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WESTFÄLISCHE WILHELMSUNIVERSITÄT ZU MÜNSTER Fachbereich 9 - Erziehungswissenschaften Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Diplom-Pädagogin Thema: Pädagogische Förderung hyperaktiver Kinder im Vorschulalter unter besonderer Berücksichtigung der Kreativitätsforschung. vorgelegt von: Wiebke Haverkamp am: 27. August 1996 Gutachter: Prof.`in Dr. Line Kossolapow

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WESTFÄLISCHE WILHELMSUNIVERSITÄT ZU MÜNSTERFachbereich 9 - Erziehungswissenschaften

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

einer Diplom-Pädagogin

Thema:

Pädagogische Förderung hyperaktiver Kinder im Vorschulalterunter besonderer Berücksichtigung der Kreativitätsforschung.

vorgelegt von:

Wiebke Haverkamp

am:

27. August 1996

Gutachter:

Prof.`in Dr. Line Kossolapow

Ko-Gutachter:

Dr. Hans-Günther Roßbach

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"Hiermit erkläre ich an Eides Statt, daß ich die voliegende Diplomarbeit ohne fremde

Hilfe angefertigt und nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe."

Münster, den 27. August 1996

........................................

(Wiebke Haverkamp)

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"Das vorliegende Exemplar ist im Sinne der Prüfungsordnung die urschriftliche

Ausfertigung der Diplomarbeit."

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis I

Abkürzungsverzeichnis V

Abbildungsverzeichnis IV

1 Einleitung 1

1.1 Einführung in die Thematik und Erläuterungen zur Problematik 11.2 Definitorische Erläuterungen der Begriffe Hyperaktivität und Kreativität 3

1.2.1 Definition des Begriffes Hyperaktivität 31.2.2 Definition des Begriffes Kreativität 6

1.3 Zum Verlauf der Arbeit 82 Das hyperaktive Kind im Vorschulalter 10

2.1 Das Erscheinungsbild des hyperaktiven Kindes 102.1.1 Hyperaktivität 122.1.2 Aufmerksamkeitsstörungen 132.1.3 Impulsivität 132.1.4 Emotionale Auffälligkeiten 142.1.5 Lernstörungen 152.1.6 Teilleistungsstörungen 152.1.7 Soziale Schwierigkeiten 152.1.8 Selbstwertprobleme 16

2.2 Zur Ätiologie des hyperaktiven Verhaltens 172.2.1 Genetische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität 182.2.2 Organische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität 19

2.2.2.1 Pränatale Schädigung 192.2.2.2 Perinatale Schädigung 192.2.2.3 Postnatale Schädigung 20

2.2.3 Ökologische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität 202.2.4 Psycho-soziale Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität 22

2.2.4.1 Die ökonomisch-kulturellen Einflußfaktoren 232.2.4.2 Die Einflußfaktoren des sozialen Umfeldes 242.2.4.3 Die psycho-emotionalen Einflußfaktoren 25

2.3 Die Diagnose der Hyperaktivität 272.3.1 Differentialdiagnostik 282.3.2 Klinische Diagnostik 30

2.4 Die Beziehungsmuster des hyperaktiven Kindes 342.4.1 Die Beziehung des hyperaktiven Kindes zu den Eltern 352.4.2 Die Beziehung des hyperaktiven Kindes zu anderen Kindern 38

2.5 Die Selbsteinschätzung des eigenen hyperaktiven Verhaltens 39

3 Theoretische Grundlagen der Kreativitätsforschung in Verbindung mit Hyperaktivität 40

3.1 Ansätze der amerikanischen Kreativitätsforschung 403.1.1 Die Geschichte der Kreativitätsforschung 403.1.2 Kreativitätstheorien 413.1.3 Kreativität und Intelligenz 463.1.4 Motivation zur Kreativität 48

I

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3.2 Die kreative Persönlichkeit und das hyperaktive Kind 503.2.1 Flüssigkeit 513.2.2 Flexibilität 523.2.3 Originalität 533.2.4 Elaboration 543.2.5 Problemsensitivität 553.2.6 Neudefinition 56

3.3 Der kreative Prozeß 613.3.1 Voraussetzungen zum kreativen Prozeß 613.3.2 Die Phasen des kreativen Prozesses 62

3.3.2.1 Die Vorbereitungsphase 633.3.2.2 Die Inkubationsphase 653.3.2.3 Die Illuminationsphase 663.3.2.4 Die Verifikationsphase 66

3.4 Das kreative Produkt 673.5 Bedingungen der kreativen Umwelt zur Förderung des hyperaktiven Kindes 68

3.5.1 Aktivierung des hyperaktiven Kindes durch die soziale Umwelt 693.5.2 Enthemmung in der aktiven Auseinandersetzung des hyperaktiven Kindes mit der Umwelt 703.5.3 Zielgerichtete motivierende Bedingungen für die Entwicklung kreativer Handlungen beim hyperaktiven Kind 713.5.4 Förderung der Unabhängigkeit des hyperaktiven Kindes 713.5.5 Gruppeneinflüsse auf das hyperaktive Kind im kreativen Prozeß 72

4 Erziehung zur Kreativität bei hyperaktiven Kindern im Vorschulalter 73

4.1 Entwicklungspsychologische Aspekte des Vorschulalters 744.2 Ziele und Aufgaben einer kreativen Erziehung 774.3 Hemmende Faktoren für eine kreative Entfaltung 784.3.1 Konformitätsdruck 794.3.2 Autoritätsfurcht 79

4.3.3 Erfolgsprämien 804.3.4 Informations- und Innovationssperren 804.3.5 Überbetonung der Geschlechterrollen 814.3.6 Spiel - Arbeit- Dichotomie 81

4.4 Fördernde Faktoren für eine kreative Entfaltung 814.4.1 Offen sein 824.4.2 Problematisieren 824.4.3 Assoziieren 824.4.4 Experimentieren 824.4.5 Bisoziieren 83

4.5 Die Wirkung der Erzieherhaltung in der kreativen Erziehung 844.6 Methoden und Techniken zum Training und zur Förderung kreativer Fertigkeiten

864.6.1 Das Brainstorming 864.6.2 Der morphologische Kasten 884.6.3 Die synektische Methode 884.6.4 Der Gebrauch der Sinnesorgane 89

5 Vorstellung und Diskussion medizinischer und pädagogisch-therapeutischer Interventionsmöglichkeiten bei hyperaktiven Kindern 90

5.1 Medizinische Interventionsmodelle 91

II

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5.1.1 Die medikamentöse Therapie 915.1.1.1 Theoretischer Erklärungsansatz der medikamentösen Behandlung 925.1.1.2 Ziele der medikamentösen Therapie 935.1.1.3 Wirkung und Nebenwirkungen von Stimulantien 945.1.1.4 Kritik an der medikamentösen Therapie 95

5.1.2 Die diätischen Behandlungsansätze 965.1.2.1 Theoretischer Erklärungsansatz der diätischen Behandlungsansätze 965.1.2.2 Die Lebensmittel-Farbstoffe und Feingold-Diät 975.1.2.3 Die phosphatreduzierte Diät nach Hafer 975.1.2.4 Kritik an den diätischen Maßnahmen 98

5.2 Pädagogisch-therapeutische Interventionsmodelle 995.2.1 Formen der kognitiven Verhaltenstherapie 99

5.2.1.1 Theoretischer Erklärungsansatz der kognitiven Verhaltenstherapie 1005.2.1.2 Ziele der kognitiven Verhaltenstherapie 1025.2.1.3 Zur Konzeptualisierung der Störung 1035.2.1.4 Das Problemlösetraining 1045.2.1.5 Die Methode der Selbstinstruktion 1055.2.1.6 Kritik an der kognitiven Verhaltenstherapie 107

5.2.2 Motopädagogische Intervention 1085.2.2.1 Theoretischer Erklärungsansatz der Psychomotorik 1095.2.2.2 Ziele der psychomotorischen Förderung 1115.2.2.3 Das Bewegungs- und Verhaltenstrainingsprogramm nach Ernst J. Kiphard

1125.2.2.4 Kritik an der Psychomotorik 114

6 Kreativ-therapeutische Interventionen am ausgewählten Beispiel der Musiktherapie zur Förderung hyperaktiver Kinder 115

6.1 Kreativität und Therapie 1156.2 Musik als Kommunikationsmittel 1176.3 Definition und Formen der Musiktherapie 1186.4 Musiktherapeutische Verfahren 1206.5 Die Eignung der Musiktherapie für die Arbeit mit hyperaktiven Kindern 1216.6 Die Prinzipien der Orff-Musiktherapie in der Behandlung hyperaktiver Kinder122

6.6.1 Die Orff-Musiktherapie 1226.6.2 Das Instrumentarium der Orff-Musiktherapie 1246.6.3 Der Therapieablauf 1266.6.4 Die Orff-Musiktherapie und hyperaktive Kinder 1276.6.5 Abschließende Bemerkungen zur Orff-Musiktherapie 128

7 Abschlußbetrachtung einer pädagogischen Förderung bei hyperaktiven Kindern im Vorschulalter unter Einbezug kreativer und pädagogisch-therapeutischer Aspekte 129

7.1 Die Notwendigkeit einer kreativen Erziehung bei hyperaktiven Kindern 1317.2 Abschließende Bemerkungen zu den medizinischen und pädagogisch-therapeutischen Interventionen unter Einbezug kreativer Aspekte 1347.3 Ausblick 139

Literaturverzeichnis 141

III

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Schematische Darstellung der Symptome für das Störungsbild hyperkinetisches Syndrom. 12

Abb. 2: Der Teufelskreis beim hyperaktiven Kind. 16

Abb. 3: Übersicht über die wesentlichen psycho-sozialen Einflußfaktoren. 23

Abb. 4: Fragebogen nach Conners zum hyperkinetischen Syndrom. 32

Abb. 5: Das störende Verhalten des hyperaktiven Kindes löst eine Kette von Reaktionen36

Abb. 6: Durch verständnisvolles und einfühlsames Verhalten der Eltern kann ein erträgliches Familienklima entstehen. 38

Abb. 7: Typische Reaktionen hyperaktiver Kinder auf Umweltreize. 57

Abb. 8: Der Prozeß des kreativen Problemlösens als Auseinandersetzung eines Individuums mit einem neuartigen Problem. 65

Abb. 9: Zuwiderlaufende Verstärkungsprozesse bei der Eigenstimulation. 102

Abb. 10: Verschiedene Förderungsinhalte der Psychomotorik. 110

IV

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Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung

ADD Attention Deficit Disorder

ADHD Attention Deficit Hyperactivity Disorder

AÜK Arbeitskreis überaktives Kind

bzw. beziehungsweise

ca. circa

d.h. das heißt

DSM Diagnostisches und Statistisches Manual

EEG Elektroenzephalogramm

et al. et allii

evt. eventuell

f. folgende

ff fortfolgende

HKS Hyperkinetisches Syndrom

Hrsg Herausgeber

ICD International Classification of Diseases

MAS Multiaxiales Klassifikationssystem

MCD Minimale Cerebrale Dysfunktion

MFF-Test Matching Familiar Figures-Test

u.a. unter anderem

usw und so weiter

TTCT Torrance Tests of Creative Thinking

vgl. vergleiche

Vol. Volume

WHO World Health Organisation

z.B. zum Beispiel

ZNS Zentralnervensystem

V

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1 Einleitung

1.1 Einführung in die Thematik und Erläuterungen zur Problematik

Jedes Kind muß während seiner Entwicklung schwierige Phasen seiner persönlichen

Entfaltung durchlaufen und bewältigen. Neben solchen "normalen"

entwicklungsbedingten Problemen treten bei manchen Kindern

Verhaltensschwierigkeiten auf, die besorgniserregend sind. Dadurch wird nicht nur die

Erziehungsatmosphäre belastet, sondern die notwendige Entfaltung des Kindes gestört.

In diesem Fall ist pädagogisches Handeln gefordert.1

In der Pädagogik und der Psychologie wird vieles im Verhalten von Kindern, das von

Eltern schnell als "Ungezogenheit" oder "Trotz" tituliert wird, als Notsignal des Kindes

verstanden. Das Kind befindet sich in einer Notsituation, die von seiner Umgebung oft

nicht wahrgenommen wird. Infolgedessen weiß das Kind sich nicht mehr zu helfen, es

kommt möglicherweise zu Verhaltensschwierigkeiten. Verhaltensauffälligkeiten sind

somit die Reaktion des Kindes auf eine gestörte Lebenswelt. Diese Vehaltensauffällig-

keiten übernehmen als Mittel der Problemlösung ebenfalls eine vorbeugende Funktion,

die das Kind vor schweren Störungen und Erkrankungen schützt.2

Die Zahl verhaltensauffälliger Kinder nimmt in der heutigen Gesellschaft zu, obwohl

die meisten Verhaltensschwierigkeiten bei Kindern durch einen pädagogisch ver-

ständnisvolleren Umgang gemildert oder behoben werden können. Eine Art der

Verhaltensauffälligkeiten ist das hyperaktive Verhalten bei Kindern. Diese fallen durch

kognitive, soziale und motorische Entwicklungsdefizite auf, zu deren Hauptmerkmalen

Angst, Unsicherheit, Aggression, Hyperaktivität und ein stark gestörtes oder wenig

entwickeltes Selbstwertgefühl gehören.3

Hyperaktives Verhalten bei Kindern äußert sich in einem hohen Niveau der kindlichen

Handlungen und Aktivität, auch in Situationen, in denen dies unangemessen ist.4

Das hyperaktive Kind ist nicht in der Lage, seine Aktivität zu reduzieren, so daß es sich

in einer ständigen Unruhe befindet und seine Aktivität somit nicht nach bestimmten

sinnvollen Zielen ausrichten und steuern kann. Die hyperaktiven Kinder sind daher

nicht einfach aktiver als andere Kinder, sondern sie besitzen die Schwierigkeit ihre

Aktivität zu kontrollieren. Ein weiterer schwerwiegender Aspekt ist, daß die Umwelt

unterschiedlich tolerant auf das hyperaktive Verhalten des Kindes reagiert. Es ist daher

immer eine subjektive Entscheidung, ab welchem Ausmaß ein Verhalten als hyperaktiv

1Vgl. Ortner, R. (1989), S. 7.2Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 71.3Vgl. Ortner, R. (1989), S. 58.4Vgl. Petermann, U. (1991), S. 121.

1

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betrachtet wird. Dies hängt von der jeweiligen Belastbarkeit der Person und den

Normvorstellungen der Gesellschaft ab.5

Hyperaktive Kinder brauchen aus diesen Gründen wirksame Hilfe, die von einem pro-

fessionellen Helfer - einem Pädagogen - kommen kann.

Dazu bietet die Kreativitätsforschung vielfältige Möglichkeiten. Kreativ sein bedeutet

schöpferisch tätig zu sein. Daraus ergibt sich die Frage, ob hyperaktive Kinder

überhaupt schöpferisch tätig sein können oder anders gefragt, kann die Erziehung

hyperaktiver Kinder so gestalten werden, daß sie diesen zu kreativen Potentialen

verhilft?

Die Begriffe Kreativität und Kreativitätsförderung dürfen innerhalb dieser Thematik

nicht von den allgemeinen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen her

auf die Problematik des hyperaktiven Kindes übertragen werden. Vielmehr muß

untersucht werden, in welchem Maße und in welcher Art Kreativität und

Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern aufgrund ihrer Fähigkeiten oder ihres

Entwicklungsstandes möglich ist. Daraus ergeben sich zahlreiche Fragen, die im

Verlauf dieser Arbeit erläutert werden sollen: Welchen Sinn kann Kreativitätsförderung

für die Persönlichkeitsentwicklung des hyperaktiven Kindes haben? Sind

Unzulänglichkeiten in der Persönlichkeitsentwicklung durch Kreativitätsförderung ab-

zubauen?

Kreativität umfaßt kognitive, affektive und psychomotorische Aspekte. Sie trägt im we-

sentlichen dazu bei, selbständig angemessene Problemlösungen zu finden. Daher ist sie

als Grundausstattung des Menschen in allen Ausprägungen zu finden.6

Zu ähnlichen Aussagen gelangt Landau (1984), indem sie sagt, daß in jedem Menschen

die Grundlage für die Kreativität vorhanden ist, und daß es die Aufgabe der Erziehung

ist, die Kreativität zu entwickeln, damit sie zur natürlichen Aktivität des Selbst werden

kann.7

Daraus kann geschlossen werden, daß auch in einem hyperaktiven Kind die Grundlage

zur Kreativität vorhanden sein muß.

Sinn und Ziel einer Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern kann primär sicher-

lich nicht in einem gesellschaftlichen Aspekt liegen, in dem Sinne, daß hyperaktive

Kinder zu einer für die Gesellschaft nutzbringenden Kreativität erzogen werden.

Vielmehr ist das Ziel der Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern in erster Linie

die Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung.

Diese Art der Kreativität, die auch intraindiviuelle Kreativität genannt wird, beschreibt

die Situation, in der ein Individuum für sich etwas völlig Neues entdeckt, dies kann z.B.

eine Idee sein, an die dieses Individuum vorher nie selbständig gedacht hat, die jedoch

in der bestehenden Gesellschaft für andere Menschen bereits bekannt ist. Während

5Vgl. Petermann, U. (1991), S. 121.6Vgl. Limberg, R. (1978), S. 9.7Vgl. Landau, E. (1984), S. 93.

2

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extraindividuelle Kreativität oder soziale Kreativität dann vorliegt, wenn eine

Erkenntnis für die gesamte Kultur neu ist, d.h. also das Neue als solches auf die Gesell-

schaft bezogen wird.8

Landau (1984) betont, daß die individuelle Kreativität für die Entwicklung des Indivi-

duums besonders wichtig ist. Des weiteren ist sie die Voraussetzung für soziale

Kreativität, die wiederum für die Entwicklung der Gesellschaft notwendig ist.9

Eine subjektive, intraindividuelle Kreativität und deren Förderung scheint für

hyperaktive Kinder somit ein primäres Anliegen zu sein, um dann auf eine soziale

Kreativität Bezug zu nehmen.

1.2 Definitorische Erläuterungen der Begriffe Hyperaktivität und Kreativität

Die begriffliche Vielfalt in der neueren Literatur zu den Themen "Hyperaktivität" und

"Kreativität" ist sehr verwirrend. Weder gibt es zu jedem dieser Themenkomplexe eine

eindeutige anerkannte Definition noch gibt es eine einheitliche Begrifflichkeit. Im

folgenden werden die verschiedenen Definitionskonzepte näher betrachtet, um eine

definitorische Grundlage beider Themenkomplexe zu schaffen.

1.2.1 Definition des Begriffes Hyperaktivität

Für den augenblicklichen Stand hinsichtlich der Terminologie des Begriffes

Hyperaktivität ist ein Zitat von von Lüpke (1990) nach wie vor aktuell:

"Jährlich schwillt die Literatur über das hyperkinetische Kind weiter an: Klarheit über Zusammenhänge ist trotzdem weniger denn je in Sicht. Ur-sächliche Faktoren, Untersuchungsbefunde, Klassifikationen und Therapie-empfehlungen werden oft nur in Form von Listen abgehandelt. ...Das hyperkinetische Kind ist kaum noch zu fassen."10

Kindliche Hyperaktivität ist unter vielen verschiedenen diagnostischen Bezeichnungen

bekannt. Die meisten davon betonen entweder charakteristische Aspekte des kindlichen

Verhaltens oder verschiedene Theorien über den Ursprung der Hyperaktivität. Daher

sprechen Ross & Ross (1982) in bezug auf die Hyperaktivität von "terminological con-

fusion"11 und betonen die willkürliche Verwendung der Begriffe Hyperaktivität, Hirn-

schädigung, Aufmerksamkeitsstörung, Minimale cerebrale Dysfunktion, Hyperkinese

u.ä.. Eine präzise Auflistung geben Bauer (1986) und Voss (1990).12

Der Begriff Hyperaktivität ist somit nicht der einzige Terminus, der in Forschung und

Praxis verwendet wird. Bereits vor 1970 ergab eine Zählung eines Komitees in einem

8Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 25.9Vgl. Landau, E. (1984), S. 14.10von Lüpke, H. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 5711Ross, D. M. / Ross, S. A. (1982), S. 9 12Vgl. Bauer, A. (1986), S. 8 ; Voss, R. (1987), S. 36.

3

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Bericht des "US Depatment of Health, Education and Welfare" 38 verschiedene

Begriffe für das Erscheinungsbild der Hyperaktivität.13

Gegenwärtig werden in der Medizin und in der Psychiatrie bereits über 70 verschiedene

Begriffe für das "Zappelphilipp-Syndrom" entsprechend den Deutungen seiner

Ursachen und Symptome verwendet.14

Dennoch stimmen die meisten Forscher darin überein, daß es sich bei der

Hyperaktivität um eine "Verhaltensstörung" handelt. Dieses Einvernehmen beruht

darauf, daß sich zunächst überwiegend die Medizin mit dieser Thematik beschäftigte

und sie erst später in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, so auch in der Pädagogik,

Bedeutung bekam. Hieraus resultierte ein Umdenken und Hyperaktivität wurde nicht

mehr vorbehaltlos als "Verhaltensstörung" aufgefaßt, sondern unter dem neutraleren

Begriff der "Verhaltensauffälligkeit" betrachtet. Die Folge davon ist, daß Hyperaktivität

von verschiedenen wissenschaftstheoretischen und fachdidaktischen Standpunkten aus

unterschiedlich betrachtet wird. Aus pädagogischer Sicht wird das hyperaktive Kind mit

seinen Entwicklungsschwierigkeiten und Selbstwertproblemen gesehen, während der

Mediziner an einer (medikamentösen) Behandlung der vermeintlichen (organischen)

Ursache interessiert ist.15

Daraus resultiert die erhebliche Diskrepanz in den wissenschaftlichen Aussagen

innerhalb der verschiedenen Publikationen zur Hyperaktivität und die damit

verbundenen Schwierigkeiten der Übertragung der gefundenen Ergebnisse in die Praxis.

Eine der frühesten Versuche, Hyperaktivität zu definieren stammt von Clements

(1966). Er geht davon aus, daß es sich bei den Hyperaktiven um Kinder von

durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz handelt, die Lern- und/oder

Verhaltensstörungen aufweisen.16

Heute verwenden Ärzte und Psychologen die Bezeichnung Hyperaktivität oder

Hyperkinetisches Syndrom (HKS) für Kinder und Jugendliche, die durch eine große

Aktivität, starke Impulsivität und Erregbarkeit sowie durch nicht situationsgerechte

Gefühlsäußerungen auffallen. Diese Kinder gliedern sich schlecht in die Altersgruppe

ein oder zeigen Leistungs- und Entwicklungsstörungen.17

Die Verwendung des Begriffes Hyperkinetisches Syndrom besagt im medizinischen

Sinne, daß es sich nicht um eine eindeutige Erkrankung handelt, sondern daß unter dem

Begriff Syndrom eine Vielzahl verschiedener Störungen zusammengefaßt wird. Das be-

deutet, daß alle Auffälligkeiten, die gehäuft auftreten, unter der Zauberformel Syndrom

zusammengefaßt werden können. Der Begriff Syndrom enthält formal zwar keine

13Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 59.14Vgl. Calatin, A. (1993), S. 22.15Vgl. Bauer, A. (1986), S. 8.16Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 17.

17Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 23.

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Festlegung auf eine Ursache, verweist aber durch den medizinischen Terminus auf das

Organische. Somit wird die Verhaltensauffälligkeit zur Krankheit und eine medizini-

sche Behandlung wird gerechtfertigt.

Im Verlauf dieser Arbeit soll die Definition des Begriffes Hyperkinetisches Syndrom

nach dem multiaxialen Klassifikationsschema (MAS) für psychiatrische Erkrankungen

im Kindes- und Jugendalter nach Rutter, Shafer und Sturge (1986) als grundlegend

angenommen werden:

"Störungen, deren wesentliche Merkmale kurze Aufmerksamkeitsspanne und erhöhte Ablenkbarkeit sind. In der frühen Kindheit ist das auffallendste Symptom eine ungehemmte, wenig organisierte und schlecht gesteuerte, extreme Überaktivität, an deren Stelle aber in der Adoleszenz Hypoaktivität treten kann. Impulsivität, ausgeprägte Stimmungsschwankungen und Aggressivität sind ebenfalls häufige Symptome. Oft bestehen Verzögerungen in der Entwicklung bestimmter Fähigkeiten sowie gestörte und einge-schränkte zwischenmenschliche Beziehungen."18

Nach dem multiaxialen Klassifikationssystem werden noch drei Varianten des hyperki-

netischen Syndroms unterschieden:19

1. HKS mit Störungen von Aktivität und Aufmerksamkeit

Bei dieser Variante stehen neben der Hyperaktivität die kurze Aufmerksamkeits-

spanne und die Ablenkbarkeit im Vordergrund, ohne daß andere

Verhaltensstörungen oder Entwicklungsverzögerungen vorliegen.

2. HKS mit Entwicklungsrückständen

Diese Variante bezieht sich auf Kinder, bei denen das HKS mit verzögerter Sprach-

entwicklung, motorischer Ungeschicklichkeit, Leseschwierigkeiten oder anderen

spezifischen Entwicklungsrückständen einhergeht.

3. HKS mit Störungen des Sozialverhaltens

Bei den von dieser Störung betroffenen Kindern stehen neben der Hypermotorik

ausgeprägte Störungen des Sozialverhaltens, jedoch keine Entwicklungsverzögerun-

gen im Vordergrund.

1.2.2 Definition des Begriffes Kreativität

Ähnlich schwierig gestaltet sich die Definition des Begriffes Kreativität. In der

Literatur zum Thema Kreativität und Kreativitätsforschung liegen ebenso umfangreiche

18Remschmidt, H./ Schmidt, M. (1986), S. 7219Vgl. Ebenda, S. 72.

5

Page 14: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

und verwirrende Definitionsversuche vor wie zuvor anhand des Begriffes

Hyperaktivität dargestellt wurde.

Mühle und Schell (1970) sprechen davon, daß es keine allgemein akzeptable Definition

gibt.20

Ursprünglich stammt der Begriff Kreativität von dem lateinischen Wort "creare" ab,

was soviel wie zeugen, gebären, schaffen, erschaffen heißt und somit schon in seiner

Ursprünglichkeit etwas dynamisches, sich entwickelndes beinhaltet, was auf ein

bestimmtes Ziel hinweist.21

Diese Begriffsdefinition wurde bis in das 20. Jahrhundert hinein auf den künstlerischen

Bereich verengt. Ab 1950 setzten systematische wissenschaftliche Untersuchungen in

Amerika ein, ausgelöst durch die vielbeachtete Rede von Guilford über das Thema

"creativity", die er als Präsident der "American Psychological Association" gehalten

hatte.

Ulmann (1970) verwendet Kreativität zunächst als Arbeitsbegriff, der verschiedenen

ältere Begriffe impliziert und der durch eine wachsende experimentelle Forschung

ständig einen neuen Sinn erhält.22

In den 70er Jahren wurde der Begriff Kreativität mit unzähligen Definitionen belegt,

die zu mehr Verwirrung als zur Klärung beitrugen. Auf einem Symposium über

Kreativität haben Wissenschaftler fast 400 verschiedene Bedeutungen zum

Kreativitätsbegriff benannt. Die häufigsten Begriffassoziationen waren: Originalität,

Erfindungsreichtum, Flexibilität, Entdeckung, Außergewöhnliches, Intelligenz sowie

verschiedene synonym verwandte Begriffe wie z.B. produktives Denken, divergentes

Denken, Originalität, Einbildungskraft und Erfindungsreichtum.23

Ein Zitat von Ausubel (1968) ist in diesem Zusammenhang auch heute noch von beson-

derer Bedeutung:

"Creativity is one of the vaguest, most ambigous, and most confused terms in psychology and education today."24

Im Verlauf der letzten Jahre wurde Kreativität vor allem in der Freizeitindustrie zu

einem Modewort gemacht, um die vielseitigen Spiel- und Freizeitartikel zu vermarkten.

Im Sinne einer wissenschaftlichen Betrachtung ist der Kreativitätsbegriff deutlich von

dem Freizeitbegriff abzugrenzen.

Im wissenschaftlichen Kontext müssen bei der Begriffsbestimmung von Kreativität im-

mer verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. Dies ist zum einen der

gesellschaftliche Aspekt, der die gesellschaftlichen Verhältnisse umfaßt und zum

20Vgl. Mühle, G. / Schell, Ch. (1970), S. 7.21Vgl. Landau, E. (1984), S. 13. 22Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 13.23Vgl. Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 115.24Ausubel, D. P. (1968), zitiert nach Limberg, R. (1978), S. 13

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Page 15: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

anderen ist es der Persönlichkeitsaspekt der jeweiligen Person und dessen Umfeld. Aus

den verschiedenen Grundannahmen ist es nicht verwunderlich, daß eine große Anzahl

von Definitionen entstehen, die alle einen unterschiedlichen Schwerpunkt setzten.

Eisler-Stehrenberger (1990) unterstreicht diese Aussage, indem sie sagt:

"So unterschiedlich die der Kreativität zugeschriebenen Attribute sind, so unterschiedlich sind die Interessen, so unterschiedlich dann auch die bestehenden Definitionen."25

So bezieht sich Wollschläger (1972) in seiner Definition vornehmlich auf

gesellschaftliche Aspekte, indem er postuliert:

"Kreativität ist die Fähigkeit, neue Zusammenhänge aufzuzeigen und damit zur allgemeinen Problemlösung in der gesellschaftlichen Realität

beizutra- gen."26

Beer und Erl (1974) dagegen beziehen sich auf die Definition von Mead, die das Neue

in bezug auf die Erfahrungswelt des Individuums in den Vordergrund stellt, die für des-

sen Entwicklung von zentraler Bedeutung ist:

"In dem Maße, als eine Person etwas für sie selbst neues macht, erfindet, ausdenkt, kann man sagen, daß sie einen kreativen Akt vollbracht hat."27

Die individuelle Kreativität ist zugleich Voraussetzung für die soziale Kreativität, die

für die Entwicklung einer Gesellschaft und einer Kultur notwendig ist.

Das subjektiv Neue bekommt innerhalb der verschiedenen Definitionskonzepte eine

herausragende Bedeutung. So läßt sich prinzipiell jede Neuentdeckung eines Menschen

als einen kreativen Akt bezeichnen, so daß jeder Mensch über ein bestimmtes Maß an

kreativen Fähigkeiten verfügt. Diese Aussage wird in dem Definitionskonzept von

Guilford (1950) bestätigt, der besonders die Untrennbarkeit der Kreativität von der

Persönlichkeit des kreativen Menschen hervorhebt und Kreativität als eine Fähigkeit be-

schreibt, die alle Menschen bis zu einem gewissen Grade besitzen, egal wie schwach

oder wie selten auch immer, so daß von allen Menschen kreative Akte erwartet werden

können.28

In diesen Aussagen spiegelt sich das pädagogische Interesse an der Kreativität wieder.

Im Blickpunkt steht die Voraussagbarkeit und Erlernbarkeit der Kreativität. Dabei ist

für die Entwicklung des Kreativitätspotentials zum einen die Persönlichkeit von

25Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 11626Wollschläger, G. (1972), S. 17727Mead, M. zitiert nach Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 1028Vgl. Guilford, J. P. (1950), in: Mühle, G. / Schell, Ch. (1970). S. 19.

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Page 16: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

besonderer Bedeutung und zum anderen die Bedingungen und Voraussetzungen der

Umwelt, die den kreativen Menschen beeinflussen.

Landau (1984) kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß den verschiedenen kreativen

Prozessen eine gemeinsame Fähigkeit zu Grunde liegt. Dies ist die Fähigkeit, Beziehun-

gen zwischen vorher unbezogenen Erfahrungen zu finden, die sich in der Form neuer

Denkschemata als neue Erfahrungen, Ideen oder Produkte ergeben. Dieses kreative Po-

tential ist in jedem Individuum vorhanden und kann in jeder Lebenssituation angewandt

werden.29

Kreativität ist somit zum einen die Fähigkeit, Beziehungen zwischen zuvor

unabhängigen Erfahrungen herzustellen und zum anderen beinhaltet Kreativität die

Haltung des Individuums gegenüber seiner Umwelt, die es ihm ermöglicht, diese in

neuer Gestalt zu erleben, sensibel auf Veränderungen zu reagieren und auf

Gegebenheiten produktiv einzuwirken.30

1.3 Zum Verlauf der Arbeit

Im ersten Kapitel wurden bereits Erläuterungen zur Thematik und grundlegende

Definitionen vorgestellt.

Daraus ergibt sich der folgende Aufbau der insgesamt sechs maßgebenden Kapitel

dieser Arbeit:

Im folgenden zweiten Kapitel wird zunächst ein Überblick über die Thematik der Hy-

peraktivität gegeben. Dieser Überblick liefert Informationen über das Erscheinungsbild

der Hyperaktivität, wobei die primären und sekundären Symptome der Hyperaktivität

vorgestellt werden. Des weiteren wird die Ätiologie des hyperaktiven Verhaltens

dargestellt, in der Auseinandersetzung mit genetischen, organischen, ökologischen und

psycho-sozialen Verursachungsfaktoren. Außerdem wird in diesem Kapitel die

Diagnostik der Hyperaktivität beschrieben, wobei die Gründe für die Schwierigkeiten

einer diagnostischen Erhebung diskutiert werden. Ferner werden im zweiten Kapitel die

unterschiedlichen Beziehungsmuster des hyperaktiven Kindes und deren Auswirkungen

auf das Verhalten des hyperaktiven Kindes dargestellt. Abschließend wird auf die

Selbsteinschätzung des hyperaktiven Verhaltens des Kindes eingegangen.

Das zentrale Thema des dritten Kapitels bilden die theoretischen Grundlagen der Krea-

tivitätsforschung. Dabei wird zunächst auf die Anfänge der Kreativitätsforschung einge-

gangen, die sich auf die Geschichte der Kreativitätsforschung, auf unterschiedliche

Kreativitätstheorien, auf den Zusammenhang zwischen Kreativität und Intelligenz und

auf die verschiedenen Motivationstheorien beziehen. Daran schließt sich die

Darstellung der kreativen Persönlichkeit an, wobei an dieser Stelle bereits Bezüge auf

29Vgl. Landau, E. (1984), S. 14.30Vgl. Bloch, S. (1982), S. 19.

8

Page 17: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

die Problematik der Hyperaktivität hergestellt werden. Weiterhin werden der kreative

Prozeß und das kreative Produkt vorgestellt, ebenfalls im Zusammenhang mit

Hyperaktivität. Außerdem werden die Bedingungen einer kreativen Umwelt zur

Förderung des hyperaktiven Kindes beschrieben.

Im vierten Kapitel steht die Erziehung zur Kreativität im Vorschulalter bei

hyperaktiven Kindern im Mittelpunkt der Betrachtung. Zunächst werden dabei die

entwicklungspsychologischen Aspekte und dann die Aufgaben und Ziele einer

kreativen Erziehung vorgestellt. Darauf folgend werden die hemmenden und die

fördernden Faktoren für eine kreative Entfaltung vorgestellt. Ferner ist für eine kreative

Erziehung die Haltung des Erziehers von besonderer Bedeutung, die im Anschluß

erklärt wird. Zum Abschluß des Kapitels werden verschiedene Techniken und

Methoden zum Training und zur Förderung des kreativen Verhaltens bei Kindern im

Vorschulalter dargestellt.

Im fünften Kapitel werden die gängigen medizinischen und pädagogisch-

therapeutischen Interventionsmöglichkeiten bei der Behandlung hyperaktiver Kinder

vorgestellt und kritisch diskutiert.

Im sechsten Kapitel wird anhand eines ausgewählten Beispiels der kreativ-therapeuti-

schen Interventionsmöglichkeiten, der Musiktherapie, der Zusammenhang zwischen

Kreativität und Therapie dargestellt. Im darauf folgenden wird auf die Musik als Mittel

der Kommunikation, auf die Definition und die verschiedenen Formen der

Musiktherapie sowie auf unterschiedliche musiktherapeutische Verfahren eingegangen.

Außerdem wird die Eignung der Musiktherapie für die Arbeit mit dem hyperaktiven

Kind diskutiert und abschließend am Beispiel der Orff-Musiktherapie auf die

Möglichkeiten einer Förderung hyperaktiver Kinder durch Musiktherapie eingegangen.

Im abschließenden siebten Kapitel wird auf die Notwendigkeit einer Erziehung zur

Kreativität bei hyperaktiven Kindern im Vorschulalter eingegangen, wobei die grundle-

genden Aspekte der Kreativitätsforschung einbezogen werden. Des weiteren werden die

pädagogisch-therapeutischen Interventionsmöglichkeiten bei hyperaktiven Kindern hin-

sichtlich ihrer Brauchbarkeit bewertet und mit anderen Interventionsmöglichkeiten ver-

glichen. Außerdem soll eine Integration kreativer Aspekte in die therapeutische Arbeit

vorgenommen werden. Zusätzlich wird ein Ausblick auf notwendige zukünftige For-

schungsansätze gegeben.

9

Page 18: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

2 Das hyperaktive Kind im Vorschulalter

Es ist schwierig, die Eigenschaften eines hyperaktiven Kindes zu beschreiben - nicht

weil sie außergewöhnlich sind, sondern weil viele Symptome bei allen Kindern zu

bestimmten Zeiten bis zu einem gewissen Ausmaß beobachtet werden können.

Bei der Mehrzahl der diagnostizierten hyperaktiven Kinder treten die Verhaltensauffäl-

ligkeiten bereits im Säuglingsalter auf, verstärken sich im Vorschulalter und erreichen

mit dem Eintritt in die Schule ihren Höhepunkt. Dies ist dadurch zu erklären, daß in der

Vorschule und verstärkt in der Schule höhere Anforderungen an die Leistung und

Disziplin gestellt werden. Voss (1990) berichtet von 20-25% verhaltensauffälligen

Kindern in der Vorschule und von 33% in der Schule.31

In den verschiedenen Altersklassen treten unterschiedliche Symptomschwerpunkte in

den Vordergrund. Bis zum fünften Lebensjahr stehen vor allem die motorischen

Aktivitäten im Vordergrund, während im Vorschulalter die Probleme hinsichtlich der

Aufmerksamkeit und der sozialen Anpassung primäre Bedeutung haben, da das Kind

mit dem Eintritt in den Kindergarten einen Schritt in eine neue Gemeinschaft macht.

Mit dem Schuleintritt werden die kognitiven Komponenten in den Vordergrund gestellt:

Das Kind kann nicht bei einer Sache bleiben. Es entstehen Störungen in der Gruppe,

deren Folge Probleme mit Gleichaltrigen sind.32

Bei der Charakterisierung des hyperaktiven Kindes im Vorschulalter stehen

Furchtlosigkeit und eine niedrige Konzentrationsspanne an erster Stelle. Der Begriff

Furchtlosigkeit beschreibt das Verhalten des hyperaktiven Kindes anderen Kindern

gegenüber: Das hyperaktive Kind stört oder zerstört das Spiel der anderen, will in der

Gruppe dominieren und provoziert durch Clownerie. Das hyperaktive Kind besitzt

somit eine geringe Fähigkeit, die Gefühle der anderen seinem Alter entsprechend zu

begreifen. Diese Eigenschaften machen das Kind unbeliebt und führen schnell zu einer

Außenseiterposition.33

Dennoch bleibt die Reaktion anderer Kinder auf das hyperaktive Kind nicht unbeachtet.

Es sieht sich selbst oft sehr negativ, zeigt ein geringes Selbstvertrauen, welches häufig

durch Selbstüberschätzung überspielt wird. Schon hier entscheidet die Fähigkeit der Be-

treuungsperson, inwieweit das Selbstvertrauen des Kindes beeinträchtigt wird, weil nie-

mand das kindliche Verhalten als "krankhaft" erkennt. Hyperaktive Kinder brauchen

eine konsequente Führung, um Beziehungen zu anderen aufbauen zu können.34

31Vgl. Voss, R. (1990), S. 15.32Vgl. Krause, J. (1995), S. 24.33Vgl. Wender, P. (1991), S. 23. 34Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 107ff.

10

Page 19: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

2.1 Das Erscheinungsbild des hyperaktiven Kindes

Der Kinderarzt Heinrich Hoffmann hat 1844 mit dem Zappelphilipp die klassische Be-

schreibung eines hyperaktiven Kindes in Reime gebracht:

"Er gaukelt

Und schaukelt,

Er trappelt

Und zappelt

Auf dem Stuhle hin und her."35

Bis heute hat sich das ungenaue Erscheinungsbild des hyperaktiven Verhaltens kaum

verändert. Die Uneinheitlichkeit hängt zum einen mit der Vielfalt der Ursachen und

zum anderen mit der Synthese der verschiedenen Einflußfaktoren zusammen.

Die Komplexität des Erscheinungsbildes kann sehr unterschiedlich sein, so daß bei eini-

gen Kindern nur wenige Symptome auftauchen, während andere einen vollständigen

Symptomkomplex aufweisen.36

Aus diesem Grund kann es das hyperaktive Kind nicht geben, sondern viele

hyperaktive Kinder mit individuell verschieden gepaarten Symptomen. Generell wird in

der Literatur zwischen Kernsymptomen oder Zentralsymptomen und Sekundär- bzw.

Periphersym-

ptomen unterschieden. Jedem dieser Symptomgruppen werden jeweils vier Einzelsym-

ptome zugeordnet.

Wie aus der Abbildung 1 ersichtlich wird gehören zu den Zentralsymptomen:

1. Hyperaktivität;

2. Aufmerksamkeitsstörungen;

3. Impulsivität;

4. Emotionale Auffälligkeiten.

Die Periphersymptome sind Folgeerscheinungen, die meist durch Entwicklungs- und

Sozialisationsprozesse entstanden sind. Die damit verbundenen negativen Erfahrungen

führen bei dem hyperaktiven Kind zu einer sogenannten "sekundären Neurotisierung"

und bestimmen das gesamte Verhalten des Kindes. Sie umfassen:

5. Lernstörungen;

6. Teilleistungsstörungen;

7. Soziale Schwierigkeiten;

8. Selbstwertprobleme.37

35Hoffmann, H. (1848), zitiert nach von Lüpke, H. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 57. 36Vgl. Bauer, A. (1986), S. 39.37Vgl. Ebenda, S. 40.

11

Page 20: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Abb. 1: Schematische Darstellung der Symptome für das Störungsbild hyperkinetisches Syndrom.

[Quelle: Vernooij, M. (1992), S. 21.]

2.1.1 Hyperaktivität

Zunächst einmal kann jedes Verhalten eines Menschen als Aktivität bezeichnet werden

und ist somit unauffällig. Psychopathologisch wird Hyperaktivität als ungerichtete, ziel-

lose motorische Aktivität definiert, die sich bis zur Tobsucht steigern kann. Hinzu

kommt ein starker Rededrang sowie die Unfähigkeit eine kurze Zeit still zu sitzen.38

Zwei zusätzliche Hinweise zur Hyperaktivität sind in diesem Zusammenhang wichtig:

Zum einen sind nicht alle hyperaktiven Kinder übermäßig aktiv! Es gibt einige wenige

Kinder, die viele von den später zu behandelnden Problemen haben, aber durchaus nicht

sehr aktiv sind. Der Terminus ist in der Literatur eingeführt und deshalb muß nach-

drücklich betont werden, daß alle anderen Symptome ohne eigentliche Hyperaktivität

vorhanden sein können. Zum anderen muß darauf hingewiesen werden, daß die

Hyperaktivität oft als erstes Symptom verschwindet, wenn das Kind älter wird. Die

Tatsache, daß das Kind früher einmal übermäßig aktiv war, dies nun aber nicht mehr

ist, bedeutet deshalb noch nicht, daß alle Schwierigkeiten gelöst wären. Eine Anzahl

weiterer Probleme dauert vielleicht an und erfordert eine Behandlung, obwohl die

Hyperaktivität selbst verschwunden ist.39

38Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 17; Vernooij, M. (1992), S. 21.39Vgl. Wender, P.H / Wender, E.H. (1988), S. 15.

12

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2.1.2 Aufmerksamkeitsstörungen

Ein weiteres Kennzeichen des hyperaktiven Kindes, das fast ausnahmslos auftritt, ist die

leichte Ablenkbarkeit oder eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne. Das Symptom der

Aufmerksamkeitsstörung ist im Gegensatz zur Hyperaktivität nicht so leicht ersichtlich,

dennoch ist es bedeutungsvoller und wird oftmals in der Fachliteratur als das Haupt-

merkmal des hyperaktiven Verhaltens bezeichnet. Aufmerksamkeit ist schwer zu

definieren und daher in bezug auf die Hyperaktivität ein undeutliches Konstrukt. Mit

Aufmerksamkeit kann zum einen ein mehrdimensionaler Prozeß zur Aufnahme und

Verarbeitung von Informationen über die Umgebung verstanden werden

(unwillkürliche Aufmerksamkeit). Zum anderen wird Aufmerksamkeit als ein

"ebenfalls mehrdimensionaler Prozeß der gezielten Hinwendung des Bewußtseins auf

einen bestimmten Gegenstand, einen Vorgang, eine Handlung, eine Gesamtsituation"40

bezeichnet (willkürliche Aufmerksamkeit). In einem engen Zusammenhang mit der

Aufmerksamkeit steht die Konzentration, was etwas mit dem Bewußtsein, mit wil-

lentlicher Lenkung der Aufmerksamkeit zu tun hat, mit der Absicht, etwas zu erreichen

oder zu leisten. Die Aufmerksamkeitsstörung wird als Ursache der Konzentrations-

störung angenommen. Die mangelnde Aufmerksamkeit und Ausdauer erschweren es

dem Kind, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen und zu verarbeiten.41

Es gibt paradoxerweise das Phänomen, daß bei manchen hyperaktiven Kindern die Ab-

lenkbarkeit überlagert ist von der Fähigkeit, für eine außergewöhnlich lange Zeitspanne

bei einer speziellen, meist selbst gewählten Tätigkeit zu verweilen. Das Kind wirkt

dann hingerissen und völlig gefangen oder ungewöhnlich ausdauernd.42

2.1.3 Impulsivität

Impulsivität ist ein sehr häufiges Charakteristikum des hyperaktiven Kindes. Dieses

Symptom bezieht sich vor allem auf die Problemlösefähigkeit des Kindes. Generell

wird das Problemlöseverhalten bei hyperaktiven Kindern als unreif beschrieben. Sie

handeln ohne zu überlegen und folgen meist ihrem ersten Impuls. Hyperaktive Kinder

können sich schlecht entscheiden, wenn sie mehrere Alternativen zur Auswahl angebo-

ten bekommen. Des weiteren sind hyperaktive Kinder nicht in der Lage, ihre

Bedürfnisse für kurze Zeit zurückzustellen. Ihre Frustrationsgrenze ist in allen

Bereichen sehr gering, was situationsunangemessene Reaktionen zur Folge haben

kann.43

Kagan (1964) und seine Mitarbeiter in Boston benutzen Impulsivität als ein Konstrukt,

welches in dem von ihm entwickelten "Matching Familiar Figures-Test" (MFF-Test)

40Vernooij, M. (1992), S. 21f41Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 27; Wender, P. (1991), S. 11.42Vgl. Durbin, K. (1993), S. 243Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 22.

13

Page 22: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

meßbar ist. Der MFF ist ein visueller Auswahltest, bei dem ein Kind aus sechs

ähnlichen Figuren diejenige heraussuchen soll, die völlig identisch mit einer vorgege-

benen Standardfigur ist. Sämtliche Figuren sind dabei gleichzeitig verfügbar. Für

Kagan (1964) gibt es zwei Möglichkeiten an ein Problem heranzugehen. Die erste

Möglichkeit beinhaltet eine impulsive Herangehensweise, bei der dem ersten Impuls

direkt gefolgt wird. Die zweite Möglichkeit besteht in einer reflektierenden Weise, bei

der zuerst überlegt wird, wie das Problem am besten angegangen werden kann. Im

MFF-Test wird Impulsivität mit Hilfe der Zeit, die ein Kind benötigt, um alternative

Lösungen bei Zuordnungsaufgaben zu berücksichtigen, erfaßt sowie die Fehler, die es

dabei macht. Hyperaktive Kinder zeichnen sich durch ein schnelles entscheiden aus, bei

dem sie jedoch viele Fehler machen. Das reflektierende Kind braucht dagegen längere

Entscheidungszeiten, macht aber dafür weniger Fehler. Impulsivität bezeichnet somit

das Unvermögen des hyperaktiven Kindes, Aktionen und Reaktionen durch vorheriges

Denken zu steuern und dadurch ein Verhalten gegebenenfalls hemmend zu

kontrollieren.44

Durch ihre Impulsivität bringen sich hyperaktive Kinder häufig in Gefahr, da sie nicht

auf Warnungen reagieren und Gefahren nicht richtig einschätzen sowie ziellos handeln.

