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Dinge auf Reisen · Zur Phänomenologie eines Hotelbettes ... Materialität für die touristischen Akteure von ... bringt eine Beschäftigung mit der Materialität des Unterwegsseins

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Dinge auf Reisen

Münchner Beiträge zur Volkskundeherausgegeben vomInstitut für Volkskunde/Europäische Ethnologieder Universität München

Band 38

Die Publikationen der ReiheMünchner Beiträge zur Volkskunde werden vonder Münchner Vereinigung für Volkskunde e.V.großzügig gefördert

Dinge auf ReisenMaterielle Kultur und Tourismus

herausgegeben vonJohannes Moser und Daniella Seidl

Waxmann 2009 Münster / New York / München / Berlin

Bibliographische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Informationen in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8309-2203-2ISSN 0177-3429

© Waxmann Verlag GmbH, Münster [email protected]

Umschlaggestaltung: Natalie Bayer, MünchenTitelbild: Daniella SeidlSatz: Natalie Bayer, MünchenDruck: Hubert & Co., GöttingenGedruckt auf alterungsbeständigen Papier, DIN 6738

Alle Rechte vorbehaltenPrinted in Germany

Helge Gerndt zum 70. Geburtstag gewidmet

Inhalt

Dinge auf ReisenKulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur in der TourismusforschungDaniella Seidl/Johannes Moser ................................................................ 11

Reise-Fieber Die Materialität von Bewegung und EmotionOrvar Löfgren ............................................................................................... 25

Prosperitätstourismus und das letzte Hemd, das keine Taschen hat Über materielle Ansprüche und die immaterielle Bedeutung des heutigen Tourismus Dieter Kramer ............................................................................................... 53

Tupperdose mit Heimaterde Die Dingwelt in ReiseimaginationenChrisiane Cantauw ....................................................................................... 69

Tauromaquia – Eine Kontroverse um Stiere und IdentitätenDie Vermittlungsrolle des Tourismus-Raumes bei der Aushandlung von BedeutungAntonio Miguel Nogués Pedregal ............................................................ 83

Fremde Dinge Moscheen in westeuropäischen Metropolen als touristische Sehenswürdigkeiten Burkhart Lauterbach ................................................................................. 103

Der Urlaub im Wohnzimmer Dinge als symbolische Repräsentation von Reisen –Reiseandenken und SouvenirsBurkhard Pöttler ......................................................................................... 119

„Made in Berlin“ Souvenirs nach der JahrtausendwendeAnja Früh ..................................................................................................... 137

Westfälische Kulinarik in Reiseberichten und touristischer Vermarktung Sonja Böder ................................................................................................. 153

Lederhose auf Reisen Figurationen über Missverständnisse anhand eines bekannten KleidungsstücksMartin Jonas ................................................................................................ 167

„Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ Die Grauzone zwischen Tourismus und Migration am Beispiel des Gepäcks von NeuseelandauswanderernTanja Schubert-McArthur ........................................................................ 179

Gabe, Opfer, Ware – Dinge auf Trekking-ReisenKundri Böhmer-Bauer ............................................................................... 197

Zur Phänomenologie eines Hotelbettes Conny Eiberweiser ..................................................................................... 211

Frühstückspension und EckbankEine materielle und materialistische Kultur der EngeMichael Zinganel ....................................................................................... 225

Im Eigenheim um die WeltZum Umgang von Weltumseglern mit ihren YachtenMartina Kleinert ......................................................................................... 245

„Pixi geht wie ein Sofa über die Prachtstraße.“ Das Auto im Tourismus der Nachkriegszeit Cord Pagenstecher ..................................................................................... 263

Deutsche Spanienreisen ausgestelltMargarete Meggle-Freund ....................................................................... 281

Die Mittelmäßigkeit des Reisens Ein Plädoyer zur Erforschung der materiellen Kulturen des TourismusKlara Löffler ................................................................................................ 299

Dank.............................................................................................................. 311

Autorinnen und Autoren ........................................................................... 312

Dinge auf Reisen Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur in der Tourismusforschung

Daniella Seidl/Johannes Moser

Wer kennt nicht das (Kinder-)Spiel „Ich packe meinen Koffer …“, das uns dazu auffordert, eine möglichst große Anzahl von Dingen zu repetieren, die auf Reisen mitgenommen werden können. Ich packe meinen Koffer und nehme mit: die Taucherbrille, das Badezeug, den Regenschirm, das Medika-ment gegen Reisekrankheit usw.Keiner reist ohne Gepäck. Nicht nur im Imaginären, sondern auch im Realen packen wir unsere Koffer oder Rucksäcke mit nützlichen Dingen: Der Reisepass, der Geldbeutel und die Zahnbürste stehen hier sicherlich an erster Stelle. Aber auch lieb gewordene und vertraute Dinge werden einge-packt, von denen wir glauben, sie auf Reisen nicht missen zu wollen und zu können: das Foto der Daheimgebliebenen, der Talisman oder das Lieblings-T-Shirt. Denn die Menschen sind (nicht nur) auf Reisen „an sich unterwegs, sondern sie sind es mit sich“ (Rolshoven 2006: 190), sie reisen immer auch mit ihren Gewohnheiten und mit ihren Dingen.

Das Reisen stellt einen Erfahrungs- und Handlungsraum dar, der gerade zwischen dem Wunsch nach Vertrautem und der Neugier nach Fremdem oszilliert. Den Dingen fällt hier eine wichtige Bedeutung als emotionale Verbindungsglieder zwischen Alltag und Urlaub zu, sie dienen als ‚Link‘ und verknüpfen beide Bedeutungssetzungen (vgl. Larsen 2008).

Doch die Dingwelt in unseren Koffern umfasst nicht nur die mitgenom-men Objekte des alltäglichen Gebrauchs und der vertrauten Gewohnheiten, sondern auch die der zurückgebrachten Souvenirs und Erinnerungsstücke. In meinen Koffer packe ich (auf dem Weg nach Hause): die gefundene Muschel vom Strand, die Schneekugel mit dem Eifelturm und die Chian-tiflasche im Bastmantel.

Diese zurückgebrachten Dinge erweisen sich, wie schon Konrad Köstlin konstatierte, als „Andenken und Auftrag“ in einem (Köstlin 1991: 140). Sie fungieren als individuelles Erinnerungsobjekt und sind zugleich als sym-bolkommunikatives Belegstück unserer Reisen für die Anderen anzusehen.

