen Dusei verschwunden, und schließlichtauchten schwarze Punkte auf einem fernen Kammauf und beobachteten sie.

Sie waren Kinder Kutaths, diese Dusei, Fleisch vomFleisch derer, die von Kesrith gekommen waren, ohnein irgendeiner Weise daran teilzuhaben.

Nur das alte Tier erinnerte sich – nicht an die Er-eignisse, sondern an die Person Duncans, und bliebbei ihm.

Am späten Nachmittag wurde der Wind stärker. Zu-erst wirbelten kleine Böen pfeifend den Sand von denDünenkämmen und transportierten ihn in großenStrömen über den Abgrund des toten Meeres. Dannerhoben sich Sandgestöber von zerschmetternderGewalt, die das Gehen erschwerten, die gegen dasschützende Visier prasselten und Duncan veranlaß-ten, sich den Mez zweifach um das Gesicht zu wik-keln. Selbst das Dus ging halbblind einher und Trä-nenspuren liefen an seinem Gesicht hinab. Es stöhnte

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wehmütig, erhob sich in plötzlicher Gereiztheit aufdie Hinterbeine, schüttelte sich, blies Staub auf undsank wieder herab, um erneut gegen den Wind anzu-gehen.

Die anderen tauchten von Zeit zu Zeit auf undwanderten die Kämme entlang, hielten dabei ihrTempo mit. Sie wirkten wie dunkle Schatten in demSandvorhang, der mit dem Wind einhertrieb, erschie-nen manchmal als Kopf, manchmal noch weniger,oder als eine sich zurückziehende Flanke. Was sieaussandten, war immer noch feindselig und vollerBlut.

Duncans Tier knurrte und schüttelte den Kopf, undsie gingen weiter, obwohl es mittlerweile schien, alsob Duncans Glieder mit Blei behangen wären und dieMuskeln mit Feuer umschnürt. Er hustete, und Blutkam hervor; er wurde sich des Gewichtes seiner Waf-fen bewußt, die dort nutzlos waren, wohin er unter-wegs war, noch nutzloser für einen Toten, und dochwollte er sie nicht aufgeben. Er umklammerte mit ei-ner Hand das einzige J'tal, das er trug, erinnerte sichan den Mann, der es ihm gegeben hatte, und wolltenicht weniger sein.

Su-she'pani kel'en. Der Kel'en der She'pan.Schmerz schoß in einem Bein empor. Er stürzte,

umgeworfen durch die verräterische Drehung desSteins, rappelte sich vorsichtig wieder auf und stütztesich auf das Dus. Das Bein war nicht verletzt. Er ver-suchte, an der Wunde zu saugen, die der Stein seinerHand zugefügt hatte, aber sein Mund war trocken,und so konnte er es nicht. In dieser Gegend gab eskeine Stengel. Er hortete die ihm noch verbliebeneFeuchtigkeit und entschied nicht auf sie zurückzu-

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greifen – noch nicht.Und eines der kleinen Dusei kam dicht an ihn her-

an und erhob sich auf die Hinterbeine, so daß sein ei-genes Tier den Körper dazwischenschob. MächtigeLungen schnaubten, und das Kleinere wich zurück.

Schiff, dachte er plötzlich und aus keinem besonde-ren Grund.

Verlangen.Es kam kein Schutzimpuls von dem fremden Tier.

Duncan fing nur Richtungsweisung auf, spürte eineGegenwart.

Leise rief er nach seinem Dus, mit einer Kehle, diedas Lautbilden fast vergessen hatte; er ging weiter,spürte eine Gegenwart links von sich, einen warmenAtem auf der Hand, die an der Seite herabhing.

Jetzt hatte er zwei Begleiter. Ein weiteres Tier warbei ihnen, dachte an ihr Ziel und verlangte nach dem-selben wie sie.

Menschen.Gestalten wanderten durch Duncans Unterbewußt-

sein. Es war keine Erinnerung, sondern anderswo sahjemand etwas, sendete ihm das Bild, führte ihn. Erwar sich dessen bewußt.

Hinter Sandschleiern verhüllte Gestalten, eineHalbkuppel. Kiefer schlossen sich sanft, sehr sanft umseine Hand... er erkannte, daß er auf dem Boden lagund das Dus ihn drängte. Er rappelte sich wieder aufund ging weiter, geriet ins Stolpern, als sein Stiefelauf etwas im Sand Vergrabenes trat und etwas aufdas Leder peitschte; es drang jedoch nicht durch undhuschte in Schlangenlinien durch die Bernsteindü-sterkeit davon. Dus-Zorn tobte hinterher und küm-merte sich dann nicht weiter darum, bevorzugte

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Duncans Begleitung.Nacht war um sie herum, die Nacht des Sturmes

und der Welt, und sie war freundlich zu ihnen undverbarg sie. Duncan wußte, daß das Schiff in der Nä-he dieser Stelle gewesen war, stolperte über Wrack-stücke, über Stellen hitzegeschmolzenen Sandes, be-vor die fremdartige Masse hinter Sandstreifen Gestaltannahm, und er erblickte die Verwüstung, die hierangerichtet worden war.

Und eine Halbkuppel, ein gedrungenes Halbei aufStelzen, blinzelte mit roten Signallichtern durch dieDunkelheit.

Dusei umringten ihn, sie alle; Furcht-Verlangen-Furcht strahlten sie aus.

»Yai!« schrie er ihnen mit einer Stimme zu, die imWind verlorenging. Sein Tier blieb jedoch, trottete mitseiner krummzehigen Gangart neben ihm her, als erauf jene Stelle zuging, zu dieser fremden Form anKutaths toter Meeresküste.

Er erkannte sie im Näherkommen, so gewaltig undblind sie auch war, erkannte das Muster ihrer Lam-pen...

