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24 Alte Objekte der Pflege oder der Geburtshilfe von Hebammen faszinieren. Welche Geschichte mit ihnen erkundet wird, diskutierten die Teilnehmenden eines Workshops der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheits- und Pflegegeschichte in Bern. Text: Sabina Roth / Fotos: Medizinmuseum Bern Geschichte und materielle Kultur in den Gesundheitsberufen Die Vorstellung, mit der Nadel einer alten Glasspritze gestochen zu werden oder als Pflegende in heutigen Arbeitssituationen jenen alten Nachtstuhl einsetzen und putzen zu müssen, jagt jeder gerne einen leisen Schauer über den Rücken. Dass gewisse Dinge der Vergangenheit an- gehören, erscheint heute nur richtig. Denn Instrumente und Materialien sind für die gute Praxis, das Berufswissen und die Identität von Gesundheitsberufen ebenso bedeutsam wie für die Lebens- führung mit Krankheiten. Doch wie ver- ändern sie sich über die Zeit? Was treibt ihren Wandel an? Geschehen Entwick- lungen zu Gunsten einer besseren Praxis der Gesundheitsberufe oder für ein ange- nehmeres Leben der Kranken? Mit Fra- gen zu Dingen entsteht neue Geschichte zur Gesundheits- und Kran- kenpflege. Das am nächsten lie- gende Arbeitsinstru- ment der Gesundheits- berufe sind die eigenen Hände. Therese Hailer, Dozentin im Hebam- menstudiengang der ZHAW Winterthur, er- läuterte, wie Hebam- men sie mit den Leo- pold-Handgriffen für die abdominale Palpa- tion an der schwangeren Frau einsetzen. Wie damit die Uterushöhe, die Lage des Rückens, Kopf- und Steisslage des Kindes sowie seine Kopfstellung beim Eintritt ins Becken zu erheben sind, hatte der Deut- sche Arzt Christian Leopold (1846–1911) erstmals 1894 beschrieben. Laut Hailer wurde bis heute der Einsatz der Hände fast unverändert gelehrt. Was sich aber geändert hat, ist die Bedeutung dieser Handgriffe für die glückliche Geburt. Leopold hatte sie propagiert, um vaginale Untersuchungen und damit das Risiko des Kinderbettfiebers zu minimieren. Heute lernt und wendet sie die Hebamme an, um die Kommunikation mit der Schwangeren und dem Kind zu verbes- sern und eine vertrauensvolle Atmos- phäre zu schaffen. Die Ultraschallgeräte haben die diagno- stische Funktion der systematisch abta- stenden Hände relativiert und sind heute aus der Schwangerschaftskontrolle und Geburtshilfe nicht mehr wegzudenken. Auch für die Berechnung des wahr- scheinlichen Geburtstermins kommen sie zum Einsatz. Allerdings setzten Heb- ammen seit Jahrzehnten bedruckte Kar- tonscheiben, heute auch elektronische Applikationen ein, die ausgehend von der Regel des Franz Carl Nägele (1778–1851) entwickelt wurden. Die wis- senschaftlichen Debatten um die richtige Berechnungsmethode des Termins wer- den – wegen seiner klinischen Bedeutung – nach wie vor intensiv geführt. Nach der Hebamme und HESAV-Dozentin Magali Bonzon weisen Studien nach, dass sich bei bestimmten Voraussetzungen mit der Berechnungsscheibe der Geburtstermin nicht schlechter prognostizieren lässt als durch die Ultraschalluntersuchung. Dinge der Berufsautorität Instrumente, die Berufsangehörige ein- setzen dürfen oder nicht, widerspiegeln die Hierarchien und die unterschiedliche Autorität des Wissens der Gesundheits- berufe bis heute. Dies zeigt der Fall des Augenspiegels aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders gut, den die Krankenpflege I Soins infirmiers I Cure infermieristiche 10/2017 Dinge mit Vergangenheit Sabina Roth, lic. phil., freiberufliche Historikerin, Präsidentin der Schwei- zerischen Gesellschaft für Gesund- heits- und Pflegegeschichte. www.gpg-hss.ch Autorin Beruf Glycometer nach Dr. James Burmann. Nachtstuhl aus dem Inselspital, ca. 1930.

Dinge mit Vergangenheit - WordPress.comihre medizinische Spezialdisziplin zu festigen. Intensiv arbeiteten sie an der Perfektionierung des Instruments, so dass, wie Doria feststellte,

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Alte Objekte der Pflege oder der Geburtshilfe von Hebammen faszinieren. Welche

Geschichte mit ihnen erkundet wird, diskutierten die Teilnehmenden eines Workshops

der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheits- und Pflegegeschichte in Bern.