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Reiseandenken repräsentieren unseren ‚Reise-Stil‘ (vgl. Georg 1995) und dienen somit als Distinktionsinstrumente: Der Kulturreisende bringt gerade nicht die Plastik-Reproduktion en miniature der besuchten Sehenswürdigkeit mit nach Hause, sondern das vermeintlich ‚authentische‘ Kunsthandwerk der bereisten Region. Und der Pauschalreisende hat vice versa das Rolex-Imitat vom Strandverkäufer und nicht den handgeknüpften Orientläufer im Gepäck. Auch wenn hier augenscheinliche ökonomische Gründe für die Wahl der mitgebrachten Souvenirs ausschlaggebend scheinen und zugleich das ‚alte Spiel‘ im Tourismus zwischen ‚echt‘ und ‚falsch‘, ‚authentisch‘ und ‚hergestellt‘ (vgl. Cohen 1979; McCannell 1999) bewusst oder unbewusst mitgespielt wird, so sind diese Dinge immer auch Ausdruck des sozialen und kulturellen Kapitals des Reisenden.

Doch die Dinge und das Reisen finden nicht nur im Koffer und seinen Inhalten eine allgegenwärtige Verschränkung. Es ist gerade die sinnliche Wirkmächtigkeit der Materialität, die den Erfahrungsraum ‚Urlaub‘ aus-macht. In den Ferien wollen wir durch die „Präsenzeffekte von Orten und Dingen“ (Tschofen 2007: 194) das ‚Andere‘ erfahren. Das Reisen als Erleb-nis suchen und finden wir (gerade auch) über und mit den Dingen: Sei es die bunte Hängematte, in der wir am Strand von Kerala liegen, sei es der süffige Sangria, den wir aus Bechern am Ballermann auf Mallorca trinken oder das Campingmobil, das unseren Wunsch nach Beheimatung und zugleich Freiheit im Unterwegssein zu erfüllen vermag.

Dennoch sind diese Dinge auf Reisen nicht nur in ihrer konkreten sinnlichen Materialität für die touristischen Akteure von Bedeutung, sie sind immer auch als intersubjektive Ordnungssysteme gesellschaftlicher Konstruktionen zu verstehen und zu deuten. Die Semantik der Dinge und des Umgangs mit ihnen im touristischen Kontext unterliegt nicht nur einer soziokulturellen Bedeutungssetzung, sondern auch dem historischen Wandel. Jede Reiseform heute und gestern umfasst spezifische Gegenstände. Der Italienreisende der Romantik und der ‚Wirtschaftswunder-Tourist‘ im selben Land reprä-sentieren sich durch unterschiedliche Dingwelten (vgl. u.a. Pagenstecher 2003): So hat der eine Zeichenblock und Goethes Gedichte im Gepäck, der andere Sonnencreme und Caprihose. Sucht der ‚bildungsbürgerliche‘ Reisende des 19. Jahrhunderts nach geistiger Erbauung durch antike Ruinen und Renaissance-Kunst, so erwartet der Pauschaltourist in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Erholung im Liegestuhl und die preiswerte Pizza.

Im sich immer weiter ausdifferenzierenden Spektrum moderner Touris-muspraktiken sind es gerade die Dinge, die als Symbole von Ausschluss und Zugehörigkeit fungieren: Kein Backpacker ohne ‚Lonely Planet‘ (vgl. Binder

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2005), kein Sinn suchender Reisender nach Santiago de Compostela ohne Pilgerstab und Jakobsmuschel. Die Dinge in ihrer symbolkommunikativen Zeichenhaftigkeit verweisen so immer auch auf Reisekonzepte und -stile der touristischen Akteure.

Dinge und Reisen, das meint aber auch die Ding(-Welten), mit denen der touristische Raum ausgestattet ist und zugleich hergestellt wird: Die Club-Ressorts an den Stränden der Welt sind ohne die sich gleichende Aus-gestaltung mit Liegestühlen, Sonnenschirmen, Kinderspielecken und Fit-nessgeräten nicht denkbar. Im Wellnesshotel erwarten wir den Plüschbade-mantel und die Duftkerze, im Abenteuerurlaub das bereitgestellte (Extrem-)Sportgerät und das Survival-Kit.

Touristisches Marketing greift dennoch immer auch auf die materielle Kultur der zu bereisenden Orte und Regionen zurück. Nicht nur das ‚cul-tural heritage‘ (vgl. u.a. Hemme u.a. 2007) ist für die Bewerbung und Insze-nierungen im Tourismus von großer Bedeutung. Auch Alltagskultur wird immer mehr zum Werbeträger, bei dem Traditionen re- beziehungsweise neu konstruiert werden. Vor allem regionale Artefakte und Produkte unterliegen einem Prozess der ‚Versehenswürdigkeitung‘, kein Reiseführer, der nicht nur mit der Baukultur, sondern auch mit ‚typischen‘ Handwerkstraditionen oder agrarischen beziehungsweise gastronomischen Kulturtechniken und dessen Produkten wirbt; selbst im innerdeutschen Tourismus spiegelt sich dies wieder: Neben seinen Königsschlössern und Bauernhäusern instrumenta-lisiert Bayern auch seine Brautradition und Weißwürste zu Werbeträgern. Die materielle Kultur der bereisten Orte wird zur wichtigsten Ressource im Wettbewerb um Einnahmen durch den Tourismus. Die Konstruktion des Tourismusraumes ist zugleich als Produkt von Interaktionen und einem dialogischen Aushandlungsprozess aller beteiligten Akteure zu verstehen, und kann sich hier durchaus als identitätsstiftend für die Bereisten erweisen. Die materielle Ausgestaltung touristischer Räume ergibt sich so aus den Erwartungen der Reisenden und den Re-Traditionalisierungsprozessen der vor Ort bestehenden Materialität durch die Ansprüche der Bereisten (vgl. Römhild 2004).

Das Zusammenspiel von Dingen und Reisen, von materieller Kultur und touristischen Räumen zeigt sich aber nicht nur an diesen hier selektiv ausge-wählten Beispielen als ein komplexes Gefüge zwischen konkreter Materia-lität, intersubjektiven Praxen und soziokulturellen Konstruktionsprozessen von Bedeutungen.

Die Beschäftigung mit den Dingen des Reisens ist – so kann gefolgert werden – einer tiefer gehenden systematisierenden Analyse wert. Dennoch

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könnte man immer noch gleichsam von einer ‚Dingvergessenheit‘ der (kul-turwissenschaftlichen) Tourismusforschung sprechen.1 Die Erforschung des vermeintlich Marginalen erscheint dabei als ein Versuch, aus den Dingen das ‚große gesellschaftliche Ganze‘ zu konstruieren, der aber gleichzeitig die Gefahr birgt, sich allzu leicht zu überheben (vgl. Bachmann 1997): Was ver-rät uns schon – so zaudert der Forscher – die Taucherbrille im Koffer des Reisenden, außer dass Letzterer im Meer schnorcheln möchte? Was erzählt uns die mitgebrachte Plastikkopie des Eifelturms, außer dass der Reisende in Paris war und zumindest vor ‚Kitsch‘ nicht zurückschreckt?