Und für einen Augenblick fiel ihm der Name nichtein.

FLOWER.Das Wort kehrte zurück, ein Überwechseln von ei-

ner Realität zur anderen.»FLOWER«, grüßte er das Schiff, ein gebrochenes

und unerkennbares Geräusch im heftigen Wind.»FLOWER – öffnen Sie die Luke!«

Aber es kam keine Antwort. Er sammelte einenfaustgroßen Stein auf und warf ihn gegen die Hülle;

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dann noch einen, und nichts antwortete. Der Sturmwurde heftiger, und er wußte, daß er bald Zufluchtfinden mußte.

Und dann sah er das Schwenken einer Kamera,und ein Lichtstrahl folgte ihr und richtete sich auf ihnund das Dus gemeinsam. Das Tier scheute und prote-stierte. Duncan riß den Arm hoch, um die Augenhinter dem Visier abzuschirmen, und regte sich wei-ter nicht. Seine Erinnerung flog zu einer anderenNacht zurück, in der zusammen mit diesem Dus ervor Gewehren und im Licht gestanden hatte.

Lange herrschte Schweigen.»FLOWER!« schrie er.Die Scheinwerfer blieben auf ihn gerichtet. Er

schwankte in den Windböen und stützte sich mit ei-ner Hand auf den Rücken des Dus, damit das Tierdablieb.

Plötzlich ging die Luke auf und die Rampe senktesich herab, lud ihn ein.

Er ging darauf zu, setzte den Fuß auf das hallendeMetall, und das Dus blieb an seiner Seite. Er hob dieHände und ging langsam, um Mißverständnisse zuvermeiden.

»Boss«, redete er sie mit ihrem alten Spitznamen an.Es war seltsam, hier und jetzt die Boaz wiederzu-

sehen, das Grau in ihrem Haar jetzt stärker betont; eserinnerte ihn an die verflossene Zeit. Er war sich derGewehre bewußt, die ihn umgaben, der Männer, diesie auf ihn und das Dus gerichtet hielten. Er nahmMez und Zaidhe ab, damit sie ihn erkannten. Er glät-tete sich das Haar, das er sich hatte lang wachsen las-sen; Bartstoppel zeigten sich auf seinem Gesicht, was

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bei einem Mri nie der Fall sein würde. Er fühlte sichnackt vor diesen Menschen, vor Boaz und Luiz. Erblickte ihnen in die Gesichter und sah die Bestürzungsich in ihren Augen spiegeln.

»Wir haben mit der SABER gesprochen«, sagteLuiz. »Man will Sie dort haben.«

Er sah die Härte in ihren Blicken: er war zum Feindübergelaufen; nicht einmal Boaz war bereit, das zuverstehen.

Und sie hatten die Spur der Mri gesehen, die Wüsteder Sterne.

»Ich werde gehen«, sagte er.»Legen Sie die Waffen ab«, forderte Luiz, »und

schicken Sie das Dus hinaus.«»Nein«, erwiderte Duncan ruhig. »Sie würden die

Waffen sonst beschlagnahmen müssen – und das Tierbleibt bei mir.«

Es war klar, daß einige der Männer bereit waren,sich auf ihn zu stürzen. Er stand ruhig da, spürte denSchutzimpuls des Dus und die Furcht, die dick imRaum lag.

»Es gibt Argumente, die Sie zu Ihrer Verteidigungvorbringen können«, meinte Boaz. »Aber keines da-von ist etwas wert, wenn Sie jetzt Schwierigkeitenmachen. Sten, auf welcher Seite stehen Sie?«

Er überlegte einen Moment lang. Die menschlicheSprache fiel ihm auf einmal schwer, eine seltsameDéjà-vu-Beziehung, in der er sich orientieren konnte,aber nur ganz entfernt. Es gab Vorstellungen, die sichweigerten, deutliche Formen anzunehmen. »Ich wer-de meine Waffen nicht ziehen, solange ich nicht an-getastet werde«, sagte er. »Die SABER soll entschei-den. Bringen Sie mich dorthin! Friede.« Er fand das

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Wort, das ihm eine Zeitlang verloren gewesen war.»Ich bringe Frieden, wenn sie ihn haben wollen.«

»Wir werden uns besprechen«, sagte Luiz.»Wir können starten und uns später besprechen.

Die Zeit drängt.«Boaz nickte langsam. Luiz sah sie an und stimmte

zu. Durch Gesten wurden Befehle vermittelt, und einMann ging.

»Wo sind die anderen?« fragte Luiz.Duncan gab keine Antwort. Langsam und vorsich-

tig, damit niemand eine Bewegung mißverstand,brachte er das Zaidhe wieder an, mit dem er sichwohler fühlte. Und während Luiz und Boaz sich mit-einander besprachen, legte er sich auch den Schleierwieder um. Das Dus stand neben ihm, und die Män-ner mit den Gewehren bleiben, wo sie waren.

Aber anderswo im Schiff erhoben sich die Geräu-sche arbeitender Maschinen – Vorbereitung für denStart, dachte er, und Panik befiel ihn. Er war ein Ge-fangener; sie hatten ihn wieder; Türen waren ver-schlossen und ließen ihn nicht mehr hindurch.

Von oben begannen Warnlampen zu blitzen. Dun-can sah sich verstehend um, als drei weitere Soldatenmit auf ihn gerichteten Gewehren den Raum betraten.Luiz ging.

»Setzen Sie sich!« empfahl ihm Boaz. »Setzen Siesich da drüben hin und beruhigen Sie das Tier beimStart! Wird es sich ruhig verhalten?«

»Ja.« Er zog sich zu der gepolsterten Bank zurückund ließ sich auf ihr nieder, beugte sich vor, um dieHand auf das Dus zu legen, das zu seinen Füßen saß.