Gleichzeitig neigen sie zu gesteigerter Erregbarkeit mit unkontrollierten

Wutausbrüchen. Die Selbstwahrnehmung und Reflexion des eigenen Verhaltens ist

stark vermindert.

2.1.4 Emotionale Auffälligkeiten

Die meisten hyperaktiven Kinder zeigen verschiedenen Formen von emotionalen

Problemen. So sind sie neben der bereits erwähnten Erregbarkeit auch leicht reizbar.

Sie verlieren oft die Kontrolle über sich selbst. Die Folgen sind emotionale

Überreaktionen, die sich in Zorn, Wut oder Aggressionen äußern können. Hyperaktive

Kinder haben eine sehr niedrige Frustrationstoleranz, wodurch sich die vermehrten

Ausbrüche erklären lassen. Oftmals neigen sie zu starken Stimmungsschwankungen, so

daß sie für ihre Umwelt unberechenbar werden. Ein weiteres Merkmal der emotional

auffälligen Kinder ist die niedrige Selbsteinschätzung. Sie haben sehr wenig Selbstver-

trauen, halten nicht viel von sich selbst und sehen sich in bezug auf andere Kinder als

"unnormal" und anders an.45

Durch die verschiedenen beschriebenen Kernsymptome ist die Beeinträchtigung des hy-

peraktiven Kindes so stark, daß sich zwangsläufig zusätzliche Symptome ergeben, die

bereits erwähnten Sekundär- oder Periphersymptome. Sie werden deshalb als zweitran-

44Vgl. Eichlseder, W. (1992), S. 80; Eisert, H.-G. (1981), S. 36.45Vgl. Wender, P. (1991), S. 22.

14

Page 23: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

gig bezeichnet, weil sie als Folge der Primärsymptome auftreten und sich in der In-

teraktion mit der sozialen Umwelt entwickeln (Sekundärneurotisierung).46

2.1.5 Lernstörungen

Lernstörungen bei hyperaktiven Kindern stehen in keinem Zusammenhang mit einer In-

telligenzschwäche. Der Intelligenzquotient liegt bei dem überwiegenden Teil der

Kinder im Normalbereich, häufig sogar darüber. Die auffälligsten Lernstörungen

beziehen sich auf bestimmte Schulfächer, vor allem auf die Kulturtechniken. Weitere

Auffälligkeiten zeigen sich in dem Lerntempo der Kinder. Lernprozesse vollziehen sich

wesentlich langsamer als bei der entsprechenden Altersgruppe. Dies läßt sich durch die

Aufmerksamkeitsstörung erklären.47

2.1.6 Teilleistungsstörungen

In der Regel ist nicht das gesamte Leistungspotential des hyperaktiven Kindes

betroffen, sondern es handelt sich um eine Teilleistungsschwäche, d.h. einer

verminderten Leistungsfähigkeit in bestimmten Bereichen. Diese Leistungsbeeinträch-

tigung umfaßt z.B. Bereiche im Rechnen (Dyskalkulie), die Lese-Recht-

schreibschwäche (Legasthenie) oder Fehler in der grammatikalischen Satzbildung

(Dysgrammatismus).48 Des weiteren sind neben den kognitiven Leistungen auch die der

Wahrnehmung, Orientierung und Koordination beeinträchtigt. Im Bereich der

Wahrnehmung treten häufig Figur-Grund-Störungen auf sowie die Schwierigkeiten,

Formen richtig wahrzunehmen und sich im Raum zu orientieren. Die

Koordinationsstörungen beziehen sich auf die Grob- und Feinmotorik, die leichte

Gleichgewichtsstörung sowie eine gestörte Auge-Hand-Koordination.49

2.1.7 Soziale Schwierigkeiten

Hyperaktive Kinder zeigen häufig ein mangelndes Sozialverhalten, das mehrere

deutlich voneinander unterschiedene Aspekte hat:

1. Ein beträchtlicher Widerstand gegen soziale Forderungen, gegen Ge- und Verbote,

Soll- und Kann- Vorschriften:

Die Arten des Widerstandes, mit denen die hyperaktiven Kinder den Erziehungs-

maßnahmen begegnen, sind verschieden. Manche scheinen zu vergessen, was ihnen

gesagt wird, während andere aktive Opposition gegen jegliche Anforderungen be-

treiben.

46Vgl. Bauer, A. (1986), S. 40.47Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 23; Wender, P. (1991), S. 17.48Vgl. Bauer, A. (1986), S. 62.49Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 28f.

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Page 24: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

2. Ein vermehrtes Unabhängigkeitsstreben:

Hyperaktive Kinder sind sehr freiheitsliebend, aber in einigen Fällen übermäßig

anlehnungsbedürftig. Das Unabhängigkeitsstreben kann sich schon sehr frühzeitig

bemerkbar machen.

3. Ein herrschsüchtiges Verhalten gegenüber anderen Kindern:

Das hyperaktive Kind möchte entscheiden und im Mittelpunkt stehen. Dies wirkt

sich negativ auf die Entwicklung des Sozialverhaltens aus. Das unsoziale Verhalten

wird von den Gleichaltrigen bestraft, indem sich die anderen Kinder zurück ziehen.

Die Folge ist, daß sich soziale Kontakte nicht mehr entwickeln können und somit das

hyperaktive Kind ins soziale Abseits gerät und zum Außenseiter wird.50

2.1.8 Selbstwertprobleme

Selbstwertprobleme treten bei hyperaktiven Kindern häufig erst als Folge der vorange-

gangenen Kernsymptome auf.

Durch die mit der Aufmerksamkeitsstörung einhergehende Wahrnehmungsstörung hat

das hyperaktive Kind ein geringes Selbstvertrauen, verbunden mit einer negativen

Selbsteinschätzung. Es erfährt sich selbst als weniger leistungsfähig als andere und

gerät aus diesem Grund schnell in einen Konkurrenzdruck. Als Folge versuchen die

Kinder um ihre Position innerhalb des Freundeskreises, der Familie oder in verschie-

denen Institutionen zu kämpfen.51

Das hyperaktive Kind wird zunehmend unglücklich, zum einen über sich selbst und

zum anderen über die Reaktionen der Umwelt auf sein Verhalten. Wie in Abbildung 2

deutlich wird, kann das Zusammenwirken von Unaufmerksamkeit und geringer

Selbsteinschätzung häufig zu einem Teufelskreis führen, der für das hyperaktive Kind

nur schwer aufzulösen ist.52

50Vgl. Durbin, K. (1993), S. 2; Eichlseder, W. (1992), S. 2051Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 24f.52Vgl. Wender, P.H. / Wender, E.H. (1988), S. 38.

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Page 25: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Abb. 2: Der Teufelskreis beim hyperaktiven Kind.

[In Anlehnung an Wender, P. H. & Wender, E. H. (1988), S.38]

2.2 Zur Ätiologie des hyperaktiven Verhaltens

In dem vorangegangenen Kapitel über das Erscheinungsbild der Hyperaktivität ist die

Unsicherheit und Vielschichtigkeit des Konzeptes zum Ausdruck gekommen. Dies setzt

sich in den ätiologischen Erklärungsansätzen fort. Eine einheitliche Ursache für die Hy-

peraktivität gibt es nicht. Die Vielfalt der verschiedenen Ursachen spiegelt sich in den

unterschiedlichen bereits in Kapitel 1.2.1 erwähnten Bezeichnungen für das

Störungsbild wieder, von denen attention deficit disorder, minimale cerebrale Dysfunk-

tion und hyperkinetische Syndrom die häufigsten sind, die auf jeweils unterschiedliche

Ursachen hinweisen.53

"Hört man auf den einen Experten, so ist Hyperaktivität ganz und gar das Resultat einer falschen Ernährung. Hört man auf den nächsten, so erfährt man, daß eine medikamentöse Behandlung die einzige Lösung ist.Und der Dritte behauptet, daß überhaupt kein Problem vorliegt. KeinWunder, daß sich Eltern verunsichert fühlen und nicht wissen, welchen Wegsie wählen sollen."54

Die Unsicherheiten in bezug auf die verursachenden Faktoren beruhen zum einen auf

wissenschaftstheoretischen Ungenauigkeiten, da bisher keine ausreichende Anzahl

empirischer Untersuchungen vorliegen und zum anderen auf einem Mangel an

53Vgl. Egger, J.(1991), in: Baerlocher / Jelinek, (1991), S. 84.54Taylor, E. (1986), S. 7

17

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Befunden, einer nicht immer einwandfreien Untersuchungsmethodik und einer nur

geringen Übereinstimmung der vorliegenden Ereignisse. Aus diesen Gründen werden

die Ursachen meist auf der Grundlage von beobachteten Verhaltenssymptomen

beschrieben und haben dadurch einen Charakter von Vermutungen. 55

Bei der Entstehung der Hyperaktivität kann mit hoher Wahrscheinlichkeit gesagt

werden, daß unterschiedliche Faktoren und Ursachen aus verschiedenen Bereichen

zusammenwirken, Hyperaktivität ist somit multifaktoriell bedingt. Hinsichtlich der

Verursachung werden vier Faktorenbereiche diskutiert:

1. Genetische Verursachungsfaktoren;

2. Organische Verursachungsfaktoren;

3. Ökologische Verursachungsfaktoren;

4. Psycho-soziale Verursachungsfaktoren.56

2.2.1 Genetische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität

Bei den genetischen Verursachungsfaktoren werden zum größten Teil Chromosomenab-

weichungen oder normale Vererbungsvorgänge zu Grunde gelegt, die strukturelle, zen-

tralnervöse oder biochemische Veränderungen zur Folge haben.57

Der Beitrag der Genetikforschung zur Erklärung der Entstehung hyperaktiven Verhal-

tens gewann in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Dies hängt zum einen

damit zusammen, daß das Erscheinungsbild der Hyperaktivität in epidemiologischen

Studien bei Jungen häufiger nachgewiesen wurde als bei Mädchen (Verhältnis von 9:1),

was auf eine genetisch bedingte geschlechtsspezifische Disposition hinweist.

Andererseits wurde festgestellt, daß viele Eltern hyperaktiver Kinder ebenfalls in ihrer

Kindheit hyperaktiv waren.58

In bezug auf die genetischen Faktoren werden in der Regel Befragungen bei

Verwandten ersten (Eltern) und zweiten Grades und Zwillingsstudien durchgeführt.

Studien, die sich mit der Befragung von Eltern und Verwandten befassen, zeigen, daß

die Eltern hyperaktiver Kinder häufiger hyperaktive Störungen aufweisen als Eltern und

Verwandte unbelasteter Kinder.59

Auffälliger sind die Ergebnisse von Befragungen bei eineiigen Zwillingen. Eineiige

Zwillinge ähneln sich in auffälligen Verhaltensweisen stärker als Zweieiige. Zur

Verdeutlichung soll eine Studie von Goodman und Stevenson (1989) an 102 eineiigen

und 111 gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwillingen angeführt werden. Die Kinder

schwanken zwischen sehr guter Aufmerksamkeit und äußerster Belastung durch Hype-

raktivität und Unaufmerksamkeit. Die Rating Skala-Einschätzungen von Eltern und

55Vgl. Bauer, A. (1986), S. 19.56Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 31f.57Vgl. Wender, P. / Wender, E. (1988), 31f.58Vgl. Bernau, S. (1995), S. 49; Hartmann, J. (1994), S. 19f.59Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 32.

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Lehrern ergaben, daß 51% der eineiige und 33% der zweieiigen Zwillinge

vergleichbare Hyperaktivität aufwiesen.60

Die Aussagekraft dieser Zahlen wird jedoch aufgrund der Erwartungseffekte von den

Autoren selbst in Frage gestellt.61

Wie die vererbte Störung genau aussieht ist bisher noch nicht bekannt. Dabei ist mit Si-

cherheit nicht nur ein einzelnes Gen für die Störung verantwortlich.62

Aus diesen Gründen wird in einigen Fällen eine erbliche Belastung angenommen, ohne

daß sie bisher nachgewiesen wurde, da bislang keine Untersuchungen vorliegen, die ge-

netische Einflüsse als eindeutige Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität hervorhe-

ben.63

2.2.2 Organische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität

Aus retrospektiven Erhebungen wird häufig gefolgert, daß feinneurologische Besonder-

heiten im Elektroenzephalogramm (EEG) des Kindes auf organische Schädigungen des

Gehirns und des zentralen Nervensystems (ZNS) zurückgeführt werden können. Einige

dieser organischen Störungen werden auch Störungen der Hirnfunktion genannt. Damit

ist zum einen ein Neurotransmittermangel gemeint, d.h., das bestimmte chemische Sub-

stanzen fehlen, die die kontinuierliche Hirntätigkeit steuern. Zum anderen wird unter

den Hirnfunktionsstörungen eine Hirn-Verhaltensverschränkung verstanden, d.h. auf-

grund bestimmter Stoffwechselprozesse im Gehirn kommt es zu einer Fehlerregung

(entweder Übererregung oder Untererregung) des ZNS. Die dritte Art der Hirnfunk-

tionsstörung besteht in Hirndurchblutungsstörungen. Dieser Zusammenhang zwischen

hyperaktivem Verhalten und Hirndurchblutungsstörungen in bestimmten Bereichen des

Gehirns ist bislang noch nicht durch entsprechende Untersuchungen belegt worden.64

Bereits in den 50er und 60er Jahren wurde als entscheidende Ursache für das

hyperaktive Verhalten eine leicht gestörte Hirnfunktion angenommen, die durch

Schäden in der Schwangerschaft oder während der Geburt entstanden sind. In der

gegenwärtigen Literatur wird vermehrt auf pränatale, perinatale und postnatale

Schädigungen als Ursache der Hyperaktivität hingewiesen.65

2.2.2.1 Pränatale Schädigung

Unter pränataler Schädigung werden alle exogenen Schädigungen und Erkrankungen

der Schwangeren vom sechsten Schwangerschaftsmonat an verstanden. Die pränatalen

60Vgl. Goodman, R. / Stevenson, J. (1989), S. 699.61Vgl. Ebenda, S. 704 .62Vgl. Calatin, A. (1992), S. 34.63Vgl. Bauer, A. (1986), S. 31f; Petermann, U. (1991), S. 123.64Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 34f.65Vgl. Krause, J. (1995), S. 49; Walter, U. (1991), S. 22.

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Page 28: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Schädigungen am kindlichen Gehirn können durch Alkohol-, Drogen- oder

Medikamentenmißbrauch sowie Nikotinkonsum der Mutter während der Schwan-

gerschaft entstehen.66

Des weiteren gehören entzündliche Erkrankungen oder Viruserkrankungen der Mutter

an Röteln, Mumps oder Masern während der ersten drei Schwangerschaftsmonate zu

den verursachenden Faktoren, die das Gehirn des Embryos schädigen, ebenso wie

Diabetis, Blutungen während der Schwangerschaft, Fehlernährung der Mutter sowie

persönliche psychische Spannungen im Umfeld der Mutter.67

2.2.2.2 Perinatale Schädigung

Die perinatale Phase beinhaltet die Zeitspanne zwischen Geburtsbeginn und dem

zehnten Lebenstag. Die perinatalen Schädigungen stehen im Vordergrund aller Schä-

digungsmöglichkeiten. Sie sind fast immer auf Sauerstoffmangel während der Geburt

zurückzuführen. Schon kurzzeitige Unterbrechungen der Sauerstoffzufuhr führen zu

irreparablen Hirnschäden. Ebenfalls von Bedeutung sind Lageanomalien,

Nabelschnurkomplikationen, künstliche Geburtseinleitung, Frühgeburten, Übertra-

gungen sowie instrumentelle oder operative Entbindungen (Kaiserschnitt-, Saugglocke-

oder Zangengeburt).68

2.2.2.3 Postnatale Schädigung

Der Bereich der postnatalen Schädigung reicht vom elften Lebenstag bis zum sechsten

Lebensjahr, da mit diesem Alter die Differenzierung des Gehirns ihren Höhepunkt er-

reicht hat. In diesem Bereich der postnatalen Schädigung ist das Kind besonders durch

fieberhafte und entzündliche Erkrankungen gefährdet, die unmittelbare Auswirkungen

auf das Gehirn haben. Weitere Schädigungsmöglichkeiten sind Impfschäden, Ernäh-

rungsstörungen, Vergiftungen sowie Schädelverletzungen durch Unfälle.69

Abschließend kann über die (hirn-)organischen Verursachungsfaktoren der Hyperaktivi-

tät gesagt werden, daß hierzu mehrere Hypothesen vorliegen, die bisher nicht ausrei-

chend überprüft worden sind. Somit ist fraglich, ob sie als eine hinreichende Erklärung

für die Entstehung der Hyperaktivität angesehen werden kann.70

2.2.3 Ökologische Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität

Die bisher angeführten Verursachungsfaktoren bezogen sich fast ausschließlich auf den

Nachweis organischer und organismischer Ursachen. Psychogene, psychodynamische

oder psychosoziale Faktoren wurden selten als Verursachungsbedingungen des hyper-

66Vgl. Ross, D.M. / Ross, S.A. (1982), S. 100ff.67Vgl. Bauer, A. (1986), S. 24; Krause, J. (1995), S. 49.68Vgl. Calatin, A. (1992), S. 35; Schweizer, Ch. / Prekop, J. (1991), S. 38ff. 69Vgl. Taylor, E. (1986), S. 29f.70Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 35.

20

Page 29: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

aktiven Verhaltens in Betracht gezogen. In den 70er Jahren wurde erstmals die Vermu-

tung geäußert, daß ungünstige Beleuchtungen und/oder beengte Wohnverhältnisse das

hyperaktive Verhalten beeinflussen, da diese beim Kind Konzentrationsstörungen oder

motorische Unruhe auslösen können. Eine hinreichende Erklärung für die Entstehung

der Hyperaktivität bieten diese Faktoren jedoch nicht, da keine genauen empirischen

Untersuchungen vorliegen und daher die Zusammenhänge zwischen ihnen und dem

kindlichen (Fehl-)Verhalten nur hypothetisch aufgestellt werden können.71

Im Zusammenhang mit der Entstehung hyperaktiver Verhaltensweisen werden vermehrt

Umweltgifte in Betracht gezogen, die direkt oder indirekt neurotoxisch wirken und

somit das Gehirn und das Nervensystem schädigen. Zu diesen Stoffen gehören auch

giftige Schwermetalle, z.B. Blei, Cadmium und Quecksilber.72

Selbst geringe Bleikonzentrationen im Blut können für Verhaltensauffälligkeiten und

kognitive Beeinträchtigungen verantwortlich gemacht werden. Bereits vor 30 Jahren

wurde festgestellt, daß Kinder ein übermäßiges Aktivitätsniveau zeigten, wenn sie Blei

zu sich nahmen - meist indem sie bleihaltige Farbe von der Wand, vom Fensterbrett

oder von ihrem Gitterbett knabberten.73

David, Clark und Voeller veröffentlichten 1972 eine Studie zum Bleigehalt im Blut

hyperaktiver Kinder mit dem Ergebnis, daß alle Kinder mit extremer motorischer

Unruhe erhöhte Bleiwerte aufwiesen. Der erhöhte Bleigehalt wirkt sich schon in

geringer Konzentration auf den Gehirnstoffwechsel aus, weil Blei neurotoxisch

(nervengiftig) ist.74 Gefährdet für die Bleiintoxikation sind vor allem Kinder, die in der

Nähe von Industriestandorten wohnen. Ebenso hat der vermehrte Autoverkehr eine

drastische Erhöhung des Bleigehalts in der Luft verursacht. Blei aus der Luft wird nicht

nur eingeatmet sondern zu einem großen Teil über die Nahrung, vor allem durch

Gemüse und Obst, aufgenommen.

Kinder werden durch Blei in der Nahrung viel stärker belastet als Erwachsene, da sie

Blei bis zu 40-50% stärker resorbieren als Erwachsene (5-10%).75

Weitere Ursachen für die erhöhte Bleibelastung sind Wasser-Hausanschlüsse und -in-

stal-lationen aus Blei, die vorwiegend in Altbauten zu finden sind und einen hohen

Bleianteil an das Trinkwasser abgeben.76

Die Bleibelastung ist sicher nicht die einzige Ursache für das hyperaktive Verhalten,

aber für viele Kinder, die in der Großstadt oder in Industriegebieten aufwachsen, kann

sie den entscheidenden Faktor ausmachen.77

71Vgl. Luckert, H. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 26; Vernooij, M. (1992), S. 35.72Vgl. Calatin, A. (1992), S. 139; Prekop, J. / Schweizer, Ch. (1993), S. 68; Ross, D.M. / Ross, S.A. (1982), S. 83ff.73Vgl. Wender, P.H. / Wender, E.H. (1988), S. 35.74Vgl. David, Clark und Voeller (1972), in: Vernooij, M. (1992), S. 36.75Vgl. Prochazka, E. (1995), S. 19.76Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 36.77Vgl. Calatin, A. (1992), S. 142.

21

Page 30: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Als weitere ätiologische Einflüsse für das hyperaktive Verhalten werden Nahrungsmit-

telallergien diskutiert. Dabei handelt es sich hauptsächlich um zwei Richtungen: Die

Feingold-These aus dem nordamerikanischen Raum und die von Hafer (1985) in

Deutschland propagierte Phosphat-These. Die Kernaussage beider Ansätze besagt, daß

hyperaktives Verhalten bei Kindern durch nahrungsbedingte Stoffwechselstörungen

ausgelöst und aufrechterhalten wird. Die 1973 von Feingold in Gang gesetzte

Diskussion um die Wirkung von Nahrungsmittelzusätzen und von organischen und

anorganischen Phosphaten in der Nahrung hält derzeit an. Feingold (1973) ging davon

aus, daß Farbstoffe, die in der Nahrung enthalten sind, hyperaktives Verhalten auslösen

können. Diese Farbstoffe sind z.B. Salicylate, die in vielen Früchten enthalten sind. Er

entwickelte eine Diät, die salicylathaltige Nahrungsmittel verbietet und auf den Ver-

zicht von künstlichen Farb- und Geschmackstoffen achtet.78

Die als Feingold- oder Kaiser-Permanente-Diät bezeichnete Diät wird in Kapitel 5.1.2.2

eingehender beschrieben.

Beobachtungen in der eigenen Familie brachten Hafer (1985) dazu, sich mit dem Pro-

blem der Hyperaktivität auseinanderzusetzen. Sie entdeckte, daß Zusätze von Phospha-

ten in vielen Fertigprodukten und der natürlich hohe Phosphatgehalt bestimmter Nah-

rungsmittel Stoffwechselstörungen im Bereich der Neurohormone auslösen, die zu Ver-

änderungen im Gehirnstoffwechsel und im Verhalten führen.79

In Anlehnung an Feingold (1973) entwickelte Hafer (1985) eine phosphatreduzierte

Diät, die eine Verhaltensänderung bei den betroffenen Kindern bewirken soll. In

Deutschland löste die Phosphathypothese und die daraus entwickelte Diät kontroverse

Diskussionen aus.80

Die phosphatredurierte Diät von Hafer wird in Kapitel 5.1.2.3 ausführlicher erläutert.

Die Ernährung ist nicht die Hauptursache der Hyperaktivität, aber sie beeinflußt das

Verhalten jedes Menschen, auch das des Nicht-Hyperaktiven, sowohl in negativer, als

auch in positiver Weise.81

2.2.4 Psycho-soziale Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität

Die psycho-sozialen Faktoren bekommen innerhalb des pädagogischen Ansatzes dieser

Arbeit eine besondere Bedeutung, da sie sich vor allem mit der Umwelt des

hyperaktiven Kindes beschäftigen und die Einflüsse der Erziehung auf die Persönlich-

keitsentwicklung des Kindes beschreiben. Im Gegensatz zu den genetischen oder

organischen Ursachen stellen die psycho-sozialen Faktoren äußere Rahmenbedingungen

78Vgl. Ebenda, S. 39f. 79Vgl. Hafer, H. (1985), S. 70f.80Vgl. Vernooij, (1992), S. 37.81Vgl. Eichlseder, W. (1992), S. 85.

22

Page 31: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

dar, innerhalb derer sich das Kind orientieren muß. Ändern sich die

Rahmenbedingungen, ändert sich auch das kindliche Verhalten; verändert sich das

Kind, bewirkt sein Verhalten eine Veränderung bestimmter psycho-sozialer Faktoren.

Das Verhalten des Kindes und die Rahmenbedingungen stehen somit in einem wechsel-

seitigen Beeinflussungsverhältnis zueinander.

Das kindliche Fehlverhalten, als Folge psycho-sozialer Faktoren kann daher als

Reaktion des Kindes auf beeinträchtigende Bedingungen und das daraus resultierende

psychische Ungleichgewicht verstanden werden.82

Wie aus Abbildung 3 hervorgeht bestehen die psycho-sozialen Bedingungsfaktoren aus

drei Hauptgruppen mit jeweils entsprechenden Einzelfaktoren. Die Unterteilung in die

drei Faktorengruppen ist nur formal, zur besseren Beschreibung der Einzelfaktoren.

Alle dargestellten Faktoren wirken multifaktoriell und bedingen sich teilweise

gegenseitig und beeinflussen sich wechselseitig:

1. Die ökonomisch-kulturellen Bedingungen;

2. die Bedingungen des sozialen Umfeldes;

3. die psycho-emotionalen Bedingungen.83

Abb. 3: Übersicht über die wesentlichen psycho-sozialen Einflußfaktoren.

[Quelle: Vernooij, M. (1992), S. 39.]

82Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 38ff.83Vgl. Ebenda, S. 38.

23

Page 32: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

2.2.4.1 Die ökonomisch-kulturellen Einflußfaktoren

Seit den 70er Jahren liegen über die Auswirkungen eines "niedrigen Sozialstatus" auf

die Entwicklung, das Lernen und Verhalten von Kindern unzählige Publikationen vor,

in denen vor allem beengte Wohnverhältnisse, materielle Deprivation und das

anregungsarme Milieu in Unterschichtsfamilien als Ursache für sozio-kulturelle

Benachteiligung gesehen werden.84

Nach Steinhausen (1988) zeigt sich hyperaktives Verhalten bei Kindern aus unteren

Einkommensklassen tendenziell häufiger als bei Kindern aus anderen Sozialschichten,

was u.a. auf ungenügende psychiatrische und pädagogische Beratung zurückzuführen

ist, obwohl zweifelhaft bleibt, ob die Eltern aus diesen Schichten durch eine

angemessene Beratung ihre ökonomische Situation verändern könnten. Die

Arbeitslosigkeit der Eltern oder eines Elternteils kann ebenfalls eine erhebliche

Auswirkung auf das Verhalten des Kindes haben, denn die so entstandene materielle

Armut wirkt sich häufig psycho-emotional deprivierend auf das Kind aus.85

2.2.4.2 Die Einflußfaktoren des sozialen Umfeldes

Zu dem sozialen Umfeld gehören, wie aus Abbildung 3 ersichtlich wird, die Familie

und die Schule bzw. andere vergleichbare Institutionen (z.B. der Kindergarten).

Neben den zuvor erläuterten ökonomischen Bedingungen kann das Kind innerhalb der

Familie starke psycho-soziale Beeinträchtigungen erfahren, mit denen es psychisch

überfordert ist. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das

Beziehungsgefüge innerhalb der Familie, d.h. die Position des einzelnen innerhalb der

Kleingruppe Familie sowie die Art der Kommunikation untereinander. Somit ist das

Verhältnis innerhalb der Familie für die körperliche und seelische Gesundheit des Kin-

des von großer Bedeutung.86

Familiäre Beziehungen haben einen großen Einfluß auf die Entwicklung des hyper-

aktiven Verhaltens eines Kindes. Wird eines der Kinder bevorzugt oder benachteiligt,

so beeinträchtigt dies ebenso das kindliche Verhalten, wie Gleichgültigkeit und

Desinteresse.87 Dennoch muß in diesem Zusammenhang betont werden, daß das el-

terliche Verhalten zwar einen starken Einfluß auf das Kind hat und somit auch sein

hyperaktives Verhalten verstärkt bzw. erst dazu beiträgt, daß das hyperaktive Verhalten

sichtbar wird, aber nicht ausschließlich die Ursache kindlicher Verhaltensstörungen ist.88

Weitere Belastungen des sozialen Umfeldes bestehen in Eheproblemen der Eltern,

ebenso wie die Situation in einer Ein-Eltern-Familie, die sich belastend auf das Kind

84Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 40.85Vgl. Steinhausen, H.-Ch. (1988), S. 32.86Vgl. Rosival, V. (1992), S. 37.87Vgl. Taylor, E. (1996), S. 53; Vernooij, M. (1992), S. 41.88Vgl. Eichlseder, W. (1992), S. 97.

24

Page 33: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

auswirken kann. Psychische Störungen eines Elternteils rufen bei dem Kind

Verunsicherungen hervor, in einigen Fällen fühlen sich die Kinder bedroht, je nach

Ausmaß der psychischen Störung und dem daraus resultierenden Verhalten des

Elternteils. Psychische Störungen können von extremen Stimmungsschwankungen über

Depressionen bis zu Alkohol- und Drogenkonsum reichen. Das hyperaktive Verhalten

des Kindes als Folge dieser Situationen beinhaltet eine Signal- und/oder Schutzfunktion

des Überfordert-Seins. In dem zweiten Bereich des sozialen Umfeldes muß zwischen

Kindergarten und Schule differenziert werden. Während das Kind im Kindergarten

seinem Bewegungsimpuls relativ frei nachkommen kann, herrschen in der Schule

unkindliche Regeln vor, z.B. eine starke Bewegungseinschränkung sowie die über einen

längeren Zeitraum geforderte Aufmerksamkeit und Konzentration. Das Kind kann den

Anforderungen nicht gerecht werden und gerät zunehmend unter einen Leistungs- und

Konkurrenzdruck, der das hyperaktive Verhalten verstärkt. Im Kindergarten treten diese

Situationen weniger stark auf. Das Kind kann auf spielerische Weise lernen und steht

nicht so sehr unter Leistungsdruck. Dies bestätigen zahlreiche Studien, in denen das

hyperaktive Verhalten erst bei Schuleintritt diagnostiziert wird. Somit stellen sowohl

die Familiensituation als auch die Schule einen wichtigen Beeinflussungsfaktor für

kindliches Verhalten dar.89

2.2.4.3 Die psycho-emotionalen Einflußfaktoren

Die psycho-emotionalen Bedingungen haben in bezug auf die Entwicklung hyperaktiver

Verhaltensweisen eine primäre Bedeutung, da sie die Grundlage des kindlichen

Vertrauens bilden. Erikson prägte 1959 die Begriffe "Urvertrauen - Urmißtrauen", ein

Lebensgrundgefühl, welches sich bereits in den ersten Lebensmonaten ausbildet.

Hierbei spielen die psycho-emotionalen Bedingungen eine wesentliche Rolle, da sie

durch die Art der Beziehung zwischen Eltern und Kind, durch die Art der Erziehung

und durch das emotionale Gefüge in der Familie geprägt werden. Die Basis für die

psychische Entwicklung des Kindes liegt in einem positiven Sozialkontakt des Kindes

zu einer Bezugsperson. Durch das liebevolle Angenommensein entdeckt das Kind

seinen Eigenwert und lernt das "Sich-geliebt-fühlen" und zugleich das "Sich-wert-füh-

len". Durch dieses Vertrauen des Kindes zu sich und zu anderen in seinem Umfeld kann

es in seiner Pesönlichkeitsentwicklung voranschreiten, sich in der Welt orientieren und

mit zunehmender Selbständigkeit sein Leben (mit-) gestalten.90

Für eine relativ störungsfreie Entwicklung müssen vier Formen der Erziehung

vermieden werden:

- Verwöhnung;

- Härte und Lieblosigkeit;

- Vernachlässigung und Gleichgültigkeit;

89Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 41f.90Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 42.

25

Page 34: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

- Wechselklima.91

"Das Beachten und Einhalten dieser Gesetze entscheidet darüber, ob uns unsere Beziehungen in Liebe und Frieden gelingen, oder ob sie im Haß zer-fallen."92

Die verwöhnende Erziehung führt zu einer Überbehütung des Kindes. Es wird durch die

positiv wirkenden Emotionen überhäuft und erdrückt. Es steht unter ständiger Aufsicht

und wird dadurch in seiner Selbständigkeitsentwicklung behindert. Die Folgen sind Ge-

genreaktionen des Kindes, die von tyrannischem, aggressivem Verhalten, über Lern-

und Leistungsstörungen bis zum völligen Rückzug reichen, wobei jedes Kind seine

individuellen Verhaltensschwerpunkte entwickelt. Die harte und lieblose Erziehung

setzt eine autoritär-dominante Erzieherpersönlichkeit voraus, die ihre (persönliche)

Macht an dem Schwächeren, dem Kind, erprobt und mißbraucht. Daher kann in diesem

Zusammenhang eher von Dressur als von Erziehung gesprochen werden. Nicht erfüllte

Forderungen haben Sanktionen zur Folge, auf die das Kind zum einen mit Angst und

Mißtrauensgefühlen und zum anderen mit Rache-, Haßgefühlen und Ablehnung

reagiert. Soziale Kontakte kommen innerhalb dieses Erziehungsstils kaum zustande und

wenn sie sich dennoch entwickeln, gestalten sie sich in übertriebener Herrschsucht oder

übertriebener Untertänigkeit. Beides beinhaltet keine tragbare Basis für eine Beziehung.

Die vernachlässigende Erziehung fordert von dem Kind viel Eigeninitiative und

Verantwortung. Vernachlässigung beinhaltet sowohl eine emotionale als auch eine

materielle Vernachlässigung. Die Folgen für das Kind beziehen sich auf das Gefühl von

persönlichem Unwert und Lebensangst. Gefühle wie Liebe und Geborgenheit lernt das

Kind nicht kennen. Das erzieherische Wechselklima ist für das Kind sehr verunsichernd,

denn durch die Nicht-Vorhersagbarkeit der Reaktionen der Bezugspersonen erlebt sich

das Kind einer willkürlich eingesetzten Übermacht ausgeliefert. Es wird ebenfalls in

seiner Entwicklung beeinträchtigt und die Folgen sind Mißtrauen,

Konzentrationsstörungen und eine resignierende Lebensgrundstimmung.93

Aufgrund der zuvor beschriebenen psycho-emotionalen Bedingungen ist deutlich

geworden, daß die Art der praktizierten Erziehung einen wesentlichen Einfluß auf die

Entwicklung von hyperaktiven Verhaltensweisen hat. Dennoch kann keine

Erziehungsform die Hyperaktivität bei einem Kind hervorrufen, das nicht von seinen

Anlagen her dafür prädisponiert ist.94

91Vgl. Ebenda, S. 43.92Prekop, J. / Schweizer, Ch. (1993), S. 6493Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 42ff.94Vgl. Wender, P. (1991), S. 33ff.

26

Page 35: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die Erziehungsmaßnahmen, die durch verschiedene Gefühle der Eltern entstehen,

können die Probleme des hyperaktiven Kindes verstärken. Dadurch, daß Belohnung und

Bestrafung gleich unwirksam erscheinen, sind die Eltern zunehmend verwirrt, frustriert

und vor allem ratlos.95

Gegenwärtig wird diesem Verursachungskomplex bei der Entstehung und

Aufrechterhaltung der Hyperaktivität wenig Beachtung geschenkt. Sicher ist es für

Erziehende leichter, genetische, organische oder ökologische Faktoren als Ursache

anzunehmen, als ihr eigenes Erziehungsverhalten sowie ihre Beziehung zum Kind

kritisch zu reflektieren. Abweichendes, störendes und unangemessenes Verhalten bei

Kindern ist immer eine Reaktion auf psychisches Ungleichgewicht. In vielen

Untersuchungen wird der Einfluß von Sozialisations- und Erziehungsbedingungen auf

die Entwicklung des kindlichen Verhaltens verdeutlicht, obwohl ein eindeutiger

empirischer Nachweis nur schwer zu erbringen ist. Die Komplexität des

Faktorengefüges läßt vor allem Studien als nicht durchführbar erscheinen, in denen die

nicht beobachtbaren, interpersonalen Variablen beachtet werden sollen.96

Aus den vorangegangenen Überlegungen wäre dennoch eine Verlagerung des Schwer-

punktes in der "Behandlung" hyperaktiver Kinder von einer medizinisch-

therapeutischen zu einer mehr psychologisch-pädagogischen sinnvoll und

wünschenswert.

2.3 Die Diagnose der Hyperaktivität

Um vom Symptom zur Diagnose zu gelangen, muß das Verhalten des betroffenen

Kindes von den Bezugspersonen als krankhaft anerkannt werden, damit die entspre-

chenden Fachleute aufgesucht werden können.97

Dabei steht die Schwierigkeit der Definition der Hyperaktivität in unmittelbarem Zu-

sammenhang mit einer eindeutigen Diagnose. Die Schwierigkeiten werden deutlich in

der bestehenden Unsicherheit der Auftretenswahrscheinlichkeit der Hyperaktivität, bei

der Schwankungen von 3-10% vorhanden sind. Eine weitere Schwierigkeit bei der

Diagnose besteht in bezug auf die Aussagekraft der angewandten diagnostischen

Verfahren im Bereich von Medizin, Psychologie und Pädagogik. Aufgrund der

fehlenden Eindeutigkeit der Untersuchungsbefunde bei der Erstellung der Diagnose

Hyperaktivität, wegen der mangelnden Einigkeit bei der Gewichtung und Bewertung

der Einzelbefunde sowie durch die Vielzahl und Differenziertheit von Erscheinungsbild

und Ätiologie ergibt sich eine Mehrdimensionalität der Verhaltens- und

Untersuchungsebenen im diagnostischen Prozeß. Daher wird der Nachweis für

95Vgl. Walter, U. (1991), S. 35ff.96Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 46.97Vgl. Krause, J. (1995), S. 37.

27

Page 36: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Hyperaktivität oftmals auf der Basis einer Summationsdiagnose erstellt.98 Dies bedeutet,

daß die Diagnose Hyperaktivität nur dann gestellt werden darf, wenn mehrere auffällige

Einzelbefunde zusammenkommen. Eine mehrdimensionale Diagnostik ist besonders

wichtig, da sie die Situationsspezifität, den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes

und die soziale Einbindung mitberücksichtigt. Ferner wird in der mehrdimensionalen

Diagnosenstellung eine Fehldiagnose weitgehend ausgeschlossen. Nur eine

Klassifizierung auf der Basis verschiedener teils unabhängiger Untersuchungsbefunde

gibt die Sicherheit für die Diagnose. Die praktische Umsetzung wird jedoch durch eine

mangelnde Kooperationsbereitschaft der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen

(Medizin, Psychologie, Pädagogik) untereinander und durch die mangelnde Zusammen-

arbeit mit den Eltern erschwert.99

Von besonderer Wichtigkeit ist, daß es nicht bei einer Feststellung der Auffälligkeit

bleibt, sondern daß die Diagnose in unmittelbarer Verbindung mit der Therapie steht.

Eine Diagnose ist daher nur dann sinnvoll, wenn sie zu unterstützenden und fördernden

Maßnahmen führt und somit die Entwicklung der kindlichen Gesamtpersönlichkeit ge-

währleistet und die Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten fördert.

Allgemein gilt für die Diagnose, daß je früher sie gestellt wird, die

Behandlungschancen um so größer sind und die Prognosen für das Kind günstiger

werden. Folglich sollte eine Diagnose möglichst schon im Vorschulalter erstellt werden.

Die wichtigste Voraussetzung für eine Diagnoseerstellung ist die Gründlichkeit,

Sorgfalt und Umsichtigkeit, mit der sie realisiert wird.100

2.3.1 Differentialdiagnostik

Die Abgrenzung des hyperkinetischen Syndroms von anderen Störungsbildern, bei

denen Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen ebenfalls eine Rolle spielen, sollte

sich an folgenden Kriterien orientieren: Zunächst muß hinterfragt werden, ob es sich bei

der beobachteten Hyperaktivität um eine eindeutige pathologische Form handelt oder

um eine Reifungsvariante im Temperament des Kindes. Weiterhin sollte bei der

differentialdiagnostischen Abklärung berücksichtigt werden, daß Kinder aus sozial

gestörten Familien oft schlechte Lösungsstrategien, eine geringe Selbstkontrolle und

Defizite in der Aufmerksamkeit zeigen. Folglich sollte untersucht werden, ob das

auffällige Verhalten des Kindes Ausdruck seiner Psychopathologie oder vielmehr das

Resultat einer unstrukturierten Sozialisation ist.101

Um eine genaue Beschreibung der kindlichen Störungsbilder zu bekommen und somit

eine vollständige Diagnose zu erstellen, werden Klassifikationssysteme benötigt. Dabei

sind die beiden gebräuchlichsten Klassifikationssysteme, das Diagnostische und Statisti-

98Vgl. Bauer, A. (1986), S. 78.99Vgl. Ebenda, S. 74.100Vgl. Ebenda, S. 72.101Vgl. Laumann, A. (1989), S. 36.

28

Page 37: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

sche Manual (DSM) und das International Classification of Diseases (ICD) von großer

Bedeutung.

In der 10. Revision der ICD (ICD-10) der Internationalen Klassifikation der Erkrankun-

gen der World Health Organisation (WHO) wird unter dem Aspekt der Differentialdia-

gnose auf die Notwendigkeit verwiesen, tiefgreifende Entwicklungsstörungen (z.B. Au-

tismus), Angststörungen, emotionale Störungen sowie affektive Störungen (manisch

oder depressiv) auszuschließen. Nach der ICD-10 werden unter dem Begriff

hyperkinetische Störungen Verhaltensauffälligkeiten mit folgenden charakteristischen

Merkmalen verstanden:

- ein früher Beginn in der Vorschulzeit (gewöhnlich bereits in den ersten fünf Lebens-

jahren);

- eine Kombination von überaktivem, wenig gesteuertem Verhalten mit deutlicher

Unaufmerksamkeit;

- ein Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen, die einen kognitiven Einsatz ver-

langen;

- eine Tendenz, nicht vorhersehbar von einer Tätigkeit zu einer anderen rasch zu

wech-

seln, ohne etwas zu Ende zu bringen (dieser Aspekt soll nur dann diagnostiziert

werden, wenn sie im Verhältnis zum Alter und Intelligenzniveau des Kindes sehr

stark

ausgeprägt sind);

- eine desorganisierte, mangelhaft gesteuerte und überschießende motorische

Aktivität,

die sich sowohl im grobmotorischen Bereich als ständiges Herumlaufen, Aufstehen

und Platzveränderung äußern kann als auch im feinmotorischen Bereich in Form von

Koordinationsproblemen (undeutliches Schriftbild), Problemen bei allen zeichneri-

schen Tätigkeiten und beim Malen sowie allgemein in der Heftführung. Hierbei

sollte der Beurteilungsmaßstab sein, daß die Aktivität im Vergleich zu anderen

Kindern in der gleichen Situation mit gleicher Intelligenz extrem ausgeprägt ist.102

Aufmerksamkeitsstörungen und Überaktivität sollten dabei im gleichen Maße

vorhanden sein. Weiterhin sollten die beiden Symptome in mehr als einer Situation in

Erscheinung treten, z.B. im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule. Des

weiteren gibt es Begleitmerkmale, die für die Diagnose nicht notwendig sind, sie aber

stützen. Dies sind Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen, Unbekümmertheit in

gefährlichen Situationen und impulsive Mißachtung sozialer Regeln. Die Symptome

eines gestörten Sozialverhaltens sind weder Ein- noch Ausschlußkriterien für die

Diagnosestellung.103

102Vgl. Steinhausen, H.-Ch. (1995), in: Steinhausen, H.-Ch. (1995), S.13.103Vgl. Ebenda, S.14.

29

Page 38: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die American Psychiatric Association (APA) hat seit der dritten Revision (DSM-III) ih-

rer Zusammenstellung verschiedener psychischer Störungen das

Aufmerksamkeitsdefizit in den Vordergrund gestellt und daher die Bezeichnung Atten-

tion Deficit Disorder (ADD) entwickelt, die schon mit der bald folgenden Revision,

dem DSM-III-R erneut in die Bezeichnung Attention Deficit Hyperactivty Disorder

(ADHD) umbenannt wurde.104

Diagnostische Kriterien der Aufmerksamkeit- und Hyperaktivitätsstörung beinhalten in-

nerhalb des DSM-III-R folgende Aspekte:

1. Eine mindestens sechs Monate andauernde Störung, bei der auf jeden Fall acht der

folgenden Anzeichen auftreten:

- Zappelt häufig mit Händen und Füßen oder windet sich in seinem Sitz, bei

Erwachse- nen kann sich dies auf subjektive Empfindungen von Rastlosigkeit

beschränken);

- Kann nur schwer sitzenbleiben, wenn dies von ihm verlangt wird;

- Wird leicht durch extreme Reize abgelenkt;

- Kann bei Spiel- oder Gruppensituationen nur schwer warten, bis er an der Reihe ist;

- Platzt oft mit der Antwort heraus, bevor die Fragen vollständig gestellt sind;

- Hat Schwierigkeiten, Aufträge anderer vollständig auszuführen (nicht bedingt durch

oppositionelles Verhalten oder Verständnisschwierigkeiten);

- Wechselt häufig von einer nicht beendeten Aktivität zu einer anderen;

- Kann nur schwer ruhig spielen;

- Redet häufig übermäßig viel;

- Unterbricht oft andere oder drängt sich diesen auf, platzt z.B. ins Spiel anderer

Kinder hinein;

- Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere mit ihm sprechen;

- Verliert häufig Gegenstände, die er für Aufgaben und Aktivitäten in der Schule oder

zu Hause benötigt (z.B. Spielzeug, Bleistifte, Bücher);

- Unternimmt oft ohne Rücksicht auf mögliche Folgen körperlich gefährliche

Aktivitäten (nicht aus Abenteuerlust), rennt z.B. ohne zu schauen auf die Straße.

2. Beginn vor der Vollendung des siebten Lebensjahres.

3. Die Kriterien einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung sind nicht erfüllt.105

In der deutschsprachigen Fassung des DSM-III-R wird ADHD mit Aufmerksamkeits-

und Hyperaktivitätsstörung übersetzt. Dabei bezieht sich Attention Deficit auf das Auf-

merksamkeitsdefizit, das nahezu bei allen Kindern zu finden ist. Hyperactivity steht für

das Symptom Hyperaktivität, also die motorische Unruhe, die bei einigen Kindern

104Vgl. Webb, J.T. / Latimer, D. (1993), S. 2.105Vgl. Faison, M. / Barniskis, E.A. (1993), S. 2; Webb, J.T. / Latimer, D. (1993), S. 2.

30

Page 39: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

fehlen kann. Aus praktischen Gründen wird in der Literatur nur selten die vollständige

Bezeichnung Attention Deficit Hyperactivity Disorder verwendet, stattdessen wird von

Hyperaktivität oder hyperkinetischem Syndrom (HKS) gesprochen, wobei diese

Begriffe synonym gebraucht werden.106

Die ICD-10 hat den Begriff ADHD nicht übernommen, weil er die Kenntnis

psychologischer Prozesse beinhaltet, die noch nicht verfügbar ist. Tatsächlich hat die

unter dem Einfluß des DSM-III-R realisierte Forschung in der letzten Zeit zahlreiche

Belege für die Schlußfolgerung gewonnen, daß ein reines Auf-

merksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität (ADD/-H) eine eigenständige kin-

derpsychiatrische Diagnose und nicht eine Unterform des ADHD (der hyperkinetischen

Störung) darstellt. Im Unterschied dazu ist die Klassifizierung nach dem zusätzlichen

Vorliegen eine Störung des Sozialverhaltens, welche in der ICD-10 berücksichtigt wird,

empirisch bereits abgesichert.107

Unabhängig von der Benennung des Störungsbildes ist in den beiden amerikanischen

Diagnosesystemen eine Übereinstimmung der wesentlichen Symptome nicht zu überse-

hen. Dabei wird die Aufmerksamkeitsstörung und die Überaktivität als primäre Auffäl-

ligkeit genannt. Als drittes Hauptsymptom tritt Impulsivität mit Ungeduld und schnell

wechselnder Tätigkeiten hinzu.