Sind die Dinge wirklich so banal und wenig aussagekräftig, wie sie zunächst erscheinen mögen? Sachen bleiben nur ‚stumm‘, das hat schon Otto Lauffer angemahnt (vgl. Lauffer 1943), wenn wir nicht aus ihrem Kontext zu lesen vermögen, denn über das Handeln mit und über die Dinge können wir die Bedeutungen erkennen, die sie transportieren und zugleich setzen.

Die sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Volkskunde in den 1980er Jahren sowie die Hinwendung zur Kulturanthropologie haben uns zwar ein interdisziplinäres Instrumentarium theoretischer Konzepte beschert, auf das nicht zu verzichten ist, dennoch scheint die in den angloamerikanischen Sozial- und Kulturwissenschaften vorgenommene Orientierung der letzten Jahrzehnte auf die materielle Kultur des sozialen Lebens noch nicht wirklich mitvollzogen.2 Das dort schon in den späten 1970er Jahren propagierte „to read the persons life and personality, and place in society from the goods“ (Douglas/Isherwood 1979: 59) oder die Frage „why some things matter?“ (Miller 1998) erscheinen in der deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung oftmals nur als ein randständiger Aspekt.3

Die Beschäftigung mit den Dingen ist – so müsste man meinen – für die volkskundliche/kulturwissenschaftliche Sachkulturforschung nicht neu, sieht diese doch spätestens seit dem Regensburger Volkskunde-Kongress 1983 auf den Umgang mit den Dingen und nimmt diese als hochkomplexe Bedeutungs- und Ordnungssysteme ernst (vgl. Korff 2005; Heidrich 2007;

1 Als Ausnahme sind hier wohl die Forschungen zu Souvenirs zu konstatieren; vgl. Köst-lin (1991); Gyr (2005; 1997; 1994).

2 Exemplarisch hierzu die Arbeiten von Daniel Miller und Arjun Appadurai; vgl. u.a. Miller (1998; 2008) und Appadurai (1986).

3 Die Dingwelt überlassen wir allzu gerne den Kollegen im Museum, auch wenn hier die Ausstellungsprojekte zur Tourismusgeschichte und ihren materiellen Repräsentationen recht rar gesät sind (vgl. Siebenmorgen 1997; ebd. 2007; Museum für angewandte Kunst 2006). Das einzig größere Tourismusmuseum, das ‚Touriseum‘ in Meran, befindet sich bezeichnenderweise selbst in einem hoch aufgeladenen Raum deutscher Tourismusge-schichte; vgl. http://www.touriseum.it (29.4. 2009).

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Eggmann 2009). Doch haben die hier seit Jahrzehnten erarbeiteten Kon-zepte noch keinen wirklichen Eingang in die Beschäftigung mit touristischen Phänomenen gefunden. Auch hier mag ein Blick über den disziplinären Tellerrand helfen.

Gerade in der angelsächsischen Tourismusforschung beziehungsweise ihrer Umdeutung als Teilaspekt einer Mobilitäts- oder Multilokalitätsforschung (vgl. Urry 2000; 2007; Hall/Müller 2004) stehen die Dinge zusehends im Fokus. Die hier vollzogene Perspektivenverschiebung auf eine „touring culture“ (Rojek/Urry 1997) bringt eine Beschäftigung mit der Materialität des Unterwegsseins und der Bedeutung der Dinge für die temporären Verortungsprozesse der Akteure mit sich (vgl. Baerenholdt u.a. 2004; Larsen 2008).4

Noch sind jedoch Studien der Europäischen Ethnologie, die sich dem „linking mobility, materiality and belonging“ (Bendix/Löfgren 2007: 15) zuwenden, an einer Hand abzuzählen, was eigentlich verwundern sollte. Denn der kulturwissenschaftlichen Volkskunde – was die kleine Klage der Dingvergessenheit unseres Faches verdeutlichen sollte – stehen durchaus neue und alte, interdisziplinäre und eigenständige Konzepte zur Verfügung, um in der Tourismusforschung der Bedeutung der materiellen Kultur Rech-nung zu tragen. Es scheint fast so, dass das mittlerweile negativ konnotierte Bild einer traditionellen Volkskunde vor der Mitte des 20. Jahrhunderts noch immer ein immanentes Unwohlsein im wissenschaftlichen Umgang mit den Dingen bewirkt: Bleiben unsere Analysen nicht verhaftet im rein Phänome-nologischen oder bestenfalls in der von Gebrauchsformen? Kann aus der Betrachtung des Rollkoffers, des Autos oder des Hotelbettes wirklich ein erkenntnistheoretischer Mehrgewinn erwachsen? Diese Fragen stellten und stellen sich uns sowie einigen Teilnehmern der Tagung Dinge auf Reisen, deren Ergebnisse in diesem Band versammelt sind.

Die Herausgeber dieses Sammelbandes haben sich möglichen Antworten angenommen und versuchen hiermit, die Wissensbestände der Tourismus- und der Sachkulturforschung gleichsam in einen Koffer zusammenzupa-cken. Ausgangspunkt dieser Problemstellung, wie man anhand der Unter-suchung von Dingen nutzbringende Konzepte für die Tourismusforschung erarbeiten kann, war die 8. Kommissionstagung für Tourismusforschung in der dgv, die vom 10. bis 12. April 2008 in München am Lehrstuhl für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität abgehalten wurde. Dieses Arbeitstreffen nicht nur kulturwissenschaftlicher

4 Vgl. auch die 2007 vom Centre of Tourism and Cultural Change der Metropolitan University of Leeds abgehaltene Tagung „Things that move. The Material Worlds of Tourism and Travel“; vgl. http://www.tourism-culture.com (29.4.2009).

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Tourismusforscher hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Dinge im Kontext touristischer Erfahrungs- und Handlungswelten in den Blick zu nehmen. Das Thema Dinge auf Reisen richtete sich zum einen auf die Dinge selbst in ihrer „spezifischen Kombination von Materialität, Form und Funktion“ (Korff 2005: 39). Zum anderen auf die symbolkommunikativen Zeichen-funktionen und komplexen Bedeutungsebenen der Objekte für und im Tourismus.

Diese Verschiebung der Perspektive auf die Dinge erlaubt es – so argu-mentierten wir in unserem Call for Papers –, neue Themenfelder zu bearbei-ten und damit die ‚alten Fragen‘ nach der Bedeutung des Reisens anders zu stellen: Die Fokussierung auf die Dinge des Reisens – für und der Touristin-nen und Touristen – ermöglicht es, den Blick auf die konkrete Erfahrungs-welt des Reisens zu schärfen. So sind nicht nur die verbindenden Elemente zwischen Alltag und Urlaub, sondern auch die immanenten Bestandteile des Erlebnis- und Kommunikationsraumes ‚Tourismus‘ zu greifen. Und so kann die Kulturpraxis des Reisens in ihren vielfältigen Dimensionalitäten für die Akteure erfasst werden.