Boaz zögerte und blickte auf Duncan hinab, dieblonde, plumpe Boaz, die dünner und grauer und de-

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ren Gesicht von finsteren Blicken faltig geworden war– und die sich jetzt, so dachte er, wunderte und nichtbegriff.

»Sie sprechen mit einem merkwürdigen Akzent«,sagte sie.

Er zuckte die Achseln. Vielleicht stimmte es.Die Warnsirene ertönte. Sie stiegen auf. Boaz ging

auf die gegenüberliegende Seite des Raumes, zu derdortigen Bank. Dort versammelten sich auch die Sol-daten mit den Gewehren, die Waffen sorgfältig überden Schoß gelegt. Als der Andruck einsetzte, sankdas Dus zu Duncans Füßen nieder, um ihm besserstandzuhalten.

Der Aufstieg erfolgte hart und rücksichtslos. Dun-can spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und derKopf schwirrte, als das Schiff abhob. Das Dus strahlteAngst aus... fürchtete sich, dachte Duncan, vor diesenMännern mit ihren Gewehren. Die Furcht ließ seineHände kalt werden, und doch war die Hitze im Raumerstickend.

Es dauerte lange, bis der Andruck aufhörte, biszum Einsetzen der neuen Orientierung und der Mög-lichkeit, sich wieder zu bewegen. Duncan saß still da,wollte die anderen nicht provozieren, indem er auf-stand. Er wollte nichts von ihnen. Boaz saß reglosund starrte ihn an.

»Stavros hat Ihnen das angetan«, meinte sieschließlich mit einem Blick, der Mitgefühl ausdrückte.

Wieder zuckte er die Achseln, hielt die Augen insLeere gerichtet, im Warten verloren.

»Sten«, sagte sie.Bekümmert blickte er sie an, wußte, daß sie eine

Antwort von ihm erwartete und es keine gab. »Sten

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ist tot«, sagte er dann, um es ihr begreiflich zu ma-chen.

Schmerz stand in ihren Augen; vielleicht Verständ-nis.

»Ich empfinde keine Bitterkeit, Boss«, sagte er.Sie biß sich auf die Lippen und starrte ihn aus ei-

nem blassen Gesicht heraus an.Luiz rief an; es gab einen für Duncan unhörbaren

Wortwechsel, und die Soldaten standen mit tief ge-haltenen und ständig auf ihn gerichteten Gewehrendabei. Er saß nur da, streichelte das Dus und besänf-tigte es.

Die Wachen schwitzten sichtlich. Einem erregtenDus gegenüberzustehen, das erforderte etwas von ei-nem Mann. Aber sie waren standhaft. Es gab keinePanik. Boaz wischte sich über das Gesicht.

»Es dauert nicht mehr lange bis zum Ankoppeln«,sagte sie. »Wollen Sie etwas Wasser oder etwas zu es-sen?«

Das war das erste derartige Angebot. Er zögertenoch etwas, dachte daran, daß Verpflichtungen dasErgebnis wären, hätte es sich bei ihnen um Mri ge-handelt.

Aber Verpflichtungen würde es auch hier geben.»Wenn es frei vor mich hingesetzt wird«, sagte er,

»werde ich es nehmen.«So geschah es. Boaz gab den Befehl, und ein Posten

setzte einen Pappbecher mit Wasser und ein inKunststoff gewickeltes Sandwich in Reichweite Dun-cans ab. Duncan nahm den Becher und hielt ihn unterden Schleier, um langsam davon zu trinken. DasWasser war eiskalt und schmeckte nach Tagen desWassers in der Wüste seltsam aseptisch.

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Ebenso riß er mit den Fingern Stücke aus demSandwich und aß, ohne den Schleier abzunehmen. Erwollte sein Gesicht nicht der Neugier der anderenaussetzen. Ihm fehlte die Kraft, um dazusitzen undHaß mit ihnen auszutauschen; der Schleier verhin-derte Fragen. Trotzdem zitterten seine Hände. Er ver-suchte es zu verhindern, aber es handelte sich einfachum Schwäche. Zu lange hatte er sich nur von denStengeln ernährt. Sein Magen rebellierte bei mehr alsnur ein paar Bissen. Was übrigblieb, wickelte er wie-der in den Kunststoff und steckte es in die Gürtelta-sche, sparte es sich für Notfälle auf.

Und er faltete die Hände und wartete. Er war mü-de, unbeschreiblich müde. In der Eintönigkeit desAnfluges wollte er schlafen und tat es auch, die Au-gen geschlossen, die Hände gefaltet und im Wissen,daß das Dus drohend die anderen beobachtete, die imRaum waren und ihre Besucher betrachteten.

Boaz kam und ging. Luiz kam und bot ihm an – einaufrichtiges Angebot, dachte Duncan –, den Hustenzu behandeln, der ihn manchmal peinigte.

»Nein«, sagte er ruhig. »Danke, nein.«Diese Antwort brachte Luiz zum Schweigen, wie er

auch Boaz zum Schweigen gebracht hatte. Duncanwar erleichtert darüber, alleingelassen zu werden,und atmete ruhig. Er starrte den Mann an, der dieSoldaten befehligte – kannte dessen Geisteszustandohne die Hilfe des Dus, das kalte Mißtrauen, den Bei-nahe-Haß, der den Menschen zum Töten veranlaßte.Tote Augen, unähnlich denen der Mri unter Brüdern:ein Havener, der viel Übles gesehen hatte. Er hatteeine Brandnarbe auf einer Wange, die er nicht hattebeseitigen lassen. Also ein Mann von der Front, kein

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Offizier aus der Etappe. Duncan hatte Respekt vorihm.