2.3.2 Klinische Diagnostik

Die klinische Diagnoseerstellung findet auf mehreren Ebenen statt. Dazu gehört die

Anamneseerhebung, die Verhaltensbeobachtung, die Verhaltensbeurteilung anhand

standardisierter Fragebögen und Schätzskalen, psychologische Testuntersuchungen so-

wie apparative Zusatzbefunde und die körperliche Untersuchung.108

Die Anamnese und die Verhaltensbeobachtung bilden dabei das Kernstück der

Diagnose. Neben einer medizinischen Anamnese (mütterliche Anamnese, prä-, peri-,

postnatale Anamnese) sind eine Entwicklungsanamnese des Kindes und eine Famili-

enanamnese notwendig. Aus den gesammelten Informationen können mögliche

Risikofaktoren ausgeschlossen werden, die auf die Verursachung der Hyperaktivität

hinweisen können. Um sicher zu gehen, sollten die Daten der Anamnese sowohl aus

den Angaben der Eltern als auch von anderen Bezugspersonen (Kindergarten, Schule)

zusammengestellt werden. Somit können mögliche Fehlinformationen ausgeschaltet

werden. Diese grundsätzlichen Probleme der Anamneseerhebung können durch

ergänzende Verhaltensbeobachtungen oder durch Fragebögen und Schätzskalen

(teilweise) verringert werden.109

106Vgl. Cramond, B. (1994), S. 194; Wender, P. (1991), S. 9.107Vgl. Barkley, R.A. (1990), S. 275.108Vgl. Steinhausen, H.-Ch. (1995), in: Steinhausen, H.-Ch. (1995), S.17. 109Vgl. Bauer, A. (1986), S. 80.

31

Page 40: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die Symptomliste von Conners (1973) hat sich für die erste diagnostische Orientierung

bewährt. Der in Abbildung 4 dargestellte Conners-Fragebogen ist international

anerkannt und wird immer wieder für ärztliche Untersuchungen und wissenschaftliche

Studien zur Hyperaktivität eingesetzt. Er beinhaltet verschiedene Items zum Verhalten

des jeweiligen Kindes.

32

Page 41: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Eltern-Lehrer-Fragebogen (Kurzform) nach Conners (1973)

Bitte beurteilen Sie das Kind

______________________________

hinsichtlich der aufgeführten Verhaltenswei-

sen!

Datum:_________________________

Ausmaß der Aktivitätüberhaupt

nicht0

ein wenig

1

ziemlich

2

sehr stark

3

1. Unruhig oder übermäßig aktiv

2. Erregbar, impulsiv

3. Stört andere Kinder

4. Bringt angefangene Dinge nicht zu einem Ende -

kurze Aufmerksamkeitsspanne

5. ständig zappelig

6. Unaufmerksam, leicht abgelenkt

7. Erwartungen müssen umgehend erfüllt werden,

leicht frustriert

8. Weint leicht und häufig

9. Schneller und ausgeprägter Stimmungswechsel

10. Wutausbrüche, explosives und unvorher-

sagbares Verhalten

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ausgefüllt von: Mutter/Vater/Lehrer(in)

Abb. 4: Fragebogen nach Conners zum hyperkinetischen Syndrom.

[Quelle: Steinhausen, H.-Ch. (1995), in: Steinhausen, H.-Ch. (1995), S. 28.]

Ursprünglich setzt sich der Fragebogen aus einem 39-Items umfassenden Lehrer-

fragebogen und einem 73-Items starken Elternfragebogen zusammen. Diese beiden Fra-

gebögen wurden aus Gründen der Praktikabilität auf 10 Beobachtungen reduziert und

als Eltern-Lehrer-Fragebogen herausgegeben.110

Das Vorliegen eines Merkmales gilt nur dann als gegeben, wenn die jeweilige Verhal-

tensauffälligkeit wesentlich häufiger als bei gleichaltrigen Kindern auftritt und sie be-

reits über ein halbes Jahr beobachtet wird. In der Auswertung bedeuten 30 Punkte

extreme Hyperaktivität, 15-30 Punkte eine starke Hyperaktivität und 10-15 Punkte

bedeuten mäßig hyperaktiv. Somit liegt der dringende Verdacht auf ein

hyperkinestisches Syndrom dann vor, wenn der Punktwert in der Bewertungsskala über

110Vgl. Voss, R. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 24.

33

Page 42: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

15 Punkten liegt. Kritisch betrachtet bleibt in der Beurteilung des Fragebogens die

Situationsspezifität unberücksichtigt. Die angeführten Verhaltensmerkmale werden

absolut gesetzt, ohne daß der normative Bezugsrahmen, Personen oder der Charakter

der Eltern impliziert werden.111

Die Problematik der direkten Verhaltensbeobachtung in der direkten Untersuchungs-

oder Spielsituation liegt in der Fehleinschätzung durch die verhaltensregulierende Wir-

kung der Zuwendung des Beobachters. Aus diesem Grund sind die Beobachtungen im

realen Umfeld wirkungsvoller, auch wenn dies in der Praxis nicht immer durchführbar

ist.112

Eine weitere Methode der Diagnoseerhebung bezieht sich auf die kinderneurologische

Untersuchung. Mit der neurologischen Untersuchung sollen Funktionsstörungen im Ge-

hirn nachgewiesen werden. Dabei werden häufig sogenannte weiche neurologische Zei-

chen (soft-signs) deutlich, die sich in Entwicklungsverzögerungen in der Grob- und

Feinmotorik oder in Abweichungen im Hirnstrombild zeigen. Feinneurologische

Zeichen sind eine Minderleistung oder Reifungsverzögerung des Zentralnervensystems,

wobei die neurologische Basis dieser Abweichung im einzelnen nicht bekannt ist. Somit

läßt sich bei der neurologischen Diagnoseerstellung keine unmittelbare Beziehung zur

Verhaltensebene der Symptome der Hyperaktivität herstellen.113

Neben der klinisch-neurologischen Diagnostik sind weitere Untersuchungsgebiete die

verfeinerte Prüfung der Körpersinne des Kindes. Darunter fallen Untersuchungen der

Hör- und Sehfähigkeit, des Gleichgewichts und der Motorik. Die Motodiagnostik des

Kindes spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle, da sich das Zusammen-

spiel der verschiedenen Funktionssysteme im zentralen und peripheren Nervensystem in

vielfacher Hinsicht in der Motorik manifestiert.114

Zu den apparativen Befunden gehört die Elektroenzephalographie (EEG). Dabei wird

die Annahme, daß spezielle Abweichungen im EEG-Muster ein Nachweis für eine

minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) sind, kontrovers diskutiert. Zum einen weist

das EEG bei hyperaktiven Kindern in bezug auf ein Anfallsleiden deutliche pathologi-

sche Veränderungen auf. Jedoch kann das Nichtvorhandensein von Krampfpotentialen

oder leichten Gehirnstörungen keinen diagnostischen Hinweis darauf geben,

Hyperaktivität auszuschließen. Zum anderen ist das EEG allein dadurch von geringer

Aussagekraft, als es durch eine Variabilität gekennzeichnet ist, die wiederum durch

Umweltfaktoren, genetische Bedingungen und Verhaltenseinflüsse bestimmt wird. Bei

vielen untersuchten Kindern konnte keine eindeutige Veränderung festgestellt werden.115

111Vgl. Bernau, S. (1995), S. 99f.112Vgl. Altherr, P. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 13.113Vgl. Ebenda, S. 15. 114Vgl. Bauer, A. (1986), S. 82.115Vgl. Bernau, S. (1995), S. 101.

34

Page 43: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

"Die Uneinheitlichkeit und geringe Eindeutigkeit der Untersuchungsbefunde läßt erkennen, daß die Aussagewertigkeit des Elektroencephalogramms für die

Diagnose ... gegenwärtig noch begrenzt ist und erst innerhalb einer diagnosti-schen Mehrebenenanalyse eine entsprechende Bedeutung erhält."116

Die körperliche Untersuchung wird bei der Diagnoseerstellung mitberücksichtigt, sie

hat aber einen geringeren Stellenwert. Auffällige Merkmale sind ein verzögertes

Körperwachstum des Kindes nach dem zehnten Lebensjahr, Schädel- oder Ge-

sichtsasymmetrien sowie feinkonstitutionelle Abweichungen der Finger (z.B.

Bajonettfinger-Syndrom).117

Neben der klinischen Diagnostik werden durch eine stark psychologisch ausgerichtete

Diagnostik Informationen im Entwicklungsverlauf des Kindes durch ein Elterngespräch

im Zusammenhang mit den Umwelteinflüssen auf das Kind sichtbar gemacht. In diesem

Zusammenhang kann die Diagnose als systemorientierte Analyse verstanden werden.

Die Ursachen für das auffällige kindliche Verhalten sind nicht nur im Kind begründet,

sondern besonders häufig im sozio-ökonomischen Umfeld (Familie, Schule,

Kindergarten, Freundeskreis). Dabei werden die Auffälligkeiten im Hinblick auf die

psychosoziale Entwicklung des Kindes und in Abhängigkeit von Umweltfaktoren

betrachtet.118

Des weiteren werden bei einer psychologisch-orientierten Diagnostik tiefenpsychologi-

sche Untersuchungen durchgeführt. Sie dienen der Beurteilung und Erfassung von

Lern- und Leistungsstörungen und der Aufdeckung von Verhaltens- und

Persönlichkeitsstörungen. Einen weiteren Schwerpunkt der testpsychologischen

Untersuchungen bilden die Erfassung von Entwicklungsdaten sowie die Beobachtung

des Problemlöseverhaltens des hyperaktiven Kindes. In psychologischen

Einzelverfahren werden verschiedene Teilleistungsstörungen untersucht, die sich auf

Intelligenz, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Motorik und Sprache beziehen. Weiterhin

können affektiv-emotionale und soziale Störungsbilder, z.B. Angst, Aggression,

mangelndes Selbstvertrauen, Kontaktschwierigkeiten, durch eine differenzierte

Überprüfung verschiedener Persönlichkeitsdimensionen ermittelt werden.119

2.4 Die Beziehungsmuster des hyperaktiven Kindes

Langzeituntersuchungen und Beobachtungen (über 10-20 Jahre) an hyperaktiven Kin-

dern in Amerika und in Europa zeigen, daß für das Auftreten charakteristischer

Symptome von Unruhe und Zappeligkeit zunehmend Faktoren aus der Umwelt

zugrunde liegen. So spielen die Familienverhältnisse, die Stabilität oder die gestörten

Beziehungen innerhalb der Familie, ihre soziale Integration, anhaltende psychische

116Bauer, A. (1986), S. 87117Vgl. Ebenda, S. 83.118Vgl. Ebenda, S. 84.119Vgl. Ebenda, S. 85.

35

Page 44: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Belastungen eine immer wesentlichere und entscheidendere Rolle sowie die Beziehung

des hyperaktiven Kindes zu Gleichaltrigen und Geschwistern.120

Die Flucht der Kinder in auffällige Verhaltensweisen signalisiert die fortschreitende

Sprach-, Beziehungs- und Lieblosigkeit der heutigen Gesellschaft. Das "störende" Kind

ist somit der Spiegel dieser Gesellschaft. Dies verdeutlicht ein Zitat von Voss (1991):

"Die fehlende Offenheit für die Andersartigkeit unserer heutigen Welt, die mangelnde Sensibilität für den Wandel in uns selbst und in unserer Umwelt bewirkt, daß wir das Verhalten von Kindern als störend erleben, obwohl es nur Spiegelbild unserer eigenen, defizitären Situation ist."121

2.4.1 Die Beziehung des hyperaktiven Kindes zu den Eltern

In Kapitel 2.2.4.3 wurde ausführlich auf die Verursachungsfaktoren der Hyperaktivität

in bezug auf die Eltern und ihr Erziehungsverhalten eingegangen. Wender (1991)

merkt dazu an, daß der Umgang und die Erziehung den Schweregrad der Störung

beeinflussen können, die Störung aber selbst nicht herbeiführen kann. Die Beziehung

des hyperaktiven Kindes zu seinen Eltern ist durch die Schwierigkeiten während seiner

kindlichen Entwicklung belastet. Dennoch prägen die Eltern ihr Kind, da sie ihm

Vorbild sind, mit allen ihren guten und schlechten Eigenschaften. In diesem

Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Eltern zu der Hyperaktivität ihres Kindes

beitragen. Das ist jedoch nicht eindeutig zu beantworten, denn oftmals entwickelt sich

ein Teufelskreis, in dem sowohl das elterliche als auch das kindliche Verhalten dazu

beiträgt, daß es noch auffallender wird. Familiäre Beziehungs- und Kommu-

nikationsmuster haben Einfluß auf die Sekundärneurotisierung des hyperaktiven Kin-

des. Das bedeutet, daß beide Seiten Opfer und Verursacher sind.122

Eltern von hyperaktiven Kindern machen sich oft selbst Vorwürfe und bekommen diese

auch aus ihrer Umgebung zu spüren. Als Folge der Schuldgefühle sehen sich die Eltern

handlungsunfähig, was sich negativ auf das Kind auswirkt. Schuldgefühle können

verhindert werden, indem Zusammenhänge zum positiven Verhalten bedacht und

hervorgehoben werden.

In der neueren psychologischen Forschung kann noch nicht mit Sicherheit gesagt wer-

den, welche elterlichen Verhaltensformen eine Beeinträchtigung des kindlichen Verhal-

tens zur Folge haben. Einige Verhaltensweisen wirken sich jedoch mit Sicherheit

negativ auf das kindliche Verhalten aus:

- schlechte Vorbilder;

- keine gefühlsmäßige Beziehung;

- keine Anerkennung und Lob;

120Vgl. Lempp, R. (1994), in: Hartmann, J. (1994), S. 109.121Voss, R. (1991), in: Psychologie heute, (1991), S. 42122Vgl. Taylor, E. (1986), S. 96.

36

Page 45: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

- kein konsequentes Handeln;

- unterschiedliche Erziehungsziele der Eltern;

- keine Problemdiskussion innerhalb der Familie;

- Überforderung des Kindes durch zu ehrgeizige Pläne der Eltern;

- keine gemeinsamen Familienaktivitäten.123

Abb. 5: Das störende Verhalten des hyperaktiven Kindes löst eine Kette von Reaktionen

aus.

[In Anlehnung an Taylor, E. (1986), S. 49.]

Viele dieser Interaktionsmuster werden gelernt und können somit auch wieder verlernt

werden. Dies gilt gleichermaßen für Eltern und Kinder.

Die häufigen Auseinandersetzungen und die mangelhaften Konfliktlösungen der Eltern

mit ihrem Kind sowie die Frustrationen hinterlassen bei den Eltern einen nachhaltigen

Eindruck. Die Folgen sind, daß keine Freude mehr aufkommt, ungezwungenes Spiel

verlernt wird und körperliche Kontakte vergessen werden. Viele Eltern geraten so in ei-

nen Zustand, in dem sie sich Vorwürfe machen, sich aber ebenso scheuen und schämen,

123Vgl. Petermann, U. (1991), S. 21f.

37

Page 46: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

sich ihrer Umwelt zu öffnen. Daraus entsteht ein Teufelskreis von zunehmender Feind-

seligkeit, aus dem die Familie schwer herausfinden kann. Aufgrund der

Versagensgefühle ist die Familie nur ungern bereit sich psychosozialen Hilfsangeboten

zu öffnen und die Problemlage mit professioneller Hilfe zu kompensieren.124

Abbildung 5 verdeutlicht diesen Teufelskreis. Der Ausgangspunkt liegt in der Zappelig-

keit des Kindes, auf die die Eltern mit Strafe und Drohung reagieren. Am Ende sind

beide Seiten verstimmt und nicht mehr in der Lage, den Ablauf zu unterbrechen. Das

Ergebnis ist eine angespannte Familienatmosphäre, die sich auch auf die Außenkontakte

überträgt und die Familie in eine Isolation treibt.125

Der Teufelskreis kann vermieden werden. Der erste Schritt dazu besteht darin, daß

Kind so zu akzeptieren, wie es ist. Das setzt eine "Selbsterziehung" der Eltern voraus,

damit sich eine Entspannung und schließlich eine Lösung der Probleme abzeichnen

kann. Dem Kind muß auf der einen Seite seine Eigenständigkeit gelassen werden und

auf der anderen Seite muß das Kind lernen, daß ihm Grenzen gesetzt werden. Die

Grenzen sind für das hyperaktive Kind notwendig, da es sich selbst nicht richtig ein-

schätzen, nicht vorausschauen und Gefahren nicht erkennen kann.126

Die Abbildung 6 verdeutlicht, wie die Eltern durch ihr eigenes Verhalten und Reagieren

das Kind günstig lenken können und dadurch eine angenehme Familienatmosphäre ent-

stehen kann. Trost, Geborgenheit und Zuwendung sind die zentralen Aspekte, damit

sich das Kind verstanden und angenommen fühlen kann. Die Kinder brauchen den

Rückhalt, den die elterliche Führung gewährt. Das Verständnis der Eltern für ihre

Kinder und die Toleranz ihnen gegenüber ist der Grundstein für eine günstige

Entwicklung.127

124Vgl. Walters, U. (1991), S. 35f.125Vgl. Ebenda, S. 36.126Vgl. Walters, U. (1991), S. 38f.127Vgl. Walters, U. (1991), S. 40.

38

Page 47: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Abb. 6: Durch verständnisvolles und einfühlsames Verhalten der Eltern kann ein erträgliches Familienklima entstehen.

[Quelle: Walters, U. (1991), S. 40.]

2.4.2 Die Beziehung des hyperaktiven Kindes zu anderen Kindern

Im Umgang mit anderen Kindern hat es das hyperaktive Kind besonders schwer.

Wegen seiner Herrschsucht, seiner Neckereien, seiner rechthaberischen Einstellung zum

Spiel bestehen kaum Aussichten, daß das hyperaktive Kind bei anderen Kindern beliebt

ist. Daher hat es selten einen richtigen Freund und wird häufiger von Gleichaltrigen ge-

mieden.128

Das hyperaktive Kind nimmt auf die Bedürfnisse und Gefühle anderer keine Rücksicht,

es respektiert keine Grenzen und kann aus negativen Erfahrungen nicht lernen. Die dar-

aus entstehenden sozialen Komplikationen können die niedrige Selbsteinschätzung des

Kindes verstärken und Beziehungen zu anderen noch schwieriger gestalten.129

128Vgl. Durbin, K. (1993), S. 4.129Vgl. Calatin, A. (1992), S. 17f.

39

Page 48: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Zahlreiche Befragungsstudien in Kindergärten und Schulklassen zeigen, daß

hyperaktive Kinder in der Beurteilung ihrer Peers schlechter angesehen werden, wenn

sie wählen durften, wen sie mögen oder nicht mögen.130

Im Zusammenleben mit den Geschwistern entstehen ebenfalls soziale Schwierigkeiten.

Das Hauptproblem liegt in der geschwisterlichen Rivalität und Eifersucht, da das

Verhalten des hyperaktiven Kindes und die Reaktionen, die es bei den Eltern

hervorruft, zu Geschwisterneid führt. Die anderen Geschwister fühlen sich

vernachlässigt, denn das hyperaktive Kind bekommt mehr Aufmerksamkeit durch die

Eltern. Auf der anderen Seite kann auch das hyperaktive Kind mit Eifersucht auf seine

Geschwister reagieren, weil diese als "brave Kinder" gelobt und vorgezogen werden,

während das hyperaktive Kind als "böse" bezeichnet wird.131

2.5 Die Selbsteinschätzung des eigenen hyperaktiven Ver-haltens

Prinzipiell beklagen sich Kinder nicht über Hyperaktivität. Dennoch können manche

selbstkritische Kinder ihre Schwierigkeiten reflektieren. Es kommt dann zu Aussagen

wie z.B. "Ich kann mich nicht genügend konzentrieren". Diese rationalen Zugänge

können jedoch nur wenige Kinder realisieren. Einige hyperaktive Kinder zeigen häufig

selbstzerstörerische reaktive Gefühle gegen sich selbst, weil sie von der Umwelt ab-

gelehnt und kritisiert werden. Sie fühlen sich nicht liebenswert, wertlos und halten

wenig von sich selber. Andere dagegen werden wütend und rächen sich, vornehmlich

an schwächeren Kindern. Je älter das hyperaktive Kind wird, um so mehr leidet es unter

seinem Verhalten, da hohe Anforderungen an das kindliche Verhalten gestellt werden

und es die negativ bewerteten Reaktionen der Umwelt deutlich wahrnimmt.132

Das Selbstbewußtsein beruht auf den Reaktionen der anderen. Da das hyperaktive Kind

von der Umwelt abgelehnt wird, hat es ein geringes Selbstbewußtsein. Die Folgen sind

ein niedriges Selbstwertgefühl und wenig Selbstvertrauen. Daraus resultiert sein Versa-

gen in allen wichtigen Bereichen des kindlichen Lebens.133

Die Kinder, denen durch ihre Umwelt Verständnis entgegengebracht wird und die als

eigenständige Persönlichkeit mit Anerkennung und Respekt behandelt werden, kommen

am besten mit ihrem eigenen auffälligen Verhalten zurecht.134

130Vgl. Eichlseder, W. (1987), in: AÜK (1993), S. 43.131Vgl. Wender, P. (1991), S. 32f.132Vgl. Taylor, E. (1986), S. 11.133Vgl. Wender, P. (1991), S. 36.134Vgl. Taylor, E. (1986), S. 12.

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Page 49: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

3 Theoretische Grundlagen der Kreativitätsforschung in Verbindung mit Hyperaktivität

3.1 Ansätze der amerikanischen Kreativitätsforschung

3.1.1 Die Geschichte der Kreativitätsforschung

Den Anstoß für den Aufbruch der Kreativitätsforschung im Sinne einer pädagogischen

Bewegung war der bereits in Kapitel 1.2.2 erwähnte Vortrag "creativity" von Guilford

vor der American Psychological Association im Jahre 1950, in dem er über den Wert

und die Notwendigkeit der kreativen Erziehung berichtete.135

Guilford (1959) hat jedoch nicht die Kreativitätsforschung erfunden. Verschiedene

Wissenschaftler beschäftigten sich zuvor mit dem Problem des Genialen und

Schöpferischen. Die deutsche Schule der Denkpsychologie hatte sich bereits seit Beginn

des 20. Jahrhunderts mit schöpferischen und produktiven Problemlösungen beschäftigt

(z.B. Köhler 1917, Duncker 1935, Wertheimer 1925). Guilfords Aufgabe bestand

darin, die verschiedenen Ansätze zu integrieren, neue Denkrichtungen anzuregen und

das Interesse für die Kreativität zu wecken.136

Mit einer Verspätung von 15 Jahren machte sich die Kreativitätsforschung in Deutsch-

land bemerkbar und knüpfte an die dortige denkpsychologische Tradition an.137

Anlaß für den Durchbruch zu einem weit über den pädagogisch-psychologisch hinaus-

wirkenden Reformwillen bot ein technisch-politisches Ereignis: der "Sputnik-Schock",

d.h. die ernüchternde Feststellung, daß die Amerikaner um ihre Vorherrschaft in

Wissenschaft und Technik bangen mußten, seit dem Start des ersten Weltraumsatelliten

durch die UdSSR. Diese hatten durch die Ausbildung einer wesentlich größeren Anzahl

von Wissenschaftlern eine breite Basis für die Auswahl schöpferischer Forscher. Als

Folge wollten die Amerikaner dieses Ungleichgewicht durch die Kreativitätsforschung

kompensieren.138 Des weiteren wurde der Sputnik-Schock für die Propagierung von Bil-

dungsreform, kompensatorische Erziehung und intellektueller Frühförderung verant-

wortlich gemacht. Guilford stellte bereite 1950 fest, daß hochindustrialisierte Gesell-

schaften sowohl in Industriebetrieben als auch in Regierungsinstitutionen kreative Lei-

stungen benötigten. In und nach dem 2. Weltkrieg stießen spätere Kreativitätsforscher -

unter ihnen auch die bei der amerikanischen Luftwaffe angestellten Psychologen

Guilford und Torrance - auf das Problem, neue Maßstäbe für die Selektion von Erfin-

dern und Führungskräften zu erarbeiten, da sich zu wenige als solche hervorhoben. In-

dustriebetriebe bemühten sich um technische Verbesserungen und neue Produkte, so

daß ihnen die angewandte Kreativitätsforschung entgegenkam. Letztendlich ging es in

135Vgl. Beer, U / Erl, W. (1974), S. 11. 136Vgl. Limberg, R. (1978), S. 11; Preiser, S. (1976), S. 8f. 137Vgl. Preiser, S. (1976), S. 9f. 138Vgl. Limberg, R. (1978), S. 11; Ulmann, G. (1973), S. 12.

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Page 50: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

einer privatwirtschaftlichen Gesellschaft nicht nur um die Produktion besserer Konsum-

güter, sondern um deren Absatz. Daher war Kreativität ein wichtiges Instrumentarium

im Marketing, vor allem in der Werbung.139

Einen weiteren Grund für den Boom der Kreativitätsforschung sah Preiser (1976) in

einem Wandel der Erziehungsideale. Er führte dazu an, daß zu Beginn des 20. Jahrhun-

derts das Erziehungsideal "Gehorsam" und die damit einhergehende autoritäre

Erziehung in der amerikanischen Mittelschichtsgesellschaft von einem neuen

Erziehungsideal abgelöst wurde, der gut angepaßten, problem- und konfliktfreien

Persönlichkeit. Dieser neue Erziehungsstil erzeugte jedoch überangepaßte,

konformistische Personen. Es verbarg sich die Gefahr, eines neuen, versteckten

Autoritarismus.140

"Ein neuerwachtes pädagogisches Interesse an kritischen, selbstbewußten, konfliktfähigen, emanzipierten Menschen traf sich mit der Kritik der Kreati-vitätsforschung an den kreativitätshemmenden Einflüssen traditioneller Schulerziehung mit der einseitigen Förderung des konvergenten Den-kens."141

3.1.2 Kreativitätstheorien

Die verschiedenen in Kapitel 1.2.2 beschriebenen Kreativitätsdefinitionen sind

Ausdruck der unterschiedlichen Denkpositionen der Autoren. Aus diesem Grunde

existieren verschiedene Theorien zur Kreativität.

1. Die psychoanalytische Theorie der Kreativität

Die psychoanalytische Kreativitätstheorie basiert auf Freuds (1940) Konzept der Subli-

mation. Dabei beinhaltet nach Freud die Motivation zu kreativen Leistungen eine Libi-

doverschiebung, die dem Individuum einen Lustgewinn ermöglicht, der durch eine Ver-

schiebung des primären Sexualdranges auf höhere geistige Operationen zustande

kommt, mit dem Ziel wissenschaftlicher, künstlerischer oder ideologischer

Leistungen.142 Durch diese Verschiebung gestaltet sich das Individuum eine neue

Realität, mit der es sich zum einen vor seinen Trieben und zum anderen vor der

Außenwelt, die seiner Befriedigung entgegensteht, schützt und diese zugleich

überwindet. Freud sieht jedoch in dieser Fähigkeit keinen allgemein verbreiteten

Mechanismus, sondern eine Methode, deren Schwäche darin besteht, daß sie nicht

allgemein verwendbar und somit nur wenigen Menschen zugänglich ist, da sie

besondere, selten vorkommende Anlagen und Begabungen voraussetzt. Dadurch

beschränkt Freud die Fähigkeit zum kreativen Produzieren vornehmlich auf Künstler.143

139Vgl. Preiser, S. (1976), S. 16.140Vgl. Ebenda, S. 18.141Ebenda, S. 18142Vgl. Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 123.143Vgl. Landau, E. (1984), S. 40f.

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Page 51: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Deutsch (1960) stellt in bezug auf die Aussagen Freuds den folgenden Zusammenhang

zur Neurose her:

"Wenn der Druck der triebhaften Impulse ansteigt und eine neurotische Lösung droht, führt die unbewußte Abwehr zur Schöpfung eines Kunst-werkes. Der psychische Effekt ist eine Entlastung der aufgestauten Emo-tionen bis ein erträgliches Niveau erreicht ist."144

Kris (1952) betont den strukturalen Aspekt der Freudschen Theorie. Er stellt die Rolle

des Ich gegenüber dem Es heraus. Kris sieht in der Kreativität eine "Regression des

Ich". In der Phantasie, in Träumen, in Rauschzuständen und Müdigkeit tritt eine solche

Regression der Ich-Funktion ein, in der sich insbesondere Inspiration vollzieht. Jedoch

betont er, daß nicht jede Regression kreativ ist. Kris überschreitet das Konzept von

Freud dahingehend, daß er zwar die Konflikte im Unbewußten sieht, doch er teilt dem

Ich eine besondere Bedeutung zu, denn das Ich agiert im Bewußten und Vorbewußten.145

Zusammenfassend kann formuliert werden, daß der kreative Prozeß die Erfüllung

aufgestauter Gefühle ist. Er entwickelt sich mit Hilfe freier Assoziation, die durch

Phantasien, Tagträume und Kindheitsspiele angeregt werden. Dabei nutzt das kreative

Individuum diese Assoziationen zur Verarbeitung. Das nichtkreative Individuum

dagegen verdrängt diese Assoziationen.146

2. Die existentialistische Theorie der Kreativität

Die existentialistische Theorie beschäftigt sich mit der Motivation zum kreativen

Prozeß und der Interaktion zwischen Person und Umwelt. Dabei ist Kreativität das

Produkt eines gesunden, offenen und interagierenden Individuums mit seiner Umwelt.

In der existentialistischen Kreativitätstheorie wird zwischen der Pseudo-Kreativität und

der echten Kreativität unterschieden. Die Pseudo-Kreativität umfaßt unkonventionelles

Verhalten, das mit Redegewandtheit und Schlagfertigkeit verbunden ist, wobei jedoch

die Effektivität fehlt. Echte Kreativität dagegen führt zu brauchbaren neuen

Ergebnissen und betont vor allem die Effektivität des kreativen Prozesses.147

In dem existentialistischen Ansatz ist Kreativität nur dann möglich, wenn eine Begeg-

nung zwischen dem Individuum und seiner eigenen Welt und seiner Umwelt stattfindet.

Die Begegnung bekommt somit einen zentralen Stellenwert. Einer der Hauptvertreter

dieser Theorierichtung ist May (1959), der besonders den Aspekt der Begegnung des

intensiv bewußten Menschen mit seiner Umwelt betont. Dabei ereignet sich Kreativität

in einem Akt der Begegnung und ist mit dieser Begegnung als Zentrum zu verstehen.148

144Deutsch, F. (1960), zitiert nach: Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 32145Vgl. Landau, E. (1984), S. 42f.146Vgl. Ebenda, S. 44.147Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 21f. 148Vgl. Landau, E. (1984), S. 46.

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Page 52: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

3. Der persönlichkeitsorientierte Ansatz der Kreativität

Im persönlichkeitsorientierten Ansatz wird Kreativität weniger als spezifische Fähigkeit

gesehen, sondern als ein bestimmter Charakterzug, eine bestimmte Einstellung oder

Haltung gegenüber der Umwelt, die die gesamte Persönlichkeit umfaßt. Die

Hauptvertreter dieses Theoriekonzeptes sind Barron, Crutchfield, MacKinnon und

Rogers. Für sie steht die "personal effectivness" im Vordergrund, die Entwicklung des

Menschen zu "mental health". Der persönlichkeitsorientierte Ansatz bezieht sich darauf,

daß die Menschen auf kreative Aktivitäten eingestellt und ausgerichtet sind. Weiterhin

gehen die Vertreter dieses Ansatzes davon aus, daß ein kreatives Produkt von der

Kreativität des Individuums abhängt, da ein kreativer Prozeß nur durch ein kreatives

Individuum in Gang gesetzt werden kann. Daher sind sowohl die Art und der Umfang

des kreativen Prozesses als auch die Qualität des kreativen Produktes durch die

Persönlichkeitsmerkmale der kreativen Person gekennzeichnet.149

4. Kreativität als kognitiver Prozeß

Der kognitiv-kreative Ansatz wird maßgeblich von Guilford und Torrance vertreten.

Im kognitiven Ansatz wird Kreativität hauptsächlich als Problemlösefähigkeit

angesehen, da jede Problemlösungssituation vom Individuum kreatives Denken

erfordert. Es arbeitet mit seinen vorhandenen Informationen, bezieht seine früheren

Erfahrungen mit ein, kombiniert sie zu neuen Strukturen, die in ihrer neuen

Zusammensetzung ein Problem lösen können. Diese Problemlösefähigkeit geht mit

bestimmten intellektuellen Fähigkeiten und Persönlichkeitsvariablen einher.150

Einer der Hauptvertreter dieses Ansatzes ist Guilford, der durch seine "Struktur des In-

tellekts" eine Erweiterung des Intelligenzkonzeptes geliefert hat. 1950 kommt Guilford

zu der Einsicht, daß Kreativität nicht mit den traditionellen Intelligenztests gemessen

werden kann, da dies zu einer Eliminierung von ca. 70% der Kreativen führen würde.

Er folgert daraus, daß für die Kreativität andere als die bis dahin bekannten Intelligenz-

modelle zugrunde liegen müssen. Dennoch zählt er die Kreativität zu den Leistungen

des Intellekts, mit der Einschränkung, daß für ihr Zustandekommen ein komplexes

Zusammenwirken verschiedener Intelligenzfaktoren verantwortlich ist. Guilford (1950)

analysiert einzelne Faktoren und Fähigkeiten des kreativen Verhaltens und entwickelt

ein dreidimensionales Modell der Struktur des Intellekts, das Denkinhalte,

Denkprodukte und Denkoperationen umfaßt. Aus dieser Struktur eleminiert Guilford

verschiedene Faktoren und faßt sie in ähnlichen Klassen wieder zusammen. Die

Klassifikation wird nach der Art des Denkprozesses, seinem Inhalt und seinem Produkt

vorgenommen und ergibt folgende Faktorengruppen:151

149Vgl. Limberg, R. (1978), S. 13.150Vgl. Landau, E. (1984), S. 17.151Vgl. Ebenda, S. 22.

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Page 53: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

1. Die der Aktivität des Intellekts (Denkoperationen):

- Kognitionen: Entdecken, Wiederentdecken oder Wiedererkennen;

- Gedächtnis: Behalten des Wahrgenommenen;

- Divergentes Denken: Die Suche nach verschiedenen Lösungsmöglichkeiten;

- Konvergentes Denken: Es gibt nur eine richtige Lösung;

- Beurteilung: Entscheidung über die Qualität, Richtigkeit, Folgerichtigkeit oder

Angemessenheit.152

2. Die des Inhalts (Denkinhalte):

- Figuraler Aspekt: Konkretes Material bzw. reine Sinnesdaten;

- Symbolischer Aspekt: Buchstaben, Ziffern und andere konventionelle Zeichen;

- Semantischer Aspekt: Sprachliche Bedeutungen und Vorstellungen;

- Verhaltensaspekt: Repräsentiert die sogenannte soziale Intelligenz.153

3. Die der Produkte (Denkprodukte):

- Einheiten: Wahrgenommenen Information z.B. eine Figur;

- Klassen: Kategorien von Einheiten;

- Beziehungen: Produkte zwischen Einheiten oder Klassen;

- Systeme: Muster oder Gestalt von zusammengesetzten Einheiten;

- Transformationen: Neue Klassifikationen der Einheiten oder Klassen;

- Implikationen: Voraussagen, die sich aus den Informationen bilden.154

Aus dem Zusammenwirken der fünf Denkoperationen, den sechs Produktarten und den

vier Inhaltsgruppen ergeben sich insgesamt 120 (4x5x6) verschiedene Intelligenzfakto-

ren, die voneinander unabhängig sind. Jeder der Faktoren entspricht bestimmten Fähig-

keiten, die mit Guilfords divergenten Produktions-Testbatterien (DPT) gemessen wer-

den.155

Jeder der Faktoren in Guilfords Modell entspricht bestimmten Fähigkeiten, die bei der

Entstehung kreativer Leistungen bedeutsam sind:

- Flüssigkeit - Erinnerungsfähigkeit;

- Flexibilität - Flüssigkeit der gespeicherten Information;

- Originalität - Bereitschaft, Dinge anders zu sehen;

- Elaboration - Aufbau einer Struktur nach gegebener Information;

- Sensitivität - Problemerfassung, Offenheit der Umwelt gegenüber;

- Neudefiniton - Sehen neuer Zusammenhänge.156

152Vgl. Landau. E. (1994), S. 23.153Vgl. Ebenda, S. 24.154Vgl. Ebenda, S. 24.155Vgl. Seiffge-Krenke, I. (1974), S. 45.156Vgl. Limberg, R. (1978), S. 14.

45

Page 54: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

5. Der assoziationstheoretische Ansatz der Kreativität

Der Ansatz von Mednick und Ghiselin ist vornehmlich auf das kreative Produkt ausge-

richtet. Mednick (1963) versteht unter Kreativität den Prozeß der Umformung assozia-

tiver Elemente zu neuen Kombinationen. Die Ergebnisse dieser Umformung müssen in

irgendeiner Weise nützlich sein oder sonstigen spezifischen Anforderungen genügen. Je

entfernter die in die neue Lösung eingehenden Elemente vordem waren, desto kreativer

ist der Prozeß oder die Leistung. Somit geht der assoziationstheoretische Ansatz von

der Annahme aus, daß aus den gespeicherten kognitiven Elementen neue Verbindungen

entstehen können, die abrufbar sind.157

Nach Mednick (1963) besitzt jeder Mensch ein spezifisches Assoziationsreservoir, das

er im Laufe seines Lebens erworben hat, das sprachlich kodiert ist und daher im Vorbe-

wußten bleibt, bis es zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Bewußtsein abgerufen wird

und dann zu einer Problemlösung beiträgt. Dabei ist die Anzahl der Assoziationen, die

ein Individuum zu den erforderlichen Elementen eines Problems hat von großer Bedeu-

tung, da die Wahrscheinlichkeit zu einer kreativen Lösung zu kommen mit der Anzahl

der Assoziationen steigt.158

Auf der Grundlage dieser Überlegungen hat Mednick (1963) einen Test entwickelt, der

Kreativität messen soll. Der "Remote Association Test" (RAT) geht von der Annahme

aus, daß hochkreative Individuen auf ein vorgegebenes Reiz-Wort eine große Anzahl

von Assoziationen produzieren, im Gegensatz zu weniger kreativen Individuen. In

Mednicks Test werden den Versuchspersonen bei jeder Aufgabe drei Wörter

vorgegeben, die in einer gewissen gemeinsamen Assoziationsgrundlage zueinander

stehen. Die Aufgabe der Versuchspersonen ist, ein viertes Wort zu finden, das zu allen

drei Reiz-Wörtern in assoziativer Beziehung steht.159

6. Die Gestalttheorie der Kreativität

In dem gestalttheoretischen Ansatz wird Kreativität als eine Aktion gekennzeichnet,

durch die eine neue Idee entsteht. Dabei wird dieses Neue plötzlich hervorgebracht, da

es ein Produkt der Imagination und nicht der Vernunft ist.160

Wertheimer (1959) als Vertreter dieses Ansatzes geht davon aus, daß sich das Denken

durch das Gruppieren, Reorganisieren und Strukturieren des Individuums vollzieht. Da-

bei bleibt das Denken jedoch immer auf das Ganze (das Problem, das gelöst werden

soll) bezogen. Somit kann im gestalttheoretischen Ansatz das Problemlösen als

einsichtige Umformung unvollständiger Strukturen zu einer neuen Gestalt verstanden

157Vgl. Mednick, S.A. (1963), in: Ulmann, G. (1973), S. 288.158Vgl. Ebenda, S. 293.159Vgl. Cropley, A.J. (1982), S. 50.160Vgl. Landau, E. (1984), S. 45.

46

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werden. Jedoch ist die "Tendenz zur guten Gestalt" die treibende Kraft, die für eine

harmonisierende, problemlösende Umgestaltung verantwortlich ist.161

7. Die Kulturtheorie der Kreativität

Im kulturtheoretischen Ansatz wird besonders die Persönlichkeit in ihrer Abhängigkeit

von der Umgebung und der Kultur betont. Die soziale Umwelt bekommt dabei eine her-

ausragende Stellung, da sie kreative Prozesse ermöglicht, sie fördert oder hemmt. Des

weiteren ist die soziale Umwelt ausschlaggebend für das Annehmen oder Verwerfen ei-

ner kreativen Idee.162

3.1.3 Kreativität und Intelligenz

Kreativität und Intelligenz sind eng miteinander verbunden, trotzdem unabhängig

voneinander und nicht gleichzusetzen. Nach Landau (1990) bedingt hohe Intelligenz

noch nicht Kreativität, aber Kreativität ist von einem hinreichenden Maß an Intelligenz

abhängig. Dabei wird Kreativität nicht als Gegensatz betrachtet, sondern als Ergänzung

und Erweiterung des bisherigen Intelligenzbegriffs.163

Unter Intelligenz wird allgemein die Fähigkeit verstanden, Informationen zu sammeln

und sie in verschiedenen Situationen anzuwenden. Weiterhin ist Intelligenz ein

spezielles auf eine Standardskala bezogenes Maß (der Intelligenzquotient IQ) für

Faktoren, die den Intelligenzleistungen zugrunde liegen oder den Leistungsdaten

entnommen sind.164

Kreativität baut auf dieser Fähigkeit auf und erweitert sie, indem sie neue Beziehungen

zwischen den Informationen herstellt. Landau (1990) verdeutlicht dies, indem sie sagt:

"Intelligenz ermöglicht die Anpassung des Gelernten an verschiedene Situationen. Kreativität begnügtsich nicht mit Anpassung. Sie strebt danach, alle vorhandenen Potentiale der Situation entsprechend zu ver-wirklichen."165

Der Unterschied zwischen Intelligenz und Kreativität besteht somit in einer

differenzierten Zielsetzung. Die Intelligenz sucht die Antwort im Gelernten und damit

nach richtigen Lösungen. Kreativität dagegen strebt mehrere Antworten an. Guilford

(1964) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Arten des produktiven Denkens:

das konvergente und das divergente Denken:

161Vgl. Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 126.162Vgl. Landau, E. (1984), S. 48; Preiser, S. (1976), S. 27.163Vgl. Ebenda, S. 25.164Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 17.165Landau, E. (1990), S. 26

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Page 56: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

1. Konvergentes Denken

Das konvergente Denken zeichnet sich durch Gradlinigkeit und Eindimensionalität aus

und ist richtungsweisend. Dabei werden Direktinformationen eingeholt, die zu

logischen Schlüssen und richtigen Antworten führen, wobei eine Mehrdeutigkeit

zugunsten konventioneller Übereinstimmung und der Überprüfbarkeit ausgeschlossen

wird. Konvergentes Denken besteht somit für Guilford (1964) hauptsächlich in einem

Erkennen und Reproduzieren einer einzig richtigen Lösungsmöglichkeit, wobei die

richtige Antwort bereits von vornherein fest steht.166

2. Divergentes Denken

Das divergente Denken wird oftmals als Synonym für kreatives Denken verwendet. Die

Hauptkennzeichen des divergenten Denkens sind Gedankengänge, die sich von Bekann-

tem ausgehend, in mehrere Richtungen bewegen und dabei neue Ideen generieren. Die

Hauptaufgabe beim divergenten Denken besteht darin, das Bekannte zu verwerfen und

eine Vielzahl von eigenständigen Ideen zu produzieren. Dabei kommt es nicht darauf

an, eine einzige richtige Lösung zu finden, sondern auf möglichst verschiedene Ideen zu

kommen.167

Der Unterschied zwischen konvergentem und divergentem Denken besteht somit darin,

daß das konvergente Denken auf eine einzige richtige Lösung trifft, während das diver-

gente Denken von einem Bekannten und Herkömmlichen ausgeht und zu mehreren

individuellen Lösungen gelangt.168

Um echte Kreativität zu entwickeln, muß das divergente Denken trainiert werden. Aber

auch das konvergente Denken ist wichtig, da es hilft, die Fülle divergenter Ideen

logisch zu ordnen und abzuwägen. Die Verbindung von konvergentem und divergentem

Denken wird als Grundlage kreativer Fähigkeiten angenommen. Dabei ermöglicht

Intelligenz das Anpassen des Gelernten an verschiedene Situationen, während

Kreativität darüber hinausgeht. Sie ist Aktualisierung und Verwirklichung der poten-

tiellen situativen Möglichkeiten. In dieser Beziehung sieht Landau (1984) einen der

wichtigsten Beiträge der Kreativitätsforschung zur Erweiterung des Intelligenzbegriffes,

da dadurch jedem Individuum die Möglichkeit gegeben wird, sein kreatives Potential

voll auszuschöpfen. In dieser Erweiterung liegt das Ziel jeder kreativen Erziehung.169

166Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 26; Cropley, A.J. ( 1991), S. 40f.167Vgl. Cropley, A.J. (1991), S. 41f.168Vgl. Ebenda, S. 42.169Vgl. Landau, E. (1984), S. 39.

48

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3.1.4 Motivation zur Kreativität

"Verschiedene Individuen verhalten sich in gleichen Situationen verschieden und in verschiedenen Situationen gleich."170

Dieses Zitat von Heckhausen (1963) wirft die Frage nach der Motivation auf. Warum

handelt ein Individuum kreativ?

Als notwendige Bedingung zur Motivation können zwei Voraussetzung betrachtet wer-

den. Dies ist zum einen eine große Sensitivität für die in der Umwelt vorhandenen Lüc-

ken und das Fehlen an Geschlossenheit. Zum anderen ist eine starke Leistungsmoti-

vation die Voraussetzung zur Motivation.171

Unter Leistungsmotivation kann das Bestreben der eigenen Leistungssteigerung in den

Tätigkeiten verstanden werden, in denen Gütemaßstäbe für verbindlich gehalten werden

und deren Ausführungen deshalb gelingen oder mißlingen können. Die Gütemaßstäbe

beinhalten die sachbezogenen Maßstäbe (Vollkommenheitsgrad des Produktes), die

personenbezogenen Gütemaßstäbe (Vergleich mit früheren Leistungen) und die

sozialbezogenen Gütemaßstäbe (Vergleich mit den Leistungen anderer). Die drei

Kategorien der Gütemaßstäbe sind situationsabhängig und ergänzen sich gegenseitig.

Des weiteren kann als wesentliches Charakteristikum der Leistungsmotivation die

zukunftsperspektivische Zielbezogenheit gesehen werden, die sich in den Zielsetzungen

und Erwartungen niederschlägt.172

Der Zielaspekt in Verbindung mit Drang und Verstärkung wird in der Motivationsfor-

schung als einer der wichtigsten Aspekte bezeichnet. Dabei ist in jedem zielorientiertem

Verhalten meist die Verstärkung bereits impliziert. Alle Handlungen im Sinne einer

Zielorientierung werden organisiert, somit wird das Ziel gleichzeitig zum Verstärker.

Dies wird auch im kreativen Prozeß deutlich.173

Jeder kreative Prozeß und jedes kreative Produkt setzt eine Motivation voraus. Dabei

wird Motivation in der Literatur mit unterschiedlicher Betonung erläutert. Die unter-

schiedlichen Theorien zur Motivation können danach klassifiziert werden, ob sie die

Motivation als das Vermeiden unerwünschter Zustände oder als das Annähern an er-

wünschte Zustände ansehen. Der Vermeidungsaspekt hat eine Verminderung der Span-

nung zum Ziel, während sich der Annäherungsaspekt auf eine Spannungsvergrößerung

und eine Suche nach stärkeren Stimulationen konzentriert.174

170Heckhausen, H. (1963), zitiert nach: Sikora, J. (1976), S. 16171Vgl. Sikora, J. (1976), S. 16.172Vgl. Seiffge-Krenke, I. (1974), S. 121f; Sikora, J. (1976), S. 17.173Vgl. Landau, E. (1984), S. 54.174Vgl. Ebenda, S. 54.