Der hier vorliegende Tagungsband packt – um nochmals diese Metapher zu bemühen – einen Arbeitskoffer mit interdisziplinären Beiträgen, indenen die Thematik und immer auch zugleich die Valenz der materiellen Kultur für die Tourismusforschung im Fokus stehen. Nicht nur Volks-kundler/Europäische Ethnologen beziehungsweise Kulturwissenschaftler, sondern auch Kulturanthropologen, Geschichtswissenschaftler, klassische Ethnologen und Architekturhistoriker beziehungsweise Künstler entwerfen hier eine thematische Neu-Perspektivierung auf die polyvalente Dimensi-onalität der materiellen Kultur und versuchen, das soziokulturell geprägte Mensch-Ding-Verhältnis im Kontext der Tourismusforschung auszuloten.

Eingeleitet wird der Tagungsband mit einem Beitrag des Europäischen Ethnologen Orvar Löfgren, der sich mit den Beziehungen zwischen Materi-alität, Mobilität und Emotion auseinandersetzt. Löfgren begreift das Reisen als eine (erst) zu erlernende Kulturtechnik und fragt danach, welche (psy-chischen) Kompetenzen notwendig sind, um mit der materiellen Welt des Reisens umzugehen. Am Beispiel der Eisenbahnreise im 19. Jahrhundert und der Flugreise im 20. Jahrhundert entwirft er eine emotionale Ethnogra-fie des Wartens, des Umgangs mit dem Gepäck und auch der (bedrohlichen) Gefühlszustände wie Reisefieber und Flugangst während des Reisens. Löf-gren plädiert in seinem Beitrag für eine vergleichende historische Perspek-tive, um so die gesellschaftlichen und materiellen Bedingungen erkennen zu können, unter denen emotional geformte Reiseerfahrungen und von

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den Dingen geprägte Praxen sich ausbilden. Das Reisen als Kulturtechnik erweist sich so als eine erworbene Fähigkeit, die unter spezifischen Kontex-ten und deren Materialität entsteht und dabei immer auch einem Prozess des historischen Wandels unterliegt.

Der Kulturwissenschaftler Dieter Kramer fragt nach dem Verhältnis zwischen den materiellen Ansprüchen und der immateriellen Bedeutung des Reisens. Er versteht den modernen Tourismus als Phänomen aktueller Wohlstandsgesellschaften, in denen Lebensqualität und Bedürfnisse immer auch mit Konsum gekoppelt sind. Kramer fordert dennoch eine kulturwis-senschaftliche Tourismusforschung, die die Ebene der Erfahrung und des Erlebens im Besonderen berücksichtigt, denn gerade die Aspekte des ‚Pros-peritätstourismus‘, die man nicht kaufen kann, sind es, die den Erlebniswert Reisen ausmachen. Die Analyse dieser individuellen und gesellschaftlichen Bedeutungen des Tourismus ermöglicht es, soziale Verantwortlichkeiten zu diskutieren und Handlungsanleitungen für eine zukunftsfähige und nach-haltige Tourismusentwicklung unter den Bedingungen der Prosperität zu entwerfen.

„Warum tut sich die Tourismusforschung so schwer mit der Dingwelt?“, fragt die Europäische Ethnologin Christiane Cantauw. Sie beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem erkenntnistheoretischen Gewinn einer Analyse der materiellen Kultur des Reisens für die Tourismusforschung. Cantauw for-dert, die Dinge auf Reisen als Bedeutungssysteme zu untersuchen; im Sinne Roland Barthes versteht sie diese als komplexe semiotische Mitteilungssys-teme. Gerade der Blick auf die Semantik der Dinge erschließt die eng ver-wobenen Kommunikationsstrukturen und reziproken wie vielschichtigen Bedeutungszuweisungen der materiellen Kultur auf Reisen für die Indivi-duen und sozialen Gruppen. Am Beispiel der so genannten ‚Inselfrage‘ zeigt Cantauw, dass eine Sinnvermittlung über Dinge im Kontext des Reisens jenseits ihrer stofflichen Präsenz möglich ist und sich eine Beschäftigung mit den Dingwelten und damit verknüpften ‚Mythen‘ (im Sinne Barthes) als relevant für die Tourismusforschung erweisen kann.

Der Beitrag des spanischen Kulturanthropologen Antonio Miguel Nogués Pedregal befasst sich mit der Produktion und Reproduktion von Bedeutun-gen in touristischem Raum und untersucht die Dinge auf Reisen in ihrer identitätsstiftenden Funktion (auch) für die Bereisten. Pedregal interessiert sich dafür, wie der Tourismus die Art und Weise, wie die Menschen vor Ort ihre Kultur wahrnehmen, beeinflusst. Am Beispiel der in der spani-schen Öffentlichkeit geführten Debatte um die schwarze Silhouette des Osborne-Stiers zeigt er die Vermittlerrolle des Tourismus, wie er sie bei der

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Aushandlung von Bedeutungen innehat. Gerade der Tourismus verknüpfte die ehemalige Werbefigur einer einheimischen Brandy-Marke mit nationa-ler Identität und beförderte seine heutige Bedeutung als Symbol Spaniens. Pedegral verweist somit auf die vermittelnde Rolle des ‚Tourismus-Raumes‘, denn Kultur in touristischen Räumen entsteht im dialogischen Aushandeln zwischen Besuchern und Einheimischen.

Der Kulturwissenschaftler Burkhart Lauterbach beschäftigt sich mit Moscheebauten in westeuropäischen Metropolen und damit, wie mit diesen ‚historical artefacts‘ als Produkten kulturellen Transfers zwischen Einbin-dung und Exotisierung im touristischen Kontext umgegangen wird. Die Bauwerke mit transnationalem Hintergrund erweisen sich nicht nur als Aus-druck einer gestalterischen Ausdifferenzierung der Institution Moschee in Mitteleuropa, sondern auch als Teil der touristischen Verwertung islamischer Kulturimporte. An Beispielen in England und Frankreich zeigt Lauterbach den Transformationsprozess des zunächst ‚fremden Dinges‘ Moschee zur touristischen Sehenswürdigkeit und geht zugleich der Frage nach, wie durch den (inter-)kulturellen Transfer die europäische Welt beeinflusst wird.