Und dieser Mann schätzte ihn vielleicht ab. Blickebohrten sich ineinander. Verräter, war der Gedanke,der aus dem Blick des Mannes gelesen werdenkonnte; er wunderte sich, aber er verzieh nicht. Dun-can verstand so einen Mann gut.

Diesen würde er als ersten töten, wenn sie Hand anihn legten. Um die anderen würde sich das Duskümmern.

Laß nicht zu, daß sie mich anfassen! dachte er darauf-hin immer wieder, denn ihm fiel ein, weshalb er ge-kommen war und was von seinem Leben abhing.Aber nach außen behielt er nach wie vor seine Ruhebei, hielt die Hände gefaltet und die Augen ins Leeregerichtet, manchmal geschlossen. Im Augenblick be-nötigte er nichts als Ruhe.

Schließlich erfolgte das Andockmanöver, kam dersanfte Ruck. Weder Boaz noch Luiz waren seit einigerZeit dagewesen – besprachen sich zweifellos mit ei-ner vorgesetzten Dienststelle.

Und Luiz wies mit dem Kopf zur Tür.»Sie werden Ihre Waffen hierlassen müssen«, sagte

er. »Das ist die einfachste Methode. Sonst werden sieSie dazu zwingen, und das hätten wir lieber nicht.«

Duncan stand auf und erwog die Situation, lösteschließlich den Gürtel mit den Yin'ein und den klei-neren mit den Zahen'ein, drehte sich um und legtebeide auf die Bank, auf der er gesessen hatte.

»Boss«, sagte er. »Tragen Sie sie für mich. Ich wer-de sie wohl nicht brauchen.«

Sie ging hin und hob sie vorsichtig auf.»Und das Dus bleibt hier!« sagte Luiz.

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»Das ist weise«, erwiderte Duncan, denn er wolltedas Tier nicht dem Streß der kommenden Situationaussetzen. »Es wird hierbleiben. Haben Sie alle Vor-bereitungen getroffen?«

Luiz nickte, und die Wachen nahmen ihre Positio-nen ein, um Duncan hinauszubegleiten. Er fühlte sichseltsam leicht ohne seine Waffen. Er blieb stehen, be-trachtete das Dus, redete mit ihm, und es stöhnte undließ sich unglücklich nieder, den Kopf auf den Tat-zen. Dann wandte er sich wieder Boaz zu. »Wenn ichSie wäre, würde ich niemanden das Tier anfassen las-sen«, sagte er und ging mit den Wachen.

Die glänzenden Metallkorridore der SABER erklan-gen unter den Geräuschen auf- und zugehender Tü-ren. Duncan wartete, bis ein weiteres KommandoSoldaten aufmarschierte, um seine Begleitung zuübernehmen.

Und so wenig Aufmerksamkeit er diesen Profis ge-schenkt hatte, so sehr widmete er sie dem sommer-sprossigen Mann, der bei der Gruppe von der SABERdas Kommando hatte.

»Galey«, sagte er.Der Soldat betrachtete ihn, versuchte den Rücken

steifzumachen und wandelte es in ein Achselzuckenum. »Man hat mich beauftragt, weil ich Sie kenne, Sir.Kommen Sie mit! Der Admiral will mit Ihnen spre-chen. Lassen Sie uns das friedlich erledigen, okay?«

»Ich bin gekommen, um mit ihm zu sprechen«,sagte Duncan. Galey wirkte erleichtert.

»Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sind zu Fuß ge-kommen, wurde gesagt. Kommen Sie aus eigenemAntrieb?«

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Duncan nickte nach Mri-Art. »Ja«, bestätigte er. »Eswar meine eigene Entscheidung.«

»Ich muß Sie durchsuchen.«Duncan sagte sich, daß Galey selbst keine Wahl

hatte, und nickte zustimmend – stand mit ausgebrei-teten Armen da, während Galey die oberflächlicheDurchsuchung selbst ausführte. Als er damit fertigwar, rückte Duncan seine Gewänder wieder zurechtund stand reglos.

»Ich habe eine Uniform, die passen könnte«, sagteGaley.

»Nein.«Galey wirkte darüber bestürzt. Er nickte den ande-

ren zu. Sie setzten sich in Bewegung; Duncan gingneben Galey, und von vorn und hinten waren Ge-wehre auf ihn gerichtet.

Die Luft wies einen alten und vertrauten Geruchauf, feucht und moschusartig. Menschen, dachte Dun-can; aber es gab darin eine kleine Spur, die er auf demanderen Schiff nicht bemerkt hatte.

Regul!Duncan blieb stehen. Ein Gewehrlauf stieß in sei-

nen Rücken. Er holte tief Luft und ging weiter, hieltsich neben Galey.

Die Bürotür stand offen; Duncan wußte, wohin ersich zu wenden hatte, und Galey begleitete ihn in dasBüro und die Anwesenheit des Admirals.

Koch saß hinter dem Schreibtisch.Und neben ihm saß eine Regul in ihrem Schlitten.

Duncan betrachtete ihr knochiges Gesicht, währendihm das Herz gegen die Rippen hämmerte. Das Ge-fühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Die Nasenlöcher derRegul schlossen sich ruckartig.

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»Ein Verbündeter, Sir?« wollte Duncan von Kochwissen, bevor er zum Sprechen aufgefordert wordenwar, bevor überhaupt jemand etwas gesagt hatte.