49

Page 58: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Weiterhin können die Motivationstheorien danach eingeteilt werden, ob sie pluralistisch

oder monistisch ausgerichtet sind. Pluralistisch bedeutet, daß von vielen Motiven ausge-

gangen wird, von denen jedes ein klar ersichtliches individuelles Ziel hat während

monistisch bedeutet, daß ein bestimmtes Motiv als maßgebend angesehen wird.175

Landau (1984) ordnet die verschiedenen Motivationen zur Kreativität drei Theoriekon-

zepten zu. Dies sind die reduktionsorientierte Theorie, die existentialistische Theorie

und die Kommunikationstheorie. Innerhalb der reduktionsorientierten Theorie wird die

Motivation der Kreativität auf unakzeptierte, unerfüllte Impulse aus der Vergangenheit

zurückgeführt. Dies ist analog zu der Spannungsreduktion oder der Vermeidungstheorie

sowie zu dem Drangaspekt der Motivation. Die Grundlage dieser Motivationsform liegt

in der Sublimationstheorie von Freud.176

In der existentialistischen Theorie wird die Motivation zur Kreativität aus den

Neigungen des Individuums, sich zu aktualisieren gesehen. Das entspricht der

Annäherungs-/ Herausforderungstheorie und dem Zielaspekt der Motivation. Rogers

(1959) geht von einer Selbstaktualisierung aus, in der er die Motivation sieht. Der

Drang des Individuums nach Selbstaktualisierung erfolgt durch die permanente Suche

nach neuen Beziehungen zur Umwelt. Dabei ist die Selbstaktivierung die Motivation

für die Kreativität und gleichzeitig auch der Zielaspekt.177

Die Kommunikationstheoretiker wählen ebenfalls den Zielaspekt der Motivation zum

Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen, wobei innerhalb der Theorie die Kommunikation

das Ziel ist. Prinzipiell wird zwischen einer innenweltbezogenen (intrapersonalen)

Kommunikation und einer Kommunikation mit der Außenwelt (interpersonal), d.h. eine

an der Aufgabe orientierte Kommunikation, unterschieden.178

In jeder dieser Theorien kann kreatives Verhalten als eine bewußte Antwort auf eine

Herausforderung der Umwelt angesehen werden. In diesem Sinne definiert

Heckhausen (1965) Motivation als "Wirkungsgefüge vieler Faktoren eines gegebenen

Personen-Umwelt-Bezuges, die das Erleben und Verhalten auf Ziele richten und

steuern".179

Abschließend können nach Landau (1984) die aufgeführten Motivationsformen in pri-

märe und sekundäre zusammengefaßt werden. Die primären sind: Die Energie- oder Li-

bido-Verschiebung, der Entdeckungs- oder intellektuelle Drang, der Aktualisierungs-

drang und der Kommunikationsdrang. Die sekundären sind die Motivationsformen, die

zunächst Begleiterscheinungen der primären Motivation waren und nun selbst zu Moti-

175Vgl. Sikora, J. (1976), S. 18.176Vgl. Landau, E. (1984), S. 54.177Vgl. Ebenda, S. 19. 178Vgl. Ebenda, S. 60f.179Heckhausen, H. (1965), zitiert nach: Sikora, J. (1976), S. 16

50

Page 59: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

vation werden. Als sekundär gelten also Freude am Prozeß, der Drang nach Neuheit,

nach Qualität und nach Ordnung sowie der Ehrgeiz.180

3.2 Die kreative Persönlichkeit und das hyperaktive Kind

Kreativität ist kein einheitliches Persönlichkeitsmerkmal. Kreative Leistungen hängen

vielmehr von zahlreichen Einflüssen innerhalb und außerhalb der Person ab. Daraus er-

gibt sich die Fragestellung, ob es dennoch spezifische Persönlichkeitsmerkmale gibt,

die kreative Leistungen begünstigen. Diese spezifischen Merkmale wären in bezug auf

eine Förderung derjenigen Merkmale von besonderer Bedeutung, die eine kreative

Ideenproduktion erleichtern.

Guilford (1952) ist der erste, der von Merkmalen der kreativen Persönlichkeit spricht

und diese in einem Modell darstellt. Dabei unterschiedet er Merkmale (traits) und

Fähigkeiten (aptitudes). Als Merkmale bezeichnet Guilford (1952) die Kennzeichen,

die ein Individuum von anderen unterscheidet. Mit Fähigkeiten oder Begabung wird die

Bereitschaft eines Individuums bezeichnet, bestimmte Arten von Problemlösungen zu

erlernen. Diese Bereitschaft kann verschiedene Ursprünge haben. Sie kann angeboren

sein, durch den Einfluß der Umwelt oder durch Interaktion von beiden entstanden

sein.181

Weitere Fähigkeiten und Merkmale einer kreativen Persönlichkeit sind das Interesse

(interest), damit ist die Neigung oder der Antrieb eines Menschen gemeint sowie die

Einstellungen (attitudes). Diese stehen für die Bevorzugung eines bestimmten Gegen-

standes oder eines bestimmten Situationstypus. Ein letztes Merkmal einer kreativen Per-

son ist die Temperamentseigenschaft (temperamental qualities), welche die allgemeine

emotionale Verfassung des Menschen beschreibt.182

Nach Guilford (1952) weist die kreative Persönlichkeit folgende Merkmale auf:

1. Flüssigkeit (fluency);

2. Flexibilität (flexibility);

3. Originalität (originality);

4. Ausarbeitung (elaboration);

5. Problemsensitivität (sensitivity to problems);

6. Neudefinition (redefinition).

Die Faktoren Flüssigkeit, Flexibilität, Originalität und Elaboration sind in der

praktischen Kreativitätsforschung die wichtigsten Aspekte.183

Kreativität ist durch diese Merkmale nicht vollständig erfaßt und die Addition der Ein-

zelmerkmale ergibt auch nicht den kreativen Menschen.

180Vgl. Landau, (1984), S. 62f.181Vgl. Guilford, J.P. (1952), zitiert nach Landau, E. (1984), S. 15.182Vgl. Guilford, J.P. (1950), in: Mühle, G. / Schell, Ch. (1974), S. 14; Landau, E. (1984), S. 16.183Vgl. Preiser, S. (1976), S. 65; Seeboth, F.-H. (1973), S. 26.

51

Page 60: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Nach Ulmann (1970) wirken Kreative häufig kindlich, emotional unstabil, unreif und

einseitig in ihren Interessen. Kreative verdrängen ihre Impulse nicht, sondern sie leben

sie aus. Damit wirken sie in ihrem Verhalten abweichend von anderen.184

Aus dieser Definition ist zu entnehmen, daß kreative Persönlichkeiten hervorstechende,

einzigartige Merkmale und Fähigkeiten besitzen, die ähnlich herausragend auch bei hy-

peraktiven Kinder auftreten. Wie bei der Beschreibung der einzelnen Symptome der

Hyperaktivität in Kapitel 2.1 erläutert wurde, zeichnen sich hyperaktive Kinder durch

eine starke Impulsivität, Hyperaktivität und eine emotionale Labilität aus. Sie

benehmen sich außerordentlich infantil. Die Entwicklung ist oft verzögert und sie

machen für ihr Alter einen unreifen Eindruck.185

Außerdem können sich hyperaktive Kinder schlecht konzentrieren und verfügen nur

über eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Hyperaktive Kinder zeigen somit ebenfalls

ein einseitiges Interesse. Paradoxerweise sind manche Kinder jedoch fähig, eine sehr

lange Zeit mit einer selbstgewählten Tätigkeit zu verbringen, was eine gute Voraus-

setzung für kreative Leistungen sein kann.186

Die Ähnlichkeiten der Definitionen von kreativen Personen und hyperaktiven Kindern

deuten darauf hin, daß hyperaktive Kinder in bezug auf zahlreiche Eigenschaften einer

kreativen Persönlichkeit übereinstimmen.

Im folgenden werden die einzelnen Merkmale einer kreativen Persönlichkeit erläutert

und hypothetisch auf die Problematik der Hyperaktivität - sofern möglich - übertragen.

3.2.1 Flüssigkeit

Das Merkmal Flüssigkeit wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Generell wird

unter dieser Fähigkeit die Gesamtheit der Ideen bezeichnet, die in einem bestimmten

Zeitraum produziert werden.187

Kossolapow (1973) sieht in dem Merkmal Flüssigkeit "ein Repertoir von ähnlichen

Wendungen, Vorstellungen, Erfahrungsbereichen, bei denen es darauf ankommt, daß

sie auf Abruf da sind."188

Landau (1984) beschreibt diese Fähigkeit als Geläufigkeit und meint damit die Bega-

bung eines Menschen, sich in bestimmten Situationen zu erinnern, in Worten, Ideen und

Assoziationen, Stärken bzw. Ausdrücken. Damit sind verbale Fähigkeiten

angesprochen, die auch bei hyperaktiven Kindern gegeben sind, z.B. durch eine hohe

verbale Hyperaktivität.189 Des weiteren können bei hyperaktiven Kindern Ideengeläufig-

keit und Assoziationsflüssigkeit auf der motorischen Ebene festgestellt werden.

Hyperaktive Kinder wechseln schnell von einer Tätigkeit zur nächsten und haben einen

184Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 40.185Vgl. Calatin, A. (1992), S. 19.186Vgl. Laumann, A. (1989), S. 3.187Vgl. Sikora, J. (1976), S. 22.188Kossolapow, L. (1973), S. 197189Vgl. Landau, E. (1984), S. 25.

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Page 61: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

enormen Ideenreichtum. Durch ihre Art, Aufgaben auf ungewöhnliche Weise

anzugehen, werden viele Innovationen ermöglicht.190

Aus diesen Gründen kann generell abgeleitet werden, daß hyperaktive Kinder über eine

Ideengeläufigkeit verfügen, auch wenn sie anders ausgerichtet ist als bei verhal-

tensunauffälligen Kindern. Eine weitere Bestätigung findet diese Aussage darin, daß im

praktischen Bereich unter Ideengeläufigkeit ein häufiger Wechsel von einer Tätigkeit zu

einer anderen verstanden wird. Hyperaktive Kinder können sich schwer auf eine Sache

konzentrieren und wechseln häufig von einer Tätigkeit zur nächsten. Dabei zeigen sie

jedoch eine hohe Phantasievorstellung, die ebenfalls auf eine starke Ideengeläufigkeit

hindeutet.191

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß der Flüssigkeitsfaktor bzw. die

Ideengeläufigkeit bei hyperaktiven Kindern vorhanden ist, sowohl im verbalen als auch

im praktisch-motorischen Bereich. Die Möglichkeit einer Förderung liegt in der tätigen

Auseinandersetzung mit der Umwelt, damit das Kind sich von seiten der Umwelt

angenommen fühlt und so seine Persönlichkeit stabilisieren kann.192

3.2.2 Flexibilität

Der Faktor der Flexibilität kann als eine Fortsetzung bzw. Erweiterung der assoziativen

Fähigkeiten der Flüssigkeit gesehen werden. Flexibilität beinhaltet das Distanzieren von

Bekanntem und Vertrautem, das Überschreiten unterschiedlicher Vorstellungen, zugun-

sten von neuen, ungewöhnlichen Handlungen. Dabei ist im Gegensatz zum

quantitativen Aspekt der Geläufigkeit der qualitative Aspekt (die Verschiedenartigkeit)

bei der Flexibilität von besonderer Bedeutung.193

Landau (1984) definiert Flexibilität als Flüssigkeit der gespeicherten Information und

unterscheidet zum einen eine spontane Umschiebung der Informationsklassen und zum

anderen eine sich anpassende (adaptive) angemessene Zugangsmöglichkeit zu einem

Problem. Im Unterschied zur Ideengeläufigkeit wird mit dem Faktor der spontanen Fle-

xibilität nicht die Anzahl der aufgezählten Verwendungszwecke gemessen, sondern wie

oft eine neue Klasse von Verwendungsmöglichkeiten gefunden wird.194

Die Übertragung des Verhaltens hyperaktiver Kinder auf das Merkmal der spontanen

Flexibilität ist schwer. Hyperaktive Kinder neigen zwar aufgrund ihrer Impulsivität zu

Spontanreaktionen, aber es ist zweifelhaft, ob dabei eine Verschiebung der

Informationen vorgenommen wird, da sie meist ihrem ersten Impuls folgen, ohne über

ihre Handlungsweise nachzudenken. Dennoch verfügen hyperaktive Kinder über eine

hohe Spontaneität, die sich in ihrem extremen Bewegungsbedürfnis ausdrückt.195

190Vgl. Krause, J. (1995), S. 19.191Vgl. Eichlseder, W. (1992), S. 7. 192Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 29.193Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 20.194Vgl. Landau, E. (1984), S. 25f.195Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 22.

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Page 62: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Mit der sich anpassenden Flexibilität wird die Fähigkeit gekennzeichnet, sich den ver-

schiedenen Problemen anzupassen, sich unter einer Zielsetzung in seinen Gedankengän-

gen umzustellen, Informationen zu übertragen, um sie bestimmten Erfordernissen anzu-

passen.196

Der Aspekt der angepaßten Flexibilität ist bei hyperaktiven Kindern kaum zu erkennen,

sie können sich schlecht einer Situation anpassen und schlecht über eine längere Zeit-

spanne bei einer Tätigkeit verharren, um zu einem Ergebnis zu gelangen.197

Generell kann in bezug auf das hyperaktive Verhalten von Kindern kaum von einer

spontanen oder adaptiven Flexibilität gesprochen werden, wobei sie eher zu einer spon-

tanen Flexibilität neigen, die ihrer Natur Folge leistet.

Die Förderung von Flexibilität sollte sich nach Kossolapow (1973) nicht nur auf den

verbalen Bereich beziehen, da so die Sprachkompetenz der Erwachsenen zu einer Stär-

kung seiner Position führt (durch eine bessere verbale Ausdrucksfähigkeit), sondern vor

allem durch den Umgang mit verschiedenen Materialien auf einer anschaulich-

handgreiflichen Ebene manifestiert werden. Dies wird in dem folgenden Zitat

verdeutlicht:

"Zu fördern wäre das Hantieren mit den Gegenständen über längere Zeit hin (Materialvertrautheit), die Unterstützung von Neugier- und

Entdecker- verhalten (Erweiterung des Fragehorizonts), der kollektive Erfahrungsaus-tausch über eine Sache (gruppaler Lernprozeß)."198

Durch diese Möglichkeit der Förderung bekommen hyperaktive Kinder die Chance,

sich erstens länger auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren und somit ihre

Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen und ihre Impulsivität und motorische Unruhe zu

hemmen. Zweitens haben sie durch die Unterstützung von Neugier- und

Explorationsverhalten die Gelegenheit, ihre Hyperaktivität zu nutzen, um ihren

Horizont zu erweitern. Dies kann zu einer besseren Integration des Kindes in eine

soziale Gruppe führen, mit dem Ergebnis einer positiven Peer-Beziehung, in der das

Kind von anderen akzeptiert und integriert wird und seine Außenseiterposition

verlassen kann. Dies führt als Konsequenz zu einer Steigerung des beeinträchtigten

Selbstwertgefühls (vgl. Kapitel 2.4).

3.2.3 Originalität

Originalität ist die Fähigkeit, viele ungewöhnliche und ausgefallene Lösungsansätze

und Ideen zu produzieren. Landau (1984) bezeichnet Originalität als die Bereitschaft

eines Individuums, bestimmte Dinge anders zu betrachten.199

196Vgl. Preiser, S. (1976), S. 62.197Vgl. Wender, P. (1991), S. 12.198Kossolapow, L. (1973), S. 199199Vgl. Landau, E. (1984), S. 25.

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Page 63: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Diese Fähigkeit kann bei hyperaktiven Kindern sehr ausgeprägt sein, da für sie viele

Dinge eine andere Bedeutung haben. Nach Kossolapow (1973) sind besonders Kinder

in ihrem Verhalten und in ihrem Denken originell, da sie eine große Anzahl

ungewöhnlicher ausgefallener Ideen haben.200

In bezug auf eine Förderung der Originalität muß dabei zunächst geklärt werden, wel-

ches Verhalten für das einzelne Kind normal ist und wie sich das, was als originell be-

zeichnet wird, zur Sozialbasis des Kindes und zu seinem Selbstverständnis verhält.

"Will man kindliche Originalität als eigenständige Qualität begünstigen, so sollte man möglichst zurückhaltend mit gleichschaltenden Normierungen sein, damit der offene Frage- und Verhaltenshorizont des Kindes bis zu einer gewissen Ich-Stabilität erhalten bleibt."201

Für die Förderung der Originalität bei hyperaktiven Kindern bedeutet dies, daß die Er-

zieher, vor allem die Eltern, den Kindern mehr Freiheit lassen und sie dadurch vor

einem konformen Denken und Handeln bewahren. Die Eltern und Erzieher sollen die

hyperaktiven Kinder in ihrer Eigenart und Originalität akzeptieren. Als Folge fühlen

sich die Kinder angenommen. Sie bewerten sich selbst positiv, was zu einer Sta-

bilisierung ihres Selbstwertgefühls führt.202

3.2.4 Elaboration

Eine weitere Fähigkeit der kreativen Persönlichkeit ist die Elaboration. Landau (1984)

definiert sie als die Fähigkeit, die den Aufbau einer Struktur nach vorhandenen

Informationen ermöglicht. Das bedeutet, daß jede Idee einer sorgfältigen und genauen

Ausarbeitung bedarf, um zu einer konkreten Durchführung überzugehen, die einzelnen

Aspekte des kreativen Produktes weiterzuentwickeln und anschließend zu einem

Ergebnis zu gelangen.203 Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Durchhaltevermögen et-

was herauszufinden, das den Charakter eines Produktes beinhaltet. Die Elaboration

bietet Anregungen für bildliche, sprachliche und motorische Aktivität. Für hyperaktive

Kinder beinhaltet diese Fähigkeit große Schwierigkeiten, da sie erhebliche Probleme in

der Motorik, besonders in der Feinmotorik haben. Des weiteren sind bei ihnen

überschießende Bewegungen in der Grobmotorik vorhanden. Ein anderer

Störmechanismus der Elaborationsfähigkeit bei hyperaktiven Kindern liegt in der

mangelhaften Konzentrationsfähigkeit und in der starken Ablenkbarkeit.204

Die Fähigkeit der Elaboration wird besonders dann gestört, wenn eine geringe Motiva-

tion zur Tätigkeit vorhanden ist.205

200Vgl. Kossolapow, L. (1973), S. 203.201Ebenda, S. 204202Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 84f.203Vgl. Landau, E. (1984), S. 25.204Vgl. Wender, P. (1991), S. 11.205Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 35.

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Die bildlichen, sprachlichen und motorischen Anregungen stellen aus diesen Gründen

für hyperaktive Kinder keine günstige Ausgangsbasis dar. Dennoch kann die

Elaborationsfähigkeit auch im sozialen Kontext angeregt werden. Dabei "sollten die

Kinder Rollen und Funktionen als veränderlich erkennen, ihre Kindergartenwelt von

den Beteiligten her relativieren, über den umfassenderen Bereich der Gesellschaft

nachdenken lernen und von da her motiviert werden, über die eigene Umwelt als

Konzeption, die so und anders sein kann, sich ein Bild zu machen."206

Für das hyperaktive Kind kann die Folge der Elaboration eine aktive

Auseinandersetzung - durch Bewußtseinsbildung und Veränderungsstrategien - mit sich

selbst und seiner Umwelt sein. Hierdurch kann es zu einer gestärkten Ichposition in der

Interaktion mit seinem Umfeld gelangen. Eine wichtige Voraussetzung ist dafür, daß

dem hyperaktiven Kind in der Kreativitätsförderung solche Ziele, Sachaspekte und

Probleme angeboten werden, die es aufgrund seiner Fähigkeiten erfassen kann, so daß

es nicht durch eine Überforderung und den entstehenden Druck in seinem hyperaktiven

Verhalten verharrt und in Unsachlichkeiten, z.B. Clownerie verfällt. Ein weiteres Ziel

innerhalb einer Kreativitätsförderung ist nach Seeboth (1973) die Hinführung des

Kindes zu einer intensiven Auseinandersetzung mit einem anderen (Gegenüber), bei

dem ein Ausgleich zwischen der eigenen Aktivität und dem Unterordnen unter die

Aktivität der anderen erfolgen soll, d.h. es findet eine aktive Interaktion statt.207

3.2.5 Problemsensitivität

Die Sensitivität für Probleme ist eine wichtige Voraussetzung für die kreativen Leistun-

gen innerhalb einer Situation. Landau (1984) beschreibt Sensitivität als die Fähigkeit

eines Individuums, Probleme zu erkennen sowie eine Offenheit der Umwelt

gegenüber.208 Dabei sind Umwelterleben und Problemsensitivität abhängig von dem

intellektuellen Leistungsvermögen. Die Intelligenzleistungen bei hyperaktiven Kindern

sind in der Regel durchschnittlich, in Einzelfällen sogar überdurchschnittlich.209 Dadurch

kann auf eine hohe Problemsensitivität geschlossen werden. Dennoch steht bei

hyperaktiven Kindern die Schwierigkeit im Vordergrund, Wünsche und Bedürfnisse

anderer wahrzunehmen und sensibel auf ihre Umwelt einzugehen.210 Die Förderung

einer verbesserten Wahrnehmung der kindlichen Umwelt und der Sensitivität für

Probleme liegt in einem gleichberechtigten Sozialkontakt zwischen dem Erzieher und

dem hyperaktiven Kind.

"Wenn das Kind erfährt, daß auch der Erwachsene nicht alles weiß, daß er seinerseits um Orientierung zur Problemerfassung und -lösung bemüht ist,

206Kossolapow, L. (1973), S. 202207Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 36.208Vgl. Landau, E. (1984), S. 25.209Vgl. Wender, P. (1991), S. 17.210Vgl. Calatin, A. (1992), S. 17f.

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Page 65: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

läßt sich über den Sozialkontakt gemeinsamer Bemühungen leicht ein Lernfeld aufbauen, bei dem der Erzieher durchaus nicht immer der Gebende ist."211

3.2.6 Neudefinition

Nach Landau (1984) ist Neudefinition die Fähigkeit der kreativen Person, ein Objekt

oder ein Teil davon anders als zuvor zu interpretieren und es dadurch zu einem neuen

Zweck zu verwenden.212

Kossolapow (1973) sieht vor allem bei Kindern günstige Voraussetzungen, die Redefi-

nitionsfähigkeit zu üben und zu entwickeln, da ihre Experimentierfreude noch

ursprünglich vorhanden ist, da sie weniger von Konventionen reguliert werden als

Erwachsene.213

Hyperaktive Kinder weisen ebenfalls eine starke Experimentierfreude auf. Aber es

mangelt ihnen an Durchhaltevermögen und Konzentrationsfähigkeit. Durch ihre

überschießende Aktivität können sie sich nicht auf ein bestimmtes Ziel konzentrieren

und bleiben wahrscheinlich im Prozeß des Neudefinierens stecken bzw. weichen von

ihren gesteckten Ziele aufgrund ihrer Konzentrationsschwäche ab. Diese Aussage wird

von Walters (1991) unterstützt. Für sie kann das hyperaktive Kind das Gesagte aus

seiner Umgebung nicht erfassen, wenn es zu viel ist; die Aufnahmekapazität des

Gehirns ist blockiert, so daß die Anforderungen seitens der Umgebung nicht erfüllt

werden kann.214 Dies wird in der Abbildung 7 veranschaulicht.

Walters (1991) geht davon aus, daß jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, Informationen

aus der Umwelt über einen bestimmten "Kanal" aufzunehmen, der die Informationen

filtert und verarbeitet, mit dem Ziel unwichtige Informationen von wichtigen

Informationen zu trennen, damit nur die wichtigen in das Bewußtsein gelangen und im

Gehirn gespeichert werden. Somit ist der Kontakt zur Umwelt hergestellt. Bei

hyperaktiven Kindern ist nach Walters (1991) dieser "Kanal" zu eng und somit kann

nur eine sehr geringe Menge an Information aufgenommen werden. Jede zusätzliche

Information bedeutet eine Belastung für das Kind. Die Reaktionen des hyperaktiven

Kindes sind sehr unterschiedlich. So kann es zum einen zu einer Erregung kommen, mit

der Folge, daß es wie getrieben herumrennt, zum anderen kann es in einen pani-

kähnlichen Zustand gelangen, der das Kind handlungsunfähig macht. Beides führt zu

einer psychischen Ermüdung, die nun wiederum den "Kanal" weiter einengt.215

Die Folge ist ein zunehmendes Desinteresse. Das Kind ist nicht mehr in der Lage, die

günstigste Lösung in bezug auf ein Problem zu bedenken, sondern es wird sich für die

erste beste ihm angebotene Lösung entscheiden. Die Folgen sind falsche Reaktionen,

211Kossolapow, L. (1973), S. 204212Vgl. Landau, E. (1984), S. 25.213Vgl. Kossolapow, L. (1973), S. 200.214Vgl. Walters, U. (1991), S. 24.215Vgl. Ebenda, S. 24.

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Page 66: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

die schnell zu Frustration und Überforderung führen. Hyperaktive Kinder können die

einmal in falsche Bahnen gelenkte Tätigkeit nicht mehr schnell genug verändern und

halten so an den gewohnten Abläufen fest. Dadurch fällt es ihnen schwer, Fehler zu

vermeiden und falsche Handlungen zu korrigieren. Dennoch geben hyperaktive Kinder

in den meisten Fällen nicht auf, sie fangen trotz ständiger Niederlagen und Fehlschläge

von vorne an, überwinden sich selbst immer wieder ohne zu verzagen. 216

Abb. 7: Typische Reaktionen hyperaktiver Kinder auf Umweltreize.

[Quelle: Walters, U. (1991), S. 25.]

Für die Förderung der Fähigkeit der Redefiniton muß das hyperaktive Kind zunächst

motiviert werden, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Ebenso muß das Ziel selbst eine

216Vgl. Walters, U. (1991), S. 24.

58

Page 67: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

ausreichende Anziehungskraft auf das Kind ausüben, so daß ein starkes Interesse

besteht. Dadurch wird das hyperaktive Kind zu einer hohen Durchhalte- und

Konzentrationsfähigkeit motiviert.217

Kossolapow (1973) beschreibt für die Redefinition im Rahmen eines allgemeinen

Kreativitätspotentials drei wichtige Voraussetzungen: Zum einen sollte der Erzieher den

Kindern viel abwechslungsreiches Material in die Hand geben, die in einen neuen

Zusammenhang gebracht werden und somit wieder benutzt werden können. Als zweites

betont sie die Vermittlung der Erfahrung, "daß Gebrauch und Beurteilung von Sachen

und Situationen auf der Übereinkunft der Menschen innerhalb eines Kulturkreises unter

Berücksichtigung tragender Sozialstrukturen beruht und konventionelle Bestimmungen

und Handlungen deshalb einer Veränderung unterworfen werden können."218

Die dritte Voraussetzung zur Förderung der Redefinitionsfähigkeit bezieht sich auf die

Erzieherperson. Seine Aufgabe besteht darin, sich selbst zurückzunehmen, "indem er

seine Autorität nicht dazu gebraucht, tradierte (überlieferte) Sichtweisen zu verabsolu-

tieren und dadurch das Kind von vorgegebenen Normvorstellungen abhängig zu ma-

chen."219

Die zuvor genannten Merkmale der kreativen Persönlichkeit stellen kognitive Faktoren

der Kreativität dar. Neben diesen Faktoren erläutert Kossolapow (1973) emotionale

Kennzeichen einer kreativen Persönlichkeit, wobei diese nicht von den kognitiven zu

trennen sind. Zu den emotionalen Faktoren gehören:

1. Selbstsicherheit - Selbstaktualisierung;

2. Nonkonformität und Spontaneität;

3. Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen.220

1. Selbstsicherheit - Selbstaktualisierung

Mit Selbstsicherheit ist die Steigerung der Ausdrucksfähigkeit durch das Zutrauen zu

sich selbst gemeint. Das bedeutet, daß die Selbstfindung als Voraussetzung zur

Entwicklung von Ich-Stabilität gilt und der Entwicklung von Widerstandspotentialen.

"Für das Kind, das zum guten Teil Produkt seiner Umwelt, der Sozialer-fahrungen, die es gemacht hat, sein dürfte, kommt viel darauf an, in einer durch Arbeitsprozesse und Freizeitregulierung 'gleichgeschalteten' Umge-bung abweichende Verhaltensmuster kennenzulernen und einzuüben. Ab- wehr nicht um jeden Preis, wohl aber als kritisches In-Frage-

Stellen sonst fraglos akzeptierter Denkschemata und Praktiken."221

217Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 40.218Kossolapow, L. (1973), S. 200219Ebenda, S. 200f220Vgl. Ebenda, 207ff.221Ebenda, S. 207

59

Page 68: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die Aufgabe des Erziehers besteht darin, dem Vorschulkind Verstärkungen zu geben,

da eine positive Selbsteinschätzung eine wichtige Voraussetzung der kreativen

Leistungen ist. Die Stabilisierung des Selbstbewußtseins und die Selbstsicherheit sind

von unterschiedlichen Situationen und personellen Bedingungen abhängig. Dabei hat

der Erzieher die Aufgabe, das Kind in seinen positiven Eigenschaften zu stärken und

trotzdem eine Verabsolutierung der eigenen Möglichkeiten durch Relativierung in

bezug auf die Gruppe und die Gesellschaft zu vermeiden.222

Bei hyperaktiven Kindern spielt die Stabilisierung des Selbstbewußtseins ein besondere

Rolle, da sie aufgrund der erfahrenen Ablehnung durch die Umwelt regelmäßig wenig

Selbstbewußtsein entwickelt haben. Hierbei kommt dem Erzieher die Aufgabe zu, das

Kind zu unterstützen, indem dieser positives Verhalten verstärkt und dem Kind Erfolgs-

erlebnisse vermittelt.223

2. Nonkonformität und Spontaneität

Ein weiterer affektiver Faktor der kreativen Persönlichkeit ist die Nonkonformität, die

beinhaltet, daß das Kind nicht alles praktiziert, was andere Kinder machen. Das Kind

hat folglich den Mut, Nein zu sagen und sich seiner Umgebung nicht anzupassen. Nur

so kann das Kind neuartige, spontane und unerwartete Ideen entwickeln. Unter

Spontaneität wird das unmittelbar sein verstanden, was bedeutet, daß das Kind sich

jederzeit unangepaßt und expressiv verhalten kann.224

Hyperaktive Kinder handeln oft nonkonform. Sie agieren, ohne jegliche Folgen zu

überdenken, respektieren nicht das Eigentum anderen Mitmenschen und halten sich

nicht an Vereinbarungen.225 Jedoch führt dieses nonkonforme Verhalten nicht unbedingt

zu kreativen Leistungen. In diesem Zusammenhang muß das hyperaktive Kind zunächst

einmal die Komplexität der Innen- und der Außenwelt erfahren, da sein scheinbares

Nichtfestgelegtsein in Beziehung zu einem Mangel an verbindlichen Interpretationen

und Wertvorstellungen steht. Durch das wiederholte Einüben erprobter sozialer

Verhaltensweisen im Rollen- oder Planspiel kann der Handlungsspielraum des Kindes

zur Mitgestaltung von Wirklichkeit erweitert werden.226

3. Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen

Die vorhandene Aktivität wird durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt mit

Schwierigkeiten konfrontiert. Die lebhaften Aktivitäten des Kindes stoßen auf Sanktio-

nen und Strafen. Die Folge sind kognitive Diskrepanzen, Konflikte und Frustrationen.

Daher muß das Kind lernen, diese Frustrationen zu ertragen, ohne zu resignieren.227 222Vgl. Kossolapow, L. (1973), S. 213.223Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 98.224Vgl. Kossolapow, L. (1973), S. 213f.225Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 99f.226Vgl. Kossolapow, L. (1973), S. 214.227Vgl. Preiser, S. (1976), S. 70.

60

Page 69: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Mit Frustrationstoleranz wird die Fähigkeit beschrieben, Unsicherheitsgefühle,

Spannungen, Mehrdeutigkeiten und Konflikte im Problemlöseprozeß zu ertragen, die

sich dem Kind aus seinen Wahrnehmungen oder Handlungen stellen. Tritt zu der

Frustrationstoleranz psychisches oder physisches Durchhaltevermögen hinzu, bleibt der

Erfolg der kreativen Produktivität nicht aus.228

Besonders bei der Förderung hyperaktiver Kinder ist die Erhöhung der

Frustrationstoleranz ein wichtiges Ziel, da sie unter einer niedrigen Frustrationstoleranz

leiden. Dem hyperaktiven Kind kann dadurch geholfen werden, indem es Erfolg erfährt.

Dadurch wird sein Selbstbewußtsein gestärkt und das Kind lernt, Widerstände zu

überwinden. Es erfährt, daß es nicht gleich verzweifeln muß, wenn ihm etwas mißlingt.

Durch die positive Einstellung zu sich selbst und zu seinen Handlungen werden

Frustrationen besser toleriert.229 Wenn für das Kind die eigenen Handlungen verständlich

sind und, wenn es sein Problem genau definiert hat, ist es möglicherweise auch in der

Lage, ausdauernd an einer Lösung zu arbeiten.230

Kinder, die sich durch die oben genannten Verhaltensmerkmale und Fähigkeiten aus-

zeichnen, werden oft als unbequem angesehen. Ihr Verhalten weicht von der

allgemeinen Norm ab. Dennoch ist es gerade dieses Verhalten, das es ihnen ermöglicht,

kreativ zu sein.231

Hyperaktive Kinder besitzen ebenfalls Merkmale und Fähigkeiten einer kreativen

Persönlichkeit. Individuelle Unterschiede liegen dabei in der Fähigkeit des Kindes,

entfernte oder nahe Assoziationen hervorzubringen.

Bisher liegen lediglich wenige Untersuchungen vor, die den Zusammenhang zwischen

Hyperaktivität und Kreativität untersuchen. Shaw (1992) vergleicht eine Gruppe hyper-

aktiver Kinder mit einer entsprechenden Kontrollgruppe, bezüglich ihrer Antworten in

speziellen psychologischen Tests und Aufgaben. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die

hyperaktiven Kinder eine höhere Kreativität in bezug auf figurales Denken aufweisen

als die Kontrollgruppe. Des weiteren stellt er fest, daß die Gruppe der hyperaktiven

Kinder mehr geistige Bilder und Vorstellungen beim Problemlösen zeigt. Diese höheren

Kreativitätsscores treten ebenfalls bei kreativen Kindern auf.232

Eine weitere Studie führt Cramond (1994) an 34 hyperaktive Kinder (acht Mädchen

und 26 Jungen) im Alter von sechs bis acht Jahren unter Verwendung der Torrance

Tests of Creative Thinking--Figural Form A (TTCT; Torrance, 1962) durch. Dabei

zeigen die hyperaktiven Kinder insgesamt Werte nahe dem allgemeinen

228Vgl. Kossolapow, L. (1973), S. 215.229Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 22.230Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 43.231Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 21.232Vgl. Shaw, G.A (1992), zitiert nach Cramond, B. (1994), S. 4.

61

Page 70: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Testdurchschnitt. Außerdem erzielen die hyperaktiven Kinder in bezug auf die

Elaborationsfähigkeit Punktwerte, die mehr als eine Standardabweichung über dem

Testmittel liegen. Als weiteres Ergebnis dieser Studie stellt Cramond (1994) fest, daß

sich 11 (32%) der 34 am Test teilnehmenden hyperaktiven Kinder durch einen hohen

Testwert für ein Torrance Creativ Scholars Program in Louisiana qualifizieren.233

3.3 Der kreative Prozeß

Kreativität ist durch eine Dynamik gekennzeichnet, einen Prozeß, der sich entwickelt

und entfaltet. Allen kreativen Prozessen liegt eine gemeinsame Fähigkeit zugrunde: Die

Fähigkeit, Beziehungen zwischen Erfahrungen herzustellen, die sich in der Form neuer

Denkschemata als neue Erfahrungen, Ideen oder Produkte ergeben.234

Jeder kreative Prozeß ist als Problemlöseprozeß zu beschreiben, da frühere Erfahrungen

zur Problemlösung in neuen Verhaltensweisen umgeformt werden. Kreative Prozesse

lassen sich somit nur bei der Herstellung eines Produktes oder am Produkt selbst beob-

achten.235

In der Literatur sind bisher keine Untersuchungen zu den Prozeßabläufen bei hyperakti-

ven Kindern durchgeführt worden. Es ist jedoch anzunehmen, daß die kreativen

Prozesse bei hyperaktiven Kindern aufgrund ihrer niedrigen Aufmerksamkeitsspanne

und Konzentrationsfähigkeit schneller gestört werden können, als bei

verhaltensunauffälligen Kindern.

3.3.1 Voraussetzungen zum kreativen Prozeß

Als Voraussetzungen zum kreativen Prozeß können drei Bedingungen und Aspekte un-

terschieden werden. Dabei ist zu beachten, ob die Voraussetzungen für kreative

Prozesse von hyperaktiven Kindern erfüllt werden können und welche Hilfestellungen

der Erzieher zur Stärkung kreativer Prozesse geben kann. Zunächst ist es von

besonderer Bedeutung, die Motivation, die Zielsetzung und das Problem selbst

festzustellen und festzulegen.236

Auf die Problematik des hyperaktiven Kindes übertragen bedeutet dies, daß das Ziel für

die Kinder ansprechend sein muß und aus ihrem Interessens- und Erfahrungsbereichen

stammt. Die Problemstellung sollte daher nicht zu komplex, sondern eher greifbar und

konkret ausgerichtet sein. Durch die faßbaren Ziele ist das Kind in der Lage, konkrete

Handlungen auszuführen und es kann folglich einen kreativen Prozeß durchlaufen. Um

diese Zielvorstellungen zu unterstützen, sind Lob und Anerkennung des Erziehers von

enormer Wichtigkeit, die das hyperaktive Kind zu einer Weiterführung des Problemlö-

sens motivieren. Als weitere Voraussetzung des kreativen Prozesses kann die Beseiti-

gung von störenden Nebenzielen angesehen werden. Eine störende Einflußnahme von 233Vgl. Cramond, B. (1994), S. 7f.234Vgl. Landau, E. (1984), S. 14.235Vgl. Ebenda, S. 17.236Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 44.

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Page 71: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Nebenzielen während des kreativen Prozesses ist häufig gegeben und nicht vermeidbar.

Die Aufgabe des Erziehers besteht erstens darin, dem Kind die Möglichkeit zu geben,

sein Ziel ungestört zu verfolgen, ohne Änderungen oder Unterbrechungen durch die

Umgebung. Das kann durch eine angemessene Zielsetzung und Zielprägnanz sowie

durch Hilfen zur Verstärkung der Ausdauer und Konzentration gewährleistet werden.237

Hyperaktive Kinder verfügen über eine kurze Aufmerksamkeits- und Konzentrations-

spanne. Daher sollten die Ziele möglichst kurz gesteckt werden, so daß sie für Kinder

schneller erreichbar sind und sie nicht in irgendeiner Phase des kreativen Prozesses

steckenbleiben. Der Erzieher hat die Aufgabe, die Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und

Konzentration des Kindes richtig abzuschätzen, damit es nicht überfordert wird und

nicht die Gefahr des Abgleitens auf Nebenziele entsteht.

Bei einigen Kindern wurde die Hyperaktivität aufgrund einer Unterforderung

festgestellt, mit der Folge, daß ihnen keine Problemlösungen zugetraut werden. Der

Erzieher muß deshalb individuell für jedes Kind die Zielsetzung festlegen.238

Eine weitere Voraussetzung zum kreativen Prozeß ist ein bestimmtes Maß an Beweg-

lichkeit zur Zielverfolgung und zum Sich-Einspielen auf das Ziel.239 Bei hyperaktiven

Kindern liegt eine starke Beweglichkeit im motorischen Bereich vor, die die Gefahr

beinhaltet, das Einspielen auf ein Ziel zu hemmen bzw. zu verhindern. Bei ihnen

mangelt es an einer Steuerung ihrer Aktivität, sie handeln nach ihrem ersten Impuls und

bleiben so wahrscheinlich bei Nebenaspekten des Zieles stecken.240

Der Erzieher achtet deshalb darauf, die Hypermotorik des Kindes zu kanalisieren und

sie zu einer bestimmten Zielsetzung zu lenken. Dem Kind muß Spielmaterial geboten

werden, das der Phantasie freien Spielraum läßt.241

3.3.2 Die Phasen des kreativen Prozesses

Die erste vollständige Einteilung des kreativen Prozesses in fünf logisch voneinander

unterscheidbare Phasen stammt von Dewey (1910):

1. Man begegnet einer Schwierigkeit;

2. Sie wird lokalisiert und präzisiert;

3. Man findet den Ansatz einer möglichen Lösung;

4. Man entwickelt die Konsequenzen dieses Ansatzes logisch weiter;

5. Durch Beobachtungen und experimentelle Vorgehen gelangt man zur Annahme oder

Ablehnung.242

Diese Aufteilung wird heute annähernd beibehalten und als die grundsätzlichen

Denkprozesse eines jeden kreativen Prozesses angesehen. Die bekannteste

237Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 45.238Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 99.239Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 46.240Vgl. Wagner, I. (1994) , in: Czerwenka, K. (1994), S. 19.241Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 46.242Vgl. Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 144.

63

Page 72: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Phaseneinteilung des kreativen Prozesses stammt von Poincaré (1913), die 1926 von

Wallace übernommen wurde und der Einteilung von Dewey (1910) sehr ähnlich ist.

Die Einteilung vollzieht sich in vier unterschiedliche Phasen:

1. Die Vorbereitungsphase;

2. die Inkubationsphase;

3. die Illuminationsphase;

4. die Verifikationsphase.243

Jede dieser vier Phasen versetzt das Individuum in einen bestimmten psychischen Zu-

stand, der in der ersten Phase als Spannung, dann als Frustration, später als Freude und

in der letzten Phase als Konzentration erlebt wird. Jedem kreativen Prozeß muß eine

Auseinandersetzung zwischen Person und Umwelt vorausgehen. Umgekehrt führt eine

aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt fast automatisch zu kreativen Wahrnehmun-

gen und kreativen Handlungen.244

Diese vorkreative Phase wird in das Phasenmodell von Preiser (1976), Abbildung 8, in-

tegriert.

3.3.2.1 Die Vorbereitungsphase

In der Vorbereitungsphase findet der auslösende Anstoß zum kreativen Prozeß statt, der

meist in einem bestimmten Problem besteht. Ein Problem kann als ein solches beschrie-

ben werden, wenn ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll, für das bisher keine

Lösungsschemata zur Verfügung stehen. Es kann folglich bei der Problemlösung nicht

auf bekannte, spezifische Verfahren, Techniken oder Operationen zurückgegriffen

werden.245

In der Vorbereitungsphase wird das Problem wahrgenommen und es werden aus der

Umwelt und aus dem Gedächtnisspeicher Informationen gesammelt, die das Problem

betreffen. Die Problemwahrnehmung ist die Folge einer aktiven unvoreingenommenen

Auseinandersetzung mit der Umwelt und den eigenen Bedürfnissen. Dabei werden, wie

aus Abb. 8 ersichtlich wird, innere und äußere Probleme berücksichtigt. Die inneren

Probleme beinhalten Spannungszustände, Motive oder Bedürfnisse des Individuums.

Äußere Probleme entstehen durch theoretische Widersprüche, kognitive Dissonanzen

oder durch gesellschaftliche Bedürfnisse und vorgegebene Aufgaben.246

Bei den Vorgängen innerhalb der Vorbereitungsphase findet keine normierende oder

klassifizierende Kontrolle statt, die Information kann deshalb als Rohmaterial

bezeichnet werden, welches ungehindert gesammelt werden kann.247

243Vgl. Landau, E. (1984), S. 64.244Vgl. Preiser, S. (1976), S. 43. 245Vgl. Landau, E. (1984), S. 64.246Vgl. Preiser, S. (1976), S. 43.247Vgl. Eisler-Stehrenberger, K. (1990), in: Petzold, H. / Orth, I. (1990), S. 148.

64

Page 73: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die Dauer der Vorbereitungsphase ist abhängig von der Art des Problems, vom Wissen

über das Problem und von individuellen Gewohnheiten.

Abb. 8: Der Prozeß des kreativen Problemlösens als Auseinandersetzung eines Individuums mit einem neuartigen Problem.

[Quelle: Preiser, S. (1976), S. 44.]

65

Page 74: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

3.3.2.2 Die Inkubationsphase

Die Inkubationsphase ist die Zeitspanne des kreativen Prozesses, in der die

gesammelten Informationen und die analysierten Problemaspekte aus der

Vorbereitungsphase in Beziehung zueinander gesetzt werden, wobei verschiedene

Kombinationen probeweise durchgespielt werden. In der Inkubationsphase kann ein

rational-organisierter und ein inspirativ-unbewußter Zugang unterschieden werden. Bei

dem organisierten Zugang werden nach rationalen Überlegungen bewußt

Problemassoziationen hergestellt und Alternativen gegeneinander abgewogen. Dabei

kommt es zu einer Hypothesenbildung.248

Bei dem inspirierten Zugang vollziehen sich die Assoziationen im Unbewußten. Sie

werden kombiniert, erweitert und umgestellt. Die Zeit der Inkubationsphase ist für das

Individuum eine unruhige und frustrierende Zeit, die oft von Min-

derwertigkeitsgefühlen begleitet wird. Das Individuum muß eine hohe

Frustrationstoleranz besitzen, um das Ziel im kreativen Prozeß weiter zu verfolgen und

nicht auf Nebenaspekte oder Nebenziele abzugleiten.249

"Es kommt allerdings zu keinem chaotischen, rein triebbestimmten Durch-einander von Ideenaspekten; vielmehr erleichtert eine "Regression im Dienste des Ich" (Kris 1952) ein problembezogenes, aber lockeres und damit unvoreingenommenes Herumspielen mit Informationen, Problem-aspekten und Gedankenverknüpfungen (Assoziationen)."250

3.3.2.3 Die Illuminationsphase

Die Inkubationsphase endet oft mit einem schlagartigen Einfall (Illumination), der vom

Individuum als erleichternde Lösung des Problems aufgenommen wird. Dabei ist

gleichzeitig eine Distanzierung von dem gefundenen Einfall nötig, um klarer

formulieren und kommunizieren zu können. In der Illumationsphase werden die

verschiedenen Einfälle geordnet. Das ermöglicht eine Integration der relevanten

Informationen und gleichzeitig eine Lösung des Problems. Die Erfahrungen in dieser

Phase sind meist von starken Gefühlen begleitet, so daß häufig eine Verdrängung oder

Hemmung stattfindet. Charakteristische Bezeichnungen für die Illuminationsphase sind

Einsicht, Aha-Erlebnis, plötzliche Reorganisation oder Heureka-Erlebnis.251

3.3.2.4 Die Verifikationsphase

In der Verifikationsphase des kreativen Prozesses wird die neue Einsicht in die Realität

umgesetzt, die von einer kritischen Auseinandersetzung und Beurteilung des Neuen in

der Umgebung begleitet wird. Nicht jeder neue Einfall stellt eine ideale Problemlösung

dar. Aus diesem Grunde muß er auf seine Brauchbarkeit und Durchführbarkeit 248Vgl. Preiser, S. (1976), S. 45.249Vgl. Landau, E. (1984), S. 69.250Preiser, S. (1976), S. 45251Vgl. Ebenda, S. 46.