Dinge auf Reisen, das meint immer auch mitgebrachte Dinge, die als sym-bolische Repräsentationen von Urlaub im Alltag fungieren. Das Themenfeld des Souvenirs bearbeitet der österreichische Kulturwissenschaftler Burkhard Pöttler. Er untersuchte die Integration von Reiseandenken in das alltägliche Wohnumfeld. Der ausgestellte ‚Urlaub im Wohnzimmer‘ erweist sich über seine Erinnerungsfunktion hinaus als Teil einer privaten Inszenierung. Der Umgang mit persönlichen Urlaubssouvenirs unterliegt dabei einem indivi-duellen Aneignungsprozess, der auch von Veränderungen gekennzeichnet ist. Pöttler zeichnet daher die „Dingbiografien“ von Souvenirs nach. Diese können zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen mit Andenkenfunktion und – als biografische Objekte – gleichsam zu Lieblingsgegenständen werden, aber sie können auch, in Schubladen verstaut, dem Vergessen anheim gege-ben werden. Souvenirs dienen nicht nur der symbolischen Aneignung des Urlaubszieles für das eigene Lebensumfeld, sondern sie sind immer auch Ausdruck des Lebensstils der Reisenden.

Mit ‚Souvenirs‘ nach der Jahrtausendwende in Berlin beschäftigt sich die Europäische Ethnologin Anja Früh in ihrem Beitrag. So genannte ‚Design-Souvenirs‘ dienen ihr dazu, Wandlungsprozesse der Stadt im 21. Jahrhun-dert darzustellen. Im Fokus stehen hierbei die Produktionsbedingungen und Bedeutungssetzungen durch die Produzenten dieser spezifischen Souve-nirart für den Berliner Städtetourismus. Diese Artefakte sind nicht (nur) für Touristen gemacht, sondern wirken im Besonderen als identitätsstiftende

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Objekte für ein junges ortsfremdes, transnationales Publikum, das sich nach der Wende in Berlin angesiedelt hat. ‚Culturepreneurs‘ und Künstler gestal-ten durch ihre Um- beziehungsweise Bedeutungsarbeit über emblematische Objekte ‚made in Berlin‘ das Bild der Stadt im 21. Jahrhundert mit.

Die Kulturwissenschaftlerin Sonja Böder rückt die kulinarische Dingwelt auf Reisen ins Zentrum des Interesses. Am Beispiel der Region Westfalen fragt sie, wie regionale Stereotypen durch Spezialitäten-Souvenirs vermittelt werden. Über die Auswertung von historischen Reiseberichten und aktu-eller touristischer Werbung untersucht sie, wie das Bild der Region über kulinarische Produkte im historischen Wandel repräsentiert wird. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass der Image-Transformationsprozess des ländli-chen Westfalens von einem negativ konnotierten Heterostereotyp zu einem positiv besetzten Autostereotyp gerade durch die touristische Vermarktung vorangetrieben wurde. Kulinarische Spezialitäten erweisen sich als Haupt-träger einer touristischen Selbstinszenierung regionaler Identität.

Dinge auf Reisen fungieren als Objekte im Tourismus als symbolkommu-nikative Zeichen und sind dementsprechend zu deuten. Der Europäische Ethnologe Martin Jonas stellt diese mehrwertige Zeichenhaftigkeit der Dinge auf Reisen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Am Beispiel einer ‚Leder-hose auf Reisen‘ zeigt er die komplexen Zuschreibungen von Objekten, mit denen gerade auf Reisen gespielt werden kann. An zwei autobiografischen Fallbeispielen veranschaulicht Jonas, wie Kleidung und deren symbolkom-munikative Bedeutungssetzung bei der Inszenierung des ‚Anderen‘ auf Reisen als ein (parodistisch eingesetzter) Dialog angesehen werden kann. Durch den Akt der Kontextualisierung der Lederhose in einem subjektiven Erfahrungshorizont entstehen neue Bedeutungszuschreibungen. Jonas sieht gerade in der Parodie ein Erkenntnisinstrument, um sich der Mehrdeutigkeit von Objekten (auf Reisen) zu nähern.

Die deutsch-neuseeländische Kulturanthropologin Tanja Schubert-McArthur beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Gepäck von Neu-seelandauswandern. Ihre Perspektive auf die unterschiedlichen Arten und Mengen der mitgebrachten Besitztümer erlaubt es ihr, die unterschiedlichen Abstufungen des Auswanderungsprozesses zwischen Tourismus und Migra-tion zu erfassen. Der Urlaub dient nicht nur als Vorbereitung auf eine Aus-wanderung, er ist auch verbindendes Element zweier Lebensorte. Ebenso ist der aufbewahrte Koffer im Heimatland Ausdruck einer Migrationsform, die innerhalb der definitorischen Grenzen von Langzeiturlaub und dau-erhaftem Aufenthalt in Neuseeland oszilliert, und nicht von Permanenz und Irreversibilität, sondern von der Mobilität zwischen zwei Lebensorten

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gekennzeichnet ist. Anhand der konkreten Analyse der hin- und hergebrach-ten Dinge können so die Schnittmengen von Urlaub und Auswanderung veranschaulicht werden.

Die Ethnologin Kundri Böhmer-Bauer untersucht die Dinge auf Trek-kingreisen in ihrer unterschiedlichen Funktion als Gabe, Opfer oder Ware. Teile der Ausrüstung werden von deutschen Trekking-Touristen während und am Ende der Reise als Geschenke an die einheimischen Helfer und die Bevölkerung weitergegeben. Zielsetzung ihres Beitrages ist nicht nur eine Aufschlüsselung der spezifischen Dinge, Situationen und Personengruppen, sondern gerade die Analyse der dahinter liegenden Motivationen vonseiten der Trekking-Touristen und die Botschaften, die diese Dinge transportieren. Dabei zeigen sich die Schenkrituale als polyvalent zwischen dem Bedürfnis nach Annäherung und dem Ausdruck kultureller Hegemonialvorstellungen der Trekking-Touristen.

Dinge auf Reisen, das können auch gleichsam paradigmatische Objekte sein, die für den ‚Erfahrungsraum Reisen‘ stehen. Die Europäische Eth-nologin Conny Eiberweiser untersucht in ihrer Mikrostudie das Hotelbett, wobei dieses Repräsentationsobjekt von ihr in seiner Phänomenologie genau beschrieben und so in seinen einzelnen Funktionen und Bedeutungs-aufladungen aufgeschlüsselt wird. In einem methodischen Dreischritt von innen nach außen blickt Eiberweiser auf die grundlegenden Bestandteile, die konstitutiven Elemente und exzeptionellen Komponenten des Bettes. Ziel ihrer Objektanalyse ist durch die phänomenologische Beschreibung von Einzelteilen die Komplexität der Gegenstände zu erfassen und so Bedeutungsstränge greifbar zu machen. In dieser Fallstudie zeigt Eiberwei-ser die Bedeutung einer genauen Beschreibung der Objekte (auf Reisen), die als wichtiger methodischer Schritt für das weitere analytische Vorgehen zu gelten hat.