»Sharn Alagn-ni.« Die Augen des Admirals warendunkel und schmal wie die der Regul. Sein Kopf mitdem weißen, kurzgeschorenen Haar wirkte nochkahler als früher, das Gesicht dünner und härter.»Setzen Sie sich, ObTak!«

Duncan setzte sich auf einen Stuhl an einer Eckedes Schreibtisches, lehnte sich zurück und ließ denBlick von Koch zu der Regul schweifen. »Muß ichmeinen Bericht in Gegenwart einer Fremden erstat-ten?«

»Einer Verbündeten. Dies ist ein gemeinsamesUnternehmen.«

Teile formten sich zu einem System. »Eine Verbün-dete«, sagte Duncan und blickte Sharn voll an, »dieversucht hat, uns zu töten, und die mein Schiff zer-stört hat.«

Die Regul zischte. »Bai Koch, er ist ein Mri. Er istkeiner von Ihren Leuten. Er spricht für seine eigenenAbsichten, dieser Jungling-ohne-ein-Nest. Wir habenden Weg gesehen, den diese Mri genommen haben,die Orte ohne Leben. Wir haben ihr Werk gesehen.Dieser formbare Jungling ist von ihnen beeindrucktworden und jetzt einer von ihnen.«

»Ich hatte Signalbojen hinterlassen«, sagte Duncanmit Blick auf Koch, »die etwas erklären sollten. Ha-ben Sie sie gehört? Hat irgend jemand auf die Bot-schaften gehört, bevor Sie das Feuer eröffneten? Oderhat sich jemand gleich zu Anfang um die Bojen ge-kümmert?«

Kochs Augen flackerten auf, nicht mehr. Sharns

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grobe Haut färbte sich dunkler.»Ich habe in diesen Botschaften berichtet, daß die

Mri zur Freundschaft bereit sind. Das wir eine Über-einkunft getroffen haben.«

Sharn zischte plötzlich. Die Farbe verließ sie. »Ver-rat!«

»In unseren beiden Häusern«, sagte Duncan. »BaiSharn, ich bin gesandt worden, um mich den Mri an-zunähern, wie Sie sicherlich gesandt wurden, ummich aufzuhalten. Wir sind vielleicht die einzigen indiesem Raum, die einander wirklich verstehen.«

»Sie tun sich selbst nichts Gutes«, meinte Koch.Duncan zuckte die Achseln. »Habe ich recht mit

den Signalbojen? War es Sharn, die entschieden hat,gegen die Städte vorzugehen?«

»Es wurde auf uns gefeuert«, sagte Koch.»Von meinem Schiff? Waren nicht die Regul die er-

sten?«Koch schwieg.»Sie haben gemordet«, sagte Duncan. »Die Mri

hätten sich dafür entschieden, zu verhandeln, aber Siehaben die Regul vorangehen lassen. Sie haben Ver-teidigungsanlagen aktiviert. Sie kämpfen gegen Ma-schinen. Und wenn Sie aufhören, werden die Ma-schinen auch das Feuer einstellen. Wenn Sie weiter-machen, werden Sie einen Planeten auslöschen.«

»Das wäre vielleicht der sicherste Weg.«Duncan zog sich an einen fernen, kalten Ort in sich

selbst zurück, starrte den Admiral weiterhin an. »DieFLOWER ist Zeuge dessen, was Sie tun. Was Sie hiertun, wird berichtet werden, und es wird die Mensch-heit verändern. Vielleicht begreifen Sie das nicht, aberes wird Sie verändern, wenn Sie es tun. Sie werden

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letzte Hand an die Wüste der Sterne legen, die Siedurchreist haben. Sie werden die Monster sein.«

»Unfug!«»Sie wissen, was ich meine. Die FLOWER ist Ihr

Gewissen. Stavros oder wer immer sie mitgeschickthat, hat richtig gehandelt. Es wird Zeugen geben. DerLeutnant hier und andere aus Ihrer Besatzung wer-den Zeugen sein. Sie führen Krieg gegen ein sterben-des Volk, vernichten eine uralte Welt.« Sein Blickwanderte zu Sharn, deren Nasenschlitze völlig ge-schlossen waren. »Und Sie ebenso. Bai Sharn, denkenSie, daß Sie die Menschheit ohne Mri wollen? DenkenSie an Hammnis und Gleichgewicht. Betrachten Siesich ihre gegenwärtigen Verbündeten. Einer ohne denanderen ist für die Regul gefährlich. Glauben Sienicht, daß die Menschheit Sie liebt. Sehen Sie mich an,Bai Sharn.«

Die Nasenlöcher der Bai flatterten rasch. »Töten Siediesen Jungling! Befreien Sie sich von ihm und seinenRatschlägen, Bai Koch! Er ist Gift!«

Duncan wandte den Blick wieder zu Koch, zu des-sen kalten Augen, die es ablehnten, durch ihn oderSharn verstimmt zu werden. Und als er plötzlichwieder an die Menschen dachte, wußte er dieses eine:die Havener waren voller Haß. Ein Mri konnte nichtdie Haltung einnehmen, wie Koch es tat. Ein Mri warUntertan einer She'pan, und eine She'pan dachte inÄonen.

»Sie wollen sie töten«, sagte er zu Koch, »und Siedenken vielleicht daran, mich als eine Informations-quelle festzuhalten. Ich werde Ihnen sagen, was ichweiß. Aber ich würde es vorziehen, es nicht in Ge-genwart der Bai zu sagen.«

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Er hatte Koch in Nachteil gesetzt. Er würde Sharnwegschicken oder dabehalten müssen, und für beideswar eine Entscheidung erforderlich.

»Geben Sie Ihre Erklärung gegenüber dem Sicher-heitschef ab«, sagte Koch. »Der Bericht wird an michweitergeleitet.«

»Denen werde ich nichts sagen«, wies Duncan zu-rück.