Text: Sabina Roth / Fotos: Medizinmuseum Bern

Geschichte und materielle Kultur in den Gesundheitsberufen

Die Vorstellung, mit der Nadel einer altenGlasspritze gestochen zu werden oder alsPflegende in heutigen Arbeitssituationenjenen alten Nachtstuhl einsetzen undputzen zu müssen, jagt jeder gerne einenleisen Schauer über den Rücken. Dassgewisse Dinge der Vergangenheit an-gehören, erscheint heute nur richtig.Denn Instrumente und Materialien sindfür die gute Praxis, das Berufswissen unddie Identität von Gesundheitsberufenebenso bedeutsam wie für die Lebens-führung mit Krankheiten. Doch wie ver-ändern sie sich über die Zeit? Was treibtihren Wandel an? Geschehen Entwick-lungen zu Gunsten einer besseren Praxisder Gesundheitsberufe oder für ein ange-nehmeres Leben der Kranken? Mit Fra-

gen zu Dingen entstehtneue Geschichte zurGesundheits- und Kran-kenpflege.Das am nächsten lie-gende Arbeitsinstru-ment der Gesundheits-berufe sind die eigenenHände. Therese Hailer,Dozentin im Hebam-menstudiengang derZHAW Winterthur, er-läuterte, wie Hebam-men sie mit den Leo-pold-Handgriffen fürdie abdominale Palpa-

tion an der schwangeren Frau einsetzen.Wie damit die Uterushöhe, die Lage desRückens, Kopf- und Steisslage des Kindessowie seine Kopfstellung beim Eintritt insBecken zu erheben sind, hatte der Deut-sche Arzt Christian Leopold (1846–1911)erstmals 1894 beschrieben. Laut Hailerwurde bis heute der Einsatz der Händefast unverändert gelehrt. Was sich abergeändert hat, ist die Bedeutung dieserHandgriffe für die glückliche Geburt.Leopold hatte sie propagiert, um vaginaleUntersuchungen und damit das Risikodes Kinderbettfiebers zu minimieren.Heute lernt und wendet sie die Hebammean, um die Kommunikation mit derSchwangeren und dem Kind zu verbes-sern und eine vertrauensvolle Atmos-phäre zu schaffen.Die Ultraschallgeräte haben die diagno-stische Funktion der systematisch abta-stenden Hände relativiert und sind heuteaus der Schwangerschaftskontrolle undGeburtshilfe nicht mehr wegzudenken.Auch für die Berechnung des wahr-scheinlichen Geburtstermins kommensie zum Einsatz. Allerdings setzten Heb-

ammen seit Jahrzehnten bedruckte Kar-tonscheiben, heute auch elektronischeApplikationen ein, die ausgehend vonder Regel des Franz Carl Nägele(1778–1851) entwickelt wurden. Die wis-senschaftlichen Debatten um die richtigeBerechnungsmethode des Termins wer-den – wegen seiner klinischen Bedeutung– nach wie vor intensiv geführt. Nach derHebamme und HESAV-Dozentin MagaliBonzon weisen Studien nach, dass sichbei bestimmten Voraussetzungen mit derBerechnungsscheibe der Geburtsterminnicht schlechter prognostizieren lässt alsdurch die Ultraschalluntersuchung.

Dinge der BerufsautoritätInstrumente, die Berufsangehörige ein-setzen dürfen oder nicht, widerspiegelndie Hierarchien und die unterschiedlicheAutorität des Wissens der Gesundheits-berufe bis heute. Dies zeigt der Fall desAugenspiegels aus der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts besonders gut, den die

K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 1 0 /2017

Dinge mit Vergangenheit

Sabina Roth, lic. phil., freiberuflicheHistorikerin, Präsidentin der Schwei-zerischen Gesellschaft für Gesund-heits- und Pflegegeschichte.www.gpg-hss.ch

Autorin

Beruf

Glycometer –nach Dr. James Burmann.

Nachtstuhl –aus demInselspital,ca. 1930.