66

Page 75: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

überprüft werden. Das Individuum, muß deshalb prüfen, ob eine Lösungsmöglichkeit

für seine Erfahrungswelt oder für seine Kultur neu ist, ob sie dem Problem angemessen

ist und ob sie die eigene Erfahrungswelt des kreativen Individuums oder der Kultur

erweitert.252

In der abschließenden Phase des kreativen Prozesses zeigt sich, wie hoch die Ausdauer

und der Einsatz sowie die Fähigkeiten und Fertigkeiten einer kreativen Person sind. Die

Schwierigkeiten dieser Phase liegen darin, das Neue kommunizierbar zu machen. Das

kreative Produkt bekommt seine Bewährung und Anerkennung nicht nur durch das Um-

setzen in die Praxis, sondern ist ebenfalls der Kritik der Umwelt ausgesetzt. Die neue

Einsicht wird daher erst dann zur Kommunikation freigegeben, wenn die individuelle

Bewertung und die Reaktionen der Umwelt positiv sind. Für die Kultur und ihren Fort-

schritt ist eine angemessene kreative Kommunikation von besonderer Bedeutung. Die

Verifikation einer Idee kann teilweise zu einer Verwerfung oder Modifikation führen.253

Bei hyperaktiven Kindern können einige dieser Phasen in einem kreativen Prozeß vor-

handen sein. Problematisch wird es in der Inkubationsphase, in der es häufig zu Frustra-

tionen und in Folge zu Minderwertigkeitsgefühlen kommt. Hyperaktive Kinder haben

eine niedrige Frustrationstoleranz, weshalb sie häufig zu Ausbrüchen neigen.254

Als Folge daraus können die Kinder ihr weiteres Ziel nicht verfolgen und bleiben in der

Inkubationsphase stecken.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich in der Verifikationsphase, da die hyperaktiven

Kinder nicht in der Lage sind, ihre eigenen Ideen erneut zu überdenken und sie in eine

kommunizierbare und diskutierbare Form zu bringen. Hyperaktive Kinder sind nur

selten in der Lage Selbstkritik oder Sachkritik auszuüben.255

Es kann somit möglich sein, daß hyperaktive Kinder mit dem erreichen der Illuminati-

onsphase, mit dem Aha-Erlebnis zufrieden sind.

3.4 Das kreative Produkt

Die anerkannteste Definition des kreativen Produktes kommt von Ghiselin (1958). Da-

nach ist das Produkt "die erstmalige Formgebung eines Bedeutungsuniversums, der

Ausdruck davon, wie das Individuum seine Welt und sich selber versteht."256

Das kreative Produkt wird nach Ghiselin (1958) somit an dem Ausmaß gemessen, in

dem kreative Leistungen das jeweilige Bedeutungsuniversum umstrukturieren. Das am

häufigsten in der Literatur benannte Kriterium für die Beurteilung eines kreativen Pro-

duktes ist die Neuartigkeit (im einer bestimmten Situation und einem bestimmten Sy-

252Vgl. Landau, E. (1984), S. 69f.253Vgl. Preiser S. (1976), S. 47.254Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 21.255Vgl. Hartmann, J. (1994), S. 24.256Ghiselin, B. (1958), zitiert nach Landau, E. (1984), S. 18

67

Page 76: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

stem) und seine Sinnhaftigkeit (Angemessenheit und Realitätsbezogenheit).

Neuartigkeit kann in diesem Zusammenhang sowohl auf einen bestimmten Kulturkreis,

als auch auf die Erfahrungswelt einer Person bezogen sein.257

Das ist besonders wichtig in bezug auf hyperaktive Kinder, da so auch ihre

Denkprozesse als kreativ bezeichnet werden können, die innerhalb eines Kulturkreises

keinen Neuheitswert besitzen, aber für das Kind eine Neuheit darstellen.

Neben dem Bewertungskriterium der Neuheit werden noch weitere Merkmale für das

kreative Produkt verwendet. Eines davon ist die Brauchbarkeit. Stein (1953) führt in

diesem Zusammenhang an, daß ein kreatives Produkt nicht nur einen Neuheitswert hat,

sondern durch eine Gruppe zu irgendeinem Zeitpunkt als brauchbar, nützlich oder be-

friedigend angesehen wird.258

Stein (1953) weist darauf hin, daß das Ergebnis eines kreativen Prozesses anderen

vermittelt wird. Das kreative Produkt kann somit als Kommunikationsmittel betrachtet

werden. Letztlich können jedoch auch differenzierte Bewertungskriterien nicht darüber

hinwegtäuschen, daß die Beurteilung eines kreativen Produktes je nach individuellen

oder sozialen Wertvorstellungen ausfällt - eine objektive Beurteilung kann es nicht ge-

ben. Das kreative Produkt bildet eine wichtige Komponente im kreativen Prozeß. Dabei

stehen Produkt und Prozeß in einem dialektischen Verhältnis. Liegt die Betonung auf

der Materialisierung des Schaffensprozesses, so wird das Produkt betont und gefördert.

Dagegen steht der kreative Prozeß im Vordergrund, wenn die Originalität der Idee, das

Offensein gegenüber inneren und äußeren Anstößen und das Hervorbringen

überschießender Möglichkeiten stärker betrachtet wird. Innerhalb der Pädagogik steht

der kreative Prozeß mehr im Vordergrund. Die primäre Zielsetzung ist dabei die

Verstärkung der kreativen Haltungskomponenten und weniger das leistungsmotivierte

Endprodukt.259

Bei der Betrachtung des kreativen Produktes, ist es in bezug auf hyperaktive Kinder

wichtig, das kreative Produkt als Ausdruck ihrer Persönlichkeit wahrzunehmen und zu

verstehen, denn im kreativen Produkt werden die Wechselwirkungen von Persönlichkeit

und Prozeß deutlich.260

Aus diesem Grund sollte der Erzieher mit äußerster Vorsicht in der Stellungnahme und

in der Beurteilung kreativer Produkte von hyperaktiven Kindern vorgehen, da sich die

Verhaltensauffälligkeiten der Kinder in der Persönlichkeit und im Prozeß bemerkbar

machen und sich im Produkt widerspiegeln. Folglich beinhaltet das kreative Produkt

den Anspruch, daß jeder, auch hyperaktive Kinder, ein solches gestalten kann, ohne daß

dafür bestimmte herausragende Fähigkeiten oder Fertigkeiten zur Herstellung

vorhanden sein müssen.

257Vgl. Limberg, R. (1978), S. 18.258Vgl. Stein, M.I. (1953), in: Ulmann, G. (1973), S. 66.259Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 144260Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 48.

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Page 77: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

3.5 Bedingungen der kreativen Umwelt zur Förderung des hyperaktiven Kindes

In dem Zusammenhang zwischen Umwelt und Kreativität stellt sich die Frage,

inwieweit Kreativität durch eine günstige Gestaltung der Umwelt bei hyperaktiven Kin-

dern gefördert werden kann. Dabei spielt eine kreativitätsfördernde Umwelt des Kindes

ein bedeutende Rolle, auch wenn sich kreative Prozesse in einer ungünstigen

Umgebung (unstrukturiert und ungeregelt) vollziehen können. Jedes Kind hat die

Veranlagung sowohl divergent als auch konvergent zu denken. Die Umwelt bestimmt

den Grad der Ausrichtung der einen oder der anderen Denkart. Eltern, die bei ihren

Kindern divergentes Denken fördern, gewähren ihnen Selbständigkeit und nehmen ihre

Ansichten ernst. Dies wirkt sich fördernd auf kreatives Handeln aus. Die andere Art von

Eltern hat das Leben ihrer Kinder sorgfältig vorausgeplant. Als Folge daraus brauchen

diese permanente Führung und Überwachung, was kaum kreative Handlungen anregt.

Es ist somit entscheidend, ob die physische Umwelt anregend gestaltet ist, so daß die

Inspiration gefördert und Assoziationen erleichtert werden.

Wenn, wie in Kapitel 3.2 dargelegt wurde, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale für die

kindliche Kreativität ausschlaggebend sind, so müssen die Faktoren, die den Bildungs-

prozeß der entstehenden Persönlichkeit unmittelbar beeinflussen, mit dem Vorhan-

densein kreativen Denkens in einem systematischen Zusammenhang stehen. Somit

bestehen sehr wahrscheinlich Zusammenhänge zwischen den Erziehungsmethoden der

Eltern und der Kreativität der Kinder.261 In Kapitel 2.2.4.3 wurde bereits erläutert, wie

psycho-emotionale Einflußfaktoren der Umwelt durch bestimmte Erziehungsmuster,

z.B. verwöhnende oder harte Erziehungsstile zu einer Verstärkung der Symptome der

Hyperaktivität (erhöhte Impulsivität, emotionale Labilität, Selbstwertprobleme usw.)

führen, was wiederum hemmende Bedingungen für kreative Prozesse bei hyperaktiven

Kindern sind.262

Die wichtigsten Einflüsse der sozialen Umwelt auf die Entwicklung des hyperaktiven

Kindes werden im folgenden dargestellt.

Die Ausführungen sind hypothetisch, da bislang keine Untersuchungen zu den

Einflüssen der Umwelt auf hyperaktive Kinder wissenschaftlich nachgewiesen wurden.

Dennoch bieten sich die in der Literatur beschriebenen Einflüsse für eine Übertragung

auf hyperaktive Kinder an.

3.5.1 Aktivierung des hyperaktiven Kindes durch die soziale Umwelt

Durch Reizarmut oder Reizüberflutung können kreative Prozesse nicht gefördert wer-

den, auch wenn eine Reizarmut den Wunsch nach Abwechslung provoziert und eine

Reizüberflutung hilfreich sein kann, um sich von überfordernden Aufgaben zu lösen. 263

261Vgl. Cropley, A.J. (1982), S. 67.262Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 42f.263Vgl. Preiser, S. (1976), S. 88.

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Page 78: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die Problematik der Unter- bzw. Überforderung bei hyperaktiven Kindern wurde

bereits hinreichend erläutert (vgl. Kapitel 3.2). Das hyperaktive Kind kann durch eine

angemessene äußere Anregung aktiviert werden, sein Energiepotential auf seine

Umwelt zu richten.

Preiser (1976) führt verschiedene Aktivierungsangebote an:

- Angebote einer anregenden, abwechslungsreichen Umwelt, die das Kind nicht über-

fordert;

- Anregungen für Informations-, Verständnis- und Provokationsfragen geben;

- Akzeptieren der Eigenproduktionen der Kinder, wobei ihnen ein "warm-up"

(Anlaufzeit) ermöglicht werden soll;

- Akzeptieren und tolerieren der Spontaneität, Eigeninitiative, Selbständigkeit sowie

des Explorationsverhaltens;

- Vermeidung von Frustration und Fehlschlägen, da sonst eine aktive Auseinander-

setzung mit der Umwelt nicht mehr möglich ist, daher sollen ausreichen

Gelegenheiten

zur Bedürfnisbefriedigung vorhanden sein.264

3.5.2 Enthemmung in der aktiven Auseinandersetzung des hyperaktiven Kindes mit der Umwelt

Durch die Erfahrungen des hyperaktiven Kindes mit seiner Umwelt und durch

erzieherische Einflüsse entstehen Barrieren und Hemmungen in der aktiven

Auseinandersetzung des Kindes mit der Umwelt. Folgende Barrieren müssen abgebaut

werden um ein hyperaktives Kind an kreative Handlungen heranzuführen:

- Abbau hemmender Einstellungsschranken;

- Reduktion von Leistungsdruck und Erfolgsorientierung;

- Abbau der Angst vor Mißerfolgen, Fehlern und Risiken;

- Reduktion von Streß, Zeitdruck und Angst auf ein individuelles Optimum, das vom

Energiepotential und der Frustrationstoleranz des Kindes abhängt;

- Verzicht auf Perfektionismus;

- Aufschieben von Bewertungen.

Dagegen sollten folgende Faktoren gefördert werden:

- Aufbau einer entspannten Atmosphäre;

- Aktivierung der kindlichen Phantasie;

- Abbau von Konflikten;

- Förderung des Selbstbewußtseins und der Selbstsicherheit;

- Akzeptieren von unterdrückten Trieben (Aggressionen, Aktivität) und Gefühlen;

- Förderung der Regression unter Kontrolle des Bewußtseins;

- Tolerieren von spielerischen Einstellungen.265

264Vgl. Preiser, S. (1976), S. 88.265Vgl. Ebenda, S. 89f.

70

Page 79: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

3.5.3 Zielgerichtete motivierende Bedingungen für die Entwicklung kreativer Handlungen beim hyperaktiven Kind

Auf die Attraktivität eines Zieles bei kreativen Handlungen wurde bereits mehrfach hin-

gewiesen (vgl. Kapitel 3.2). Preiser (1976) führt hierzu verschiedene Faktoren der Um-

welt an, die hyperaktive Kinder zu kreativen Leistungen motivieren, wie z.B.:

- Intrinsische Motivation: Erfolge sollen unmittelbar erlebt werden;

- Vermeidung von extrinsischer Belohnung (Lob, Tadel);

- Vermeidung von nicht aufgabenbezogenen Wettbewerbssituationen;

- Förderung der Selbstbewertung

- Sensibilisierung für Probleme der Umwelt;

- Bestätigung von geäußerten Ideen und Vorschlägen geben (feed-back);

- Respektieren einfallsreicher und außergewöhnlicher Ideen;

- Förderung des Problemverständnisses;

- Berücksichtigung und Einbezug vorhandener Ideen.266

3.5.4 Förderung der Unabhängigkeit des hyperaktiven Kindes

Aktivierung und Motivation können sich nur kreativitätsfördernd auf hyperaktive

Kinder auswirken, wenn sie keinem Konformitätsdruck unterliegen. Besonders das

Verhalten hyperaktiver Kinder wird seitens der Gesellschaft als abweichend bezeichnet,

da es nicht der sozialen Norm entspricht.267

Eine Reduzierung des Konformitätsdrucks ist somit von besonderer Bedeutung für die

Kreativitätsaktivierung. Preiser (1976) nennt folgende Möglichkeiten zur Reduzierung

des Konformitätsdrucks:

- Beschränkung der Disziplinierungsmaßnahmen auf ein Minimum;

- Vermeidung der Diskriminierung abweichenden Verhaltens und andersartiger

Persönlichkeiten als abnorm;

- Vermeidung bestimmter Fixierungen von Altersrollen;

- Verhinderung der Fixierung von Geschlechterrollen, da Kreativität sowohl weibliche

Sensibilität als auch männliche Unabhängigkeit des Denkens benötigt;

- Reduktion der Orientierung an Gleichaltrigen;

- Respektieren von ungewöhnlichen Ideen einer Minderheit;

- Akzeptieren von individueller Besonderheit und Interessen;

- Toleranz abweichendem Verhalten gegenüber;

266Vgl. Preiser, S. (1976), S. 90f.267Vgl. Petermann, U. (1991), S. 121.

71

Page 80: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

- Demokratisch-kooperative Haltung dem Kind gegenüber;

- Anerkennung des Kindes als gleichwertiger Partner;

- Förderung von offenen, nicht-regulierten Verhaltensweisen in der Gemeinschaft.268

In Kapitel 4.3.1 wird vertiefender auf den Aspekt des Konformitätsdrucks eingegangen.

3.5.5 Gruppeneinflüsse auf das hyperaktive Kind im kreativen Prozeß

In der Gruppe kann das Kind seine individuelle und soziale Kreativität entwickeln.

Dabei gibt die Gruppe dem Kind den nötigen Schutz, damit sich Kreativität entwickeln

kann.269

Die Arbeit in einer Gruppe kann kreative Prozesse negativ oder positiv beeinflussen.

Sie ist dann positiv, wenn die innerhalb einer Gruppe handelnden Kinder sich mit ihren

unterschiedlichen Einstellungen, Motivationen, Fähigkeiten und

Persönlichkeitsmerkmalen nicht als störend erfahren. Dabei erlebt das Kind die

Situation in der Gruppe als Chance, die vorhandenen Informationsstrukturen aufzulösen

oder zu erleichtern. Dadurch wird die Erarbeitung neuer Problemlösungen ermöglicht.270

Dagegen sind Gruppendruck, Konformitätszwänge, soziale Hierarchien, Aggressionen,

Destruktionen, soziale Konflikte sowie Konzentrationsstörungen aufgrund von Ablen-

kungen hemmende Einflüsse auf die Produktivität einer Gruppe. Die hemmenden Grup-

peneinflüsse sind von besonderer Bedeutung in dem Gruppenverhalten hyperaktiver

Kinder, da diese zu Aggressionen neigen, die zu sozialen Konflikten führen (vgl.

Kapitel 2.1.4). Oftmals orientieren sich hyperaktive Kinder an jüngeren Spielpartnern,

wodurch eine soziale Hierarchie aufgebaut wird.271 Neben den negativen Einflüssen

können fördernde Gruppeneinflüsse den kreativen Prozeß positiv beeinflussen, z.B.

durch:

- Gegenseitige Unterstützung und Verstärkung;

- Aktivierung und Stimulierung;

- Assoziationsförderung durch gegenseitige Anregungen;

- Aufbau einer emotionalen Sicherheit, Abbau von Hemmungen, Identifikations-

möglichkeiten, Verständnis bei der Bewältigung individueller Probleme;

- Möglichkeiten bieten, soziale Erfahrungen zu machen.272

Abschließend soll betont werden, daß sich viele Forderungen dazu eignen, hyperaktive

Kinder im Sinne einer Kreativitätsförderung zu einer gefestigten Persönlichkeit zu

erziehen, die daraufhin Teil einer kreativen Gesellschaft wird.

268Vgl. Preiser, S. (1976), S. 91f.269Vgl. Bloch, S. (1982), S. 24.270Vgl. Sikora, J. (1976), S. 59.271Vgl. Petermann, U. (1991), S. 122.272Vgl. Preiser, S. (1976), S. 92f.

72

Page 81: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

"Zusammenfassend kann man sagen, daß die Kulturen, die ihre Kinder offen und frei dazu erziehen, die Herausforderungen der Umgebung anzu-nehmen und an diese Fragen zu stellen, sie zum divergenten Denken zu bringen, und jene, die sich am Prozeß und nicht am Produkt orientieren, die kreativeren Persönlichkeiten hervorbringen."273

In einer Welt, ohne Impulse und Anregung ist keine Kreativitätsförderung möglich. Es

liegt somit in der Hand von Eltern und Pädagogen, die Umwelt für das Kind entspre-

chend zu gestalten.274

4 Erziehung zur Kreativität bei hyperaktiven Kindern im VorschulalterDie Förderung der Kreativität ist ein zentrales Anliegen der Vorschulerziehung.

Folglich muß das primäre Ziel der Vorschulerziehung sein, Methoden und Instrumente

zu entwickeln, die die kreativen Möglichkeiten des Kindes freisetzen, fördern und

entwickeln. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich die Kreativität aus der gesamten

Persönlichkeit entwickelt und in vielen wert- und sachbezogenen Situationen benötigt

wird. Daher kann Kreativitätsförderung nicht Aufgabe eines speziellen Curriculums

sein, sondern muß in vielen Disziplinen ihre Anwendung finden.

Im Vorschulalter hat das Kind im besonderen Maß die Möglichkeit für spontane Aktivi-

täten. Diese bilden, im Gegensatz zu reaktiven Verhaltensweisen, die Grundlage für

Kreativität. Heinelt (1974) nennt folgende Merkmale der Kreativität des

Vorschulalters: Zum ersten lebt das Kind in einem psychisch entspannten Feld, das für

die Entfaltung kreativen Verhaltens optimale Voraussetzungen beinhaltet. Das Kind

verfügt über eine außerordentliche Erlebnisfähigkeit, Aufnahmebereitschaft und über

ein starkes Interesse. Diese Fähigkeiten ermöglichen dem Kind, seine Umwelt staunend

und fragend gegenüberzutreten. Dabei ist das kindliche Verhalten noch nicht von festen

Leistungszielen bestimmt. Folglich entwickeln sich die kindlichen Interessen ohne

Druck und Zwang. Zum zweiten erfährt und entdeckt das Kind im Vorschulalter seine

Umgebung als etwas Neues, ohne durch Denkinhalte, Erfahrungen oder Automatismen

beeinflußt zu sein. Zum dritten sieht Heinelt als Merkmal der Kreativität im

Vorschulalter die Unreflektiertheit und Konfliktfreiheit des Vorschulkindes im

Gegensatz zum Schulkind an. Als viertes Charakteristikum wird beschrieben, daß sich

kritische Einstellungen noch nicht entwickeln können. Das Vorschulkind nimmt unvor-

eingenommen, engagiert an der Umwelt teil und identifiziert sich mit dieser. Das fünfte

Kriterium der Kreativität bezieht sich nach Heinelt auf das kreative Denken des

273Landau, E. (1984), S. 96274Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 44.

73

Page 82: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Kindes, daß noch nicht seinen Gegenpart im konvergenten Denken hat. Das Training

dieses konvergenten Denkens erfolgt erst in der Schule.275

Aus diesen Merkmalen der Kreativität im Vorschulalter lassen sich verschiedene Anfor-

derungen an die gesamte Umwelt des Kindes stellen. Somit ist es notwendig, daß für

eine Förderung des Kindes in der Vorschulzeit eine kreative Umgebung vorhanden ist,

mit dem Ergebnis kreativer Kinder und kreativer Erzieher.276

4.1 Entwicklungspsychologische Aspekte des Vorschulalters

Im vorangegangenen Kapitel wurden die theoretischen Aspekte der Kreativität erläutert.

Um die Voraussetzungen der kreativen Entfaltung im Vorschulalter zu entwickeln,

müssen entwicklungspsychologische Aspekte des Vorschulkindes berücksichtigt

werden.

Ulmann (1970) bezeichnet Entwicklung als einen zielgerichteten und konstruktiven

Prozeß, im Sinne einer positiven Veränderung, "bei dem das bereits Erreichte durch

Vorgänge der Differenzierung aufgegeben werden muß, um durch erneute Integration

zu neuen Formen zu gelangen"277.

Die entwicklungspsychologischen Aspekte stellen jedoch nur eine Richtschnur dar, weil

der kindliche Entwicklungsstand nicht einer bestimmten Phase oder Stufe zugeordnet

ist. Die Entwicklung verläuft kontinuierlich und individuell unterschiedlich. Dennoch

kann davon ausgegangen werden, daß die Phase des Kleinkindalters entscheidend für

die kreative Entwicklung ist. Folglich sind Kindheit und Kreativität eng miteinander

verbunden.278

Nach Heinelt (1974) veranschaulichen die entwicklungspsychologischen Aspekte in be-

sonderer Weise die Grundlagen der Kreativität. Dabei sind kreative Verhaltensweisen in

jedem Alter vorhanden. Es sprechen jedoch einige Anzeichen dafür, daß die Kreativität

in der Kindheit eine besondere Bedeutung in der Gesamtentwicklung kreativer

Verhaltensweisen einnimmt, da das junge Kind einen großen Freiheitsspielraum hat, in

dem es sich offen und frei bewegen kann.279

Heinelt (1974) unterscheidet prinzipiell in der Entwicklung der Kreativität des Kindes

zwischen kreativen Einstellungen und kreativen Vollzügen. Unter kreativen Einstellun-

gen des Kindes werden das Staunen, das Fragen und das Infragestellen

zusammengefaßt. Somit machen sie nicht nur das kreative Verhalten des Kindes aus.

Neben den kreativen Einstellungen besitzt das Kind kreative Vollzüge, die die

konkreten Dimensionen des Verhaltens darstellen. Zu den kreativen Vollzügen gehören

275Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 44.276Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 43.277Ulmann, G. (1970), S. 122278Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 24.279Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 33.

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Page 83: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

das Sozial-, das Spiel- und das Sprachverhalten sowie das musikalische, literarische und

das gestaltende Interesse. Die kreativen Einstellungen und Vollzüge stehen in einem

ständigen Wechselverhältnis und sind nicht immer klar von einander zu trennen.280

Im folgenden werden die einzelnen Faktoren der kreativen Einstellungen und Vollzüge

dargestellt.

1. Die kreativen Einstellungen:

Die erste Art der kreativen Einstellungen bezieht sich auf das Staunen. Durch das Stau-

nen drückt das Kind sein Interesse an der Umwelt aus. Somit ermöglicht ihm die stau-

nende Neugier eine ständige Neuentdeckung seiner Umwelt. Das Staunen bildet den

Motor zum Denken, Sprechen und Fragen.281

Ebenso wie das Staunen ist das Fragen durch eine Art der Neugier gekennzeichnet, des-

sen Ziel die Sprachaneignung und damit verbunden ein Wissens- und

Informationserwerb ist (Wandlung von den Was-Fragen bis zum dritten Lebensjahr zu

den Warum-Fragen bis zum Alter von fünf Jahren). Durch das Fragen wird die

Problemsensibilität und die Kommunikationsfähigkeit des Kindes gefördert.282

Mit ca. acht Jahren tritt zu dem Staunen und Fragen das Infragestellen hinzu. Das Kind

gibt sich nicht mit einer Möglichkeit zufrieden. Alte Möglichkeiten werden in Frage ge-

stellt und neue Alternativen werden ausprobiert. Das Infragestellen hat zum Ziel, kon-

struktive Anregungen zu erhalten.283

2. Die kreativen Vollzüge

Mit dem ersten Lächeln im Alter von ca. zwei Monaten, mit dem sich das Kleinkind

seiner Umgebung zuwendet, entsteht die Kreativität des Sozialverhaltens. In dem

Lächeln wird ein spontanes Agieren und offenes Verhalten deutlich, das sich ohne

Reize aus der Außenwelt vollzieht. Mit sechs Monaten ist die Kreativität des

Sozialverhaltens vollständig entwickelt. Das Kind erkennt seine Bezugsperson anhand

der Stimme, Mimik oder Gestik. Daraufhin tritt das Kind in eine Kommunikation.

Hierin liegt die Grundlage kreativen Verhaltens. In einem engen Zusammenhang mit

dem Sozialverhalten steht das Spielverhalten des Kindes, wobei das Spielverhalten eine

größere Relevanz hat. Dabei heben besonders die in ihrer entwicklungspsychologischen

Abfolge eintretenden Bewegungsspiele, Illusionsspiele und Rollenspiele die Formen der

Kreativität hervor. Das Erforschen des eigenen Körpers und der nächsten Umwelt, das

vorwiegend mit den Sinnen (Schmecken, Riechen, Sehen und Hören) und durch die

Greiforgane geschieht, stellt das erste Bewegungsspiel dar. Dies beinhaltet eine frühe

280Vgl. Ebenda, S. 37.281Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 37.282Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 38f.283Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 38.

75

Page 84: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Manifestation kreativen Verhaltens.284 Dabei erzeugt das Kind nicht unbedingt neue

Produkte, dennoch entdeckt es für sich selbst neues Verhalten. Folglich ist das Kind

kreativ, weil es eine Verhaltensänderung zur Lösung eines Problems erfahren hat. Die

Aspekte der Neuheit und der Seltenheit des kreativen Produktes beziehen sich daher nur

auf das Kind selbst und nicht auf die Umwelt. Im Illusionsspiel werden mit Hilfe der

Phantasie eigene Vorstellungen und Wünsche in Gegenstände und Dinge hinei-

ninterpretiert. Der Realitätsbezug ist hierbei noch nicht vorhanden, im Gegensatz zum

Rollenspiel, bei dem konkrete Erfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse in die

Spielsituation eingefügt werden. Im Rollenspiel wird bereits die soziale Kreativität er-

lernt.285

Auf die Rolle des Spiels wird in Kapitel 4.3 näher eingegangen.

Ein weiterer kreativer Akt wird in dem Sprachverhalten gesehen. Darunter werden das

Lallen, die Lallmonologe des kleinen Kindes und das Erlernen der Sprache verstanden

und später das Finden von eigenen Bezeichnungen für Dinge und Menschen und das

Verstehen. Des weiteren bilden Neugierde und Wissensdurst Grundlagen zum kreativen

Erlernen. Somit besitzt das junge Kind bereits Voraussetzungen zum kreativen Verhal-

ten.286 Das formende Gestalten als weiteres kreatives Verhalten setzt häufig bei den zu-

vor erlebten Spielsituationen an. Sowohl das frühkindliche Kritzeln, das spätere

Zeichnen als auch der Umgang mit Materialien (Ton, Sand, Farben usw.) stellen eine

Entfaltung kreativer Fähigkeiten dar. Ebenso können musikalische Interessen im

Zusammenhang mit einer Spielsituation auftreten, wenn das Kind z.B. emotionale

Erlebnisse verarbeitet. Das musikalische Interesse äußert sich im Wiederholen und

Erfinden von Melodien. Dieses Phänomen ist im Vorschulalter besonders ausgeprägt.

Das literarische Interesse bezieht sich vornehmlich auf Märchen und Erzählungen, die

das Kind in sein Alltagsgeschehen integriert.287

Torrance zeigt in seinen Längs- und Querschnittuntersuchungen von 1964 und 1966 ei-

nen annähernden Entwicklungsverlauf des divergenten Denkens. Jedoch verläuft die

Entwicklungskurve kreativer Leistungen diskontinuierlich. Nach Torrance steigen alle

in seinen Kreativitästests gemessenen Faktoren (Flüssigkeit, Flexibilität, Originalität

und Elaboration) im Alter von drei bis viereinhalb Jahren an. Mit dem Eintritt in den

Kindergarten (da sich die Untersuchungen auf amerikanische Verhältnisse beziehen,

sind hier Kinder im Alter von fünf Jahren gemeint) fällt die Fähigkeit zum divergenten

Denken geringfügig ab. Daraufhin findet ein Anwachsen bis zum Alter der dritten

Klasse statt. In der vierten Klasse setzt eine starke Abnahme aller Fähigkeiten des

284Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 13.285Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 123.286Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 123.287Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 40ff.

76

Page 85: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

divergenten Denkens ein. Ab der fünften Klasse findet ein Anstieg bis zur elften Klasse

statt, der durch einen kleinen Abfall um die siebte Klasse gekennzeichnet ist.288

Die deutlichen Abfälle in der kreativen Entwicklung sind in der Regel auf

einschneidende kulturelle oder soziale Ereignisse zurückzuführen. Alle drei Abfälle

entstehen in einer Phase der Umstellung in der Aktivität des Kindes. Folglich kann das

Kind seine Ziele nicht mehr selbst aussuchen und es wird durch Einschränkungen in

seiner spontanen Aktivität gestört.289

Abschließend kann festgestellt werden, daß das kreative Denken im Vorschulalter be-

sonders starke Anregungen und Angebote erhält und sich bereits hier zu einer festen

Einstellung und Fähigkeit ausbildet.

4.2 Ziele und Aufgaben einer kreativen Erziehung

Der Erzieher kann bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen schaffen, die das

Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten anregt, kreativ zu werden. Dies

gilt besonders für die Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern, die (wie in

Kapitel 3 dargestellt wurde) besondere Rahmenbedingungen für kreative Leistungen

benötigen. So ist zum Beispiel bei der Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern

eine gewisse Zielsetzung notwendig, damit sie überhaupt kreativ werden können und

nicht in Spielereien und Nebenzielen stecken bleiben.

Das allgemeine Ziel einer kreativen Erziehung besteht darin, daß das Kind lernen soll,

sich der Umwelt offen und ohne Vorurteile zuzuwenden, verschiedene mögliche Zu-

gänge zu erschließen und diese Zugänge aus den verschiedenen Bereichen seiner Erfah-

rungswelt heranzuziehen. Das bedeutet, daß das Kind Assoziationen zwischen dem

neuen Problem und dem bereits Erfahrenen herstellen soll. Für hyperaktive Kinder kann

dies bedeuten, daß sich das Kind seiner Umwelt zuwendet, sich mit ihr auseinandersetzt

und somit zu einem selbständigen Handeln erzogen wird. Des weiteren beinhaltet eine

Erziehung zur Kreativität die Förderung der Persönlichkeit des hyperaktiven Kindes

durch den Abbau hemmender Faktoren und die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten,

zu denen bei hyperaktiven Kindern die Ausdauer- und die Konzentrationsfähigkeit

gehört sowie die Reduzierung der motorischen Unruhe.290

Widmer (1976) nennt folgende Zielvorstellungen in bezug auf eine Erziehung zur

Kreativität. Er unterscheidet zwischen einer Persönlichkeitsfunktion, einer sozialen

Funktion, einer Bewältigungsfunktion und einer tranzendental-kulturellen Funktion der

Kreativitätserziehung.291

Unter dem Persönlichkeitsaspekt sieht Widmer (1976) die Funktion der Kreativitätser-

ziehung in dem Finden, Festigen und Modifizieren der Ich-Identität des Kindes in

288Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 150f; Ulmann, G. (1970), S. 128f.289Vgl. Seiffge-Krenke, I. (1974), S. 130.290Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 49291Vgl. Widmer, K. (1976), S. 761.

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Page 86: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

bezug zu seiner Umwelt durch Neuschaffung und Veränderung. Vom Standpunkt der

sozialen Funktion aus, soll die Kreativitätserziehung dem Kind zu einer angstfreien

sozialen Veränderung verhelfen. Weiterhin soll dem Kind eine Modifizierung seiner

Rollenfunktion und eine Ausformung tragender Begegnungen ermöglicht werden. Die

Bewältigungsfunktion der Kreativitätserziehung bezieht sich auf den Aspekt des

Bestehens und Veränderns der sozialen, gesellschaftlichen und sachwelt-bezogenen

Situation, unter einem angstfreien Einsatz emotionaler, kognitiver und

psychomotorischer Fähigkeiten. Unter der transzendental-kulturellen Funktion soll die

Kreativitätserziehung dem Kind helfen, sinnverstehend und engagiert der Umwelt und

der transzendantalen Welt gegenüber zu treten.292

Die Aufgaben einer kreativen Erziehung bestehen nach Parnes (1964) darin, dem Kind

Hilfestellung zu leisten, damit es seine Fähigkeiten anwenden kann.293

Bereit 1925 auf dem 3. Internationalen Erziehungskongreß in Heidelberg forderte

Buber in seiner "Rede über das Erzieherische", daß die Hauptaufgabe der Erziehung

sei, die in jedem Individuum vorhandenen Grundkräfte für die Kreativität zu entwickeln

und aufzubauen, so daß sie zur natürlichen Aktivität des Selbst werden.294

Bei der Kreativitätsförderung von hyperaktiven Kindern geht es vornehmlich um die

Entwicklung der vorhandenen Möglichkeiten zur Persönlichkeits- und Leistungsförde-

rung des einzelnen Kindes. Dabei ist von großer Bedeutung, daß sich das erzieherische

Angebot und die Erwartungen an den Potentialen des hyperaktiven Kindes orientieren

und daß die kindlichen Interessen berücksichtigt werden. So zielt Kreativitätserziehung

darauf ab, das Einzigartige im Kind zu erkennen, zu akzeptieren und zu fördern. Durch

eine Förderung der Kreativität kann sich das Kind entfalten und aktiv an der Umwelt

teilnehmen.

Neben diesen Zielen der Kreativitätsförderung ist weiterhin eine autonome Motivation

(inneres Angesprochensein und innere Erfülltheit) von pädagogischer Notwendigkeit,

um bei dem Kind kreatives Handeln anzuregen. Somit muß das Ziel dem jeweiligen

Entwicklungsstand des Kindes angemessen sein.

4.3 Hemmende Faktoren für eine kreative Entfaltung

Die Aufgabe der Erziehung besteht darin, die in jedem Menschen vorhandene Fähigkeit

zur Kreativität zu entdecken und fördern. Die Entfaltung der Kreativität wird jedoch

durch eine bestimmte Erziehungshaltung gehemmt oder blockiert.

Teilweise wurden in Kapitel 3.5 kreativitätshemmende und -fördernde Einflüsse

erläutert, da die Umweltbedingungen eine wesentliche Wirkung auf die Entwicklung

der Kreativität ausüben.

292Vgl. Ebenda, S. 761.293Vgl. Parnes, S. (1964) zitiert nach Landau, E. (1984), S. 93.294Vgl. Buber, M. (1947) zitiert nach Landau, E. (1984), S. 93.

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Page 87: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

In der Eziehungspraxis wird vornehmlich ein großer Wert auf die Anpassung gelegt,

mit der Folge, daß kreatives Verhalten unterbunden wird. Dies bedeutet, daß eine der

entscheidendsten Hindernisse der Kreativität darin besteht, daß die Fähigkeiten, die die

Kreativität begünstigen, nicht von Kindheit an gefördert, sondern mitunter gehemmt

werden.295

Die primären Hindernisse, die eine Hemmung der Kreativität zur Folge haben, sind vor

allem:

1. Konformitätsdruck;

2. Autoritätsfurcht;

3. Erfolgsprämien;

4. Informations- und Innovationssperren;

5. Überbetonung der Geschlechterrollen;

6. Spiel - Arbeit - Dichotomie.296

4.3.1 Konformitätsdruck

Durch den Druck der Gruppe ist die freie Entfaltung des Kindes behindert. Das Kind

wird dazu angehalten sich anzupassen, wenn vom Erzieher für alle Kinder gleichzeitig

dieselbe Aufgabe gestellt wird, die nach einheitlichen Maßstäben bewertet wird. Die für

die kreative Entfaltung charakteristischen spontanen Experimente und unkonventionelle

Denk- und Handlungsweisen werden durch die Anpassung an Werthaltungen und Er-

gebniserwartungen an die Gruppe verhindert. Unter dem Aspekt des

Konformitätsdrucks kann sich ebenfalls die Orientierung an der Peer-Group hemmend

auf die Kreativitätsentwicklung auswirken. Das Kind wirkt ängstlich und entwickelt

Minderwertigkeitsgefühle, da es mit den Leistungen der anderen nicht konkurrieren

kann. Folglich kann das Kind aus Angst vor dem Anderssein keine kreativen Alterna-

tiven und Initiativen ergreifen. Es verdrängt das Bedürfnis, die Umwelt selbst zu

entdecken. Somit entsteht durch die Orientierung an der Gruppe der Gleichaltrigen ein

Konformitätsdruck.297

Die Aufgabe der Erziehung zur Kreativität besteht hierbei darin, den Kinder ihre Mög-

lichkeiten bewußt zu machen und ihnen zu helfen, diese zu entwickeln. Dabei soll die

Individualität des Kindes gefördert werden, indem es in den Eigenschaften, durch die es

sich von anderen unterscheidet, unterstützt wird.298

Nonkonformität ist jedoch eine Voraussetzung für Kreativität. Individuelle Fähigkeiten

können aber nicht durch eine Erziehung entfaltet und gefördert werden, deren Haupt-

merkmal die Bekämpfung von Schwächen ist.299

295Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 40.296Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 41.297Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 157. 298Vgl. Landau, E. (1984), S. 100.299Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 41.

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Page 88: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

4.3.2 Autoritätsfurcht

In Kapitel 3.5 wurde bereits erläutert, daß sich autoritäre Haltungen und Umweltbedin-

gungen hinderlich auf die Entfaltung der kreativen Persönlichkeit auswirken. Sie

verhindern selbststeuernde und selbstverantwortliche Handlungen, da sie die Anpassung

an vorgegebene Methoden verlangen. Durch diese Erwartungen kann das Kind nur dem

angegebenen Lösungsweg folgen und keine Originalität entwickeln. Um jedoch neue

Lösung zu finden, müssen bisherige in Frage gestellt werden, da Kreativität Freiheit

voraussetzt. Ein durch negative Beurteilung zerstörtes Selbstvertrauen, Furcht vor

Kritik, vor Regelüberschreitungen und die Angst, ein Andersartiger oder ein Versager

zu sein, hindern die Entfaltung kreativer Fähigkeiten.300

4.3.3 Erfolgsprämien

Erfolgsbestätigungen sind Anpassungsmittel, die das konvergente Denken unterstützen

und nicht das kreative Denken fördern. Durch Belohnung kann das Verhalten des

Kindes in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Kreativität beinhaltet dagegen

spielerisches, zweckfreies und erfolgsunabhängiges Tun sowie die Möglichkeit Fehler

zu machen und diese zu korrigieren. Durch die Erfolgsabhängigkeit werden die

schöpferischen Kräfte blockiert, da sie von der eigentlichen Entwicklung, dem

kreativen Prozeß ablenken.301

Die Orientierung wird somit immer auf das Produkt und nicht auf den Prozeß gerichtet

sein. Die Folge ist ein dauerndes Streben nach neuen Errungenschaften, ohne Befriedi-

gung aus dem Prozeß selbst. Ein so erzogenes Kind wird sich somit keine Mißerfolge

eingestehen und es wird auch nicht aus seinen Fehlern lernen. Daher liegt das Ziel einer

Erziehung zur Kreativität darin, daß alles was das Kind tut, mit Freude und Hingabe ge-

macht wird.302

4.3.4 Informations- und Innovationssperren

Durch das Verbot, Fragen zu stellen und dadurch der kindlichen Neugierde

nachzugehen, wird die kreative Aktivität des Kindes blockiert. Der Erzieher empfindet

Fragen oft als störend, da er auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet.303

Prinzipiell entstehen die Fragen der Kinder aus der Phantasie und dem

Neugierverhalten und nicht unbedingt aus angesammelten Wissen. Erzieher haben

oftmals Angst vor diesen Phantasien der Kinder, da sie befürchten, auf ihre Fragen

keine Antworten zu haben. Daher wird versucht, die kindlichen Phantasien zu

unterdrücken. Die Folge ist eine Hemmung des kreativen Lernens, was zu einer reinen

Wissensansammlung führt. Wenn das Kind nicht die Möglichkeit bekommt Fragen zu

300Vgl. Ebenda, S. 42.301Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 42f.302Vgl. Landau, E. (1984), S. 101.303Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 157.

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Page 89: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

stellen und nur das akzeptieren soll, was andere zuvor entdeckt haben, so wird die

Fähigkeit zu eigenem Entdecken verhindert.304

Das Kind muß daher im Rahmen einer Kreativitätserziehung ermutigt werden, Fragen

(auch kritische) zu stellen und das richtige Fragen zu lernen. Durch diese Art der kreati-

ven Fragestellung ist eine wichtige Voraussetzung für die wachsende Persönlichkeit er-

füllt, da ihm so genügend Raum zur freien Entfaltung zur Verfügung steht.

4.3.5 Überbetonung der Geschlechterrollen

Die Überbetonung der Geschlechterrollen in bezug auf eine geschlechtsspezifische

Erziehung, in der Mädchen Passivität, Interesse an musischen Dingen und bildender

Kunst zugesprochen werden und Jungen dagegen Interesse für Mathematik und

Naturwissenschaften, hindert die kreative Entfaltung und führt zu Frustrationen.305

"Wird Abweichung mit 'abnorm' gleichgesetzt, so opfert man ein erst zu ent- wickelndes Selbstbewußtsein einer Erziehung zur Anpassung."306

4.3.6 Spiel - Arbeit- Dichotomie

Unter diesem Aspekt wird die Förderung der spielerischen und nicht nur der rigiden Ar-

beitsmethoden verstanden. Mit Spiel werden Lustgefühle verbunden und mit der Arbeit

Gefühle der Unlust. Die Vorurteile über die Dichotomie Arbeit - Spiel werden in der

folgenden Aussage deutlich: Spiel hat kein Ziel, Arbeit ist ernstzunehmend. Dem steht

gegenüber, daß Kinder dadurch kreativ sind, indem sie sich und ihre Umwelt spielerisch

erforschen. Gerade das Spiel bietet viele Möglichkeiten der Kreativitätsförderung.

Durch das Spiel wird bei dem Kind Flexibilität, Flüssigkeit und die Elaboration von

Ideen gefördert. Durch das Spiel wird das Kind zu Phantasie und Intuition angeregt.

Das Kind lernt im Spiel das Verändern, Erneuern und das divergente Denken.307

Abschließend läßt sich mit Kossolapow (1972) sagen:

"Kreativität als Entfaltung individueller nonkonformer, risikobereiter, kritikfähiger Kräfte stößt immer wieder an gesellschaftliche Grenzen. Man kann nicht uneingeschränkt abweichendes Verhalten postulieren, solange die Toleranzgrenzen einer Gesellschaft nicht real überprüft sind."308

4.4 Fördernde Faktoren für eine kreative Entfaltung

Die meisten kreativitätshemmenden Faktoren liegen vorwiegend in den Umweltbedin-

gungen und dem Erziehungsmilieu des Kindes begründet. Folglich hat das

pädagogische Verhalten des Erziehers eine zentrale Bedeutung.

304Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 78.305Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 157.306Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 157307Vgl. Ebenda, S. 157; Landau, E. (1984), S. 104ff.308 Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 157f

81

Page 90: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Selbstsicherheit und Freiheit von Angst sind die effektivsten Grundbedingungen der

kreativen Entfaltung. Daher kann der Erzieher durch fördernde Bedingungen die Ent-

wicklung der Kreativität vorantreiben. Dabei ist eine nicht autoritäre Haltung des Erzie-

hers entscheidend, die dem Kind die Möglichkeit für Alternativen bietet und das Kind

ermutigt, sich schöpferisch zu betätigen.309

Daraus ergeben sich folgende fördernde Faktoren für eine kreative Entfaltung:

1. Offen sein;

2. Problematisieren;

3. Assoziieren;

4. Experimentieren;

5. Bisoziieren.310

4.4.1 Offen sein

Die Forderung nach Offenheit richtet sich vornehmlich an den Erzieher, während sich

die weiteren Aspekte auf das Kind beziehen. Der Erzieher soll sich - so lange es ihm

möglich ist - einer Wertung enthalten und eine Beurteilung aufschieben, da besonders

negative Wertungen den kreativen Prozeß behindern. Der Erzieher muß offen bleiben

und Fehler einkalkulieren. Dabei hilft der Erzieher dem Kind über Fehler

hinwegzukommen und daraus resultierende Frustrationen abzubauen.311

4.4.2 Problematisieren

Das Kind versucht, sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden zu geben, sondern

bessere Lösungsmöglichkeiten zu finden. Diese produktive Unzufriedenheit bleibt

solange erhalten, bis ein besserer Weg gefunden wird. Diese Einstellung kann zu einer

Grundhaltung werden, die Selbstvertrauen und Kraft erfordert, aber zugleich eine

zentrale Voraussetzung für Kreativität ist.312

4.4.3 Assoziieren

Die zuvor beschriebene Unzufriedenheit (das Problematisieren) kann nur produktiv

sein, wenn sie in fließende Assoziationen und in vielen phantasievollen Einfällen

mündet.

Da in jedem Menschen Phantasie steckt, kann sie geübt und gefördert werden, damit sie

kreativ ausgedrückt werden kann.313

4.4.4 Experimentieren

Durch das bereits geübte Assoziieren wird die nötige Vielschichtigkeit der Standpunkte

verdeutlicht. Um jedoch eine gegebene Situation zu überwinden, ist es oft nötig, starre

309Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 34.310Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 45.311Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 46f. 312Vgl. Ebenda, S. 48ff.313Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 34f.

82

Page 91: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Bezugsrahmen zu durchbrechen. Durch eine tragende Beziehung zwischen Erzieher und

Kind wird Angst abgebaut und verhindert.314

Eine Voraussetzung für das kreative Lernen ist, daß das Kind motiviert wird und spürt,

daß Kreativität von ihm erwünscht wird. Dies wird möglich, wenn der Erzieher im

Sinne Rogers (1959) die psychologische Sicherheit und die psychologische Freiheit

durch das Gewähren einer kritikarmen Atmosphäre fördert. Die psychologische

Sicherheit kann erzielt werden, indem das Kind in seiner Individualität akzeptiert und

ihm Vertrauen entgegen gebracht wird. Dazu sollte eine kritikarme Atmosphäre

vorhanden sein, damit das Kind sich so fühlen kann wie es ist und nicht so wie es sein

muß. Nur so ist das Kind in der Lage, sein Selbst auszudrücken und eine neue

Beziehung zu seiner Umwelt herzustellen. Unter psychologischer Freiheit wird eine

permissive (gewährende) Haltung verstanden, die dem Kind Freiraum zu spontanen und

spielerischen Handlungen gibt. Jedoch sollte hierbei neben einer permissiven auch eine

responsive Umwelt vorhanden sein, die mit dem Kind interagiert.315

Diese wird durch ein Zitat von Landau (1984) verdeutlicht:

"Viele Psychologen behaupten, daß sich bessere Erfolge erzielen ließen, wenn Unarten von schwererziehbaren Kindern übergangen, statt beachtet

würden. Gemessen wird der Erfolg daran, daß das Kind oft die Unarten einstellt, weil es keine Beachtung findet. Ein deutliches Ergebnis der permissiven Atmosphäre. Warum hört das Kind auf, ungezogen zu sein? Weil die Umwelt nicht darauf reagiert...Das gleiche geschieht auch in der kreativen Situation. Das Kind hört auf kreativ zu sein - wie es aufhört unartig zu sein - wenn die Umwelt nicht darauf reagiert."316

Für die Arbeit mit hyperaktiven Kindern bedeutet das: Zum einen soll das hyperaktive

Verhalten abgebaut werden. Dies geschieht am besten dadurch, indem der Erzieher

nicht auf das hyperaktive Verhalten reagiert. Zum anderen braucht das Kind die Zuwen-

dung der Umgebung, um kreative Leistungen zu erbringen. Die Kunst des Erziehers

liegt folglich darin, das Kind zu kreativen Leistungen zu motivieren, ohne seiner

Hyperaktivtät allzu große Beachtung zu schenken. Das spielerische Experimentieren

des Kindes wird zugelassen und gefördert. Anpassung und routinemäßiges Verhalten

soll dadurch vermindert werden. Die Voraussetzungen hierfür bestehen nicht nur in der

Aufwertung des spielerischen Experimentierens gegenüber einer intellektuellen

Einübung, sondern vor allem in der Neuerweckung sinnlicher Fähigkeiten.317

314Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 53f.315Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 135; Widmer, K. (1976), S. 764.316Landau, E. (1984), S. 97f317Vgl. Beer, U. / Erl, W. (1974), S. 55.