Koch saß da und starrte ihn an, glaubte ihm viel-leicht sogar. Röte überzog sein Gesicht und bliebdarin; an der Schläfe pulsierte eine Ader. »Also, washaben Sie zu sagen?«

»Als erstes, daß ich wieder gehe, wenn ich fertigbin. Ich bin aus dem Dienst ausgeschieden. Ich binzweiter hinter dem Kel'anth der Mri. Wenn Sie michfesthalten, ist das Ihre Entscheidung, aber ich unter-stehe nicht mehr der Befehlsgewalt von Stavros oderIhres Dienstes.«

»Sie sind ein Deserteur!«Duncan atmete leicht aus. »Ich bin an Bord eines

Mri-Schiffes geschickt worden, um mit den Mri Kon-takt zu halten, als ein Köder. Ich bin von euch weg-geworfen worden. Die She'pan hat mich aufgenom-men.«

Koch schwieg für eine geraume Weile. Schließlichöffnete er den Schreibtisch, holte einen Bogen Papierheraus und schob ihn über den Tisch. Duncan langtedanach und stellte fest, daß die Druckbuchstaben fürseine Augen ungewohnt geworden waren.

Zahlencode. Einer davon war seiner. Beglaubigun-gen, Sonderzuweisung Sten X Duncan: abkommandiertvon Dienst 9/4/21 zu Mission mit Code Prober. Autorisie-rungscode Phönix, Beschränkungen in verschlüsselter Akte

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SS-DS-34. Kraft meiner Befehlsgewalt, heutigen Datums,George T. Stavros, Gouverneur, Zone Kesrith.

Duncan blickte auf.»Ihre Vollmachten«, sagte Koch, »enthalten Ver-

mittlung – nach meinem Ermessen. Ihr Treuebruch isterwartet worden.«

Duncan faltete das Papier sorgfältig zusammen,steckte es in den Gürtel, und Wut baute sich wäh-renddessen in ihm auf. Er unterdrückte den Impuls.Wenn ich dich wütend machen kann, hatte Niun einmalgesagt, bin ich wieder an deiner Abwehr vorbeigekommen.Ich habe dir dann außerhalb des Spiels etwas zum Nach-denken gegeben.

Er betrachtete Sharn, deren Nasenlöcher zitterten,deren knochige Lippen zusammengepreßt waren.

»Wenn nicht weiter gefeuert wird«, sagte Koch,»werden auch wir aufhören.«

»Das erleichtert mich«, sagte Duncan.»Und wir werden landen und dafür sorgen, daß

die Dinge dauerhaft geregelt werden.«»Ich werde die Einstellung des Feuers arrangieren.

Bringen Sie mich wieder auf den Planeten!«»Tun Sie es nicht«, sagte Sharn. »Dieser Bai wird zu

jeder Verständigung mit diesen Kreaturen eine harteHaltung einnehmen.«

»Fürchten Sie«, fragte Duncan zynisch, »das Ge-dächtnis eines Mri?«

Sharns Nasenlöcher schnappten zu, Farbe kam undging auf ihrer Haut. Ihre Finger fuhren rasch über dieKonsole, und immer noch starrte sie beide Männer an.

»Mri können sich auf Nicht-Mri einstellen«, meinteDuncan. »Ich bin der lebende Beweis, daß es möglichist.«

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Kochs dunkle Augen musterten ihn aufmerksam.»Senken Sie den Schleier, ObTak.«

Duncan gehorchte, starrte den Mann aus nacktemGesicht heraus an.

»Es fällt Ihnen nicht leicht«, meinte Koch.»Ich bin nicht so weit weg, daß Sie mit mir nicht

mehr verhandeln könnten. Ich bin das, was Stavrosvielleicht beabsichtigt hat. Ich bin nützlich für Sie. Ichkann eine She'pan des Volkes zum Verhandeln bewe-gen, und das ist mehr, als Sie mit irgendeinem ande-ren Mittel erreichen können.«

»Sie können einen Tag opfern. Das Feuer hat auf-gehört, solange wir unseren Abstand halten. Sie wer-den sich besprechen.«

»Ja. Ich werde mit Boaz reden.«»Sie ist nicht qualifiziert.«»Sie ist qualifizierter als Ihre Sicherheitsleute. Ihre

Arbeit qualifiziert sie. Ich werde mit ihr reden. Siekann verstehen, was ich sage. Die anderen würden esnicht verstehen. Sie würden versuchen, zu interpre-tieren.«

»Jemand von der Sicherheit wird dabeisein. Erwird Fragen vorschlagen.«

»Ich werde beantworten, was ich für richtig halte.Ich werde nicht dabei helfen, die Mri zu lokalisieren.«

»Dann wissen Sie, wo ihr Hauptquartier ist.«Duncan lächelte. »Felsen und Sand, Düne und

Ebenen. Dort werden Sie sie finden. Mehr werden Sievon mir nicht erfahren.«

»Wir werden Sie wiederfinden, wenn wir wollen.«»Ich werde leicht zu finden sein. Schicken Sie ein-

fach die FLOWER zum selben Landeplatz und war-ten Sie. Ich werde schließlich kommen.«

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Koch nagte an seiner Unterlippe. »Sie können eineBeilegung dieser Sache herbeiführen?«

»Ja.«»Ich mißtraue Ihrer Zuversicht.«»Sie werden auf mich hören. Ich rede mit ihnen in

ihrer Sprache.«»Zweifellos. Gehen Sie, reden Sie mit Boaz!«»Ich möchte, daß Sie ein Shuttle für mich bereit-

halten.«Koch runzelte die Stirn.»Ich werde eins brauchen«, sagte Duncan. »Oder

arrangieren Sie meinen Transport auf Ihre Weise. Ichempfehle Ihnen, das relativ rasch zu tun. Die Mriwerden nicht leicht zu finden sein. Es kann seine Zeitdauern.«

Koch fluchte leise. »Boaz kann Sie für zehn Stun-den haben. Gehen Sie! Sie sind entlassen!«

Duncan verschleierte sich und stand auf, kreuztedie Arme und neigte leicht den Kopf in einer Gestedes Respekts.