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italienisch-französische Historikerin Co-rinne Doria untersucht hat. Erfundenvom preussischen Mediziner Hermannvon Helmholtz verbreitet sich dieses In-strument ab 1851 blitzartig unter denOphthalmologen in ganz Europa. Erst-mals war es möglich, in die transparenteWelt des lebenden Auges hineinzu-blicken, was die Augenärzte nutzten, umihre medizinische Spezialdisziplin zufestigen. Intensiv arbeiteten sie an derPerfektionierung des Instruments, sodass, wie Doria feststellte, um 1900 ge-gen zweihundert Typen des Ophthalmo-skops bestanden. Die Fachärzte vertei-digten den exklusiven Gebrauch diesesGerätes, um zu verhindern, dass andereBerufsleute wie etwa Optiker es einset-zen konnten, was allerdings nur bedingtgelang.Auch im 20. Jahrhundert arbeiteten Be-rufsleute handwerklich an Objekten undGerätschaften, wie Lucette Aubort undKim Roos darlegten, die ein historischesLehrmodul für den Studiengang Ergothe-rapie an der ZHAW konzipieren. So fer-tigten bereits in den 1930-er Jahren nichtselten Pflegende etwa Schreibmaschinenoder Webstühle einzeln an, damit Krankemit längeren Liegezeiten sich im Bettbetätigen konnten. Auch Gerätschaftenfür funktionelles Training, die heute vonden einschlägigen Herstellern vertriebenwerden, wurden auf den Einzelfallzurechtgetüftelt. Repräsentieren solcheDinge das exklusive Wissen und Könnender Ergotherapie? Wohl kaum, denn siewerden auch von Laien und von anderenBerufsleuten benutzt und entziehen sichdem Anspruch auf exklusive Kontrolle.Andere Arbeitsinstrumente wiederumhaben ihre Verknüpfung mit der Autoritäteines Berufes verloren. So befindet sich

etwa das Stethoskop, das einst der ärztli-chen Diagnose vorbehalten war, imselbständigen Gebrauch von Pflegefach-personen.

Self- und Together-Management Mit einem sozio-technischen Zugangfragte der Lausanner Soziologe VincentPidoux, ob Objekte dazu beitragen, Wis-sen und Können für das Gelingen von an-dauernden Pflege-und Behandlungs-prozessen zu teilen.Er präsentierte Er-gebnisse aus dem in-terdisziplinären Pro-jekt «I-KnoT-DiabetesGroup & Project», dasFaktoren für gelin-gendes Managementund Selbstmanage-ment von Diabetesuntersucht. Der US-amerikanische ArztElliott P. Joslin(1869–1962) hattebereits zu Beginn des 20. Jahrhundertskonstatiert, dass jene Diabeteskrankenam längsten lebten, die am meisten Wis-sen über ihren Blutzuckerspiegel hatten,ihre eigene Pflegefachperson oder ihr ei-gener Chemielaborant sein konnten. Erstnach dem Zweiten Weltkrieg wurden Gly-cometer erhältlich, die es DiabetikerInnenermöglichten, den Zuckergehalt im Urinselber zu messen und so selbständiger le-ben zu können. In den 1970-er Jahrenfolgten Geräte für die Messung der Blut-werte. Erfolgte ihre Einführung damals inZusammenarbeit mit den Diabetesfach-leuten, so suchen heute die Firmen direk-ten online-Kontakt mit den technophilen

25www.sbk-asi.ch >Geschichte der Pflege >Berufsbild >Pflegeverständnis

25K r a n k e n p f l e g e I S o i n s i n f i r m i e r s I C u r e i n f e r m i e r i s t i c h e 1 0 /2017

jungen Kranken mit Diabetes Typ 1,während sich ältere Personen mit denständig neuen Gerätschaften schwer tun.Laut Pidoux ist in der Gesundheitssorgevon und für chronisch Kranke ein Trendvom Self- zum Together-Managementfestzustellen, wofür das Zusammenwir-ken von medizinischen Geräten mit Pa-tientInnen, Angehörigen und den ver-schiedenen Fachleuten koordiniert wird.

Ausstellen der DingeVon der Faszination «alter Dinge» zeugendie vielen Sammlungen, die mehr oderweniger systematisch katalogisiert undzugänglich sind. Die Historikerin SunjoyMathieu durchforstet sie für ihre projek-tierte Objektgeschichte der Tuberkulose.Wie zahlreich sind wohl «Blaue Hein-riche» erhalten, die tragbaren undschmucken Spucknapfe von der Zeit um1900, mit denen Tuberkulosekranke ihrSputum auffangen sollten? Im Medizin-museum Bern ist ein Exemplar unter denüber 10000 Objekten aufbewahrt, die ausdem Berner Inselspital, aus Pflegeschu-len, privaten Arztpraxen, kleineren Spi-

tälern oder aus der universitären Lehrestammen. Nur wenige werden in derDauerausstellung einen Platz finden, dienächstes Jahr eröffnet werden soll. Wiedie Historikerin und Kuratorin DorotheZimmermann und ihre Kollegin StefanieKohler berichteten, sollen sie durch ihreBezüge für verschiedene Praktiken grup-piert werden, darunter auch für jene desPflegens. Fachleute, Lehrende und For-schende der Pflege erwartet ein Ort in derSchweiz, wo sie Objekten nicht nur un-mittelbar begegnen, sondern wo sie auchdie Geschichte und Kultur der Gesund-heitsberufe differenziert erfahren.

Blauer Heinrich –Spuckflasche nachPeter Dettweiler.

Bettwebstuhl –1958, wird mitSeilen am Bettbefestigt.