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Georg Christoph Tholen Digitale Differenz. Zur Phantasmatik und Topik des Medialen (Auszug, erschienen in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.), HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel 1997 (Stroemfeld Verlag, ISBN: 3-86109-141-0) 1. Der Befund, daß nachhaltiger als zu früheren Epochenschwellen im Zeitalter digitaler Medien Lebenswelt und Subjektivität des Menschen umgestaltet werden, gilt gemeinhin als unumstritten. Und doch ist es gerade diese den technischen Medien zugeschriebene Funktion, historische Schwellen oder Zäsuren zu markieren, die nicht eigens reflektiert wird und folglich ausufernde Spekulationen über die Krise des Menschen freisetzt. Gleichviel, ob hierbei das apokalyptisches Ende des Menschen oder die euphorische Ankunft einer vollends subjektlosen Maschinerie angekündigt 1 wird: der diskursive Einschnitt im Feld des Wissens, der sich der digitalen Technologie ebenso verdankt wie er diese ermöglicht 2 , ist als epochale Zäsur selbst kaum bedacht worden. Es mag, wie uns die wegen ihrer mimetischen Beschreibungskunst phänomenologisch gesättigte Dromologie Virilios gezeigt hat, an der überraschen und überraschenden Geschwindigkeit geschuldet sein, daß wir übersehen, genauer zu fragen, was es heißt, daß die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die Mensch-Maschine-Schnittstellen in bisher ungewohnter Weise neu konfigurieren. Doch frag-würdig ist hierbei vor allem nicht allein die essentialistisch fixierte Opposition von Mensch und Maschine oder der vermeintlich unversöhnliche Gegensatz von instrumentellem Mediengebrauch und interaktiver Kommunikation. Vielmehr ist vor allem der kategoriale Status eben dieser Schnittstelle problematisch. Denn diese , will man ihren kategorial eigenständigen Status ernstnehmen und nicht bloß unbedacht als Gebrauchsvorschrift eines zwischen Gerät und Anwender schon eingerichteteten Benutzerdesigns (interface) pragmatisch beschreiben, scheint ein seltsam interpretationsoffener, schwer zu lokalisierender Ab-Ort zu sein, ein Ort, der kein ontisches Kontinuum zwischen Mensch und Maschine darzustellen und zu repräsentieren erlaubt, sondern allenfalls eine ontologisch nicht fixierbare Relation von Zuschreibungen, Metaphern, Eigenschaften und Phantasmen, mit denen wir die operationalen Funktionen und medialen Möglichkeiten konstruieren. Die einzugestehende Orientierungskrise also, die mit der Universalisierung digitaler Technologie nicht nur die Grundannahmen der Geisteswissenschaften zu irritieren, sondern ebenso den instrumentellen Geltungsanspruch technischer Informatik sowie die dominant gewordene systemtheoretische Operationalität in den Kulturwissenschaften zu erweitern scheint, ist nicht zuletzt die des vieldeutigen Begriffs der Medialität selbst. So liegt der Mangel der bisherigen Entwürfe einer historisch wie systematisch ausgewiesenen Medientheorie nicht zuletzt in einem

Digitale Differenz. Zur Phantasmatik Und Topik Des Medialen

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Georg Christoph Tholen

Digitale Differenz. Zur Phantasmatik und Topik des Medialen

(Auszug, erschienen in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.), HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel 1997 (Stroemfeld Verlag, ISBN: 3-86109-141-0)

1.