Und zwischen den Wachen, die an der Tür gewar-tet hatten, ging er hinaus.

Ein gedrungener Schatten war dort. Er warf sichzurück. Eine Regul-Hand schloß sich mit zermal-mender Kraft um seinen Arm. Der Regul schrie ihngellend an, und Duncan wand sich in diesem Griff;eine Klinge fuhr ihm brennend über die Rippen.

Die Sicherheit reagierte. Menschliche Körper fuh-ren dazwischen, und der Regul verlor das Gleichge-wicht, fiel zu Boden und zog Duncan mit sich. GaleysStiefel trat immer wieder auf das Handgelenk desRegul in dem Versuch, das Messer daraus zu lösen.

Duncan warf sich herum, riß eine Pistole aus dem

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Halfter ihres Besitzers und drehte sich um. Männergriffen nach ihm, stürzten sich auf ihn.

Sharn.Die dunklen Augen der Regul waren um die Rän-

der weiß vor Entsetzen. Duncan feuerte, ließ los, alsihn die Wachen ergriffen, ließ sie ihm die Pistole wi-derstandslos abnehmen.

Er hatte den Feind des Volkes beseitigt. Die ande-ren, die Junglinge, waren nichts. Er holte tief Atem,als die Wachen ihn wieder auf die Füße zogen, undbetrachtete mit nüchternem Bedauern den im Schlit-ten zusammengesunkenen Körper.

Und Koch war mit rotem Gesicht aufgesprungen,die Nase weiß vor Entsetzen.

»Ich diene der She'pan des Volkes«, sagte Duncanruhig, lehnte es ab, gegen die Hände zu kämpfen, dieihn festhielten. »Ich habe eine Hinrichtung ausge-führt. Nun führen Sie Ihre durch oder lassen Sie michgehen und dienen so den Interessen beider Seiten.Die Regul wissen, was ich bin. Sie werden nicht über-rascht sein. Das wissen Sie. Ich kann Ihnen jetzt zumFrieden mit Kutath verhelfen.«

In der Ecke kroch der losgelassene und entwaffneteJungling neben den Schlitten. Er äußerte ein merk-würdiges gurgelndes Geräusch, Regul-Kummer.Dunkle Augen starrten zu Duncan hinauf. Er miß-achtete sie.

»Gehen Sie!« sagte Koch. Der Zorn auf seinem Ge-sicht hatte irgendwie nachgelassen. Sein Blick warseltsam berechnend. Er blickte zu den Wachen, zuGaley. »Er wird Sie begleiten. Rühren Sie ihn nichtan!«

Duncan schüttelte seine Arme frei, ordnete seine

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Gewänder und verließ den Raum, ging durch einenkonfusen Haufen von Regul-Junglingen hindurch, diesich draußen versammelt hatten. Einer, eher erwach-sen als ein Jungling, starrte ihn an, seine Nasenlöcherbebten in äußerster Erregung. Er versteckte sich ha-stig hinter einem anderen, als Duncan vorbeiging.

Ruhig und ohne den Menschen, die entlang desKorridors standen und ihn anstarrten, auch nur einenBlick zuzuwerfen, ging Duncan zur FLOWER zurück.

»Was wollen Sie jetzt machen?« fragte Boaz nach lan-gem Schweigen.

Duncan betrachtete das Band, und Boaz schaltete esab. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem großen Stuhl,Ellbogen auf den Knien, hatte sich aus Achtung vorBoaz dagegen entschieden, auf dem Boden zu sitzen.

»Was ich schon sagte. Genau, was ich sagte.«»Vernünftig mit den Mri reden?«»Sie halten das nicht für möglich.«»Sie sind der Experte«, meinte sie. »Sagen Sie es mir!«»Es ist möglich, Boss. Zu Mri-Bedingungen ist es

möglich.«»Nach einem Mord?«Er blinzelte langsam. Er war verschleiert. Er fühlte

sich unter den Menschen nicht wohl, nicht einmalhier unter den Bedingungen der Gastfreundschaft.»Ich habe getan, was getan werden mußte. Niemandsonst hätte es tun können.«

»Rache?«»Praktische Erwägungen.«»Die Mri verspüren keine Abneigung gegen die

Regul, sagen Sie?«»Sie haben die Regul vergessen. Das liegt eine Dun-

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kelheit zurück. Ich habe eine aktuelle Angelegenheitbereinigt. Es ist vorbei, Boss, bereinigt.«

»Und Ihre Hände?«»Kein Bedauern.«Sie schwieg für eine Weile, und was immer sie sa-

gen wollte, sie verschwieg es. Dieser plötzliche Ab-stand lag wie ein Schleier über ihren Augen. »Ja. Daskann ich mir vorstellen.«

»Es gab eine Frau, an deren Tod die Regul schuldsind. Sie war nicht die einzige.«

»Ich freue mich, daß wenigstens soviel in Ihnen er-halten blieb.«

»Ich habe die Regul nicht wegen ihr getötet.«Boaz schwieg wieder. Es blieb immer weniger zu

sagen.»Ich werde den anderen Sten Duncan im Gedächt-

nis behalten«, meinte sie dann.»Sie werden nur ihn begreifen können.«Sie erhob sich, nahm seine Waffen vom Tisch auf

und gab sie ihm zurück. »Galey wird Sie hinabflie-gen. Er hat darum gebeten. Ich denke, er bildet sichein, Sie zu kennen. Das Dus ist in der Schleuse einge-schlossen.«

»Ja.« Er wußte, wo sich das Dus aufhielt. Auch dasTier wußte von seiner Gegenwart und blieb ruhig. Erschnallte sich das vertraute Gewicht der Waffen um,faßte an sein J'tal, zog die Gürtel straffer. »Ich würdejetzt lieber aufbrechen.«

»Es ist alles arrangiert. Man hat einen Signalgeberin einer Gepäcktasche untergebracht, die Sie mitneh-men sollen. Sie sollen ihn benutzen, wenn Sie einTreffen herbeiführen können.«

»Ich werde eine Weile brauchen.« Er ging zur Tür,

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blieb stehen und überlegte, ob er den Schleier ablegensollte, ob er jemandem gegenüber, der für ihn einFreund gewesen war, diese Geste machen sollte.