Auch der österreichische Architekturhistoriker und Künstler Michael Zinganel blickt auf einen symptomatischen Gegenstand des Tourismus in der Alpenregion. Die Eckbank steht hier für die Erfolgsgeschichte der Frühstückspension. Zinganel zeichnet in Fallbeispielen deren unterschied-liche Ausformungen seit den 1950er Jahren bis heute nach und erweist sich als luzider Beobachter der sozialen Praxen gerade durch seine auto-biografische Perspektive. Die Eckbank präsentiert sich als ‚Logenplatz im Dienstleistungstheater‘ Frühstückspension, denn hier wird die vermeintliche Teilhabe am Leben der Gastfamilie inszeniert und die räumliche wie soziale Enge auf der Bank zum positiven Wert ‚Gemütlichkeit‘ umgedeutet. Diese Kultur der Enge ist es auch, die bei allen Prognosen vom vermeintlichen

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Tod der Frühstückpension im Alpintourismus immer noch deren Attrakti-vität ausmacht.

Dinge auf Reisen, das beinhaltet weiter auch die Objekte des Unterwegsseins, die Transportmittel und Medium des Reisens zugleich sind. Diesen Aspekt untersucht die Europäische Ethnologin Martina Kleinert am Beispiel des Umgangs von Weltumseglern mit ihren Yachten. Die Fahrtenyacht ist nicht nur das Gefährt, sondern auch der Gefährte der Reisenden und bestimmt daher die spezifische Art und Weise des Reisens maßgeblich mit. Sie analy-siert die Boote und ihr Interieur nicht nur nach ihren Funktionen, sondern auch in ihrer emotionalen Bedeutung für die Weltumsegler. Kleinerts Bei-trag verortet sich zwischen Tourismus- und Multilokalitätsforschung, wobei das ‚andere Zuhause Yacht‘ als schwimmendes Eigenheim begriffen wird, das einer ‚Verhäuslichung‘ unterliegt. Das mobile Objekt Fahrtenyacht und seine Dingwelt sind Ausdruck eines gefühlten Zuhauseseins der Segler.

Auch der Historiker Cord Pagenstecher untersucht ein Gefährt und sogleich einen emotional besetzten Gefährten; er fragt in seinem Beitrag nach der Bedeutung der Automobilisierung für den bundesdeutschen Tou-rismus der Nachkriegszeit. Nicht nur für die Reisenden selbst, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs bildete das Kraftfahrzeug das wichtigste ‚Ding auf Reisen‘. Pagenstecher wertet im Sinne einer ‚Visual History‘ des Tou-rismus Reiseführer, lokale Tourismuswerbung und private Reise-Fotoalben der Zeit aus und zeigt so, dass in den Wirtschaftswunderjahren durch massenhafte Automobilisierung die Urlaubspraxen und die touristischen Wahrnehmungsmuster verändert worden sind.

Die materiellen Repräsentationen des deutschen Reiselandes Spanien stellt die Ausstellungsmacherin Margarete Meggle-Freund in ihrem Beitrag dar. Anhand eines Rundgangs durch die von ihr kokuratierte kulturhisto-rische Ausstellung „¡Viva España! Von der Alhambra zum Ballermann. Deutsche Reisen nach Spanien“ im Badischen Landesmuseum im Jahr 2007 wird nicht nur die Tourismusgeschichte deutscher Spanienreisen dargestellt, ebenso wird veranschaulicht, wie die materielle Kultur des Reisens im Aus-stellungskontext (re)präsentiert werden kann. Die Dinge auf Reisen stehen in diesem Beitrag als Museumsobjekte im Mittelpunkt und erzählen zugleich eine Geschichte der deutschen Spanienliebe.

Der abschließende Beitrag der österreichischen Kulturwissenschaftlerin Klara Löffler plädiert für eine konsequente und systematische Erforschung der materiellen Kultur auf Reisen und dafür, die kontextbezogene Objekt-analyse als Zugang für eine Ethnografie des Reisens weiterzuentwickeln. Löffler fordert, die Perspektive auf die ‚Mittelmäßigkeit des Reisens‘ zu

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lenken, bei der die materiellen Kulturen gerade für die hier entwickelten Routinen von Bedeutung sind. Am Umgang mit dem Gepäck, dem Ein-packen und dem Koffer selbst zeigt sie das Angewiesensein auf die Dinge und die Verstrickungen der Akteure in das Alltägliche. Die Dinge in ihrer Mehrdeutigkeit und Potenzialität sind es, welche die immer noch in der Tou-rismusforschung wirksame Dichotomisierung zwischen dem Alltäglichen und der Außeralltäglichkeit aufzulösen vermögen und die Aufmerksamkeit auf die kultivierten Routinen des Reisens lenken können.

Die 8. Tagung der Tourismuskommission in München eröffnete das weite Themenfeld der Dinge auf Reisen. Die in diesem Tagungsband versammelten Beiträge bieten unterschiedliche Konzepte und Antworten auf die Frage, welchen Erkenntnisgewinn die Tourismusforschung durch den Blick auf die materielle Kultur des Reisens erhalten kann. Die so angestoßene Pers-pektivenverschiebung auf die Materialität des Tourismus erfordert dennoch weitere begriffliche Schärfungen und Theoriebildungsprozesse, bedarf es doch auch in Zukunft eines wissenschaftlichen Kofferpackens mit geeig-neten Fragestellungen und theoretisch-methodologischen Zugängen. Die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der materiellen Kultur des Tou-rismus befindet sich immer noch auf der Reise, seien wir neugierig, wohin uns die Fahrt führen wird.

Literatur

Appadurai, Arjun (Hg.) (1986): The Social Life of Things. Cambridge.Bachmann, Götz (1997): Der Kaffeelöffel und die Sonne. Über einige Denkfiguren,

die das Unbedeutende bedeutend machen. In: Brednich, Rolf-Wilhelm/Schmitt, Heinz (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. München, S. 216-226.

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Reise-Fieber Die Materialität von Bewegung und Emotion Orvar Löfgren

SiderodromophobieAngst vor Zügen, Zugreisen oder Schienengr. síderos: Eisen, Stahlgr. drómos: Lauf, Wettlauf, Rennbahn

„Ängste haben ihre Moden; auch hier verdrängt die weiter gehende Angst ihre Vor-Ängste haben ihre Moden; auch hier verdrängt die weiter gehende Angst ihre Vor-gängerinnen. Solange die Eisenbahn das wichtigste, schnellste und gefährlichste Ver-kehrsmittel war, gehörte die Siderodromophobie an die Spitze der im Reiseverkehr auftretenden Ängste. Man sah in Wartesälen und Abteilen schwitzende, zitternde, ihre Hand in die Hand Mitreisender krallende Angstkranke, von denen ganz zu schweigen, die lieber zu Hause blieben als eine Eisenbahnfahrt zu riskieren. Heute beschäftigt sich niemand mehr mit der Eisenbahnangst. Wer den Zusammenhang von Verkehrsmittel und Angstreaktionen erforschen will, konzentriert sich auf die Flugangst, während die Flugängstlichen selbst mit erleichtertem Aufatmen den ICE besteigen – hier fühlen sie sich sicher“ (Schmidbauer 2007: 222).