Der Befund, daß nachhaltiger als zu früheren Epochenschwellen im Zeitalter digitaler Medien Lebenswelt und Subjektivität des Menschen umgestaltet werden, gilt gemeinhin als unumstritten. Und doch ist es gerade diese den technischen Medien zugeschriebene Funktion, historische Schwellen oder Zäsuren zu markieren, die nicht eigens reflektiert wird und folglich ausufernde Spekulationen über die Krise des Menschen freisetzt. Gleichviel, ob hierbei das apokalyptisches Ende des Menschen oder die euphorische Ankunft einer vollends subjektlosen Maschinerie angekündigt1 wird: der diskursive Einschnitt im Feld des Wissens, der sich der digitalen Technologie ebenso verdankt wie er diese ermöglicht2, ist als epochale Zäsur selbst kaum bedacht worden. Es mag, wie uns die wegen ihrer mimetischen Beschreibungskunst phänomenologisch gesättigte Dromologie Virilios gezeigt hat, an der überraschen und überraschenden Geschwindigkeit geschuldet sein, daß wir übersehen, genauer zu fragen, was es heißt, daß die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die Mensch-Maschine-Schnittstellen in bisher ungewohnter Weise neu konfigurieren. Doch frag-würdig ist hierbei vor allem nicht allein die essentialistisch fixierte Opposition von Mensch und Maschine oder der vermeintlich unversöhnliche Gegensatz von instrumentellem Mediengebrauch und interaktiver Kommunikation. Vielmehr ist vor allem der kategoriale Status eben dieser Schnittstelle problematisch. Denn diese , will man ihren kategorial eigenständigen Status ernstnehmen und nicht bloß unbedacht als Gebrauchsvorschrift eines zwischen Gerät und Anwender schon eingerichteteten Benutzerdesigns (interface) pragmatisch beschreiben, scheint ein seltsam interpretationsoffener, schwer zu lokalisierender Ab-Ort zu sein, ein Ort, der kein ontisches Kontinuum zwischen Mensch und Maschine darzustellen und zu repräsentieren erlaubt, sondern allenfalls eine ontologisch nicht fixierbare Relation von Zuschreibungen, Metaphern, Eigenschaften und Phantasmen, mit denen wir die operationalen Funktionen und medialen Möglichkeiten konstruieren.

Die einzugestehende Orientierungskrise also, die mit der Universalisierung digitaler Technologie nicht nur die Grundannahmen der Geisteswissenschaften zu irritieren, sondern ebenso den instrumentellen Geltungsanspruch technischer Informatik sowie die dominant gewordene systemtheoretische Operationalität in den Kulturwissenschaften zu erweitern scheint, ist nicht zuletzt die des vieldeutigen Begriffs der Medialität selbst. So liegt der Mangel der bisherigen Entwürfe einer historisch wie systematisch ausgewiesenen Medientheorie nicht zuletzt in einem

strikt bipolaren Schematismus von imaginären Bildern, Metaphern und Phantasmen, in denen wir die Gestalt der Technik wie des Menschen einzurahmen versuchen. Sowohl die nicht selten mit makrohistorischem Anspruch auftretenden kulturanthropologischen Annahmen über die Natürlichkeit oder leibunmittelbare (‘Lebens’-) Welt des Menschen, die durch die simulierende Künstlichkeit des Computers abgelöst oder ersetzt würde3, sind in ihrer bisweilen manichäischen Verlustrhetorik ebenso aporetisch wie die in ihrem Geltungsbereich notwendig instrumentell vorentschiedenen Modelle der Informatik. Ihr gemeinsamer, nur verschieden gepolter Nenner ist, wie Heidegger in seiner Frage nach der Technik gezeigt hat, die instrumentale und zugleich anthropologische Bestimmung der Medien als nützliche Werkzeuge - das heißt: als teleologisch nach Maßgabe des zielorientierten Gebrauchs definierte Mittel für restriktiv festgelegte oder beliebig unbestimmte Zwecke.