83

Page 92: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

4.4.5 Bisoziieren

Der kreative Prozeß lebt durch die Spannung gegensätzlicher Motive, z.B. im

Gegensatz zwischen Arbeit und Spiel, Planung und Zufall, Bewußtem und

Unbewußtem. Diese Gegensätze sollten vom Kind wahrgenommen und in seine Person

integriert werden.318

Gerade im Spiel bieten sich dem Kind Möglichkeiten kreativ zu werden und

eingefahrene Wege zu verlassen. Dabei können Spannungspole zugleich spielerisch

verknüpft werden.319

4.5 Die Wirkung der Erzieherhaltung in der kreativen Erziehung

Zuvor wurden verstärkt die Aspekte der Umwelt in den Vordergrund gestellt, die Krea-

tivität entweder fördern oder hemmen. Dabei wurde bereits beschrieben, daß der Erzie-

her bestimmte Merkmale aufweisen sollte, um einen fördernden Prozeß zu initiieren

und zu begleiten.

Ob ein Kind konformes oder nicht-konformes Denken entwickelt, ist abhängig von der

Einflußnahme der Bezugsperson - der Eltern und Erzieher und von deren

Erziehungszielen und Erziehungsstilen. Bereits im Kindergarten sind bestimmte Ziele

zu erreichen. Diese Erziehungsziele, bei denen die Leistung im Vordergrund steht,

wirken sich hemmend auf die Entwicklung der Kreativität aus.320

In ähnlicher Weise verhält es sich mit den unterschiedlichen Erziehungsstilen. In bezug

auf eine Kreativitätsförderung erweisen sich z.B. autoritäre Erziehungsstile als hem-

mend, da dort, wo Druck, Zwang und Konformismus vorherrschen, jegliche

Eigeninitiative des Kindes unterdrückt wird. Dagegen wirken freiheitlich-

demokratische Erziehungsstile, bei denen das Kind gegenüber dem Erzieher eine

partnerschaftliche Position einnimmt, förderlich für eine kreative Entfaltung (vgl.

Kapitel 3.5). Der Laissez-Faire-Stil begünstigt zwar zum einen die Assoziationen und

den freien Einfall, aber zum anderen hemmt er die nötige Elaboration, die den kreativen

Akt erst zu einem kreativen Produkt werden läßt.321

Da der Erzieher in einer direkten und engen Beziehung zu dem Kind steht, hat er dem-

entsprechend eine besondere Bedeutung. Folglich ist für die Kreativitätsförderung die

Beachtung und positive Anerkennung des Kindes seitens des Erziehers notwendig, da

das Kind bei einer Mißachtung aufhört kreativ zu sein. Der kreative Erzieher sollte in

seiner Gesamtpersönlichkeit kreativ sein, wenn er sich den Aufgaben einer Förderung

zur Kreativität stellen will. Um jedoch selbst kreativ zu werden, muß der Erzieher

einen Entwicklungsprozeß durchlaufen, bei dem er seine eigene Kreativität entwickelt.

318Vgl. Ebenda, S. 55f.319Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 35.320Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 46.321Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 119.

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Page 93: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Folglich kann der Erzieher nur dann kreative Leistungen von den Kindern verlangen,

wenn er alle Faktoren, die die Kreativität bestimmen, in sich integriert hat.322

Ein Erzieher, der über ein starkes intellektuelles Neugierverhalten verfügt, wird eine

hilfreiche Stütze für die Entfaltung der kindlichen Kreativität sein. Dadurch, daß er

neue Ideen und originelle Einfälle der Kinder aufgreift und sie zur Weiterentwicklung

dieser Ideen auffordert, besteht die Möglichkeit, daß sich kreatives Potential entwic-

kelt.323

Ein weiteres Ziel des Erziehers muß sein, zu mehr innerer Freiheit und Aufgeschlossen-

heit zu gelangen. Außerdem sollte der Wunsch nach einer Veränderung der pädagogi-

schen Routine vorhanden sein, die zu einem veränderten Verhältnis zwischen Erzieher

und Kind führt. In der gegenwärtigen Kindergartenerziehung ist immer noch das gehor-

same Kind erwünschter als das fragende, fordernde und unbequeme.324

Eine weitere Aufgabe des Erziehers besteht darin, eine Atmosphäre der Akzeptanz zu

schaffen, in der sich kreative Leistungen vollziehen können. Hier kann das Kind Selbst-

vertrauen entwickeln und sich angenommen fühlen. Durch das positive emotionale

Klima bekommt das Kind die Möglichkeit, kreativ etwas Neues zu entdecken. Durch

Erfolgserlebnisse wird bestehendes kreatives Verhalten unterstützt und gefördert.325

Da Kreativität immer in einem Kontext zwischen Erzieher und Kind stattfindet, sollte

der Aufbau einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit angestrebt werden. Das

beinhaltet, daß der Erzieher in bezug auf das Kind ein Ziel setzt und Anregungen zu ge-

meinsamen Leistungen gibt, wobei sich das Kind dann selbst entscheiden soll, ob es

diesen Anregungen folgt.326

Folglich ist die psychische Beteiligung des Erziehers ein Kennzeichen einer kreativitäts-

fördernden Erzieherhaltung. Der Erzieher beobachtet das Kind genau, um ihm mögli-

cherweise Hilfe durch bestimmte Impulse zu geben. Bei hyperaktiven Kindern fällt es

dem Erzieher oftmals schwer, aufgrund der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstö-

rungen ein Ziel vor Augen zu haben. Hier kommt dem Erzieher zunächst vorrangig eine

unterstützende Funktion zu. Er muß sich zurückhalten und nur dann hilfreich

eingreifen, wenn es unbedingt notwendig ist. Das Kind sollte seine Aufgabe selbst zu

einem Abschluß bringen. Dabei ist die Geduld der Erziehers gefordert. Durch Ungeduld

wird dem Kind die Möglichkeit des kreativen Agierens genommen oder der kreativen

Prozeß unterbrochen. Durch diese Störungen wird vor allem das leicht ablenkbare

hyperaktive Kind an der Zielverfolgung gehindert.327

Es stellt sich die Frage, inwieweit der Erzieher auf den kreativen Prozeß Einfluß

nehmen kann. Flechsig (1972) drückt dies folgendermaßen aus:322Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 43.323Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 158f.324Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 44. 325Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 36.326Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 137.327Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 76.

85

Page 94: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

"Die Einwirkung des Erziehers wird dabei vor allem in der Phase der Motivation für kreatives Verhalten und bei der Beurteilung seiner Produkte eine Rolle spielen, während für die Dauer des kreativen Prozesses das Individuum bzw. die Gruppe sich selbst überlassen bleibt, so daß der Erzieher sich im wesentlichen für gelegentliche Hilfen bereithalten muß."328

Somit ist ein punktuelles prozeßförderndes Intervenieren ein weiteres Kennzeichen

eines kreativen Erziehers. Dem Kind muß die Möglichkeit zu eigenem Experimentieren

gegeben werden, das auch mögliche Frustrationen impliziert. Frustrationen können

folglich als Herausforderung zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt

betrachtet werden.

Abschließend kann gesagt werden, daß eine angemessene kreative Erzieherhaltung und

verschiedene Aufgaben zur Aufmerksamkeits- und Konzentrationsförderung bei hyper-

aktiven Kindern kreative Handlungen begünstigen. Der Erzieher sollte offen und akzep-

tierend sein, über eine gute Beobachtungsgabe verfügen, Einfühlungsvermögen haben

und er sollte sich mit der Problematik der Hyperaktivtät auskennen, damit er die hyper-

aktiven Kinder erfolgversprechend fördern kann. Allgemein können die verschiedenen

Aspekte der Kreativitätsförderung zu einem besseren Verstehen des Kindes führen

sowie zu einer genauen Erfassung seiner Fähigkeiten und Grenzen. Der Erzieher

akzeptiert und erkennt die Einmaligkeit und Besonderheit des hyperaktiven Kindes.

Durch eine Erziehung zur Kreativität wird infolgedessen das Selbstvertrauen des

Kindes gestärkt und kreativitätshemmende Faktoren werden abgebaut. Das Kind wird

freier, unabhängiger, es muß Entscheidungen selber treffen, was sein Selbstvertrauen

steigert und sich damit positiv auf die Persönlichkeit des Kindes auswirkt. Dadurch

wird kreatives Handeln im gesamten Entwicklungsprozeß des Kindes möglich.329

4.6 Methoden und Techniken zum Training und zur Förderung kreativer Fertigkeiten

Die Methoden und Techniken kreativer Erziehung werden nur selten mit der Förderung

von Kindern im Vorschulalter in Zusammenhang gebracht. In der Regel werden die

Techniken und die damit verbundenen Trainingsprogramme in der Erwachsenenwelt

durchgeführt und dabei vor allem im Management von Unternehmen. Dabei dienen die

Kreativ-Methoden vornehmlich zur Produktivitätssteigerung.330

Jedoch können einige in der Wirtschaft praktizierten Techniken unter Vorbehalt von der

Pädagogik übernommen und auf den Bereich der Vorschulerziehung transformiert wer-

den.

328Flechsig, K.-H. (1972), S. 209329Vgl. Loddenkemper, H. / Schier, N. (1979), S. 38.330Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 136.

86

Page 95: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

4.6.1 Das Brainstorming

Das ursprüngliche Konzept des Brainstorming wurde von Alex F. Osborn entwickelt

und 1963 in dem Buch "Applied Imagination" veröffentlicht. Das Brainstorming basiert

auf dem Prinzip der freien Assoziation, das zu ungewöhnlichen Ideen führt. Das Brain-

storming setzt sich aus zwei Phasen zusammen. Dabei werden in der ersten Phase

(green-light-stage) Ideen entwickelt, bei denen folgende Regeln eingehalten werden

sollten:

- Jede Kritik ist verboten!

- Jede Idee ist willkommen!

- Soviel Ideen wie möglich!

- Die Weiterentwicklung von Ideen ist erwünscht!

In dieser ersten Phase sollen somit zunächst alle Ideen und Gedanken geäußert werden,

ohne jegliche Kritik und Wertung.331

In der zweiten Phase (red-light-stage) werden die zuvor gesammelten Ideen modifiziert

und verbessert und weitere Ideen können hinzugefügt werden. Dabei sollen nach

Osborn Checklisten oder Kontroll-Listen Verfahren angewandt werden, mit deren

Hilfe neue Ideenkombinationen gefunden werden. Osborn empfiehlt folgende Fragen:

- Anders verwenden. Wie kann etwas anders verwendet werden?

- Adaptieren. Was ist so ähnlich?

- Modifizieren. Was ist noch zu verändern?

- Magnifizieren. Was läßt sich vergrößern, verdoppeln oder multiplizieren?

- Minifizieren. Was kann weggenommen, verkleinert oder verkürzt werden?

- Substituieren. Wodurch kann etwas ersetzt werden?

- Rearrangieren. Was kann verdreht, anders angeordnet werden?

- Umkehren. Wie ist es mit dem Gegenteil?

- Kombinieren. Lassen sich Gedanken, Absichten und Elemente kombinieren?332

Brainstorming kann mit dem Wort "Gehirnsturm" oder "Ideensturm" übersetzt werden,

folglich wird diese kreative Technik zu einer der effektivsten Denkmethoden.333

Durch das Brainstorming bekommt das Vorschulkind in der ersten Phase die Möglich-

keit, sich kritikfrei innerhalb der Gruppe zu äußern. Dadurch wird eine eventuell

vorhandene Angst vor Blamagen verhindert und Rollenzwänge werden aufgehoben.

Durch die anschließende Diskussion der Ideen in der zweiten Phase des Brainstorming

entsteht Kommunikation innerhalb der Vorschulgruppe.334

Durch die Fragestellungen in der zweiten Phase können die Kinder Dinge verfremden,

verändern und umwandeln. Somit sollen die Checklisten hauptsächlich zur Anregung

331Vgl. Sikora, J. (1976), S. 43.332Vgl. Heinelt, G. (1974), S. 137f.333Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 58.334Vgl. Ebenda, S. 58.

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Page 96: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

des kreativen Denkens dienen. Daher sind die Fragen auch als Ergänzung und nicht als

Ersatz für mehr intuitive Formen des kreativen Denkens gedacht.335

In bezug auf hyperaktive Kinder bietet das Brainstorming eine gute Chance zur Integra-

tion des Kindes, da es in der ersten Phase seine Gedanken frei äußern kann, ohne jegli-

ches (Vor-)Urteil seitens der Gruppe. Dadurch wird im Brainstorming die Wichtigkeit

des einzelnen Kindes sowie seine Fähigkeit, sich an der Diskussion zu beteiligen, aner-

kannt.

4.6.2 Der morphologische Kasten

Durch den Astrophysiker Fritz Zwicky ist das morphologische Denken entwickelt wor-

den (Morphologie bedeutet: das Gebilde, die Gestalt, die Struktur betreffend.). Dabei ist

unter den unterschiedlichen Entdeckungen der morphologischen Forschung der moro-

phologische Kasten von besonderer Bedeutung.

Der Aufbau des morphologischen Kastens wird durch fünf Schritte gekennzeichnet. In

dem ersten Schritt findet eine Definition und eine zweckmäßige Verallgemeinerung des

Problems statt. Daraufhin werden in der zweiten Phase die Parameter des Problems be-

stimmt, d.h. alle Umstände, die die Problemlösung beeinflussen, werden ermittelt. Im

nächsten Schritt wird dann der morophologische Kasten erstellt, in dem alle Lösungen

kritikfrei eingeordnet werden. Die vierte Stufe bezieht sich auf die Analyse der vorhan-

denen Lösungen, während im fünften Schritt die optimale Lösung ausgewählt wird, die

bis zu ihrer endgültigen Realisierung weiterverfolgt wird.336

Für Kinder im Vorschulalter bietet der morphologische Kasten eine Möglichkeit des

Experimentierens, wobei der Ausgangspunkt immer ein Problem bzw. eine Aufgabe ist.

Dabei müssen die Themen kindgerecht gestellt werden.337

Für hyperaktive Kinder wird der morophologische Kasten nur dann die Chance zur

kreativen Entfaltung bieten, wenn seine Aufmerksamkeit und Konzentration über einen

längeren Zeitpunkt auf ein interessantes Problem gelenkt werden kann. Dennoch bietet

das ungestörte praktische Experimentieren dem hyperaktiven Kind die Gelegenheit

seine Impulsivität und Hyperaktivität auszuleben und eine neue Sicht des Problems zu

bekommen.

4.6.3 Die synektische Methode

Unter Synektik wird das Zusammenfügen verschiedener und scheinbar

unzusammenhängender Elemente verstanden. Das Ziel der synektischen Methode ist es,

vertraute Begriffe zu verfremden und Fremde vertraut zu machen. Dabei werden häufig

Parallelen zur Natur, bildhafte Vergleiche oder Metaphern herangezogen.338

335Vgl. Ebenda, S. 57.336Vgl. Sikora, J. (1976), S. 52.337Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 60.338Vgl. Beer, U. / Erl. W. (1974), S. 63.

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Page 97: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Für das Kind im Vorschulalter werden dadurch einzelne Wörter in einem größeren Be-

deutungszusammenhang gesehen und neue Begriffe werden erlernt. Dadurch können

neue Erfindungen und Problemlösungen zustande kommen, die zunächst als ungeeignet

erscheinen. Doch gerade diese "dummen" Ideen sind häufig die kreativsten und brauch-

barsten.339

Durch die starke Phantasie der hyperaktiven Kinder und ihren ungewöhnlichen Gedan-

kengängen kann es ihm mit Hilfe der synektische Methode ermöglicht werden, in eine

Gruppe integriert zu werden.

4.6.4 Der Gebrauch der Sinnesorgane

Die zuvor beschriebenen Methoden beziehen sich überwiegend auf Problemlösungsstra-

tegien und können daher eher als logisch-rationale Techniken der Kreativitätserziehung

angesehen werden.

Eine andere Position kann in einem emotional-sensitiven Zugang verdeutlicht werden,

der sich auf die Aktivierung und den Gebrauch der Sinnesorgane und auf eine

gesteigerte Aufnahmefähigkeit bezieht.340

Folgende Aussage von Kossolapow (1972) verdeutlicht die Annahme, daß die Förde-

rung der Sinneswahrnehmung eine wichtige Grundlage für die Kreativitätsförderung ist:

"Wie in der musischen Erziehung scheint die Förderung von Beobach-tungs- und Wahrnehmungstechniken zum Programm einer Erziehung zu gehören, die mit der Diskriminierung von Objekten nicht nur einen abstrakten Erkennungswert verbindet, sondern ein ganzheitlich-synthetisches Interesse an der Zusammenfassung psychologisch-geistiger Kräfte. Die Entwicklung von Intellekt und Wissen wird von Wahrneh-mungsrelationen abhängig gemacht, die durch die Sinne: Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen, Muskelbewegung und Gleichgewichts-erfahrung gewonnen werden."341

Die Aktivierung der Sinne und die Kreativitätserziehung stehen folglich in einem engen

Zusammenhang. Dies kann in spielerischer Art vom Kind entwickelt werden.

Maria Montessori hat beispielsweise ein besonderes Arbeitsmaterial für die

Sinnesschulung entwickelt. Dabei soll das Kind lernen, die Erfahrungen, die es im

Umgang mit den Materialien gesammelt hat, auf Situationen des Alltags zu

transferieren: Geschmacksübungen zum Schmecken von Nahrungsmitteln aus der

Umgebung; Hörübungen zum unterscheiden von Geräuschen; Tastübungen und

Sehübungen zum differenzierten Zuordnen und Beschreiben von Farben, Formen usw.;

339Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 65.340Vgl. Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 161.341 Kossolapow, L. (1972), in: Hundertmarck, G. / Ulshoefer, H. (1972), S. 161

89

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Bewegungsübungen zur Bewegungssicherheit mit Hilfe der Rhythmik, Tanz und freier

Körperbewegung.342

Besonders für hyperaktive Kinder ist die Schulung der Sinne wichtig, da gerade bei

ihnen die Entwicklung der Sinneswahrnehmung retardiert ist (vgl. Kapitel 2.1.6) und

dadurch die kreative Entwicklung stagniert.

5 Vorstellung und Diskussion medizinischer und pädagogisch-therapeutischer Interventionsmöglichkeiten bei hyperaktiven Kindern

Die Methoden der Kreativitätsförderung sind in der Arbeit mit hyperaktiven Kindern

heute noch nicht integriert. Bisher liegen auch keine wissenschaftlichen Studien zur

Kreativitätsförderung bei hyperaktiven Kindern vor.

Aus diesem Grund werden vornehmlich medizinische und pädagogisch-therapeutische

Fördermöglichkeiten bei hyperaktiven Kindern angewandt. Dabei gibt es verschiedene

therapeutische Hilfen, die je nach Schwerpunkt eingeteilt und benannt werden.

Vor dem Beginn einer therapeutischen Intervention muß die Behandlungsbedürftigkeit

des Kindes und die Therapieart geklärt werden. Die Voraussetzungen dafür bestehen in

einer differenzierten Indikation und in einer genauen Abstimmung der einzelnen Maß-

nahmen. Das Verständnis und die Akzeptanz für die Art der Behandlung sind notwen-

dige Bedingungen für den Erfolg der Therapie. Nur so kann das übergeordnete Thera-

pieziel - die Stabilisierung der kindlichen Persönlichkeit und die Normalisierung der

Beziehung des hyperaktiven Kindes zu seiner Umwelt - erreicht werden.

Eine grundlegende Voraussetzung für einen Therapieerfolg ist die Motivation des Kin-

des, die angestrebte Therapie zu durchlaufen. Des weiteren muß bei dem Kind ein Pro-

blembewußtsein in bezug auf sein Eigenverhalten geschaffen werden, damit ihm ange-

messene Problemlösungs- und Bewältigungsstrategien vermittelt werden können.343

Die Vermittlung bestimmter Handlungsanweisungen ist die entscheidende Aufgabe

eines Pädagogen. Somit trägt der Pädagoge in Zusammenarbeit mit dem Kind und den

Eltern zur Effektivität der Behandlung bei. Des weiteren ist darauf zu achten, daß die

fördernde Maßnahme über einen Mindestzeitraum durchgeführt wird, auch wenn dies

anfängliche Mißerfolge und Entmutigungen hervorruft. Eine einheitliche Therapie gibt

es nicht und kann es auch nicht geben, da die Hyperaktivität ein individuelles Problem

darstellt.344

Das Vorgehen muß sich am Einzelfall orientieren. Interventionseffekte sind meist

situations- und symptomspezifisch, so daß eine einzelne Maßnahme gewöhnlich nicht

342Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 66.343Vgl. Bauer, A. (1986), S. 87 f.344Vgl. Prochazka, E. (1995), S. 27.

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ausreicht, um der Gesamtproblematik gerecht zu werden. Die Heterogenität der

Symptome und Ursachen erfordert deshalb immer ein individualisiertes multimodales

Vorgehen.345

In der neueren Literatur werden eine Vielzahl verschiedener therapeutischer Interventi-

onsmöglichkeiten vorgestellt, die grundsätzlich in drei Kategorien unterteilt werden

können: Die erste Gruppe der therapeutischen Hilfen versucht auf biochemischen Weg

das hyperaktive Verhalten von Kindern zu beeinflussen, durch medikamentöse und

diätische Maßnahmen. Zum zweiten sind dies die therapeutischen Hilfen, die die Per-

sönlichkeitsentwicklung des Kindes unterstützen und die Beziehung des Kindes zu sich

selbst und zu anderen ordnen. Zu diesen Psychotherapieformen gehören u.a. die

systemische Familientherapie, die Festhaltetherapie, die Verhaltenstherapie und andere

Psychotherapieformen wie z.B. die klassische Kinderpsychotherapie, das Psychodrama

und die Gestalttherapie. Die dritte Gruppe der therapeutischen Hilfen umfaßt die In-

terventionsmöglichkeiten, die die Bewegungsaktivität steuern und die

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit des hyperaktiven Kindes verbessern.

Hierzu gehören u.a. Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage,

Theraplay, Musiktherapie, therapeutisches Reiten, Beschäftigungstherapie, progressive

Relaxation und die Mototherapie bzw. Psychomotorik.346

Im folgenden werden aus jedem der genannten Bereiche die am häufigsten

angewandten Therapien diskutiert.

5.1 Medizinische Interventionsmodelle

5.1.1 Die medikamentöse Therapie

Die Stimulantienbehandlung als eine spezielle Form der medikamentösen Behandlung

nimmt in der medizinisch-therapeutischen Intervention eine besondere Stellung ein.

Zum einen ist sie bis heute eine der am häufigsten angewandten Behandlungsmethode

bei hyperaktiven Kindern und zum anderen bildet sie die Grundlage für viele

kontroverse Diskussionen zwischen Medizinern und Pädagogen.

Aus diesen Gründen soll die Stimulantien- oder Pharmakatherapie innerhalb des pä-

dagogisch-therapeutischen Interventionsansatzes diskutiert werden.

In den USA steht die medikamentöse Behandlung hyperaktiver Kinder seit Jahrzehnten

im Vordergrund. In Deutschland dagegen wird die Behandlungsmethode in

Abhängigkeit von der therapeutischen Zielsetzung und einem mehr medizinischen oder

mehr psychologisch-pädagogischen Standpunkt unterschiedlich bewertet. Zum einen

345Vgl. Eisert, H.-G. / Eisert, M. (1982), in: Steinhausen, H.-Ch. (1982), S. 146.346Vgl. Schweizer, C. / Prekop, J. (1991), S. 133ff.

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steigen gegenwärtig die Zahlen von Medikamentenverordnungen an, zum anderen wird

die Kritik an der Behandlungsmethode immer stärker.347

Zu Beginn der 80er Jahre entfachte in Deutschland die von den Pädagogen stark kriti-

sierte Medizinisierung abweichenden Verhaltens, von der hyperaktive Kinder besonders

betroffen sind. Medizinisierung bedeutet, daß ein Verhalten als medizinisches Problem

oder Krankheit diagnostiziert wird und somit die Berechtigung bekommt, medizinisch

behandelt zu werden.348

Die Medizinisierung von abweichendem Verhalten beinhaltet die Individualisierung

von sozialen Problemen. Die Ursachen und Lösungen komplexer sozialer Probleme

werden vorwiegend im Individuum gesucht und nicht im sozialen Bezugssystem. Als

Folge daraus stellt die Medizin Diagnose und Therapie in den Mittelpunkt und ignoriert

das abweichende Verhalten als Symptom von Problemen im sozialen System.349

Die Medizinisierung des auffälligen Verhaltens hat weitreichende Konsequenzen. Sie

führt dazu, daß das hyperaktive Kind als "krank" stigmatisiert wird. Die Definition der

Hyperaktivität als Krankheit befreit die Gesellschaft und vor allem die Eltern von der

Notwendigkeit, die Ursache der abweichenden Verhaltensweise im eigenen Verhalten

oder in der Familienkonstellation zu suchen. Insofern haben die Medikamente eine Ent-

lastungsfunktion für die Eltern, da die Verantwortung für die Krankheit an den Arzt de-

legiert wird. Dies erklärt das starke Interesse der Eltern an der medikamentösen

Behandlung ihres hyperaktiven Kindes.350

Aus den genannten Gründen hat in den letzten zehn Jahren die Verordnung von Medi-

kamenten bei der Behandlung hyperaktiver Kinder stark zugenommen. Dennoch muß

betont werden, daß Medikamente auch hilfreich sein können. Gefährlich ist allein der

Mißbrauch. Eine länger andauernde Verabreichung von Medikamenten bei auffälligen

Kindern und Jugendlichen ist nur dann sinnvoll, wenn gleichzeitig weitere Bemühungen

eingesetzt werden, die dem Kind und der Umwelt bei der Lösung der Probleme helfen.

Ein leichtfertiger Umgang mit Medikamenten, und besonders mit psychoaktiven bei

fehlender diagnostischer Klarheit und fragwürdigen Interessen von der Umwelt ist ab-

zulehnen.

Die bei der Behandlung hyperaktiver Kinder gebräuchlichen Medikamente gehören zu

der Gruppe der Psychopharmaka. Sie können unterschieden werden nach:

- Neuroleptika: dämpfende Mittel mit hypnotisch- antipsychotischer Wirkung;

- Tranquilizer: beruhigende Mittel ohne hypnotisch-antipsychotischer Wirkung;

- Antidepressiva: stimmungsaufhellende Mittel;

- Psychostimulantien: antriebssteigernde, anregende Mittel.

347Vgl. Bauer, A. (1986), S. 94.348Vgl. Conrad, P. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 97.349Vgl. Conrad, P. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 107.350Vgl. Voss, R. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 28.

92

Page 101: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Bei der Behandlung hyperaktiver Kinder werden ausschließlich Psychostimulantien ver-

wendet. Verabreicht werden hierbei vor allem die Wirkstoffe Methylphenidat, Amphe-

tamine und Fenethylinhydrochlorid.351

5.1.1.1 Theoretischer Erklärungsansatz der medikamentösen Behandlung

Die Behandlung mit Psychostimulantien bei hyperaktiven Kindern ist auf den Arzt

Brandley zurückzuführen, der 1937 eine Untersuchung in einem Kinderheim durch-

führte. Er beobachtete, daß Amphetamine die motorische Aktivität bzw. die Unruhe

von Kindern mit Verhaltens- und/oder Lernschwierigkeiten reduzierte. Das war

insofern eine unerwartete, paradoxe Reaktion, als der Wirkstoff bei Erwachsenen

stimulierend wirkte.352

Die paradoxe Wirkung der Stimulantien basiert darauf, daß Hyperaktivität und

Impulsivität durch die Stimulantien gehemmt und normalisiert werden, so daß auf das

ZNS prinzipiell eine erregende Wirkung ausgeübt wird. Daraus entsteht für das Kind

ein optimales Erregungsniveau, welches wiederum Hemmungssysteme aktiviert, die die

Motorik kontrollieren. Stimulantien wirken derart auf Subsysteme des ZNS ein, daß das

Transmitterangebot im Gehirn erhöht wird. Daher verändern sich Reaktionsfähigkeit

und Gedankenarbeit des Kindes. Das betroffene Kind lernt, sich anders zu verhalten.353

Nach Eisert (1983) wurden in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik

Mannheim 1981 48% der dort vorgestellten hyperaktiven Kinder ambulant mit

Stimulantien behandelt. In einer Übersicht von Klicpera (1978) wird bei 75% aller mit

Stimulantien behandelter Kinder eine Verhaltensbesserung festgestellt, wobei nicht

eindeutig ist, welche Kriterien für diese Beurteilung zugrunde gelegt werden und in

wieweit unerwünschte Nebenwirkungen bei der Bewertung berücksichtigt sind.354

Weiss und Trokenberg - Hechtmann (1987) verglichen in ihrer Langzeitstudie

(Verlauf 10 bis 12 Jahre) Lebensverläufe und Selbsteinschätzungen von jungen

Erwachsenen, die in der Kindheit mit Stimulantien behandelt worden waren mit solchen

ohne Stimulantienbehandlung. Unter den medikamentös Behandelten waren mehr

Schulversager zu finden, der erreichte Ausbildungsgrad war im Schnitt geringer als bei

den medikamentös Unbehandelten. Dafür sahen die Behandelten ihre vergangene

Schulzeit positiver, und sie hatten bessere soziale Fertigkeiten und ein höheres

Selbstvertrauen entwickeln können.355

351Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 70.352Vgl. Voss, R. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 39.353Vgl. Bauer, A. (1986), S. 94; Eisert, H.-G. (1981), S. 376.354Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 71.355Vgl. Weiss, G. / Trokenberg-Hechtmann, L. (1987), S. 244ff.

93

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5.1.1.2 Ziele der medikamentösen Therapie

Bei der Behandlung hyperaktiver Kinder mit Stimulantien können drei Therapieziele

seitens der Medizin unterschieden werden: Erstens führen die Stimulantien zu einer

Reduktion der motorischen Unruhe bzw. Aktivität und damit verbunden zu einer

Gewährleistung von zielgerichtetem Lern- und Sozialverhalten. Cohen (1980) führt zu

diesem Punkt aus, daß sich die globale Aktivität bei Stimulantieneinwirkung erhöhen

kann, daß sich aber die Bewegungen beim Sitzen reduzieren.356

Das Aktivitätsniveau von Kindern ist unter Stimulantieneinwirkung unterschiedlich. In

freien Spielsituationen werden z.B. mehr motorische Aktivitäten gezeigt als in

gelenkten Situationen. Die durch Unruhe und Impulsivität ausgelösten

Konfliktsituationen nehmen ab. Das Kind muß weniger ermahnt und kritisiert werden.

Das zweite Ziel bezieht sich auf die erhöhte Kontrolle der kognitiven Impulsivität.

Eisert (1981) gibt dazu an, daß hyperaktive Kinder unter Stimulantieneinwirkung eine

verringerte kognitive Impulsivität zeigen. Sie haben eine höhere Impulskontrolle, was

vornehmlich bei Lösungen bestimmter Aufgaben, bei denen Planung und

antizipierendes Denken, also Hemmung der kognitiven Impulsivität, gefordert ist.

Klicpera (1982) bestätigt diese Aussage und beobachtet bei Kindern eine größere

Selbstkontrolle bei kognitiven Leistungsanforderungen. Das wiederum beeinflußt den

Umgang des Kindes mit seinen Interaktionspartnern. Es erlebt sich selbst als umgäng-

licher und wird von anderen als unkomplizierter erfahren.357

Ein drittes Ziel ist ebenfalls von großer Bedeutung. Die Verbesserung der Konzentrati-

onsfähigkeit und des Aufmerksamkeitsverhaltens unter Stimulantieneinfluß.358

In allen drei Therapiezielen scheint sich, für die Dauer der Medikation, eine zumindest

kurzfristige Verbesserung des Verhaltens zu zeigen. Neuere Langzeitstudien, die Aus-

kunft über Dauereffekte geben könnten, liegen nicht vor.

Die Beeinflussung der Medikamente beschränkt sich hauptsächlich auf die Primärsym-

ptome. Bei den Sekundärsymptomen (vgl. Kapitel 2.1) werden lediglich zu dem Be-

reich "Sozialverhalten" (subjektive) Elternbeobachtungen angeführt, die besagen, daß

das hyperaktive Kind weniger streitsüchtig ist, daß es besser mit Gleichaltrigen koope-

rieren kann und daß es weniger Auseinandersetzungen zwischen Kind und Eltern gibt.

Diese Effekte können jedoch auch durch die veränderte elterliche Zuwendung oder

durch positive elterliche Erwartungen hervorgerufen werden.359

5.1.1.3 Wirkung und Nebenwirkungen von Stimulantien

Obwohl im medizinischen Bereich zahlreiche Abhandlungen zur medikamentösen Be-

handlung hyperaktiver Kinder vorliegen, konnte eine eindeutig positive Wirkung von

356Vgl. Cohen, N. (1980), S. 409.357Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 341; Klicpera, Ch. (1982), in: Steinhausen, H-Ch. (1982), S. 76f.358Vgl. Klicpera, Ch. (1982), in: Steinhausen, H-Ch. (1982), S. 78.359Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 72.

94

Page 103: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Psychostimulantien nicht nachgewiesen werden. Alle Aussagen beziehen sich auf Kurz-

zeiteffekte.

Die Wirkung von Stimulantien besteht darin, daß sie die Wachheit des Kindes heben

und es somit ruhiger machen. Die Folge dieser Wachheit ist ein verbessertes

kommunikatives Verhalten. Es ist unter Stimulantieneinwirkung umgänglicher,

aufmerksamer und zufriedener. Es arbeitet besser mit, kann sich besser konzentrieren

und beendet angefangene Arbeiten. Außerdem bekommt das Kind mehr Feingefühl für

die Bedürfnisse anderer und reagiert besser auf erzieherische Maßnahmen.360

Bei einer kritischen Betrachtung der Stimulantientherapie muß der Blick ebenfalls auf

mögliche unerwünschte Nebenwirkungen gerichtet werden. Dies betrifft vor allem eine

Verringerung des Appetits und Einschlafstörungen. Des weiteren werden Schwindel,

Bauchschmerzen, Krampfanfälle, allergische Reaktionen, Verstimmungs- und Angstzu-

stände sowie Ruhelosigkeit genannt. Während der ersten Monate der Medi-

kamenteneinnahme tritt häufig ein Gewichtsstillstand oder eine -abnahme ein, was die

Eltern sehr beunruhigt. Es scheint aber, daß das Größenwachstum dabei nicht beein-

trächtigt wird.361

Da Stimulantien bei Kindern und Jugendlichen eher dysphorisch wirken, kann (im Ge-

gensatz zu Erwachsenen) die Gefahr einer Medikamentensucht bei ihnen nahezu ausge-

schlossen werden.362

5.1.1.4 Kritik an der medikamentösen Therapie

Eine bedeutende Chance bei der medikamentösen Behandlung hyperaktiver Kinder liegt

in den interaktionellen Auswirkungen bei Eltern und Pädagogen. Bezugspersonen kön-

nen ihre ablehnende-konfrontierende Haltung dem Kind gegenüber hin zu einer anneh-

mend-akzeptierenden Einstellung verändern. Einerseits kann dies positiv bewertet wer-

den, denn das Kind kann mit Hilfe der Medikamente für eine kurze Zeitspanne aus sei-

nem Teufelskreis ausbrechen und für sein ausgeglichenes Verhalten anerkennende

Zuneigung empfangen. Andererseits können jedoch angemessene Lerneinstellungen

und prosoziales Verhalten nicht medikamentös aufgebaut werden. Ein weiterer

Kritikpunkt ist, daß die Medikamente von außen zugeführt werden, nach Verordnung

des Arztes und unter Kontrolle der Eltern. Angepaßtes Verhalten als Effekt wird somit

nicht auf den eigenen Einsatz, auf das eigene Vermögen des Kindes zurückgeführt. Die

Medikamente können aus pädagogischer Sicht dem Kind die Chance nehmen, sein

eigenes Veränderungspotential einzusetzen. Die Kinder lernen, in problembeladenen Si-

tuationen zur "Pille" zu greifen. Jede Selbstverantwortlichkeit für das eigene Verhalten

360Vgl. Eichlseder, W. (1992), S. 122ff; Voss, R. (1992), S. 24; Wender, P. (1991), S. 48.361Vgl. Cramond, B. (1994), S. 205; von Lüpke, H. (1990), in: Voss, R. (1990), S. 71.362Vgl. Klicpera, Ch. (1982), in: Steinhausen, H-Ch. (1982), S. 83.

95

Page 104: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

und Handeln kann dadurch in Frage gestellt und die Anstrengungsbereitschaft für eine

Verhaltensänderung vermindert werden.363

Dem hyperaktiven Kind kann dadurch die Möglichkeit genommen werden, sich aktiv

mit seinem Problemverhalten auseinanderzusetzen, ein ausreichendes

Problembewußtsein aufzubauen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, die es ihm

ermöglichen, die Diskrepanz zwischen Eigenverhalten und Umweltanforderungen

hinreichend zu kontrollieren.364 Außerdem wirken die Medikamente nur solange sie

verabreicht werden. Eltern und Kind glauben an eine Symptomfreiheit, ohne zu

bedenken, daß nach dem Absetzen des Medikaments die Probleme in unveränderter

oder sogar verstärkter Form wieder auftreten können. Im ungünstigsten Fall bleiben

Ursache und Symptomatik trotz Stimulantienbehandlung langfristig erhalten.365

Der Einsatz einer Psychopharmakatherapie sollte generell einer strengen

Indikationsstellung unterliegen und nur dann angewandt werden, wenn die Störungen

so ausgeprägt sind, daß andere pädagogisch-therapeutische Maßnahmen bereits versagt

haben oder nach aller Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen. Es sollte immer darauf

geachtet werden, daß mit der kleinsten noch wirksamen Dosierung begonnen wird und

Medikamentenpausen eingehalten werden. Die Einnahme sollte immer zeitlich begrenzt

sein.366

Prinzipiell sind Interventionsansätze vorzuziehen, die begleitend zur Medikation Selbst-

hilfekräfte bei dem Kind aktivieren und in den sozialen Feldern Familie und

Kindergarten bzw. Schule veränderte Einstellungen dem hyperaktiven Kind gegenüber

initiieren. Voss (1991) ist der Ansicht, daß die Verabreichung von Medikamenten ein

Resultat fehlender qualifizierter pädagogischer, psychologischer und sozialpolitischer

Hilfsangebote ist. Als Grundvoraussetzung für einen verbesserten Umgang mit dem

Kind ist für ihn ein Menschenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Einzigartigkeit

akzeptiert und ernst nimmt.367 Für die Gesellschaft bedeutet die Verlagerung des

sozialen Problems abweichenden Verhaltens in den medizinischen Bereich ebenfalls

eine Entlastung. Unerwünschtes Verhalten als Krankheit zu definieren bedeutet, ein

mögliches gesellschaftliches Problem zur Privatsache zu erklären. Psycho-soziale

Faktoren (vgl. Kapitel 2.2.4) als mögliche Ursache abweichenden Verhaltens treten als

gesellschaftspolitisch-soziologisches Problem nicht mehr in das Blickfeld und werden

verharmlost auf Kosten der Kinder.368 Pädagogische Hilfe beinhaltet somit eine Form

der Problembewältigung, in der alle Betroffenen mit dem Kind eine gestörte Situation

gemeinsam bewältigen wollen.

363Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 38.364Vgl. Bauer, A. (1986), S. 98.365Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 416.366Vgl. Bauer, A. (1986), S. 102.367Vgl. Voss, R. (1991), in: Voss, R. (1991), S. 11ff.368Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 73.

96

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5.1.2 Die diätischen Behandlungsansätze

Seit einiger Zeit setzt sich die wissenschaftliche Literatur mit der Möglichkeit einer the-

rapeutischen Beeinflussung der Hyperaktivität durch diätische Maßnahmen aus-

einander.

Wie bereits in Kapitel 2.2.3 dargelegt, entstehen im Zusammenhang mit der Annahme

ökologischer Verursachungsfaktoren, insbesondere Nahrungsmittelunverträglichkeiten,

Formen der diätischen Behandlung für hyperaktive Kinder.

Die unterschiedlichen Möglichkeiten, besonders im Hinblick auf eine Diät, erscheinen

vielen Eltern ungefährlicher als eine medikamentöse Behandlung. Eine Diät bedeutet

jedoch für einen im Wachstum befindlichen Organismus einen Eingriff und bedarf

einer sorgfältigen ärztlichen Überwachung, da sonst Stoffwechselstörungen nicht

rechtzeitig erkannt werden können.369

5.1.2.1 Theoretischer Erklärungsansatz der diätischen Behandlungsansätze

Der ernährungstherapeutische Ansatz basiert auf der Annahme eines unmittelbaren Zu-

sammenhangs zwischen der Hyperaktivität und neurochemischen Funktionsstörungen.

Als auslösender Mechanismus wird eine Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten

Nahrungsstoffen angenommen, die sich als Folge einer erblichen, konstitutionellen oder

umweltbedingten Hirnstoffwechselstörungen ergibt. Als Einflußfaktoren werden neben

Aroma- und Farbstoffzusätzen ein zu hoher Phosphatgehalt der Nahrung angeführt. Aus

diesem Wirkzusammenhang resultiert die therapeutische Konsequenz einer Beein-

flussung des Hirnstoffwechsels durch Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten.370

5.1.2.2 Die Lebensmittel-Farbstoffe und Feingold-Diät

Die Diskussion um die mögliche Verursachung der Hyperaktivität durch eine

allergische Reaktion wurde in den 70er Jahren von dem amerikanischen Allergologen

Feingold angeregt. Für ihn waren neben den Farbstoffzusätzen in der Nahrung vor

allem die natürlich auftretenden Salicylate, die z.B. in einer Vielzahl von Früchten

enthalten sind, die Ursache für das hyperaktive Verhalten von Kindern. Basierend auf

dieser Hypothese entwickelte Feingold eine Diät, die sowohl salicylathaltige

Nahrungsbestandteile wie auch künstliche Farb- und Geschmacksstoffe eliminierte. Die

Diät wurde unter dem Namen Kaiser-Permanente-Diät bekannt. Zunächst führte

Feingold seine Diät im klinischen Bereich nur an Erwachsenen durch. Später richtete

sich sein Interesse auch auf hyperaktive und lerngestörte Kinder, bei denen er eine

schnell einsetzende Verbesserung der motorischen Unruhe innerhalb von Tagen

beobachtete, die in Abhängigkeit von dem Einsatz der Diät nach seinen Angaben an-

369Vgl. Krause, J. (1995), S. 55.370Vgl. Bauer, A. (1986), S. 103.

97

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und abstellbar gewesen sei. Feingold hat in seinen eigenen Publikationen (1975) keine

wissenschaftlich verwertbaren Daten zur Verifizierung seiner Hypothese angeführt.371

Steinhausen (1982) kommt in einer umfassenden Übersicht zu dem Schluß, daß die

vielen positiven Befunde der amerikanischen Studien unter methodisch unzureichenden

Bedingungen zustande gekommen sind und eher auf Placebo-Effekten beruhen. Er zieht

den Schluß, daß die genannten Nahrungsmitteladditiva bestenfalls bei einer Minderheit

hyperaktiver Kinder mit deren Verhalten interferieren. Unter kontrollierten

Bedingungen habe sich bisher kein Ergebnis bestätigen lassen.372

5.1.2.3 Die phosphatreduzierte Diät nach Hafer

Eine neue Hoffnungswelle der Behandlung ohne Medikamente löste die Apothekerin

Hafer (1984) aus. Sie nahm an, daß von außen zugeführte Phosphate Auslöser des hy-

peraktiven Verhaltens sind. Zur Zeit liegt zur Hypothese der Phosphatvergiftung keine

wissenschaftliche Bestätigung vor.

Die phosphatreduzierte Diät stellt für Kinder eine erhebliche Einschränkung dar. Be-

stimmte Nahrungsmittel müssen wegen ihres natürlichen Phosphatgehalts gemieden

oder stark eingeschränkt werden. Darunter fallen z.B. Milchprodukte, die meisten

Fruchtsäfte, Limonaden, alle Hafererzeugnisse, Nüsse und alle daraus hergestellten

Artikel sowie alle Kakaoprodukte, besonders Schokolade.373

In Übereinstimmung mit Untersuchungen aus den USA konnte Hafer (1984) bei

einigen hyperaktiven Kindern Verhaltensänderungen feststellen. Dabei handelte es sich

vor allem um eine Verringerung von Hyperaktivität und Impulsivität verbunden mit

einer Erhöhung der Aufmerksamkeit und Konzentration sowie einer Reduzierung

allgemeiner Verhaltensstörungen. Besonders deutlich wurde die Wirkung bei einer

Unterbrechung der Diät, bei der innerhalb kurzer Zeit die vorherige Symptomatik

erneut auftrat. Kritisiert werden muß an dieser Studie, daß sie sich vornehmlich auf

Eltern- und Lehrerbefragungen bezog. Die wenigen Studien, in denen standardisierte

Verhaltensbeobachtungen oder objektive Testverfahren eingesetzt wurden, bestätigten

die Ergebnisse nicht.374

5.1.2.4 Kritik an den diätischen Maßnahmen

Aufgrund der mangelnden wissenschaftlichen Ergebnisse ist der ernährungstherapeuti-

sche Ansatz kritisch zu bewerten. Neben der fehlenden Effektivitätskontrolle wird vor

allem auf das Risiko von Mangelerscheinungen durch die Einseitigkeit der Ernährung

hingewiesen.

371Vgl. Calatin, A. (1992), S. 39ff; Eichlseder,W. (1992), S. 86ff; Krause, J. (1995), S. 55.372Vgl. Steinhausen, H.-Ch. (1982), in: Steinhausen, H.-Ch. (1982), S. 107f.373Vgl. Calatin, A. (1992), S. 44ff; Hafer, H. (1986), 90ff; Krause, J. (1995), S. 55ff.374Vgl. Bauer, A. (1986), S. 104.