Wolfgang Schmidbauers Buch der Ängste (Schmidbauer 2007) behandelt alle Arten von Beziehungen zwischen Mobilität und Emotion, doch wenn er Zug- und Flugangst vergleicht, erinnert uns das zugleich daran, dass solche Gefühlszustände eine Geschichte haben. In einem noch laufenden Projekt über ganz unterschiedliche Formen von Unterwegssein, die vom Tagtraum bis zum Autofahren reichen, haben mich besonders die Materialitäten solcher Reiseerfahrungen interessiert. Denn obwohl die Zahl der Unter-suchungen zur sozialen und kulturellen Organisation von Mobilität seit den 1990er Jahren rasch anstieg, mangelt es auffälligerweise an Studien zu den materiellen Dimensionen (vgl. Cresswell 2006). Mobilität wird, worauf Rebecca Solnit hinweist, in vielen der im vergangenen Jahrzehnt entstande-nen Untersuchungen als ein reibungsloser Vorgang betrachtet, der sich eher mental denn physisch abspielt. Der in Bewegung befindliche Körper bleibt im Großen und Ganzen eine im hohen Maß theoretische Angelegenheit,

26 Orvar Löfgren

statt dass tatsächlich eine Diskussion körperlicher Wahrnehmungen und Praktiken angestoßen wird:

„So lesen wir von einem postmodernen Körper, der in Flugzeugen und schnellen Autos hin- und herjettet, ja der sich sogar ohne sichtbare Mittel bewegt – seien sie nun muskulär oder mechanisch, ökonomisch oder ökologisch. Der Körper ist nichts weiter als ein Paket, das unterwegs ist, eine Schachfigur, die aufs nächste Feld gezogen wird: Er bewegt sich nicht, sondern wird bewegt“ (Solnit 2001: 28).

Für die Europäische Ethnologie stellt das, angesichts des wiederkehrenden Interesses an Untersuchungen zur Materialität und angesichts auch der tradi-tionellen Aufmerksamkeit für die Mikroprozesse des „Lebens mit Dingen“, eine Herausforderung dar. Wie werden Reiseerfahrungen durch anscheinend banale und unbedeutende Dinge wie Koffer, Abteilsitze, Kopfhörer, Warte-säle oder Fahrkarten geformt und welcherart Kompetenzen sind notwendig, mit dieser materiellen Welt umzugehen?

Ich möchte im Folgenden Materialitäten von Reiseerfahrungen mit der Eisenbahn diskutieren, wobei mir das Fliegen als kulturelles und historisches Gegenmodell dienen soll. Dazu werde ich Raymond Williams‘ etwas vages, doch anregendes Konzept der „Gefühlsstrukturen“ heranziehen (Williams 1980), um zu begreifen, auf welche Art und Weise die Verkehrsinfrastruktur dazu beiträgt, die emotionalen Gemütszustände beim Reisen zu formen.

Meine ersten Versuche zu einer Ethnografie derartiger alltäglicher Vor-gänge waren nicht sehr erfolgreich. Ich habe versucht, das Verhalten auf Bahnhöfen und in Flughäfen zu beobachten, und oft kam ich mit ein paar trivialen Aufzeichnungen und Fotos zurück, die ich in einem fort erstaunt betrachtete. Es ließ sich schwer fassen, was in diesen Allerweltssituationen des Reisens vor sich ging, und ebenso schwer war es, meine Beobachtun-gen in Worte zu kleiden. Um das Problem zu denken, wie hier Arten und Stimmungen des Reisens ineinander greifen, bedurfte es einer historischen Perspektive.

Ausgehend von zeitgenössischen Reiseerfahrungen in Skandinavien arbei-tete ich mich zurück, um zu verstehen wie die Leute lernten, unterschied-liche Verkehrsmittel zu nutzen und Arten des Unterwegsseins zu erleben. Die versteckten Fähigkeiten und ebenso die etablierten kulturellen Praxis-formen, deren es bedarf, um mit einem Zug zu reisen, in einer Schlange zu warten oder mit Fremden zu interagieren, zeigen sich dort am besten, wo neue Technologien, Akteure oder Aktivitäten ins Spiel kommen. In solchen

27Reise-Fieber

formbildenden Situationen werden Verhaltensweisen sondiert, diskutiert und erkundet, die später dann als selbstverständlich gelten.

Aus der gescheiterten Ethnografie wurde so ein neues und noch laufen-des, gemeinsam mit meinem Kollegen Billy Ehn entwickeltes Projekt, eine Untersuchung der sozialen und kulturellen Organisation des Unscheinba-ren, also etwa des Wartens, der Tagträume und anderer Nicht-Ereignisse, die einen so großen Teil der Reisezeit einnehmen. Was passiert, wenn die Leute sagen, sie würden nichts tun?1

Im vorliegenden Papier werde ich, von unserem Ansatz ausgehend, Rei-seerfahrungen als einen Lernprozess erörtern. Dazu möchte ich meine eige-nen lokalen Beobachtungen, aber auch ethnografische Beschreibungen des Zugreisens ebenso wie des Fliegens im 19. und 20. Jahrhundert heranziehen, um so den Blick auf das Leben zu richten, auf das Warten, auf den Umgang mit dem Gepäck, auf Tagträume während des Reisens und andere Dinge.2

Die Materialität von Mobilität und EmotionDie Ausdrücke, die wir verwenden, um Geisteszustände zu beschreiben, sind Ausdrücke der Bewegung. Emotion bedeutet im wörtlichen Sinne, sich hinaus zu bewegen, und das Wort Gefühl leitet sich vom Fühlen, vom Berühren ab: Es geht dabei darum, die Welt zu erkunden, die Hand nach ihr auszustrecken. Zugleich sind es schillernde Ausdrücke. Der Psycho-loge James Hillman hat darauf hingewiesen, dass Emotionen ein perfekter Gegenstand interdisziplinärer Untersuchungen seien, weil sie auf Zwischen-räume verwiesen, auf das Feld und die Beziehungen zwischen verschiede-nen Polen: zwischen Subjekt und Objekt ebenso wie zwischen Körper und Geist, Bewusstem und Unterbewusstem, dem menschlichen Inneren und dem Zwischenmenschlichen. „Durch die Emotion existiere ich in einer paradoxen Beziehung. Ich bin nicht nur das Eine, sondern beides.“ (Hillman 1991: 283) In den letzten Jahren vollzogen die Kulturwissenschaften eine Art „emotionale Wende“ und erkundeten das im Konzept der Emotion angelegte Potenzial, das gerade auf dessen Unbestimmtheit und Offenheit

1 Vgl. hierzu die Erörterung in Ehn/Löfgren (2007a). Unsere Arbeit ist Teil des Projekts „Home Made: The Cultural Dynamics of the Inconspicuous“, finanziert vom Schwedi-schen Forschungsrat Vetenskapsrådet; vgl. www.etn.lu.se/homemade/.