Aber gerade das letztgenannte Moment einer zweckunspezifischen oder zweckübergreifenden Beliebigkeit der Zwecke, welches mit dem Computer als digitalem Medium in den Vordergrund seiner immer noch operationalen Definition rückte, verweist auf eine Bestimmung des Medialen, die sich ihrer eigenen, bloß instrumentellen Definition zu entziehen beginnt. Es kristallisiert sich in diesem kleinen Wörtchen als die noch zu präziserende Bedingung der Möglichkeit, den Computer (und nicht nur ihn) als Medium bzw. mediale Konfiguration zu bestimmen.4 Einige der derzeit diskutierten Bestimmungen des Computers als Medium umkreisen diesen rätselhaften Status des ‘als ob’: Wir können unzweifelhaft nach nach klassischem Muster und in gewohnter Manier den Computer als Werkzeug, Rechenmaschine oder Automat zur Auswertung berechenbarer Funktionen oder, in transklassischer bzw. semiotischer Verallgemeinerung, als interaktives Instrument der kommunikativen Verarbeitung von Daten, Zeichen und Informationen bezeichnen. Wir können ihn - parallel zur Durchsetzung und Verbreitung seiner multimedialen oder hypertextuellen Verwendungen - als Metamedium definieren, wenn wir mit diesem ‘meta’ den Sachverhalt meinen, daß die medienunspezifische Übertragungsfähigkeit des Computers darin besteht, sich in all jene peripheren Einzelmedien der Text-, Bild- und Tonspeicherung und -übertragung, die er dank der universellen digitalen Konvertierbarkeit zu integrieren imstande ist, in einer gleichsam selbstverborgenen, unauffälligen Maskierung aufzulösen. Doch diese bloße Summierung instrumenteller Möglichkeiten bietet noch keine hinreichende Möglichkeit, den Mittelcharakter des digitalen Instrumentariums anders als im teleogischen Rahmen zu situieren.

Doch gerade in der von Medien-Informatikern nüchtern und zurecht pragmatisch aufgelisteten Möglichkeit, je nach selektiv definiertem Gebrauch und zugelassener Perspektive den Computer als Werkzeug und als Medium der Mitteilung (oder auch Form der Darstellung) zu definieren, bekundet sich - wegen dieses offenen Spielraums von ‘als ob’-Bestimmungen - das tertium datur einer mit sich selbst nie zusammenfallenden Medialität als Leerstelle, als Topik ortloser Platzverschiebungen, die diese Verwendungen oder Wendbarkeiten der universell programmierbaren Maschine erst zu lokalisieren erlaubt.

Dies gilt in kategorialer wie in historischer Hinsicht. Erst in einer solchen Perspektive nämlich, macht das berühmte, aber (nicht zuletzt vom Autor selbst) vorschnell popularisierte Diktum, daß Medium sei die Botschaft, oder, komplexer und genauer formuliert, was in Medien erscheint, sind andere Medien, einen nicht mehr nur

trivialen Sinn. Wäre Medialität nämlich deckungsgleich mit dem, was in der philosophischen Tradition als Mittel, Mitte, Milieu oder vermittelnde Trägerschaft, d.h. als (schlechte) Unendlichkeit von Mitteln, die einem ihnen äußerlichen Zweck dienen, aus- und ergiebig diskutiert wurde, so bliebe der Status der Medialität eingespannt in einer uferlose Verkettung von Werkzeugbestimmungen. Und es macht keinen nenneswerten kategorialen Unterschied hierbei, ob diese teleologische Diskursfigur in anthropologischer, instrumenteller oder systemtheoretischer Orientierung Medien als prothetische Extensionen des Menschen, als Geräte und Apparate oder als indifferentes Prägematerial einer in es als dem weichen Medium (N. Luhmann) einschreibenden Form von System-Umwelt-Unterscheidungen verrechnet. So richtig und triftig im je regionalen Gebrauch und alltäglichen Bewandtniszusammenhang diese stets vorentschiedenen Definitionen medienvermittelter Operationen ist, so wenig wird mit dieser Betrachtungsweise der epistemologische wie historische Konstitutionshorizont der digitalen Technik und mit diesem die zäsurierende, als solche unsichtbare Dazwischenkunft technischer Erfindungen lesbar. Und auch die kulturelle Unsicherheit gegenüber der sich im Denken wie im praktischen Umgang verlagernden Varieszenz medialer Gestaltungen bliebe eine zu vernachlässigende Begleiterscheinung einea sich von selbst ergebenden oder emergierenden Übergangs technischer Gestaltungen.