98

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Als Folge der wissenschaftlich unzureichend belegten Feingold-Hypothese wurde in

den Vereinigten Staaten eine Nationale Expertenkommission bei der Nutrition

Foundation gebildet. Diese stellt in ihrem Bericht von 1975 fest, daß es erstens an kon-

trollierten Studien mangele, die den Zusammenhang zwischen Hyperaktivität und Nah-

rungsmittelzusätzen belegten. Zweitens wurde nicht bestätigt, daß hyperaktive Kinder

unter salicylat- und nahrungsmittelzusatzfreien Diäten ihr Verhalten änderten. Drittens

wurde angesichts fehlender Untersuchungen die Sorge geäußert, daß das Vorgehen die

langfristigen Ernährungsbedürfnisse von Kindern nicht abdecke, und schließlich wurde

empfohlen, die Diät nicht ohne kompetente medizinische Überwachung einzusetzen.375

Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, daß bei einer feststellbaren Verhaltensänderung

auch die Veränderung der familiären Zuwendung als wesentlicher Faktor berücksichtigt

werden muß. Das Kind bekommt auf natürliche Weise eine Sonderstellung innerhalb

der Familie, so daß die Symptomverbesserung als Placeboeffekt zu verstehen ist. Sie

beruht somit häufig mehr auf der positiv veränderten Einstellung der Eltern zu ihrem

Kind und auf den hoffnungsvollen Erwartungen des Kindes selbst und der Familie.376

In diesem Zusammenhang bemerkt Steinhausen (1982), daß im günstigsten Fall bei ei-

ner geringen Anzahl von hyperaktiven Kindern ein Zusammenhang zwischen

Symptomen und Nahrungsmitteln zu bestehen scheint. Außerdem ist die Anwendung in

bezug auf mögliche Schädigungen, sowohl körperlich im Sinne von Mangelerscheinun-

gen, als auch psychisch, infolge dauerhafter Verzichtleistungen, bei geringen

Erfolgsquoten fragwürdig.377

Bevor der diätische Behandlungsansatz als zulässige Therapiemethode empfohlen

werden kann, bedarf es weiterer wissenschaftlicher Langzeitstudien. Wünschenswert

erscheint dies auch im Hinblick auf eine Alternative zur medikamentösen Behandlung.378

Die Elternorganisation "Arbeitskreis überaktives Kind", die sich in Deutschland

intensiv mit hyperaktiven Kindern beschäftigt, erwirkte 1990 bei der Bundesregierung

die Vergabe einer groß angelegten Studie, die in einer Laufzeit von viereinhalb Jahren

differenzierter Untersuchungen interessante Ergebnisse hervorbrachte. Die Studie

umfaßt mehrere Einzelstudien, aus denen folgende Ergebnisse hervorgingen:

- Nahrungsallergien und Reaktionen auf Nahrungsmittel können das Verhalten von

Kindern verändern;

- unter der allergischen Nahrungsmittelreaktionen bildet sich im Stirnhirn eine Durch-

blutungsstörung aus. Dadurch findet ein veränderter Gehirnstoffwechsel statt;

- eine oligoantigene Diät, die den Verzehr von allergisch wirkenden Substanzen ver-

bietet, bessert das hyperaktive Verhalten;

- unter allergenfreier Diät bessern sich auch andere Verhaltensstörungen wie z.B.

375Vgl. Steinhausen, H.-Ch. (1982), in: Steinhausen, H.-Ch. (1982), S. 98.376Vgl. Wender, H. / Wender, E. (1988), S. 73f.377Vgl. Steinhausen, H.-Ch. (1982), in: Steinhausen, H.-Ch. (1982), S. 98f.378Vgl. Bauer, A. (1986), S. 106.

99

Page 108: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

antisoziales Verhalten, emotionale Störungen, Depressionen.

Nicht nachgewiesen wurde die ursprünglich angenommene Rolle der Phosphate als

Auslöser der Hyperaktivität.379 Die besondere Bedeutung der Ergebnisse dieser Studie

liegt im Nachweis eines Zusammenhangs von Ernährung und Verhalten. Das war von

ärztlicher Seite bislang bezweifelt worden. Der "Arbeitskreis überaktives Kind" hat be-

reits seit vielen Jahren auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Viele Eltern haben oft

von guten Erfolgen bei Einhaltung einer bestimmten Diät in bezug auf eine Besserung

des hyperaktiven Verhaltens berichtet. Dennoch bleibt die Frage nach den

Nahrungsmittelallergien umstritten. Daher sollte die Wirkung der diätischen

Behandlungsformen auf wisssenschaftlicher Ebene weiter erforscht werden.380

5.2 Pädagogisch-therapeutische Interventionsmodelle

5.2.1 Formen der kognitiven Verhaltenstherapie

Wenn nicht-medikamentöse Interventionen als Alternative zur medikamentösen

Behandlungen diskutiert werden, wird vor allem auf die Verhaltenstherapie oder

Verhaltensmodifikation verwiesen, wodurch viel Symptome verringert werden und

neues positives Verhalten gebildet werden kann.381

Innerhalb der Verhaltenstherapie gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen, über die

auf die verschiedenen Symptome der Hyperaktivität Einfluß genommen werden kann.

Dabei hat sich gezeigt, daß eine Verhaltensänderung durch soziale Bekräftigung, durch

Lernen am Erfolg oder Lernen durch Einsicht grundsätzlich effektiver sind als eine aus-

schließliche Konditionierung einzelner Verhaltensweisen.382

5.2.1.1 Theoretischer Erklärungsansatz der kognitiven Verhaltenstherapie

Die Verhaltenstherapie bei hyperaktiven Kindern steht in unmittelbarer Verbindung zu

einem lerntheoretischen Erklärungsansatz. Bei diesem Ansatz stehen Lernprozesse im

Mittelpunkt des Interesses. Im allgemeinen wird in der klassischen Lerntheorie davon

ausgegangen, daß jedes Verhalten, ob erwünschtes oder unerwünschtes, im Laufe des

Lebens erlernt wird und zwar unter bestimmten beschreibbaren Regeln. Der Mensch

wird als Organismus betrachtet, der auf Reize in bestimmter Weise reagiert. Folgt auf

eine Reaktion eine positive Konsequenz (positive Verstärkung) wird die Art der Re-

aktion beibehalten; folgt eine negative Konsequenz, oder bleibt eine positive

Verstärkung aus (negativer Verstärker, aversiver Reiz), so wird die Art der Reaktion

379Vgl. Bernau, S. (1995), S. 61f; Calatin, A. (1992), S. 51.380Vgl. Ebenda, S. 63.381Vgl. Durbin, K. (1993), S. 4.382Vgl. Bauer, A. (1986), S. 111.

100

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reduziert, modifiziert oder ganz aufgegeben. Diese Prozesse werden als Konditio-

nierung bezeichnet.383

Unter dem lerntheoretischen Aspekt können drei Erklärungsansätze zur Entstehung der

Hyperaktivität unterschieden werden:

1. Hyperaktivität als Folge von Konditionierungsprozessen;

2. Hyperaktivität als Ergebnis von Modellernen;

3. Hyperaktivität als Reaktion auf Unterstimulierung.384

1. Hyperaktivität als Folge von Konditionierungsprozessen

Konditionierungsprozesse finden in der Erziehung in vielfältiger Weise statt. Bezogen

auf die Hyperaktivität erscheint es relativ unglaubwürdig, daß die Symptome

(Impulsivität, emotionale Schwierigkeiten usw.) allein auf Lernprozesse zurückführbar

sein sollten. Sicher verstärken Eltern oft das hyperaktive Verhalten dadurch, daß die

dem Kind ihre Aufmerksamkeit widmen (positive Konsequenz). Die gesamte

Symptomatik der Hyperaktivität kann jedoch nicht allein durch das Erziehungsverhal-

ten der Eltern verstärkt werden. Konditionierungsprozesse wären somit nur für einige

Einzelsymptome als Erklärungsmodell heranzuziehen.385

2. Hyperaktivität als Ergebnis von Modellernen

Eine weitere Form von Lernprozessen im Rahmen der kognitiven Lerntheorie stellt das

mit dem Namen Bandura verbundene Modell- oder Beobachtungslernen dar. In bezug

auf das hyperaktive Verhalten sind vor allem zwei Aspekte von besonderer Bedeutung.

Zum einen ist dies der Aspekt, daß eine große Anzahl Eltern und Geschwister eines hy-

peraktiven Kindes ebenfalls in ihrer Kindheit hyperaktive Verhaltensweisen zeigten.

Daraus kann geschlossen werden, daß darin nicht nur ein Hinweis auf eine genetische

Vererbung (Vgl. Kapitel 2.2.1) gesehen werden kann, sondern ebenso, daß sich Kinder

einen Teil ihrer hyperaktiven Symptome über Beobachtungslernen an ihren Eltern und

Geschwistern aneignen. Dabei sind vier Schritte von Bedeutung:

- Beobachtung des Modells;

- Speicherung des Beobachteten;

- Erprobung bzw. Training des neuen Verhaltens;

- automatisierte Anwendung nach positiver Bestätigung von Außen.386

Der zweite Aspekt bezieht sich darauf, daß viele menschliche Verhaltensmuster so

komplex sind, daß sie nur sehr umständlich oder nur unzulänglich durch einfache

383Vgl. Lefrancois, G.R. (1994), S. 49ff.384Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 49.385Vgl. Ebenda, S. 49f.386Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 50.

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operante Konditionierung erworben werden. Für die Hyperaktivität bedeutet dies, daß

zum Teil auch über die Beobachtung einer Modellperson bzw. eines Modellverhaltens

gelernt wird. Meistens ist den Eltern die eigene Vorbildfunktion jedoch nicht bewußt.387

3. Hyperaktivität als Reaktion auf Unterstimulation

Nach neueren experimentellen Untersuchungen wird bei hyperaktiven Kindern von

einer Unterstimulation ausgegangen. Das bedeutet, daß das Kind seine Umwelt als

wenig oder mangelhaft stimulierend erlebt. Die Folge dieser sogenannten

Reizdeprivation ist ein Verhalten, das als Eigenstimulation verstanden werden kann,

nämlich vermehrte Aktivität. Aufgrund der positiven selbstverstärkenden Konsequenz

(Reduktion des unangenehmen Gefühls von Reizdeprivation) wird das

selbststimulierende Verhalten (Hyperaktivität) weiterhin gezeigt. Da die Hyperaktivität

in der Familie und in Institutionen wie Kindergarten und Schule, ein nicht akzeptiertes

Verhalten ist, wird der Prozeß der Eigenstimulation meist durch Sanktionen, also

aversive Reize von außen, unterbrochen. Die Folge ist eine Verminderung der

kindlichen Hyperaktivität mit der erneuten Reizdeprivation als Konsequenz daraus. Das

Kind versucht wiederum diese Reizdeprivation durch Eigenstimulierung abzubauen, mit

der Folge, daß die Hyperaktivität nach kurzer Zeit ansteigt. Somit steht das Kind

zwischen Bedürfnisbefriedigung und sozial erwünschtem Verhalten. Die Folge seines

Verhaltens provoziert jedoch immer eine negative Konsequenz, entweder eine erhöhte

Reizdeprivation oder Sanktionen von außen.388

Dieser Verstärkungsprozeß wird in Abbildung 9 verdeutlicht.

387Vgl. Sinz, R. (1986), in: Brack, U. (1986), S. 33.388Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 52.

102

Page 111: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Abb. 9: Zuwiderlaufende Verstärkungsprozesse bei der Eigenstimulation.

[Quelle: Vernooij, M. (1992), S. 52.]

Insgesamt können die lerntheoretischen Ansätze der Komplexität des Phänomens nicht

gerecht werden. Die Hyperaktivität als erlerntes, unerwünschtes Verhalten zu beschrei-

ben, das als Folge falscher Konditionierungsprozesse, als Ergebnis von

Beobachtungslernen am falschen Modell und/oder als Reaktion auf Unterstimulation

entstanden ist, erscheint sehr fragwürdig, wenn dem Menschen auch nur ein geringes

Maß der Fähigkeit zu selbstbestimmten, individuellem Denken und Handeln

zugestanden wird.389

5.2.1.2 Ziele der kognitiven Verhaltenstherapie

In den letzten Jahren zeichnet sich eine Entwicklung von der klassischen Verhaltensthe-

rapie zur kognitiven Verhaltenstherapie ab. Diese bezieht, im Gegensatz zur klassischen

Verhaltenstherapie, die Kognitionen des Menschen, in ihrer Bedeutung für die Entste-

hung von Fehlverhalten bzw. von Problemsituationen, mit ein. Während in der klassi-

schen Verhaltenstherapie störende oder unerwünschte Verhaltensweisen isoliert behan-

delt und kontrolliert werden - im wesentlichen mit Verstärkerprogrammen - werden in

der kognitiven Verhaltenstherapie die Verhaltenssymptome zumindest in einen komple-

xen Kognitionszusammenhang gestellt.390

389Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 53.390Vgl. Ebenda, S. 74.

103

Page 112: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Im wesentlichen geht es bei der kognitiven Verhaltenstherapie um eine Verbesserung

der Selbstkontrolle des Kindes bezüglich seiner von außen beobachtbaren

Verhaltensweisen und seiner kognitiven Impulsivität. Das Kind soll dabei kognitive

Strategien erwerben, mit deren Hilfe es ihm gelingt zu überlegen, bevor es handelt.

Diese Bewältigungsstrategien ermöglichen dem Kind, die mangelnde Impulssteuerung

zu überwinden, seine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne zu erweitern sowie

seine Arbeitsdauer zu steigern. Es vollzieht sich ein Wandel von einem impulsiven zu

einem reflexiven Verhaltensstil. Dem Kind wird eine konstruktive Auseinandersetzung

mit seiner Umwelt und seinen eigenen Problemen ermöglicht.391

5.2.1.3 Zur Konzeptualisierung der Störung

Nach Eisert (1995) kann die Hyperaktivität als eine Störung begriffen werden, bei der

es dem Kind auf der physiologischen, der emotional-kognitiven und der sozialen Ebene

nicht gelingt, sich situativen Anforderungen anzupassen. Diese Probleme haben mit ei-

nem Defizit der Selbststeuerung zu tun, das nach Douglas (1983) durch vier Aspekte

gekennzeichnet ist:

1. Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und Anstrengung;

2. Unfähigkeit, Impulsiv-Reaktionen zu hemmen;

3. Unfähigkeit, das eigene Aktivitätsniveau (Arousal) an die jeweiligen situativen

Anforderungen anzupassen;

4. Tendenz, unmittelbare positive Rückmeldung (Gratifikation) zu suchen.392

Wichtig ist, daß nicht die Informationsverarbeitung an sich gestört ist. Defizite treten

verstärkt in Situationen hervor, in denen die Anforderungen an das Kind quantitativ und

qualitativ steigen. In diesen Fällen zeigen hyperaktive im Vergleich zu unauffälligen

Kindern erhebliche Leistungseinbußen. Die Folge ist, daß das Kind keine altersgerechte

Entwicklung durchläuft, d.h. es lernt nicht, über sich, sein Umfeld, situative

Gegebenheiten und Probleme sowie Problemlösungen nachzudenken. Es erfährt

ständige Mißerfolge im Kognitiven wie im Sozialen.393

Diese Vorstellungen stellen den allgemeinen Hintergrund für die kognitiv-

verhaltenstherapeutische Intervention dar. Für das Gelingen kognitiv-therapeutischer

Interventionen ist die Berücksichtigung des Alltagsmilieus der Kinder unerläßlich. Es

erscheint sinnvoll, Eltern und Pädagogen in die Interventionsbemühungen

einzubeziehen, da nach lerntheoretischen Vorstellungen sowohl die Familie als auch die

verschiedenen Institutionen bei der Entstehung der Symptome beteiligt sind.394

391Vgl. Bauer, A. (1986), S. 113; Eisert, H.-G. (1981), S. 468; Krause, J. (1995), S. 58.392Vgl. Eisert, H.-G. (1995), in: Franke, U. (1995), S. 82.393Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 75.394Vgl. Bauer, A. (1986), S. 114.

104

Page 113: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Vor einer Behandlung im Sinne einer kognitiven Verhaltenstherapie ist es besonders

wichtig, eine Problemanalyse (Verhaltensanalyse) zu erstellen durch ausführliche

Befragungen und Verhaltensbeobachtungen in der Familie und in den jeweiligen

sozialen Institutionen. Es wird nach Auslösern, Situationen und situativen Kontexten

geforscht. Das Ergebnis soll eine gründliche Darstellung der Vorgeschichte des

Problemverhaltens und den Folgen des Verhaltens sein. Nach dieser Verhaltensanalyse

wird der Behandlungsplan erstellt.395

5.2.1.4 Das Problemlösetraining

Beim Problemlösetraining soll das hyperaktive Kind in spielerischer Form lernen, mit

Hilfe neuer Strategien Problemsituationen rechtzeitig zu erkennen und sie in angemes-

sener Weise zu bewältigen. Bei einem systematisierten Problemlöseprozeß werden fünf

Schritte unterschieden:396

1. Kontrolle der Einstellung zur Problemsituation und Kontrolle der Problem-

wahrnehmung

Eine Problemsituation soll in diesem Prozeßschritt möglichst vorbehaltsfrei gesehen

werden und es soll eine positive Bereitschaft zur Bewältigung des Problems entwickelt

werden.

2. Analyse der Problemsituation, Definition und Formulierung des Problems

Hier soll eine Problemsituation dahingehend betrachtet werden, daß die problemauslö-

senden Bedingungen und Faktoren sowie der Kern des Problems erfaßt werden und die

Zusammenhänge reflektiert werden. Daraus entsteht die Grundstruktur des Problems,

als Basis für den nächsten Schritt.

3. Alternative Lösungsmöglichkeiten

Alternative Lösungsmöglichkeiten zu suchen, zu sammeln und gedanklich

durchzuspielen führt zum vierten Schritt.

4. Handlungsentscheidung

Nach Überprüfung der Vor- und Nachteile sowie der Möglichkeiten und Grenzen der

alternativen Lösung wird unter Einschätzung der eigenen Einsatzbereitschaft und des

eigenen Handlungsvermögens, die Entscheidung für eine der Alternativen getroffen.

5. Überprüfung

395Vgl. Taylor, E. (1986), S. 87f. 396Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 75f.

105

Page 114: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die Effizienz der Handlung, bezogen auf die Problemlösung wird im fünften Prozeß-

schritt kritisch bewertet. Schlägt die ausgewählte Methode nicht an, wird eine Alterna-

tive ausprobiert. Im positiven Fall, d.h. nach erfolgreicher Problembewältigung wird

der Gesamtprozeß zur Festigung der Einzelschritte noch einmal nachvollzogen, so daß

das Kind später selbständig die Einzelschritte auf ähnliche Problemsituationen

übertragen kann.

Das Kind lernt bei der spielerischen Vermittlung von Problemlösefertigkeiten u.a. seine

Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit auf eine Sache zu lenken, Impulsiv-Reaktionen

stärker zu kontrollieren und zurückzuhalten, vermehrt situationsgerecht zu reagieren

sowie die selbstverstärkte Wirkung eines erfolgreichen Prozesses als positive Rückmel-

dung zu werten. Langfristig wird das Kind durch das Problemlösetraining mehr Sicher-

heit und vor allem mehr Selbstvertrauen bekommen, besonders im Hinblick auf die Be-

wältigung von Problemen.397

5.2.1.5 Die Methode der Selbstinstruktion

Bekannter und häufiger verwendet innerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie ist die

Methode der Selbstinstruktion. Sie kennzeichnet ein Vorgehen, bei dem das Kind die

Kontrolle über sein problematisches Verhalten sowohl bei bestimmten Aufgaben als

auch in sozialen Situationen vermittelt bekommt und zwar durch ein

handlungsanleitendes zu-sich-selbst-sprechen, das schrittweise durch einen Problem-

prozeß führt.398

Das Hauptziel des Selbstinstruktionstrainings ist somit, daß das Kind lernt, sein Verhal-

ten in Konfliktsituationen mit Hilfe einprägsamer Sätze effektiv zu steuern. Gemeinsam

mit dem Kind wird dazu für bestimmte Konfliktfelder oder bezogen auf eine bestimmte

Symptomatik (z.B. Konzentrationsstörungen) ein Selbstinstruktionsprogramm

erarbeitet, welches dann in Beispielsituationen spielerisch eingeübt wird.399

Das Selbstinstruktionstraining eignet sich besonders gut für hyperaktive Kinder, da es

die typischen Defizite des hyperaktiven Verhaltens aufgreift, die Impulsivität, den

Mangel an Überlegung, mit dem sie an ein Problem herantreten und die geringe

Daueraufmerksamkeit, sich einer Aufgabe zu widmen.

Die erste Untersuchung des Selbstinstruktionstrainings bei hyperaktiven Kindern

wurden 1968 von Palkes et al. durchgeführt. Dabei lernten zehn Jungen in zwei jeweils

30 Minuten dauernden Sitzungen, sich mit Hilfe von vor ihnen liegenden Bildern laut

selbst anzuweisen ("schauen und nachdenken, bevor ich antworte"), und zwar bei

Aufgaben u.a. des "Matching Familiar Figures Test" (vgl. Kapitel 2.1). Bei einer

zweiten Sitzung in der der "Porteus Labyrinth-Test" durchgeführt wurde, zeigte die

397Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 76.398Vgl. Ebenda, S. 77.399Vgl. Eisert, H.-G. (1995), in: Steinhausen, H.-Ch. (1995), S. 168.

106

Page 115: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Experimentalgruppe im Gegensatz zur Kontrollgruppe, erhebliche Verbesserungen

gegenüber den Ausgangswerten.400

Der "Porteus Labyrinth-Test" ist ein Test zur Erfassung des kognitiven Stils. Er besteht

aus zwölf Labyrinthen mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad, die das Kind mit einem

Stift vom Anfang bis zum Ende durchfahren soll.401

Meichenbaum & Goodman (1971) erweiterten das Konzept von Palkes et al.

Meichenbaum beobachtete insbesondere impulsive Kinder und fand heraus, daß unan-

gemessenes Problemlöseverhalten im wesentlichen dadurch entsteht, daß die handlungs-

begleitenden Kognitionen undifferenziert sind. Mit Hilfe eines Trainings der kognitiven

Begleitung von Handlungen, dessen Besonderheit die Versprachlichung der Ein-

zelkognitionen und der Handlungssequenzen ist, versucht das Kind, Verbesserungen im

Problemlöseverhalten zu erreichen. Das Kind lernt mit Hilfe des Therapeuten als

positivem Modell seine Aufmerksamkeit zu zentrieren, Schwierigkeiten zu erkennen

und abzuschätzen, kognitive Abläufe wahrzunehmen und zu verbalisieren, kognitive

Impulsivität zu kontrollieren sowie mit eigenen Fehlern anders umzugehen im Sinne

einer erhöhten Frustrationstoleranz.402

Nach Meichenbaum & Goodman (1971) erfolgt die Selbstinstruktion in fünf

Schritten:

1. Der Therapeut (Erwachsene) führt im Sinne kognitiven Modellverhaltens eine

Aufgabe aus. Er kommentiert dabei deutlich hörbar sein Handeln bzw. gibt sich

selbst

Handlungsanweisungen.

2. Das Kind führt anschließend die gleiche Aufgabe aus, hörbar angeleitet durch die

Anweisungen des Modells (Therapeut/Eltern).

3. Bei einer erneuten Bearbeitung der Aufgabe gibt sich das Kind selbst deutlich hörbar

Handlungsanweisungen bzw. kommentiert sein Handeln.

4. Die Selbstinstruktion wird bei dem vierten Schritt zur Aufgabendurchführung von

dem Kind nur noch geflüstert.

5. Das Kind leistet im letzten Stadium eine verdeckte Selbstanleitung, d.h. es bearbeitet

die Aufgabe mit Hilfe einer nur "innerlich gesprochenen" Anleitung bzw.

Kommentie- rung.403

Die Anweisungen bzw. Kommentare sprechen inhaltlich im wesentlichen vier Bereiche

an:

- das Problem- oder Aufgabenbewußtsein;

- die Annäherung an die Aufgabenlösung, d.h. das Kind lernt neben der Vermittlung

angemessener Arbeitsstrategien, durch das "laute Denken" des Therapeuten, daß

400Vgl. Palkes et al (1968), in: Eisert, H.-G. (1981), S. 469.401Vgl. Laumann, A. (1989), S. 33.402Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 471ff; Vernooij, M. (1992), S. 77.403Vgl. Meichenbaum, D. (1977), S. 29.

107

Page 116: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

möglichst viele Aspekte beachtet und bedacht werden müssen;

- der Umgang mit eigenen Fehlern, mit dem Ziel, eine Handlungskette nach einem

Irrtum NICHT abzubrechen;

- die Überprüfung der Aufgabenbearbeitung bzw. die Rückmeldung

* bei Mißerfolg: "Wenn ich einen Fehler mache, muß ich das nächste Mal besser

aufpassen, dann wird es gut (richtig)."

* Bei Erfolg: "Ich glaube, das habe ich gut gemacht."404

"Untersuchungen hinsichtlich der Wirkung von Selbstinstruktionstraining haben gezeigt, daß hyperaktive Kinder lernen können, VOR einer motorischen Spontan-Reaktion zu sprechen und damit die menschliche Handlung zu hemmen."405

5.2.1.6 Kritik an der kognitiven Verhaltenstherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie ist neben der Stimulantienbehandlung eine der häufig-

sten angewandten Methoden bei der Behandlung hyperaktiver Kinder. Bei einer kriti-

schen Betrachtung dieser Interventionsmethode wird häufig die Effektivitätsuntersu-

chung als unzulänglich beschrieben und das verhaltenstherapeutische Instrumentarium

als zu unspezifisch für hyperaktive Kinder dargestellt.

Abikoff (1987) gibt eine Übersicht über die Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie.

Abgesehen davon, daß viele Arbeiten von ihren methodischen Vorgaben her nicht ver-

gleichbar sind, lassen sich zusammenfassend doch einige Schlußfolgerungen ziehen:

Das hochgesteckte, globale Ziel, mit kognitiven Trainingsprogrammen Fähigkeiten wie

Aufmerksamkeit, Genauigkeit und Gedächtnis zu verbessern, konnte in den meisten der

von Abikoff (1987) herangezogenen Studien nicht erreicht werden. Ebensowenig

gelang es, die Leistungen der Kinder in schulischen Disziplinen wie Lesen oder

Rechnen zu verbessern.406

Der Erfolg eines Selbstinstruktionstrainings setzt voraus, daß dem hyperaktiven Kind

verdeutlicht wird, in welchen Situationen es seine neue Problemlösefähigkeit einsetzten

kann und mit welchem Erfolg. Eine Verhaltensänderung stellt immer einen mühsamen

und langwierigen Prozeß dar, bei dem der Erfolg sich oft erst nach und nach einstellt.

Daher sind hohe Abbruchraten nicht verwunderlich. Aus diesem Grunde sollte eine

Kombination der kognitiven Verhaltenstherapie mit anderen Behandlungskonzepten in

Betracht gezogen werden.407

Belege für eine dauerhafte Veränderung durch eine kognitiv-verhaltenstherapeutische

Intervention stehen bisher noch weitgehend aus. Darüber hinaus berücksichtigt der ko-

gnitiv-verhaltenstherapeutische Ansatz nicht hinlänglich das Entwicklungsniveau des

404Vgl. Vernooij, M. (1992), S. 77f.405Ebenda, S. 79406Vgl. Abikoff, H. (1987), S. 207ff.407Vgl. Bauer, A. (1996), S. 114.

108

Page 117: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Kindes, was sich bereits zeigt, wenn ähnliche Strategien über einen breiten

Altersbereich angewandt werden. Des weiteren kann kritisiert werden, daß mit dem

Programm der Selbstinstruktion nicht sensibel genug umgegangen wird, da Pädagogen

oder Therapeuten oftmals durch das Trainingsprogramm so eingestellt sind, daß sie auf

die sich situativ ergebenden Bedürfnisse des Kindes nicht eingehen können. Die Folge

ist eine Behandlung der Defizite, deren Vorhandensein zuvor nicht durch die

Diagnostik belegt wurde. Ein sorgfältiger Umgang mit den Trainingsprogrammen ist

daher unbedingte Voraussetzung für eine erfolgreiche Intervention.408

Eisert (1981) stellt in Frage, ob der Erfolg der Selbstinstruktionsmethode tatsächlich

auf die reinen Techniken und Prinzipien oder nicht im wesentlichen auf das dem hy-

peraktiven Kind entgegengebrachte Verhalten der Bezugsperson zurückzuführen ist.409

Abgesehen von den unbefriedigenden Ergebnissen weniger Evaluationsstudien, stellt

sich hinsichtlich pädagogischer und therapeutischer Maßnahmen wiederholt die Frage

nach Möglichkeiten einer ganzheitlichen Förderung bzw. Behandlung.

"Eine Antwort darauf ist die Verhaltenstherapie - ob klassisch oder kognitiv - sicher nicht. Sie geht symptom- oder funktionsorientiert vor, und sie setzt damit, teilweise isoliert, an partiellem (Stör-) Verhalten an."410

Bei der Behandlung von hyperaktiven Kindern kommt der kognitiven

Verhaltenstherapie trotzdem eine nicht unwesentliche Bedeutung zu; sie stellt jedoch

alleine keine hinreichende Interventionsmethode dar.

5.2.2 Motopädagogische Intervention

Psychomotorik beschreibt eine ganzheitlich-humanistische, entwicklungs- und kindge-

mäße Art der Bewegungserziehung. Dabei standen Bewegung und Spiel als wirksame

Methode zur Selbstfindung und Verbesserung der Lebensbedingungen von

hyperaktiven Kindern schon immer im Mittelpunkt der Psychomotorik. Diese wurde

1955 von Kiphard entwickelt. Heute wird diese psychomotorische Vorgehensweise

durch den Begriff Motopädagogik gekennzeichnet. Motopädagogik bedeutet

"Erziehung durch Bewegung". Psychomotorik als historisch gewachsener Begriff ist

heute ebenfalls noch von Bedeutung. Im Zuge einer wissenschaftlichen

Vereinheitlichung und Systematisierung ist der ursprüngliche Begriff Psychomotorische

Übungsbehandlung durch Motopädagogik bzw. Mototherapie ersetzt worden. Beide

Begriffe sind jedoch der psychomotorischen Tradition verpflichtet.411

Die Unterschiede zwischen Motopädagogik und Mototherapie bestehen in der Aufga-

benstellung, der Klientel und den Institutionen, je nachdem, ob diese pädagogisch oder

408Vgl. Eisert, H.-G. (1995), in: Franke, U. (1995), S. 91. 409Vgl. Eisert, H.-G. (1981), S. 473.410Vernooij, M. (1992), S. 79411Vgl. Medzinski, K. (1994), in: Czerwenka, K. (1994), S. 79.

109

Page 118: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

therapeutisch ausgerichtet sind. Motopädagogik bezieht sich hauptsächlich auf präven-

tive Aufgaben in der psychomotorischen Elementarerziehung, besonders im Kindergar-

ten- bzw. Vorschul- und Grundschulalter. Dabei wendet sich die Motopädagogik bzw.

die psychomotorische Übungsbehandlung vornehmlich an Kinder, die durch eine Bewe-

gungs- und Wahrnehmungsstörung in ihrer (vor-)schulischen Handlungs- und

Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Somit versucht Motopädagogik Störungen

motorischer, perzeptiver und sozial-emotionaler Lernprozesse durch spezielle

psychomotorische Förderungen vorzubeugen. Dabei wird unter Motopädagogik ein

persönlichkeits- und entwicklungsorientierter ganzheitlicher Förderansatz verstanden,

bei dem die Bewegung als Mittel der Persönlichkeitsentwicklung genutzt wird. Die

mototherapeutischen Maßnahmen sind zeitlich begrenzte Interventionen als Hilfe bei

perzeptiv-motorisch bedingten Störungen der kindlichen Persönlichkeit. Mototherapie

dagegen wird meist in klinisch-rehabilitativen Einrichtungen unter ärztlicher Kontrolle

angewandt. Mototherapie setzt somit an bereits manifestierten Störungen an. Das Ziel

der Mototherapie ist, diese verfestigten Störungen abzubauen oder zu stoppen.412

Exkurs: Bewegungserfahrung

Für die kindliche Entwicklung sind die Bewegungserfahrungen, die ein Kind mit

seinem und über seinen Körper macht von großer Bedeutung. Bewegungserfahrungen

bilden die Grundlage für die Entwicklung des kindlichen Selbstbewußtseins mit der

Folge, daß das Kind ein positives Selbstbild gewinnt und seine Zufriedenheit mit sich

selbst zunimmt. Das Kind entdeckt durch und in Bewegung seinen Körper und es lernt,

Körpersignale wahrzunehmen und mit seinem Körper umzugehen. Im engen

Zusammenhang mit dieser Körpererfahrung steht der Aufbau des Selbst, das Vertrauen

in die eigene Person. Über die Körpererfahrung entwickelt das Kind ein Verständnis

von Können und Nichtkönnen, von Erfolg und Mißerfolg, von seiner Leistungsfähigkeit

und seinen Grenzen. Aus diesem Grunde können die über Körper und Bewegung ge-

machten Erfahrungen als Grundlage der kindlichen Identitätsentwicklung angesehen

werden.413

5.2.2.1 Theoretischer Erklärungsansatz der Psychomotorik

Mit dem Begriff Psychomotorik wird ein psychologischer Systembegriff bezeichnet,

der das Bewegungsverhalten eines Menschen in einem engen Zusammenspiel von

Wahrnehmungsprozessen, intellektueller Informationsverarbeitung, Aktivität,

Motivation und Antriebsregulation versteht. Somit umfaßt die Psychomotorik die

Verbindung des Körperlich-motorischen mit dem Geistig-seelischen, wobei die Bewe-

gung das Bindeglied zwischen der Innenwelt und der äußeren Realität darstellt.414

412Vgl. Kiphard, E.J. (1989), S. 25.413Vgl. Zimmer, R. (1996), in: Passolt, M. (1996), S. 30.414Vgl. Bernau, S. (1995), S. 172; Grissemann, H. (1991), S. 90.

110

Page 119: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Zimmer (1996) merkt an, daß die Körper- und Bewegungserfahrungen aus psychomo-

torischer Sicht gerade für das Kind nicht nur ein wichtiges Instrument zur Aneignung

der Wirklichkeit darstellt, sondern auch als Grundlage der Identitätsentwicklung

angesehen werden kann. Psychomotorische Erfahrungen sind somit immer

Erfahrungen, die das Kind mit seiner ganzen Person macht. Aufgrund dieser

Überlegungen müßte die kindliche Erziehung immer auch eine psychomotorische

Erziehung sein, wobei die kindliche Bewegung als Grundlage der

Entwicklungsförderung angesehen werden kann.415

Die folgende Abbildung veranschaulicht die verschiedenen Ansatzpunkte der

psychomotorischen Förderung, die als methodisches Prinzip jeder Erziehung und

Entwicklungsförderung verstanden werden kann.

Abb. 10: Verschiedene Förderungsinhalte der Psychomotorik.

[Quelle: Zimmer, R. (1989), S.22.]

"Über Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen werden grundlegende Lernprozesse in Gang gesetzt, die die Auseinandersetzung des Kindes mit seinem Körper, seiner dinglichen und sozialen Umwelt unterstützen."416

In der Psychomotorik wird das Kind als handelndes Subjekt verstanden, das Verantwor-

tung für sich selbst übernehmen kann. Aus dieser Sicht ist das Kind ein sich selbst

gestaltendes und regulierendes Wesen. Damit ist das eigenverantwortliche Handeln

nicht nur das Ziel, sondern auch die Methode der Fördermaßnahme.417

415Vgl. Zimmer, R. (1989), S.22.416Ebenda, S. 22417Vgl. Zimmer, R. (1996), in: Passolt, M. (1996), S. 36.

111

Page 120: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

In bezug auf das Verhalten hyperaktiver Kinder ist dieser ganzheitliche Aspekt von be-

sonderer Bedeutung, da die Symptomatik bezogen auf die Motorik hyperaktiver Kinder

innerhalb dieses Ansatzes wie folgt beschrieben wird:

Generell sind die Bewegungen hyperaktiver Kinder zuviel und zu schnell. Sie zeigen

eine enorme Bewegungsproduktion und einen gesteigerten Bewegungsdrang, einen

kaum zu stoppenden Redefluß (verbale Hyperaktivität) sowie unbefriedigende

feinmotorische Leistungen.418

Darunter leidet die Impulskontrolle und die Handlungsplanung. Die hyperaktiven

Kinder sind nicht in der Lage, Handlungsimpulse zu unterdrücken, folglich entsteht der

Eindruck, daß sie sich permanent durch übermäßige Bewegung und Aktivität selbst

stimulieren müssen. Daher wird innerhalb der Psychomotorik ein komplexes Stö-

rungsbild angenommen, das die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Kindes beein-

trächtigt. Als Ursache wird die bereits erwähnte Unteraktivierungshypothese ange-

nommen.419

5.2.2.2 Ziele der psychomotorischen Förderung

Im allgemeinen besteht das Hauptanliegen der psychomotorischen Förderung in einer

ganzheitlichen Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung, also eine Verbesserung des

Selbstwertgefühls und eine Stärkung des Selbstvertrauens.

Die Stabilisierung der kindlichen Persönlichkeit soll über Bewegungserlebnisse erzielt

werden. Anders ausgedrückt soll das Kind durch die Bewegungserziehung eine ausrei-

chende Sozialkompetenz im Umgang mit anderen in der Übernahme von

Verantwortung entwickeln. Weiterhin eine Sachkompetenz in bezug auf die

Erweiterung von Fähigkeiten, Kenntnissen und Wissen und eine Erweiterung von

Konzentration und Ausdauer. Ein weiteres Ziel der Bewegungserziehung ist der Aufbau

einer Selbstkompetenz, hinsichtlich der Entwicklung von Ich-Identität, im Verarbeiten

von Erlebnissen und Gefühlen sowie im Entdecken neuer Verhaltensweisen.420

Ferner soll die Bewältigung der motorischen Unruhe angeregt werden, wobei in erster

Linie die Selbstheilungskräfte des hyperaktiven Kindes aktiviert werden sollen, die ihm

zu mehr Selbstakzeptanz, Autonomie und bewußtem Erleben verhelfen sollen. Das

Kind bekommt hierdurch die Möglichkeit, auf der Basis des eigenen Handelns zu

lernen.

5.2.2.3 Das Bewegungs- und Verhaltenstrainingsprogramm nach Ernst J. Kiphard

In der psychomotorischen Schulung nach Kiphard wird ein Stufenplan motopädagogi-

scher Interventionen aufgestellt, der sechs Phasen umfaßt.

418Vgl. Kiphard, E.J. (1988), S. 2f.419Vgl. Kiphard, E.J. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 68.420Vgl. Bauer, A. (1986), S. 143; Zimmer, R. (1989), S. 31.

112

Page 121: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Das Fehlverhalten des hyperaktiven Kindes wird innerhalb der Interventionsmethode

als Ausgangs- und Ansatzpunkt angenommen, da aus jedem Fehlverhalten nach

Kiphard ursprünglich durchaus sinnvolle Kompensationsmechanismen entspringen, so

auch in dem Bewegungsverhalten hyperaktiver Kinder.421

Da bei hyperaktiven Kindern das ZNS nicht durch Erregungssteigerung, sondern durch

ein vermindertes Aktivierungsniveau gekennzeichnet ist, bewirken aktivierende Stimuli

eine Verminderung der Hyperaktivität. Dies gilt für strukturierende Außenreize, beson-

ders über taktil-kinäthetische Analysatoren. Aus diesem Grund ist die motorische

Aktivität als durchaus sinnvolle Eigenstimulation zu sehen.

Im folgenden soll das Bewegungs- und Verhaltenstrainingsprogramm zur Minderung

des hyperaktiven Verhaltens anhand der sechs Phasen vorgestellt werden.

Phase 1: Vestibulär-motorische Aktivitäten (Gewährungsphase)

In dieser ersten Phase handelt es sich zunächst um freie Angebote einfachster motori-

scher Funktionen, die das bei dem hyperaktiven Kind meist unterfunktionierende

vestibuläre System stimuliert. Diese vestibuläre Stimulation bewirkt eine Abnahme der

Hyperaktivität und eine Zunahme des Wachheits- und Aufmerksamkeitsgrades.

"Wenn hyperaktive Kinder eine besondere Vorliebe für alle möglichen Körperdrehungen, für Hüpfen, Wippen und Schaukeln zeigen, so tun sie damit nichts anderes, als ihrem unzureichend funktionierenden und reagie-renden vestibulären System entsprechend starke Reize zuzuführen."422

Diese erste Phase hat eine große Bedeutung innerhalb des gesamten bewegungspädago-

gischen Förderprogramms. Das hyperaktive Kind bekommt die Freiheit des Raumes

und der Handlungsaktivität zu spüren, es kann seinen Bewegungsdrang ungehemmt

ausleben und muß sich nicht an das Ruhebedürfnis der Erwachsenen anpassen. Diese

Bewegungsfreiheit stärkt das Selbstbewußtsein des hyperaktiven Kindes und vermittelt

ihm das Gefühl als anerkanntes Mitglied in der Gesellschaft zu bestehen. Die

Bewegungs- und Handlungsfreiheit innerhalb der Ausübung vestibulär-motorischer

Aktivitäten führt zu selbstgeplanten Bewegungshandlungen, die das kindliche Neugier-

verhalten befriedigen.423

Phase 2: Entwicklung von Bremskräften und Bewegungssteuerung

Die zweite Phase beinhaltet eine allmähliche Kanalisierung und Strukturierung der

bisher ungebremsten Bewegung des Kindes. Dabei ist ein pädagogisches Feingefühl

von besonderer Bedeutung, damit dies nicht zu früh und zu plötzlich geschieht. Das

Ziel dieser Phase ist, daß innere Brems- und Steuerungskräfte als lustvoll und selbst-

421Vgl. Kiphard, E.J. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 70.422Kiphard, E.J. (1989), S. 157.423Vgl. Kiphard, E.J. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 71ff.

113

Page 122: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

bestätigend erlebt werden. Wichtig dabei ist, daß das Kind das selbsttätige Abbremsen

als Spielregel akzeptiert. Die Abbremsübungen werden erweitert durch

Steuerungsübungen, bei denen das hyperaktive Kind die Fähigkeit erlernen soll, den

eigenen Körper mit den Augen durch einen Raum zu steuern, ohne anzuecken. Die

Übung der Bewegungssteuerung als erster Schritt zur Selbstbeherrschung kann in

einfache Bewegungsspiele eingebaut werden.424

Phase 3: Konzentrationsverbesserung mit geschlossenen Augen

In dieser Phase wird unter Ausschaltung der visuellen Kontrolle der Tastsinn trainiert.

Dadurch soll das hyperaktiven Kind zu mehr Konzentration auf die verbleibenden Sin-

nesorgane (Gehör und Tastsinn) bewegt werden. Durch dieses Training soll zuerst der

Tastsinn die Führung und Orientierung im Raum übernehmen. Später werden auch

Raumerfahrung vermittelt, indem z.B. auf entfernte Ziele zugekrabbelt oder

zugegangen wird. Das hyperaktive Kind muß sich somit neben dem Tastsinn auch auf

seinen Gehörsinn konzentrieren. Während zu Beginn dieser Phase Bewegungsaufgaben

mit kleinen Wahrnehmungserfahrungen gekoppelt werden, stehen später taktile und

akustische Sinnesinformationen im Mittelpunkt. Die Sinneserfahrungen wirken sich

positiv auf das Verhalten der hyperaktiven Kinder aus, sie sind ruhiger und aufmerk-

samer.425

Phase 4: Schulung der visuellen Aufmerksamkeit

Die vierte Phase setzt dann ein, wenn die Beruhigung und die deutliche Verlängerung

der akustischen Aufmerksamkeitsspanne erfolgt ist. Anschließend wird die optische

Aufmerksamkeit über Vordergrundreize und unter Zuhilfenahme intrinsischer

Motivation eingeübt. Dabei ist zu beachten, daß die optischen Konzentrationsaufgaben

im Anschluß an eine Entspannungsphase beginnen, da eine überstarke Bewegungsak-

tivität eine gezielte visuelle Wahrnehmung vor allem bei hyperaktiven Kindern stört.426

Phase 5: Überwindung der Impulsivität

In dieser Phase beschreibt Kiphard die Beherrschung von Ungeduld und Impulsivität

durch innere Verbalisierung der Handlungsstrategien (ähnlich der

Handlungsanweisungen innerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie, vgl. Kapitel

5.2.1.5). In Anlehnung an Douglas (1976) verwendet Kiphard dabei die Formel:

STOP! - SCHAU! - HÖRE! - DENKE! Mit dieser Formel gelangen hyperaktive Kinder

zu einer überlegten Handlungsplanung und Strategiebildung. Mit dem Wort STOP!

werden die Kinder zu einer kurzen Bewegungslosigkeit oder zu einer kleinen

Bedenkpause angeleitet. Das Signal SCHAU! veranlaßt die Kinder, nach dem stoppen

424Vgl. Kiphard, E.J. (1989), S. 158.425Vgl. Kiphard, E.J. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 78f.426Vgl. Kiphard, E.J. (1989), S. 159.

114

Page 123: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

eine neue Situation optisch zu erfassen. Mit dem anschließenden HÖRE! sollen

eventuelle Anweisungen beachtet werden. Die mit dem Symbol DENKE! verbundene

Aufforderung soll zu einem Überdenken der Situation führen. Es wird angestrebt, die

Formel STOP! - SCHAU! - HÖRE! - DENKE! mit allen Mitteln ins Gedächtnis des

hyperaktiven Kindes zu verankern. Zu Beginn der Phase sollte die Formel laut

gesprochen oder geflüstert werden und nach einem langen Einübungszeitraum nur noch

zu sich selbst gesprochen werden (verinnerlichtes Sprechen mit sich selbst).427

Phase 6: Sportliches Handeln als Mittel zur Selbstdisziplinierung

Prinzipiell ist das Hauptziel der Intervention in der Phase fünf bereits erreicht, die Im-

pulskontrolle und die Handlungsplanung. In der sechsten Phase werden sportliche Akti-

vitäten gemäß den Interessensgebieten der hyperaktiven Kinder hinzugenommen.

"Bei all diesen Bewegungs- und Körperkünsten erwerben hyperaktive Kin-der nach nicht allzu langer Zeit Vorführ-Aktivitäten, mit denen sie vor ih-ren Altersgenossinnen und -genossen brillieren können. Dadurch verbes-sert sich ihr oft erheblich angeschlagenes Selbstbewußtsein. Sie werden für die Gemeinschaft interessanter und entwickeln ihrerseits soziale Kom-munikationsfähigkeit. Gerade Erfolge im Bewegungsbereich wirken mitunter Wunder."428

5.2.2.4 Kritik an der Psychomotorik

Die angeführten Aspekte verdeutlichen den ganzheitlichen Förderansatz innerhalb der

Psychomotorik. Es ist daher wichtig bei der motorischen Förderung hyperaktiver

Kinder sowohl die Persönlichkeit des Kindes als auch seine Umwelt mit in die

Förderung einzubeziehen. Der Grundsatz liegt jedoch auf der Eigenaktivität des Kindes,

denn nur so kann sich das hyperaktive Kind selbständig entwickeln. Über eine

erfolgreiche Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Umwelt bekommt das hy-

peraktive Kind eine bessere Selbsteinschätzung, ein stärkeres Selbstbewußtsein und ein

verbessertes Selbstwertgefühl und damit eine Stabilisierung seines Selbstkonzeptes.

Eine weitere positive Folge des verbesserten Selbstvertrauens ist eine erhöhte

Frustrationstoleranz, was den Umgang mit anderen Kindern wesentlich erleichtert. Das

explorierende und experimentierende Lernen hat somit da Vorrang, wo in erster Linie

Persönlichkeitserziehung betrieben wird. Nur so lernt das Kind eigenverantwortlich zu

handeln und nur so können eigene Ideen und Bedürfnisse intuitiv-kreativ zum Ausdruck

gebracht oder konstruktiv einer Lösung zugeführt werden. Den Zugang zur aktiven

Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt gelingt dem Kind über die Bewe-

gung. Bedeutungsvoll ist dabei der individuelle schrittweise Zugang zur Bewegung, vor

allem, wenn sich Kinder die Bewegungsanlässe selbst gestalten.429 Dennoch bestehen in-

427Vgl. Kiphard, E.J. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 80f.428 Kiphard, E.J. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 82f 429Vgl. Miedzinski, K. (1994), in: Czerwenka, K. (1994), S. 89; Zimmer, R. (1996), in: Passolt, M.