2 Eine Diskussion des Materials aus Skandinavien unternimmt Orvar Löfgren (1992). Zu dem Material gehören frühe Reiseberichte, Belletristik und Sachliteratur über Eisen-bahnreisen und eine große Sammlung von „Eisenbahnerinnerungen“, die das Nordi-sche Museum in Stockholm in den 1950er Jahren gesammelt hat.

28 Orvar Löfgren

beruht, als einen energiegeladenen Prozess, der vermittelt, der fokussiert und der Auswirkungen hat.3

Aber warum Mobilität? Wie bei den Emotionen wird eine kulturwis-senschaftliche Untersuchung der Mobilität manche Überraschung zu Tage fördern. Es juckt uns in den Fingern, die Füße werden unruhig, und wir strecken die Hand aus oder ziehen sie zurück. Körperliche Reaktionen wie Gefühle gehen bewusstem Denken oder planvollem Handeln häufig voraus. Der Körper ist in der Lage, Gedanken und Handlungen in Gang zu setzen, mit ganz unerwarteten Folgen. George Downing hat die Notwendigkeit hervorgehoben, solcherart „körperliche Mikropraktiken“ zu erkunden und die Verbindungen zwischen Bewegung und Gemütsbewegung zu verstehen (Downing 2000). Andere wie etwa die Forscherin Giuliana Bruno unter-suchten die Verkettung von Bewegung und Emotion in historischer Pers-pektive (Bruno 2002). Mein Interesse nun gilt der Frage, auf welche Art Materialitäten diese Wechselwirkung vermitteln. Die intensive und beinahe übermächtige Materialität von Zügen, Bahnhöfen und Flughäfen formt Bewegungsarten und Stimmungslagen gleichermaßen, so beispielsweise in Gestalt kulturell neuartiger Zustände von Unruhe, Nervosität, Irritation, Hochstimmung und Begehren, wie sie in der Welt des Reisens im 19. und 20. Jahrhundert auftauchen.

Reisefieber„I’m travelling in some vehicle, I’m sitting in some café … I am porous with travel fever“, singt Joni Mitchell in „Hejira“4, doch was für eine Art Fieber meint er? Der einschlägige schwedische Ausdruck resfeber (das deutsche Rei-sefieber5) gehört seit dem 19. Jahrhundert zum massenhaften Reisen; es ist der Terminus, der die Stimmung der nervösen Reisenden einzufangen versucht. Es handelt sich um eine besondere „Gefühlsstruktur“, deren Erfahrung, in größerem oder geringerem Maße, die meisten Menschen machen, wenn sie reisen: eine Mischung aus Unruhe und Vorfreude, eine Kombination aus Sehnsucht, Furcht und der Faszination des Unbekannten, aus dem Glücks-gefühl und dem Schauder des Fort- und Hinausziehens.

Reisefieber ist epidemisch – es lässt sich auf Bahnhöfen ebenso beob-achten wie in Flughäfen oder bei Verkehrsstaus, es befällt Menschen beim Laufen, Warten oder Fahren. Es ist ein Zustand, bei dem Bewegung,

3 Vgl. hierzu beispielsweise die Diskussion bei Jack Katz (1999), Sianne Ngai (2005), Billy Ehn/Orvar Löfgren (2007a) und Nigel Thrift (2008).

4 Ich danke Burkhardt Lauterbach für seine Hilfe beim Auffinden des Textes.

5 Deutsch im Original. (Anm. d. Übers.).

29Reise-Fieber

Emotionen und Materialität zusammenwirken. Reisende versuchen ihre Unruhe zu beherrschen, indem sie auf und ab gehen, das Gleichgewicht verlagern oder für einen Augenblick Zuflucht auf einer Bank in einer Ecke suchen. Es gibt ein dauerndes nervöses Herumspielen an Gepäckstücken, ein Fingern nach Pässen und passendem Kleingeld. Kleine Dinge erlangen eine magische Wichtigkeit und wirken aufgrund ihrer spröden Materialität in einer Welt, in der alles im Fluss ist. In ihrem ruhelosen Zustand halten sich Menschen an Trost spendenden Dingen wie einer Handtasche oder einem Notizzettel mit einer Adresse fest, und dabei tasten sie alle zwei Minuten nach dem Ticket in der Brusttasche. Die Sinne stehen in ständigem Kontakt zur Umwelt, das Auge sucht blinkende Anzeigetafeln ab, während das Ohr versucht, Lautsprecherdurchsagen zu enträtseln.

Darüber hinaus formen alle Arten körperlicher Empfindung die Situation, schmerzende Muskeln, die an zu viel Gepäck herumziehen, ebenso wie ner-vöse Gliedmaßen. Zugleich trennen sich Körper und Psyche, denn in Gedan-ken sind die Reisenden möglicherweise bereits am Ziel, oder aber sie sinnen unruhig darüber nach, ob sie die Tür zu Hause abgeschlossen haben.

Eine historische Perspektive kann uns helfen, die Entwicklung des „Rei-sefieber“ genannten Gemütszustands zu verstehen. Das Reisefieber galt als ein neuer und moderner nervöser Zustand, eine Folge neuartiger Strapazen, der mit den Anfängen des Massenreisens Mitte des 19. Jahrhunderts Auf-merksamkeit erregte (vgl. Lutz 1991). In Schweden taucht das Wort Nervo-sität erstmals in den 1850er Jahren auf, ein Import aus dem Französischen, definiert als leichte vorübergehende Unruhe, als unausgeglichene Ruhelo-sigkeit oder vertrackte Überreizung. Wo machte sich dieses neue Gefühl zuerst bemerkbar und wie sahen seine kulturellen Produktionsbedingungen aus? Eine Bühne waren Eisenbahnreisen. Der nervöse Zustand findet sich in „The Wonders of Modern Travel“, einem Beitrag aus dem Punch von 1864, beschrieben:

„Wunder nimmt mich, ob meine Uhr nun richtig geht oder nach oder vor. Und ob der Dienstmann nun verstand, was übers Gepäck gesagt wurde. Und ob mir Zeit für ein Sandwich und ein Glas Sherry bleibt. Und ob beim Umsteigen alles klappt. Und wohin zum Teufel das Ticket geraten ist …“ (zitiert nach Freeman 1999: 83).

In zahlreichen klassischen Beschreibungen metropolitaner Bahnhöfe fallen die Schilderungen überreizter Sinne und emotionaler Stresszustände auf.