2.

Die Frage nach den Zäsuren oder Bruch-Stellen einer bilderlosen, inter-medialen5 Dazwischenkunft des Medialen meint keine Unsichtbarkeit innerhalb des Felds des Sichtbaren, vielmehr eine konstitutive Unsichtbarkeit, die das Sichtbare oder Zeigbare - rahmensetzend - allererst eröffnet, indem es sich diesem Rahmen entzieht. Der - hier nur grob skizzierte - Versuch, den paradoxal anmutende Befund einer chiastischen Verkreuzung von Sichtbarem und Unsichtbaren für eine medienphilosophisch pointierte Bestimmung einer medialen Topik fortzuschrieben, verdankt sich - philosophiehistorisch betrachtet - der Fragestellung der Phänomenologie im Augenblick ihrer Krise, das heißt im Gewahrwerden der Kluft der Sprache und der Technik, die die bewußtseinsphilosophisch nicht mehr garantierbare und auch in der Wahrnehmung vergeblich gesuchte Selbstgewißheit des Subjekts unhintergehbar zerstreut6 und unterläuft7. Am Rande der Phänomenologie und der Psychoanalyse artikuliert sich ein Denken der medialen Zäsur: innerhalb der Wahrnehmung und für diese uneinholbar vorgängig. Der skeptische Leitsatz der Phänomenologie - percipio, ergo sum -, der besagt, daß die Welt das ist, was ich wahrnehme, bekam in seiner vermeintlichen Evidenz gerade in der wie immer zunächst noch widerstrebend hingenommenen Zurkenntnisnhame medienvermittelter Wahrnehmung unheilbare Risse: Im Feld der visuellen Wahrnehmung, in der nach Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty die so genannte lebendige Gegenwart verbürgt schien, bricht - so Merleau-Pontys für unsere Frage nach der medialen Zäsur wichtige Selbstkritik der Phänomenologie - ein Unsichtbares ein, ein blinder Fleck, der das Sichtbare gleichwohl bedingt, aber nie vor Augen tritt8.

Wir können der Dinge nicht sicher sein, weil sie nie vollständig in unserem Gesichtsfeld auftauchen, anders: keine Erscheinung ist ohne das ihr vorgängige Zu-Erscheinen-Geben denkbar. Diese Einsicht ist eine implizit medientheoretische: Das Sichtbare als Sichtbares entspringt einem Horizont nur, indem das siesen Horizont markierende Nicht-Sichtbare, Horizontlose zurückgezogen hat. Wo immer sich etwas als etwas ex-poniert, hat sich bereits etwas abgetrennt, d.h. hat eine abwesende

Lücke bzw. Differenz der Wahrnehmung eine momentane, imaginäre Gestalt und Identität gegeben. Keine Präsenz wäre ohne die sie gebende, sie einräumende Absenz aussagbar. Die Anwesenheit unseres Sehens verdankt sich der Abwesenheit des Blicks, der entzogen bleibt, damit es überhaupt etwas - als Ausschnitt - zu sehen gibt. Dieser Rand des Gesehenen, der Rahmen, kommt im Gesichtsfeld nicht vor, ek-sistiert als Zäsur nur, indem diese ihrer eigenen Selbstgegenwart entzogen, vor-gängig bleibt. Merleau-Ponty nennt diese mediale Zäsur in seinem Spätwerk9 die unvordenkliche Dazwischenkunft des Anderen bzw. die ursprungslose Lücke, die zur Welt hinzugerechnet werden muß. Er nennt sie, in vorlaüfiger Metaphorik, das Fleisch der Zeit oder das ab-gründige Stellungspiel von Relationen, das weder Natur, noch Geist, noch Substanz für sich beansprucht. In der Philosophie gibt es für diese ‘Ent-Staltung’ des Sehens keinen Namen . Diese - sit venia verbo - Intervention des Symbolischen im Imaginären nennt Merleau-Ponty - unter Verweis auf Lacan10 - den Riß der Geschlechterdifferenz oder - an anderer Stelle - die Kehrseite der Sprache : ein Geflecht der Abwesenheit, das nicht wie eine bloße Maske vom rohen Sein der Wahrnehmung abgezogen werden könnte.