Aber e r spürte, daß sie nicht willkommen sein wür-de.

Er trat hinaus zwischen die dort wartenden Wa-chen und blickte nicht zurück.

Und mit dem Dus neben sich stieg er zum Fähren-deck hinab, nahm von der Sicherheit die vorbereiteteGepäcktasche entgegen. Dort verließ er die Wachenund ging über die Rampe ins Shuttle; es war der ersteMoment, an dem er frei von ihnen war.

Er ging hinein und hindurch bis zu den Kontrollen,wo Galey wartete.

Ein tapferer Mann, dieser Galey. Duncan betrach-tete ihn kritisch, als er aufstand, um ihn zu begrüßenund dem Dus Platz zu machen, das sich zwischen siedrängte. Angst; er spürte sie in den Dus-Gefühlen;aber etwas anderes hatte Galey trotzdem dazu getrie-ben, jetzt hier zu sein.

Loyalität?Duncan wußte es nicht, zu was, warum oder wie er

das in einem Mann bewirkt haben konnte, den erkaum kannte... nur, daß sie beide Sil'athen durch-wandert hatten – daß auch dieser Mann das Hinter-land von Kesrith gesehen hatte, wie nur wenige sei-ner Rasse.

Er reichte ihm nach Menschenart die Hand, undGaleys Hand war feucht.

»Haben Sie eine Idee, wo Sie hinwollen?«»Lassen Sie mich beim zerstörten Schiff hinaus, auf

dem vorherigen Landeplatz der FLOWER. Ich werdees schaffen.«

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»Ja, Sir«, sagte Galey.Er nahm seinen Platz an den Kontrollen ein. Duncan

nahm den Sitz neben ihm und schnallte sich an, wäh-rend das Dus sich energisch dazwischenzwängte, sicheinen Halt verschaffte: es war raumerfahren, das Tier.

Lichter flammten auf. Duncan betrachtete Galeyseifriges und von den Instrumenten grün beleuchtetesGesicht. Die Luke ging auf, und die Fähre schwangsich hinaus und auf den Planeten zu.

»Polar einfliegen«, empfahl Duncan. »Die Verteidi-gungsanlagen sind noch aktiv.«

»Wir kennen die Route«, sagte Galey. »Wir habensie schon benutzt.«

Und danach gab es nur wenig zu sagen. Die Ober-fläche stürzte auf sie zu, wurde zu Bergen und Dü-nen, über die die Landefähre mit abnehmender Ge-schwindigkeit hinwegflog.

Dort lag der Meeresgrund, ihr Wegweiser heim-wärts. Das Dus, das sich tapferer fühlte, stand aufund stemmte sich auf seine vier Beine. Duncan be-sänftigte es mit den Fingern, und es fing an, denknurrenden Laut des Behagens zu äußern, das aufzu-fangen, was in Duncans Bewußtsein lag.

Das Shuttle setzte auf und stand still. Die Luke öff-nete sich.

Die kalte, dünne Luft Kutaths drang herein. Dun-can befreite sich von den Gurten, stand auf, ließ dasDus los, als er nach der Gepäcktasche griff, und gingdann nach hinten zur Schleuse. Er hörte, wie hinterihm Galey aufstand, blieb stehen und wandte sich zuihm um.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?« fragte Galey mitseltsamer Stimme.

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»Ja.« Er wickelte sich den Schleier doppelt um dasGesicht, um die Luftveränderung leichter zu ertragen,und wandte sich wieder der Wildnis zu, die hinterder Luke lag. Er ging hinaus, die Rampe hinab, unddas Dus tappte an seinen Fersen hinterher, hinab aufden Sand, der nach der Welt dort droben ein ange-nehmes Gefühl der Wirklichkeit vermittelte.

Heimat.Er ging zu Anfang auf den Meeresabgrund zu,

schlug eine falsche Richtung ein. Er würde den rich-tigen Weg nehmen, sobald das Licht schwand, wenner sicher war, daß niemand ihn beobachten konnte. Erwürde die Gepäcktasche dort zwischen den Felsenvergraben, für eine zukünftige Notwendigkeit; ervertraute keiner menschlichen Gabe genug, um siemit zu den Mri zu nehmen; auch seine Waffen würdeer von den Hüllen befreien und untersuchen, miß-traute dem, was die Menschen vielleicht damit ge-macht hatten, solange er sie nicht in Händen gehabthatte. Sie würden ihm nicht folgen können.

Der Dienst an der She'pan. Das wilde, unberührteLand. Er sog die Luft tief ein, und erst nachdem er ei-ne beträchtliche Strecke zurückgelegt hatte, fing eran, sich darüber Gedanken zu machen, daß er dieFähre nicht starten gehört hatte.

Er blickte zurück und sah eine kleine Gestalt in derSchleuse stehen, die ihn beobachtete.

Er drehte sich um und ging weiter, und schließlichhörte er den Start.

Das Shuttle flog über ihn hinweg. Er blickte aufund sah, daß es eine Schleife flog, als wolle es ihngrüßen, und dann verschwand.