Diesen Rand des Sichtbaren hat die Psychoanalyse in dem an zeitlichen Paradoxien reichen Spiegelstadium dargelegt und für eine Theorie des Imaginären, und das heißt auch: für die faszinierenden Trugbilder und Modelle einer quasi-organischen Ganzheit und Vollständigkeit, die wir der Entwicklung und dem Ziel der Technik unterstellen, untersucht. Das Schema dieser von Lacan vielfach beschriebenen ‘gestaltistischen Bestrickung’ modelliert nicht selten unser imaginäres Verständnis der Struktur technischer Artefakte. So findet sich nicht von ungefähr die Diskursfigur der Leib-Projektion, mittels derer die Medien als prothetische Organersatz und Körperextension verrechnet werden, in beinahe gleichsinnigen Aussagemustern in der Technikphilosophie, der Theorie des kommunikativen Handelns, den kulturanthropologischen Mediendebatten der Gegenwart wie in den systemtheoretischen Modellen der Selbsterhaltung. Was ist ihr basales Axiom, das schon in der Definition etwa des Hammers als Ersatz oder Verlängerung des Armes als Vorbild für die unmittelbare Wechselwirkung oder imaginäre Entsprechung von Körperfunktion und technischem Gerät seit altersher dienen mußte?

Die Erfindungen oder Leistungen der modernen Technik werden teleologisch bestimmt als Erweiterung der physischen und sensorischen Fähigkeiten des menschlichen Körpers, die ‘Steigerung’ seines intellektuellen Vermögens eingeschlossen. So seien auch die neuesten elektronischen Medien Mittel für den Zweck, „unsere unmittelbaren physischen und sensorischen Leistungsfähigkeiten zu erweitern.“11

Das Phantasma der Rückbindung des Technischen in den menschlichen Leib - der Gestus der Einverleibung der Werkzeugfunktionen - projiziert auf technische Gestalten die gestaltgebende Funktion des imaginären Körperbildes: Das Bild nämlich, das notgedrungen der Mensch sich von seinem Körper macht, hält diesen – einheitsstiftend – zusammen. Mit diesem Kohärenz und Dauerhaftigkeit versprechenden Bild des Körpers bildet sich der Mensch zugleich ein, daß seine motorischen und intellektuellen Funktionen ins ganzheitliche Schema integrierbar und, von diesem ausgehend, auf die Technik auszudehnen wären. Alle Körperteile, wie dissoziiert und verselbständigt sie auch wahrgenommen werden, gelten als Teile eines imaginierten Ganzen. Zweck seiner selbst, ist diesem Leibschema zufolge das Fremde an den technischen Artefakten nur instrumentales Mittel seiner

Selbsterhaltung. Folglich gehorche jeder „technische Ersatz eines Organs“ auf gleichsam organische Weise dem Gestaltungswillen und Ganzheitsstreben des Leibes. Das Technische wiederum, derart anthropologisch heimgeholt und bar eines eigenen heterogenen Registers, läßt sich so als dem Körper entfremdete Anordnung ersatzlos streichen.

Dieser in den zeitgenössischen Medienszenarios von Baudrillard, Rötzer, Bolz, Virilio u.a. wie unfreiwillig auch immer sich fortschreibende Fetischismus des unentfremdeten bzw. technisch überformten Leibes gibt vor, es gäbe ein vom dinglichen oder gar falschen Schein des Technischen ablösbares und unersetzbares Proprium des Menschen, in welchem die Technik sich letzlich aufzuheben habe. Indem diese Diskurse die Medien als prothetische Ordnungen eines Selbst oder Wir fingieren, d.h. zum ureigensten Bestand des Menschen (unter dem Namen: Leib, Leben, Geist oder System)12 hinzuzählen, verdoppeln sie in eigentümlicher Weise den anthropomorphen Narzißmus noch dort, wo sie das Ende des Menschen beschwören. Die Frage nach dem problematischen Status des Menschen im digitalen Zeitalter kann nur gestellt werden als die Frage nach der medienhistorischen Un-Beständigkeit des Technischen (...)

(1) vgl. zum Dilemma implizit geschichtsphilosophischer Annahmen über die Neuen Medien meine Bemerkungen zu einem ARTE-Gespräch, das zwischen P. Virilio und F. Kittler im November 1995 stattfand: G.C. Tholen, Ende des Menschen?, in: Lab, Jahrbuch für Künste und Apparate, Köln 1996, S. 320 - 324

(2) vgl. hierzu u.a. die Beiträge von Wolfgang Coy, Wolfgang Hagen, Friedrich Kittler und Martin Warnke in diesem Band

(3) vgl. hierzu meinen Versuch, diese Diskursfigur der Entfremdung, die sich bei Lewis Mumford und Joseph Weizenbaum ebenso finden läßt wie bei Vilém Flusser, Derrick de Kerckhove und Jean Baudrillard, als lebensphilosophische Phantasmatik zu bestimmen: Georg Christoph Tholen, Platzverweis. Unmögliche Zwischenspiele von Mensch und Maschine, in: Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium, München 1994, S. 111 - 138

(4) Nicht ohne Feingefühl gegenüber einer mit Neuen Medien sich verlagernden Frage nach der Technik betiteln die Herausgeber einer Delphi-Studie, d.h. einer dialogischen Befragung von Experten (Informatiker und Medienwissenschaftler) über ihre eigenen Redeweisen, Ansichten und Aussagetypen über den Computer, ihre Ergebnisse mit dem Titel „ Das allmähliche Auftauchen des Computers als Medium“ (Angelika Hoppé, Frieder Nake, Bericht Nr. 3/95, Universität Bremen, Fachbereich Mathematik und Informatik)

(5) vgl. hierzu den Beitrag von Joachim Paech in diesem Band

(6) vgl. hierzu u.a.: Jacques Derrida, Kraft der Trauer, in: Michael, Wetzel/Herta Wolf (Hrsg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 13 -36, sowie Iris Därmann, Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte, München 1995

(7) Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986

(8) vgl. hierzu meine zusammenfassende Lektüre in: Georg Christoph Tholen, Der Verlust (in) der Wahrnehmung. Zur Topographie des Imaginären, in: texte. psychoanalyse. ästhetik.kulturkritik, Heft 3/95, 15.Jg.,Wien 1995, S. 46 - 75

(9) Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986

(10) die Ambiguität der Phänomenologie gegenüber der nicht-phänomenalisierbaren Struktur des Signifikanten ( i.e. der Ordnung des Symbolischen) analysiert Lacan an verschiedenen Stellen seines Werkes; eine Zusammenfassung findet sich in: Jacques Lacan, Maurice Merleau-Ponty, in: ders., Schriften III, Olten 1980, S. 237 - 249

(11) Friedrich Rapp, Die moderne Technik zwischen Entfaltung und Beschränkung, 1991, S.25; die Grundannahme dieser evolutiven-geschlossenen Verbindungslinie zwischen Mensch und Technik, die in der Theoriegeschichte des Ingenieruwesens ebenso wie in der Philosophie der Technik und der Mediananthropologie McLuhans wirksam bleibt, ist nicht nur, wie B. Waldenfels zurecht hervorhob (....), die ontologische Reduktion der Technik, die gerade deren antiplatonischen Experimentierstatus verkenne oder überspringe, sondern das ontologische Schema der evolutiven Linearität selbst. Dieses, sowohl dem progressiven wie regressiven Muster der Kulturkritik eigen, unterstellt eine imaginäre Achse, auf der in spiegelbildlicher Symmetrie Wesensbestimmungen von Mensch und Technik zu- oder abgesprochen werden können; ihre jeweilige Bewertung unter positivem wie negativem Vorzeichen verändert wenig an der Konstruktion dieses bloß imaginären Gestaltwechsels technischer Diskurse. Dieser imaginäre Vergleichszwang, der seine instrumentelle Vorentschiedenheit des jeweils zu re-präsentierenden Wahrnehmens, Denkens und Wissens zirkulär vorrausetzen muß, läuft leer, wie neuerdings in der Forschung zur künstlichen Intelligenz deutlich gewordenen ist: leer oder in sich kreisend, weil das in imaginären Modellen konstruierte Ähnliche (etwa zwischen menschlichem und maschinellem Denken) als solches - als vergleichbare Leistung nämlich - bereits gesetzt ist.

(12) Auch die kognitionstheoretisch und systemtheoretisch basierte Forschung, die im Anschluß an die in Biologie und Neurologie durchaus produktiven Modelle der Autopoiesis und Selbstorganisation Medien (namentlich: Wahrnehmungsmedien) als Kopplungen von rekursiven Interaktionen zwischen autonomen, geschlossenen Systemen definieren, bleiben dem letzlich anthropologischen Schema intentionaler Handlungen bzw. kognitiv-bewußter Selbstbeobachtung verhaftet (vgl. Oswald Wiener, Probleme der Künstlichen Intelligenz, Berlin, 1990; Peter Spangenberg, Mediale Kopplungen und die Konstruktivität des Bewußtseins, in: H.U. Gumbrecht/ K.L. Pfeiffer (Hrsg), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M., 1991, S. 791-808). Die hierbei nicht zu vermeidende Diskursfigur der metaphorischen Übertragung von der biologischen Systemtheorie entlehnten Modellen des Gehirns als geschlossenen bzw. endlos iterierenden Systems von Kognitionen auf technische Medien läßt den irreduziblen eigenen Systemstatus der medialen Techno-Logie ungeklärt. Zwar vermögen diese ‘sytemtheoretisch’ sich verstehenden Forschungsansätze die durch die technischen Medien beschleunigte und soziokulturell inzwischen alltäglich gewordene Auflösung der subjektiven Kohärenz von Körpererfahrung und Sinneswahrnehmung zu

beschreiben, doch beschränkt sich ihr Geltungsbereich auf das Problemfeld massenmedialer Kommunikation oder auf rezeptive und adaptive Stile und Rhythmen der Kopplungsarten von Mensch-Maschine-Schnittstellen. Diese wiederum werden, da rückgebunden an das Schema der Inter-Aktion oder Hand-lung, der als „natürlich“ unterstellten Perzeption und ästhetischen Wahrnehmung des Menschen zugeordnet. Psychische und soziale Systeme werden als Systeme bewußter Handlungen bzw. selbstreferentieller Kommunikation immer schon vorausgesetzt, nicht aber als ihrerseits histotisch variable Effekte medientechnologischer Konfigurationen untersucht (vgl hierzu u.a.: Niklas Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: H.U. Gumbrecht/ K.L.Pfeiffer (Hrsg), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M., 1988, S. 884 -908, Peter Fuchs, Kommunikation mit Computern. Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologica internationalis,hrsg. von E. Pankoke, 1991, Bd.2, Heft 1, S. 3-31