115

Page 124: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

nerhalb der Psychomotorik auch Grenzen. Diese entstehen, wenn die Einflußnahme nur

auf das hyperaktive Kind bezogen ist. Da die Hyperaktivität aber ein Produkt der sozia-

len Zusammenhänge ist, bleibt bei einseitiger Einflußnahme der Umweltaspekt unbe-

rücksichtigt. Die Folge ist, daß die Umwelt dem Kind in unveränderter Weise begegnet

und dessen Fortschritte nicht erkennt und somit nicht weiter fördert. Daher ist ein multi-

modaler Ansatz von besonderer Bedeutung. Psychomotorik wirkt dann als integraler

Bestandteil eines umfassenden Ansatzes, bei dem das Kind, die Familie und die

Pädagogen in ständiger Kommunikation miteinander stehen, mit dem Ziel, das

Zusammenleben erfolgreicher zu gestalten.

6 Kreativ-therapeutische Interventionen am ausgewählten Beispiel der Musiktherapie zur Förderung hyperaktiver KinderEine besonders gute Möglichkeit zur Entfaltung der kreativen Kräfte bietet die Musik.

Da Kinder in der Regel einen guten Zugang zur Musik haben, stellt diese als kreatives

Ausdrucksmittel einen großen Spielraum zur Sammlung ungehemmter und spontaner

Erfahrungen dar. Durch die Musik kann Problemsensitivität und Flexibilität erlernt

werden, womit eine erworbene Sicherheit gemeint ist. Indem das Kind für das

musikalische Material die Sensititvität entwickelt hat, offen in der Wahrnehmung seiner

Umwelt ist und dadurch Sicherheit erlangt, kann es diese Fähigkeiten auch auf andere

Gebiete übertragen.430

Da in der Erziehung zur Kreativität bzw. in der Kreativtherapie mit Hilfe der Musik vor

allem die Nonverbalität hervorgehoben wird, eignet sich diese besonders gut für die Ar-

beit mit hyperaktiven Kindern, wenn bei ihnen von einer gestörten Kommunikationsfä-

higkeit ausgegangen wird.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten der kreativ-therapeutischen Förderung, jedoch

liegen in bezug auf die Musiktherapie bei hyperaktiven Kindern einige (wenige)

Berichte vor, die im folgenden erläutert werden.

6.1 Kreativität und Therapie

Prinzipiell impliziert der Begriff Therapie Lebenshilfe, während Kreativität

Lebenserweiterung und Lebensintensivierung darstellt. Der Zusammenhang von

Kreativität und Therapie besteht darin, "verschüttete Erlebnisfähigkeit, einfallsreiches

Zurechtkommen, Umgestalten und Übersetzen von Lebenssituationen"431 zu ermöglichen.

Dabei richtet sich das kreativ-therapeutische Angebot "nicht an 'Kranke', eher an

(1996), S. 43.430Vgl. Landau, E. (1984), S. 94.431Kossolapow, L. (1985), in: Kossolapow, L. / Mannzmann, A. (1985), S. 20f

116

Page 125: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Zukurzgekommene, was die Verwirklichung von Lebenserwartungen und

individualisierbaren Ausdrucksformen in Beruf und Freizeit betrifft".432

Damit ist keine kompensatorische Kreativitätserziehung gemeint, sondern das Indivi-

duum soll durch die kreative Nutzung verschiedener Mittel und Möglichkeiten

innerhalb seines sozialen Beziehungsgefüges die Chance zur Regeneration bekommen.433

Der grundlegende Unterschied zwischen einem primär pädagogischen und einem

primär therapeutischen Handeln ist darin begründet, daß im therapeutischen Rahmen

die Aufgabe, der Gegenstand und der Inhalt der Problembearbeitung im Mittelpunkt der

Kommunikation zwischen Therapeut und Klient steht. Der Kreativtherapeut hat folglich

die Aufgabe das Kind zu unterstützen, damit es seine Empfindungen, Wahrnehmungen

und Erlebnisse ausdrücken kann und dadurch Entscheidungen und

Handlungsalternativen ausprobieren sowie Lösungsmöglichkeiten entwickeln kann. Die

Grundlagen eines kreativen Therapeutikums liegen in den allgemeinen theoretischen

Merkmalen der Kreativität. In bezug auf einen pädagogischen Zusammenhang

beschränkt sich ein therapeutisch-pädagogisches Verständnis "auf die Stützung des Ichs,

auf eine Förderung des Gefühls eigener Identität, auf die Förderung allgemeiner

Reifungsprozesse und auf das Anbieten eines Du in einer vertrauensvollen Atmosphäre.

Gleichzeitig ist diese Beschränkung eine Erweiterung der therapeutischen Grenzen,

denn Pädagogik geht über die Therapie hinaus und trifft das Kind in seinem alltägli-

chen Leben an"434.

Für Kossolapow (1985) nimmt Kreativität in erzieherischer bzw. selbsterzieherischer

Absicht "dann eine therapeutische bzw. selbsttherapeutische Wende, wenn die Aneig-

nung von Umwelt durch menschliche Aktivitäten gezielt auf die Person und ihr soziales

Umfeld bezogen wird, so daß die Gefahr eines tendenziell sozial schizophrenen Ausein-

anderklaffens verringert wird"435.

Hyperaktive Kinder, besonders wenn sie noch sehr jung sind, können oftmals ihre Wün-

sche und Bedürfnisse nicht verbalisieren. Aus diesem Grund bietet sich im Rahmen

eines therapeutischen Angebots für Vorschulkinder besonders der Einsatz von

themenbezogenen Vergegenständlichungen an. Dadurch werden Gefühle, Probleme und

Erfahrungen leichter ausgedrückt. Somit schafft sich das Kind über das kreative Ge-

stalten einen Kommunikationsträger, um sein Inneres und seine Betroffenheit nonverbal

mitzuteilen.

432Ebenda, S. 21433Vgl. Ebenda, S. 21.434Bloch, S. (1982), S. 9435Kossolapow, L. (1985), in: Kossolapow, L. / Mannzmann, A. (1985), S. 37

117

Page 126: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Die Kreativitätsförderung beim Kind umfaßt eine Gewöhnung an Alternativen, eine Er-

mutigung des Erkundungsdranges sowie die Wahrnehmung verbaler und nonverbaler

gestalterischer Möglichkeiten. Dies kann zu einer Ich-Stärke und Ich-Stabilität, zu

einem positiven Selbstwertgefühl und zu einem offenen und zukunftsgerichteten

Verhalten führen.436

Unter dem Begriff Kreativtherapie werden zahlreiche Therapieformen

zusammengefaßt. Dazu gehören z.B. Musiktherapie, Bewegungs- und Tanztherapie,

Maltherapie, Psychodrama, therapeutisches Theater, Pantomime, therapeutisches

Puppenspiel oder Maskenspiel.

Für hyperaktive Kinder ist die Musiktherapie eine sehr geeignete Form der kreativthera-

peutischen Methoden, besonders wenn die Kinder durch das gesprochene Wort kaum

mehr zu erreichen sind.437

6.2 Musik als Kommunikationsmittel

Unter Kommunikation wird der Austausch und die Weitergabe von Informationen ver-

standen. Dabei muß die Kommunikation nicht in einer Gemeinschaft stattfinden. Sie

findet bereits in der Zweisamkeit von Thema und demjenigen statt, der sich damit

beschäftigt. Kommunikation ist in diesem Zusammenhang ein Austausch zwischen

einem Gebenden (das sich-mitteilende Thema) und einem Nehmenden. Die

Gemeinsamkeit des Austausches wird dabei durch das gemeinsame Thema begründet.

Folglich beinhaltet Kommunikation ein Mit-Teilen (Geben) und ein Teil-Nehmen

(Nehmen) als eine Grundlage menschlicher Existenz. Über die Kommunikation teilt

sich die Welt mit, infolgedessen findet Kommunikation auch dann statt, wenn sich ein

Subjekt einem sich gebenden Objekt zuwendet.438 Kreativität bedeutet somit

Kommunikation, da das Individuum in einem ständigen Kontakt mit der Innen- und der

Außenwelt steht. Durch die Offenheit, mit der es die Umwelt erlebt, ist es in der Lage,

Probleme zu erkennen und zu empfinden. Die Beziehung in seiner Innenwelt

ermöglicht Assoziationen mit Gewußtem und Erlebten. Daraus ergeben sich neue

Einsichten, die eine Lösung herbeiführen können. Diese Einsichten werden zunächst

nur subjektiv erlebt, um sie dann in eine objektive Form zu bringen, die der Außenwelt

verständlich ist.439

Der therapeutische Ansatzpunkt der Musiktherapie in bezug auf Hyperaktivität kann in

einer gestörten Kommunikationsfähigkeit des Kindes gesehen werden. Eine verbesserte

Kommunikation und das daraus resultierende Selbstwertgefühl sollen dem hyperaktiven

Kind helfen, sich aus seiner Isolation zu befreien. In der Kreativitätserziehung und der

Kreativitätstherapie ist die Möglichkeit der nonverbalen Kommunikation in bezug auf

436Vgl. Kossolapow, L. (1988), in: Schuhmacher, D. (1988), S. IX.437Vgl. Bernau, S. (1995), S. 159.438Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 53.439Vgl. Landau, E, (1984), S. 171.

118

Page 127: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

die Musik von großer Bedeutung. Damit ist gemeint, daß ihre Aussagen keine Worte

brauchen, auch wenn sie sich mit diesen in Verbindung bringen lassen.440

Aus diesem Grund ist es naheliegend Musik dort als Therapeutikum zu verwenden, wo

die Kommunikation gestört ist und der Bezug zur Emotionalität verlorengegangen ist,

z.B. bei hyperaktiven Kindern. Durch die musikalische Kommunikation kann eine In-

teraktion entstehen und damit die soziale Integration des hyperaktiven Kindes gefördert

werden.

Die Kommunikation innerhalb der Musiktherapie kann auf dreifache Art beschrieben

werden. Zum einen ist es die Kommunikation des Kindes mit dem musikalischen

Material, zum zweiten die Kommunikation vom Kind zum Therapeuten, durch das

Material und zum dritten die Kommunikation vom Kind zum anderen Kind. Folglich

kann sich das Kind durch das musikalische Material aktiv an seiner Umwelt beteiligen

und sich dieser mitteilen.441

6.3 Definition und Formen der Musiktherapie

Unter Musiktherapie ist die wissenschaftliche Nutzung von Musik oder musikalischen

Elementen im Hinblick auf einen therapeutischen Zweck zu verstehen.

Geprägt wurde der Begriff Musiktherapie durch die Griechen in dem Wort musiké.

Darunter wurde eine musische Gesamtdarstellung des Menschen in Wort, Ton und Be-

wegung verstanden. Heute wird der Begriff Musik meist nur mit dem Bereich Ton in

Zusammenhang gebracht. Die Griechen erweiterten die Verwendung der Musik zur

Vorbeugung und Heilung physischer und psychischer Krankheiten. Dabei richteten sie

ihren Blick weder auf die magische noch auf die religiöse Verwendung der Musik, wie

es die primitiven Menschen taten, sondern sie hielten sich ausschließlich an die kli-

nische Situation und die Beobachtung.442

Heute kann die Musiktherapie von einem wissenschaftlichen und von einem therapeuti-

schen Standpunkt aus definiert werden. In wissenschaftlicher Hinsicht ist die Musikthe-

rapie ein Spezialgebiet, das sich mit der Untersuchung zum Klang-Mensch Komplex

beschäftigt, wobei es sich sowohl um musikalische oder nichtmusikalische Klänge

handeln kann. In der wissenschaftlichen Sichtweise wird nach Möglichkeiten gesucht,

um Diagnosekriterien und Methoden für die Therapie zu entwickeln. Im

therapeutischen Kontext verwendet die Musiktherapie Klang, Musik und Bewegung

dazu, regressive Wirkungen zu erzielen und Kommunikation zu ermöglichen. Dadurch

sollen Heilungsprozesse und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft angeregt wer-

den.443

440Vgl. Kossolpow, L. (1985), in: Kossolapow, L. / Mannzmann, A. (1985), S. 198.441Vgl. Orff, G. (1992), S. 13.442Vgl. Benenzon, R .O. (1983), S. 158.443Vgl. Ebenda, S. 13.

119

Page 128: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Somit stellt die Musiktherapie ein psychotherapeutisches Behandlungsverfahren dar,

das mit verschiedenen Elementen der Musik und unterschiedlichen Formen des

Musikrezipierens und der musikalischen Betätigung einen therapeutischen Einfluß im

Sinne einer emotionalen Aktivierung, kontaktfördernden Beeinflussung oder Steigerung

der Erlebnisfähigkeit ausübt.444

Außerdem kann die Musiktherapie in eine aktive und in eine passive Form untergliedert

werden, je nachdem ob die Musik praktiziert wird oder dargebotene Musik angehört

wird. Da sich bei der passiven Musikaufnahme ebenfalls ein aktiver Vorgang vollzieht,

wird der Begriff passiv durch rezeptiv ersetzt. Rezeptive Musiktherapie bedeutet folg-

lich, daß durch die Musikaufnahme eine Beeinflussung stattfindet. Es werden therapeu-

tisch angestrebte, emotionale oder körperliche Reaktionen ausgelöst. Unter aktiver Mu-

siktherapie wird eine therapeutisch beabsichtigte und gezielte aktive Musikbeteiligung

mit der menschlichen Stimme und ausgewählten Musikinstrumenten verstanden.445

Daher unterscheiden sich die Ziele der rezeptiven und der aktiven Musiktherapie. Die

rezeptive Musiktherapie will primär das Aktivitätsniveau beeinflussen, z.B. durch das

Anstreben einer Antriebsförderung oder einer Entspannung. Die aktive Musiktherapie

zielt dagegen auf eine Verhaltsmodifikation und eine Verbesserung der

Kommunikations- und Kontaktfähigkeit durch Selbst- und Fremderfahrungen ab.446

Des weiteren kann in der Musiktherapie zwischen Einzel- und Gruppentherapie

differenziert werden, die grundsätzlich bei allen Formen der Musiktherapie angewandt

werden können. Generell wird die aktive Musiktherapie in der Gruppe durchgeführt, die

rezeptive Therapie dagegen sowohl in der Gruppe als auch in Einzeltherapie.447

Die Wahl der Therapieform sollte von der Art der Störung abhängig sein. Dabei muß

beachtet werden, ob die Beeinträchtigung den Kontakt in der Gruppe erlaubt oder erfor-

dert oder ob zunächst eine Einzeltherapie vorzuziehen ist. In der Einzeltherapie steht

die Beziehung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten im Mittelpunkt. Dabei

muß der Therapeut dem Patienten gegenüber eine akzeptierende Haltung einnehmen. In

der Gruppentherapie ist die gemeinsame Zielsetzung von zentraler Bedeutung, die

Entwicklung eines gemeinsamen "Wir-Ideal". Dabei ist die Beziehungsdynamik

innerhalb der Gruppe ausschlaggebend.448

444Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 14.445Vgl. Orff, G. (1992), S. 10f.446Vgl. Orff, G. (1992), 11.447Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 75.448Vgl. Ebenda, S. 76.

120

Page 129: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

6.4 Musiktherapeutische Verfahren

Im Hinblick auf die angewandten Verfahren lassen sich im europäischen Raum drei we-

sentliche Richtungen der Musiktherapie erkennen, die jedoch in der Praxis häufig nicht

klar voneinander getrennt sind.

1. Das Orff-Schulwerk

Die Eignung des Orff-Schulwerks liegt im Aufgreifen elementar-menschlicher

Gegebenheiten, in der Sprache, Bewegung, Spiel, Musik, Rhythmus und Dialog

berücksichtigt werden und außerdem Ordnungen erfahren werden. Weitere Vorzüge

liegen im gemeinsamen Musizieren, welches Kontaktaufnahme fördert und die

Harmonie in der Musik und in ihrem persönlichen Raum erfahrbar machen kann. Das

Orff-Schulwerk wird bei körperlich und geistig behinderten, autistischen, verhal-

tensgestörten, seh-, hör- oder sprachbehinderten Kindern und bei psychosomatisch ge-

störten Kindern eingesetzt.449

Die aus dem Orff-Schulwerk hervorgehende Orff-Musiktherapie wird in Kapitel 6.6

dargestellt.

2. Die rhythmisch-musikalische Erziehung

In der rhythmisch-musikalischen Erziehung werden Musik und Bewegung in

Verbindung gebracht mit dem Ziel größtmöglicher Kommunikationsfähigkeit. Sie wird

in fast allen Bereichen der Heil- und Sonderpädagogik eingesetzt, z.B. bei schwer

geistig behinderten Kindern, schwererziehbaren, milieugeschädigten bzw.

verhaltensgestörten Kindern, bei gehörlosen, blinden und sehbehinderten Kindern und

bei retardierten Kindern.450

3. Die anthroposophisch ausgerichtete Musiktherapie

Die anthroposophisch ausgerichtet Musiktherapie beruht auf der Ansicht Steiners

(1955/1961), daß das Dur-Erlebnis eng mit dem Prozeß des Ausatmens und das Moll-

Erlebnis mit dem Prozeß des Einatmens verbunden sind. Dabei wird das extrovertierte

Individuum als Dur-Mensch und das introvertierte als Moll-Mensch bezeichnet. Bei

dem anthroposophischen Ansatz ist das ganze Individuum und nicht das Hörorgan das

Instrument für die Tonempfindung. Damit ist jedoch nicht die Vibrationsempfindung

gemeint, sondern "die allgemeine Musikempfänglichkeit der menschlichen Organisa-

tion, die sich in den Gliedmaßen dem Takt und Rhythmus einordnet, die Harmonie im

Gebiet des Atems miterlebt und im Ohr das Element der Musik bewußt erfaßt"451.

König (1969) schließt daraus, daß zur wahren Musiktherapie nur der musizierende

Mensch befähigt ist. Dabei bilden Gesang, Instrumentalmusik und Eurhythmie die

449Vgl. Ebenda, S. 133f.450Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 134.451König, K. (1969) zitiert nach: Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 135

121

Page 130: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Hauptformen einer möglichen Musiktherapie. Er lehnte somit die rezeptive

Musiktherapie ab.

Die anthroposophisch ausgerichtete Musiktherapie wird bei autistischen, schizophrenen

gelähmten tauben und schwerhörigen Kinder angewandt.452

6.5 Die Eignung der Musiktherapie für die Arbeit mit hyperaktiven Kindern

Musiktherapie ist dann nützlich, wenn Kontaktschwierigkeiten vorliegen, das Sozialver-

ständnis gestört und Koordinationsschwierigkeiten vorliegen. Aus diesem Grund er-

scheint Musiktherapie eine sinnvolle Hilfe zur pädagogischen Förderung hyperaktiver

Kinder zu sein.

Durch Musik können auf spielerische Art und Weise Gefühle ausgedrückt und wahrge-

nommen werden. Dies ist ein Grundprinzip des musiktherapeutischen Ansatzes. Weiter-

hin wird davon ausgegangen, daß durch die musikalische Improvisationen Beziehungen

hergestellt werden.453

Musik kann als therapeutisches Medium unterschiedlich auf hyperaktive Kinder einwir-

ken, es begleiten und Orientierungen geben:

1. Akzeptieren der Störungen

Das hyperaktive Kind kann sich mit seinem auffälligen Verhalten in das therapeutische

Geschehen einbringen. Musiktherapie bietet hierfür Raum und Zeit. Das Kind kann sich

frei ausdrücken. Dabei haben Klang und Rhythmus eine Stützfunktion. Das störende

Verhalten wird als schöpferische Herausforderung angenommen. Folglich fühlt sich das

Kind akzeptiert und verstanden. Dadurch wird sein Selbstvertrauen gestärkt.454

2. Zentrierung

Der Impuls für die Konzentrationsfähigkeit des hyperaktiven Kindes muß aus dem

Inneren kommen. Dafür muß ein Bewußtsein des eigenen Selbst entwickelt werden,

damit das Kind aus diesem Zentrum heraus lernen kann, sich zu konzentrieren. Die

Musik unterstützt das Kind im Prozeß der Zentrierung. Rhythmus und Klang bewirken,

daß das Kind hinhört, sich auf etwas einläßt und sich konzentriert. Die

Musikinstrumente übernehmen die Funktion des Vermittlers zwischen der Innen- und

der Außenwelt. Die Folge ist eine Vertiefung und Intensivierung des kindlichen

Bewußtseins. Das hyperaktive Kind erlebt sich als Ganzes. Die intra- und

interpersonalen Prozesse werden intensiver wahrgenommen.455

452Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 135. 453Vgl. Meyberg, W. (1995), in: Franke, U. (1995), S. 154.454Vgl. Meyberg, W. (1995), in: Franke, U. (1995), S. 155.455Vgl. Ebenda, S. 155f.

122

Page 131: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

3. Regeneration

Hyperaktivität ist der Ausdruck der permanenten Suche des Kindes nach sich selbst.

Dabei wird die Unruhe von Unsicherheit, Aggression und Angst begleitet, die Auslöser

von Streß sind. Hyperaktive Kinder befinden sich in einem ständigen Teufelskreis, bei

dem Hyperaktivität ein Zeichen von Streß ist, der gleichzeitig wieder durch die

Hyperaktivität verstärkt wird. Dadurch kommen die Kinder nicht zur Ruhe. Der

Teufelskreis kann durch die regenerative Wirkung der Musik durchbrochen werden.

Das hyperaktive Kind bekommt durch die Musik die Möglichkeit sich zurückzuziehen,

sich zu erholen und sich fallen zu lassen. Dadurch kann es Vertrauen aufbauen, woraus

neue Kräfte mobilisiert werden können.456

6.6 Die Prinzipien der Orff-Musiktherapie in der Behandlung hyperaktiver Kinder

6.6.1 Die Orff-Musiktherapie

Die Orff-Musiktherapie wurde von Gertrud Orff (1963) am Kinderzentrum München

entwickelt, wo sie seit 20 Jahren angewandt wird.

Die Orff-Musiktherapie hat sich aus dem Orff-Schulwerk gebildet, welches von Carl

Orff entwickelt wurde. Es trägt den Untertitel "Musik für Kinder". Der Grundgedanke

des Orff-Schulwerks ist, dem Kind eine vollständige Musikdimension zu schaffen, in

der es sich ausdrücken, erleben und in Gemeinschaft musizieren kann. Die

Gemeinsamkeit der Orff-Musiktherapie und des Orff-Schulwerks besteht in der Idee

des kreativ-spontanen Musizierens, in dem Instrumentarium, in der Einheit von Rhyth-

mus, Melodie, Bewegung und Sprache.457

Der Unterschied besteht in der Anwendung. Das Orff-Schulwerk beruht auf der Prakti-

zierung der oben genannten Techniken, damit musikalische Fähigkeiten und

Fertigkeiten vermittelt werden. Der Schwerpunkt liegt in der Schule, wodurch

pädagogische Funktionen übernommen werden. Damit kann bereits in der Vorschule

begonnen werden. Die Orff-Musiktherapie dagegen bedient sich der Musik, damit Ziele

im sozialen, sprachlichen, motorischen und akustischen Bereich erreicht werden.458

Die Orff-Musiktherapie ist multisensorisch aufgebaut. Der Einsatz der musikalischen

Mittel (Sprache, Bewegung, Melodie, Handhabung von Instrumenten) ist derart, daß

alle Sinne angesprochen werden (Hören, Sehen, Bewegung und Sprache). Durch diesen

multisensorischen Ansatz können somit diejenigen erreicht werden, bei denen ein

wichtiges Sinnesorgan geschädigt oder ausgefallen ist.459

456Vgl. Ebenda, S. 156.457Vgl. Orff, G. (1992), S. 12.458Vgl. Voigt, M. / Greifenstein, R. / Maisch, U. (1996), in: Passolt, M. (1996), S. 237.459Vgl. Bernau, S. (1995), S. 159.

123

Page 132: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Durch die musikalischen Mittel und die Spielmaterialien werden neben den akustischen

auch taktile und optische Eigenschaften gefördert, folglich steht die kindliche Entwick-

lung im Mittelpunkt der Therapie. Weiterhin werden durch die musikalische Aktivität

verschiedene Grundfertigkeiten in den akustischen, visuellen, motorischen, sprachlichen

und sozialen Bereichen integriert. Die Vorgehensweise der Therapie ist interaktionsori-

entiert, da durch diese Methode eine responsive Art und Weise des Umgangs mit dem

Kind die Bereitschaft des Kindes verstärkt, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren

und sich selbständig mit Problemen auseinanderzusetzen. Prinzipiell bedeutet dies, daß

sich der Musiktherapeut auf das Interesse des Kindes einstellt und beide aktiv am Ge-

schehen teilnehmen. Für Orff (1992) soll sich die Interaktion aus den Möglichkeiten

des Kindes entwickeln. Daher hat die Behandlung kein vorgefaßtes Ziel. Die Ziele

werden für das Kind individuell vom Therapeuten formuliert. Dabei können zunächst

kleine Ziele angestrebt werden, woraus sich weitere Ziele ergeben. Die Therapie ist also

ein Prozeß, der bildlich als langer Weg dargestellt werden kann.

"Dabei sind die unbegradigten Wege vorzuziehen, eben die Wege, die Kinder gerne gehen und die für das Kind Weg bedeuten. Die Richtung allerdings, das Wohin wird vom Therapeuten indiziert. Er wird nun all die Um- und Nebenwege mitgehen, wird verweilen, wo ein Verweilpunkt sich ergibt."460

Innerhalb der interaktionsorientierten Vorgehensweise in der Orff-Musiktherapie sind

die Begriffe ISO-Gesetz und Provokation von besonderer Bedeutung. Der Begriff ISO

leitet sich aus dem griechischen Wort isos ab, was gleich, derselbe oder ähnlich

bedeutet. Handelt der Therapeut nach dem ISO-Gesetz, so muß er der kindlichen

Intention folgen, so wie das Kind sich darstellt und sich verhält. Dabei werden durch

das Gewähren spielerischer oder musikalischer Aktivität spannungsfreie Situationen

geschaffen. Durch das Folgen der kindlichen Interessen seitens des Therapeuten kann

sich das Kind akzeptiert und verstanden fühlen. Es kann Anregungen (Provokationen)

aus seiner Umwelt aufnehmen.461

Provokation ist ein wichtiges therapeutisches Mittel in der Orff-Musiktherapie und soll

im Sinne des Wortes etwas hervorrufen und nicht verschrecken. Die Provokation stellt

einen Reiz dar, der das kindliche Interesse wecken und die Fassungskapazität etwas er-

weitern und dadurch anreichern soll. Der Reiz kann von musikalischer, aber auch von

gesprochener oder gezeigter Art sein. Durch die Provokation kann die

Konzentrationsfähigkeit des Kindes verstärkt werden und neue Spielmöglichkeiten

können erkannt werden. Grundsätzlich muß der Therapeut das Kind genau beobachten.

460Vgl. Orff, G. (1992), S. 16.461Vgl. Voigt, M. / Greifenstein, R. / Maisch, U. (1996), in: Passolt, M. (1996), S. 239.

124

Page 133: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Diese Beobachtung bestimmt dann auch die Provokation im Hinblick auf das

Therapieziel.462

Das Erlebnis zu dem ein Kind innerhalb der Therapie kommen soll, kann in drei prinzi-

pielle Erlebnis- und Bildungskategorien eingeteilt werden:

1. Erfahrungen der eigenen Person

Dies beinhaltet die sich entwickelnden Erfahrungen der Erweckung und Stärkung der

Erlebnisfähigkeit, der Sinn für Unterscheidung und Assoziation, die Entwicklung der

Sensibilität.463

2. Erfahrungen des sozialen Gefüges

Um die Erfahrungen im sozialen Bereich zu machen, muß die Fähigkeit zur Toleranz

und die Fähigkeit zu einer sinnbezogenen Reaktion und Interaktion gefördert werden.464

3. Erfahrungen der Objektwelt

Für diese Erfahrungen muß das Kind sein Verständnis von Zeit und Geschehen, Raum

und Durchdringen des Raumes, Dissonanz und Stille sowie die Verantwortung für Ob-

jekte und die Erfahrung der Sinnesbezüge untereinander entwickeln.465

Diese verschiedenen Fähigkeiten und Sinne können durch eine angemessene

zielorientierte Stimulation durch den Therapeuten entwickelt werden. Es soll eine

Kommunikation hergestellt werden, aus der sich eine Interaktion ergibt.466

Das Kind kann daraufhin seine Persönlichkeit entwickeln und einen Sinn für soziale In-

teraktion bekommen und seine Objektwelt verstehen.

6.6.2 Das Instrumentarium der Orff-Musiktherapie

Das Instrumentarium der Orff-Musiktherapie wird vom Orff-Schulwerk übernommen

und ist das wichtigste Mittel in der Therapie. Die Instrumente können verschiedenartig

eingesetzt werden:

1. Die taktil-therapeutische Verwendung des Instrumentariums

Innerhalb dieses Ansatzpunktes wird das Material vornehmlich zwischen Holz, Fell,

Metall und Saiten unterschieden. Hinzu kommen Materialien wie Sand, Steine, Kork

und Glas. Die Kinder können dadurch taktile Erfahrungen machen in bezug auf die

462Vgl. Ebenda, S. 238.463Vgl. Orff, G. (1992), S. 58464Vgl. Ebenda, S. 59.465Vgl. Orff, G. (1992), S. 59.466Vgl. Orff, G. (1992), S. 59f.

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Page 134: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Wärmequalität, die Beschaffenheit der Oberflächen, die Qualität der Härte, der

Elastizität, des Gewichts und in bezug auf die Vibrationsqualität.467

2. Die optisch-therapeutische Verwendung des Instrumentariums

Der optische Einsatz der Instrumente besteht vor allem in den Größenunterschieden und

in den verschiedenen Formen (rund, eckig, dreieckig, stabförmig) und in der Kombina-

tion dieser Formen.468

3. Die akustisch-therapeutische Verwendung des Instrumentariums

Bei der akustischen Verwendung spielt der spezifische Klang eine besondere

Bedeutung. Durch die besondere instrumentale Bauform entsteht ein eigener Klang,

z.B. wird gespanntes Fell zu einer Trommel oder zu einer Pauke und gespannte Saiten

über einem Resonanzkasten werden zu einer Gitarre oder Geige. Das Ergebnis sind eine

Vielzahl verschiedener Klangfarben.469

Ein weiterer therapeutischer Aspekt liegt in der Verwendung der Instrumente. Dabei

können sie ohne eine bestimmte Melodie oder ohne einen bestimmten Rhythmus

verwendet werden. In bezug auf Hyperaktivität besteht in diesen verschiedenen

Einsatzarten für die Kinder die Möglichkeit sich zu betätigen. Dies fördert den Aufbau

von Konzentration und Geduld.470

Neben den drei verschiedenen Ansatzpunkten sollten verschiedene Grundregeln in der

Anwendung des Instrumentariums beachtet werden. Erstens kann das Instrument in der

Orff-Musiktherapie als Sinnträger verstanden werden. Das bedeutet, daß das Instrument

spezifisch benutzt werden soll. Dabei kann jedes Instrument einer bestimmten Vorstel-

lung zugeordnet werden, wodurch die Sinneskapazität erweitert wird. Somit entsteht ein

kommunikativer Charakter. Zweitens soll das instrumentale Material nicht entartet oder

verfälscht eingesetzt werden, da der Erfolg der Therapie mit der Wahrhaftigkeit des

Materialeinsatzes in Zusammenhang steht. Zum dritten soll das Instrumentarium mög-

lichst ökonomisch verwendet werden. Es soll eine Auswahl getroffen werden, damit das

Kind nicht überfordert wird. Das hyperaktive Kind kann durch eine uneingeschränkte

Materialauswahl seinem Tätigkeitsdrang nachkommen und vieles ausprobieren. Infolge-

dessen kann es seine Aufmerksamkeit und Konzentration nicht auf ein Instrument rich-

ten, wodurch sich kein kreatives Verhalten entwickeln kann. Das Material wird folglich

vergeudet. Der ökonomische Einsatz verstärkt daher die Konzentration und regt die

Phantasie an. Ein weiteres Grundprinzip für den Gebrauch des Instrumentariums

besteht in der Signalfunktion des Materials. Das Instrument bekommt

467Vgl. Ebenda, S. 22.468Vgl. Ebenda, S. 23.469Vgl. Ebenda, S. 23f.470Vgl. Ebenda, S. 24.

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Page 135: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Aufforderungscharakter. Durch die Signalfunktion entsteht ein stark bindender Wert

innerhalb einer Gruppe. Der Einsatz von Signalen erfordert Flexibilität, Entscheidung

und Verantwortung. Das letzte Prinzip beinhaltet die Austauschbarkeit des in-

strumentellen Materials. Dadurch wird die soziale Toleranz und die Bereitschaft zu

teilen gefördert.471

Innerhalb der beschriebenen Grundprinzipien kann das Instrument verschiedene

Funktionen haben. Dies ist zum einen die distanzierende Funktion, da es zwischen

Therapeut und Kind steht. Zum zweiten kann das Instrument eine kommunizierende

Funktion übernehmen, es bildet dann eine Verständnisbasis der nonverbalen

Kommunikation. Zum dritten kann des Instrument eine integrative Funktion besitzen,

die Therapeut und Kind verbindet.472

6.6.3 Der Therapieablauf

Der Verlauf einer Therapiestunde ist nicht starr vorgeschrieben. Der Therapeut stellt für

jede Stunde individuelle Pläne auf. Dennoch existieren einige Grundregeln.

Bei der ersten Kontaktaufnahme werden die Weichen für den weiteren Verlauf der The-

rapie gestellt. Das therapeutische Ziel der ersten Stunde ist der Aufbau eines

Vertrauensverhältnisses zwischen Kind und Therapeut. Außerdem sollte in der ersten

Stunde eine genaue Beobachtung der optischen, akustischen und sozialen Reaktionen

des Kindes erfolgen. Die Beobachtung führt zu der Erstellung eines individuellen

Therapieplanes mit einem angemessenen Therapieziel. Ein weiteres Ziel in der ersten

Stunde ist die Entwicklung einer positiven Einstellung des Kindes für die Therapie. Das

Kind hat bestimmten Erwartungen an die Therapie. Diese Erwartungen beinhalten

Spannungselemente, die von grundlegender Bedeutung für den weiteren

Therapieverlauf sind. Die Spannungselemente sollten daher positiv sein, damit sich das

Kind akzeptiert fühlt.473

Von der zweiten Stunde an erwartet das Kind den bereits bekannten Raum und das be-

kannte instrumentale Material. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, die

Spannung aufrechtzuerhalten, indem die bekannten Elemente mit neuen in Verbindung

gebracht werden. Dabei dient das bereits bekannte Material der Orientierung. Zu

Beginn jeder Stunde sollte daher immer etwas rituelles angeboten werden, um das

Klima wiederherzustellen. Anschließend kann etwas aus therapeutischer Sicht Neues in

die Situation eingebracht werden. Der weitere Aufbau einer Stunde kann weiterhin in

der Entwicklung der Situation entstehen durch das Annehmen der kreativen spontanen

Beiträge der Kinder, wodurch ein Höhepunkt der Therapiestunde entsteht.

Anschließend können die Ideen der Kinder verarbeitet werden. Am Ende einer Stunde

erfolgt ein organischer Abschluß von Bewegungsfolgen. Der Therapeut muß bei der

471Vgl. Orff, G. (1992), S. 25ff. 472Vgl. Ebenda, S. 108.473Vgl. Orff, G. (1992), S. 121f.

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Page 136: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Planung einer Therapiestunde mögliche Irritationen antizipieren. Diese entstehen aus

der Reizung oder aus Erregung, grundsätzlich aus dem Zustand der Stimulation. Die

Irritationen müssen verarbeitet und in gewissem Maße geduldet werden, damit

produktive Stunden ermöglicht werden. Im weiteren Therapieverlauf orientiert sich der

Therapeut an der vorangegangenen Stunde. Durch genaue Beobachtung in jeder Stunde

entsteht die Grundlage für die Planung der folgenden.474

Damit dem Therapeuten das Geschehen in einer Stunde nicht entgleitet, so daß kein

kommunikatives kreatives Klima entwickelt werden kann, muß er Leitfäden haben, um

das Geschehen wieder zu binden. Dabei können die Leitfäden nonverbaler Art sein. Die

Leitfäden stellen eine Provokation dar im Sinne des Spielflusses. Der Therapeut muß

wachsam sein, um zu erkennen, wann eine Korrektur des Spielgeschehens nötig ist und

von den Kindern angenommen wird. Zu diesen Leitfäden gehören das ostinate, das kon-

trastierende Moment und das Überraschungsmoment. Das ostinate Moment sollte in ei-

ner Therapiestunde miteingeplant werden, weil dadurch das Geschehen

zusammengehalten wird. Das ostinate Moment kann in einem gesungenen Vers, in einer

gesprochenen Zeile, in einem Rhythmus auf einem bestimmten Instrument oder in

einem Klang bestehen. Durch das kontrastierende Moment kann ein Wechsel in der

Lautstärke und der Zeitqualität entstehen sowie Klangunterschiede und Unterschiede

von Einzel- oder Gruppenbeiträgen. Das kontrastierende Moment entwickelt

Flexibilität, die jedoch noch durch den Vergleich gebunden ist. Dabei tritt das

kontrastierende Moment meist nicht unerwartet auf, sondern im zyklischen Ablauf,

wodurch ein Gefühl der Ordnung erreicht wird. Das Überraschungsmoment dient dem

Therapeuten ebenfalls zur Wiederherstellung eines abwegigen Geschehens. Dabei kann

das Überraschungsmoment durch ein lautes oder leises Signal oder durch ein optisches

oder gestisches Signal dargestellt werden. Dieses Moment ist nicht vorhersehbar wie die

beiden anderen, es entsteht aus der Situation.475

6.6.4 Die Orff-Musiktherapie und hyperaktive Kinder

In der musiktherapeutischen Behandlung nehmen Verhaltensstörungen und Verhaltens-

auffälligkeiten einen breiten Raum ein.

Bei hyperaktiven Kindern liegen neben einer ziellosen Aktivität, Konzentrationsschwie-

rigkeiten und einer mangelnden Ausdauer auch Schwierigkeiten im sozialen Bereich

vor. Diese äußern sich in Interaktionsstörungen, Handlungsverweigerungen sowie

Problemen in der Dialogfähigkeit. Das pädagogisch-therapeutische Ziel der Orff-

Musiktherapie liegt folglich bei hyperaktiven Kindern nicht nur in einem Abbau der

Unruhe sondern ebenfalls in einem Aufbau alternativer Aktivität und

Verhaltensweisen.476

474Vgl. Ebenda, S. 123.475Vgl. Orff, G. (1992), S. 124ff.476Vgl. Voigt, M. / Greifenstein, R. / Maisch, U. (1996), in: Passolt, M. (1996), S. 240.

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Die hyperaktiven Verhaltensweisen äußern sich in einem Übermaß an Bewegung.

Dabei hilft die enge Verbindung von Musik und Bewegung sowohl der Musik als auch

der Bewegung, da sie sich gegenseitig bedingen. Das Phänomen der Musik ist, daß sie

ein Bild, ein Verständnis oder einen Bewegungszustand erzeugt, der nur in Bewegung

erfahren werden kann. Die Bewegung ist somit ein grundlegendes Element der

musikalischen Mittel innerhalb der Orff-Musiktherapie. Die ungesteuerte kindliche

Bewegung wird in der Orff-Musiktherapie in das Spiel eingebaut und verarbeitet. Dabei

wird dem ISO-Prinzip gefolgt, d.h. die Unruhe wird nicht unterbunden, sondern den

kindlichen Intentionen entsprechend zugelassen. Dabei werden Impulse vom

Therapeuten eingesetzt, um die Unruhe zu strukturieren, damit auch Ruhepausen erzielt

werden.477 Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Therapeut dem Kind in all seinen

Aktivitäten folgt. Bei hyperaktiven Kindern kann der Therapeut ebenso die Funktion

des ruhenden Pols einnehmen, indem er nicht dem Kind folgt, sondern bei einer Akti-

vität bleibt und von dort Impulse in die Spielsituation einbringt. Die Impulse können

sich dabei auf eine nonverbale Spiegelung oder Begleitung der kindlichen Aktivität

beziehen, oder eine verbale Kommentierung der Aktivität darstellen.478

Um die Aufmerksamkeit und die Konzentration zu erhöhen, werden kleine Einheiten

aufgebaut und langsam verlängert. Verliert das Kind das Interesse, wird die Aufgabe

modifiziert. Ein weiterer grundlegender Aspekt der Orff-Musiktherapie liegt in der Be-

achtung konkreter Spielregeln. Die Spielregeln zeigen die beste Wirkung, wenn sie von

dem Kind stammen, da es sich strenger an diese hält. Die Regeln bedeuten für das Kind

Sicherheit.479

Die Spielregeln werden nicht direkt ausgesprochen, sondern spontan in einer Situation

entwickelt und in das Spiel einbezogen. Sie können jedoch auch vorher formuliert wer-

den.

6.6.5 Abschließende Bemerkungen zur Orff-Musiktherapie

Durch die Möglichkeit, sich aktiv in die Orff-Musiktherapie einzubringen, bekommen

hyperaktive Kinder die Chance, die Eigeninitiative zu strukturieren, die Konzentration

und Ausdauer aufzubauen und eigene Reaktionen besser zu kontrollieren. Dadurch wird

zunehmend die Selbstkontrolle des Kindes aufgebaut, so daß es in Interaktion mit seiner

Umgebung treten kann.

Entscheidend in der Orff-Musiktherapie ist die erste Therapiestunde, da dort die weitere

Entwicklung der Therapie determiniert wird. Kann in der ersten Stunde eine positive

Beziehung aufgebaut werden, wird ein positiver Affekt begünstigt. Der Endzustand die-

ses Affekts ist der positive Effekt.480

477Vgl. Orff, G. (1992), S. 91.478Vgl. Voigt, M. / Greifenstein, R. / Maisch, U. (1996), in: Passolt, M. (1996), S. 242.479Vgl. Orff, G. (1992), S. 53.480Vgl. Orff, G. (1992), S. 163.

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Abschließend soll ein Zitat von Jacques Emile Dalcrozes angeführt werden, der der

Schöpfer der Rhythmik und ein Wegbereiter der Musiktherapie war. Er hat den Zugang

zur Musiktherapie erschlossen, da er die strengen Schemen der Musikscholastik durch-

brochen hat. Nur so war die Entdeckung des eigenen Rhythmus des Menschen möglich,

der die Ausgangsbasis für die Kommunikation mit den Kranken ist:

"Die Musik muß in der allgemeinen Erziehung eine wichtige Rolle spielen, denn sie antwortet auf die verschiedenartigsten Wünsche des Menschen.Musik studieren bedeutet zu sich selbst kommen."481

7 Abschlußbetrachtung einer pädagogischen Förderung bei hyperaktiven Kindern im Vorschulalter unter Einbezug kreativer und pädagogisch-therapeuti-scher Aspekte

Insgesamt legen sowohl die Ergebnisse der Kreativitätsforschung als auch die

Ergebnisse der Anwendung der verschiedenen pädagogisch-therapeutischen

Interventionsmöglichkeiten nahe, daß eine Förderung hyperaktiver Kinder im

Vorschulalter eine wichtige Determinante zur Verbesserung der Symptome des

hyperaktiven Verhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung darstellt.

Störende und auffällige Kinder sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Menschliches

Verhalten ist durch Wechselwirkungen bestimmt, das bedeutet, daß das Leiden der Kin-

der auch das Leiden der Eltern bzw. der gesamten Gesellschaft ist. Dies erfordert eine

Erweiterung des Blickfeldes seitens der Eltern, Erzieher und Pädagogen, um das

auffällige Verhalten der Kinder in ihren Lebenszusammenhängen zu verstehen und

somit richtige Hilfestellungen zu geben. Ein erster Schritt hierzu besteht darin, die

bisherigen Verhaltensweisen zu überdenken und hinsichtlich einer pädagogischen

Förderung nicht über die Kinder zu reden und über sie hinweg zu entscheiden, sondern

mit ihnen zu reden und mit ihnen gemeinsam entscheiden, da jegliche pädagogische

Förderung nur durch die Mitarbeit der Kinder wirksam werden kann.482 Dieses

Umdenken über einen anderen Umgang mit dem Kind erfordert sowohl von Eltern als

auch von Pädagogen Flexibilität und Originalität. Das heißt, daß eine Neuorientierung

stattfinden muß, damit die Kinder optimal gefördert werden können.

481Dalcroze, J. E. zitiert nach: Benenzon, R. O. (1983), S. 162482Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 77f.

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Die Förderung hyperaktiver Kinder sollte möglichst frühzeitig einsetzten, da sich zum

einen das hyperaktive Verhalten im Vorschulalter verstärkt und die Kinder in diesem

Alter Schwierigkeiten hinsichtlich der Aufmerksamkeit und der sozialen Anpassung

haben, die ihren späteren Lebensweg erheblich beeinflussen. Folglich kann eine

pädagogische Förderung bereits im Vorschulalter die Auffälligkeiten der Kinder erheb-

lich reduzieren, indem sie z.B. eine konsequente Erzieherhaltung seitens der Bezugsper-

son erfahren.483

Zum anderen haben die Kinder im Vorschulalter die Möglichkeit ihre Aktivität spontan

auszuleben. Dadurch ist bei ihnen die Grundlage zur Entwicklung kreativer Verhaltens-

weisen gegeben. Kreativität im Vorschulalter lebt von diesen ungerichteten und ur-

sprünglichen Aktivitäten des Kindes. Dadurch kann dem Erwachsenen ebenfalls ein

Anstoß zum Umdenken gegeben werden, in die Richtung einer Befreiung von

Anpassungsdruck und Leistungsstrategien. Des weiteren bietet die Vorschule dem Kind

einen optimalen Raum zur Entfaltung ihres kreativen Potentials. Im Vorschulalter sind

Kinder besonders durch ihre Aufnahmefähigkeit, ihr Interesse und durch ihre

Aufnahmebereitschaft gekennzeichnet, was sie für eine pädagogische Förderung

prädestiniert. Das kreative Handeln kann somit bereits im Vorschulalter zur Entfaltung

gelangen. Dabei können kreative Techniken und Methoden, wie z.B. das Brainstorming

oder der Gebrauch der Sinne (vgl. Kapitel 4.6) die Entwicklung kreativer Potentiale

fördern.484 Außerdem ist vor allem das Kreativitätstraining geeignet, die kognitiven,

emotionalen und sozialen Fähigkeiten des hyperaktiven Kindes zu entwickeln.

Das Verhalten hyperaktiver Kinder ist durch eine chaotische, wenig zielgerichtete

Aktivität, eine leichte Ablenkbarkeit, eine motorische Unruhe und durch eine geringe

Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Ihr Verhalten ist überschießend, ruhelos,

unkonzentriert und impulsiv. Hyperaktive Kinder beenden angefangene Tätigkeiten nur

selten. Insgesamt beeinträchtigt die Hyperaktivität die Entwicklung von sozialen

Beziehungen. Hinzu treten Teilleistungsstörungen, spezifische Lernstörungen und

kognitive Defekte. Daraus entwickelt sich ein gestörtes Selbstwertgefühl, das sich

wiederum negativ auf das Verhalten auswirkt.485

Um zu einer effektiven Förderung des hyperaktiven Kindes zu gelangen, muß vor allem

berücksichtigt werden, daß das Kind durch ein breites Spektrum an Techniken und Me-

thoden als Gesamtpersönlichkeit angesprochen wird und daß sein kreatives Potential

auf verschiedenen Ebenen gefördert wird, z.B. auf der sprachlichen, der bildlichen, der

musikalischen (vgl. Kapitel 6), der kognitiven (vgl. Kapitel 5.2.1) oder der motorischen

(vgl. Kapitel 5.2.2) Ebene. Folglich muß das hyperaktive Kind entsprechend seiner

geistigen, körperlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung gefördert werden. Dabei

483Vgl. Krause, J. (1995), S. 25f.484Vgl. Becker-Textor, (1993), S. 58ff.485Vgl. Petermann, U. (1991), S. 121.

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sollte immer eine ausgewogenen, ganzheitlich orientierte Förderung des hyperaktiven

Kindes im Mittelpunkt stehen.

7.1 Die Notwendigkeit einer kreativen Erziehung bei hyperaktiven Kindern

In Kapitel 3.2 wurde anhand der kreativen Persönlichkeit dargestellt, daß jedes Indivi-

duum über Grundbedingungen der Kreativität verfügt. Folglich sollte jedes Individuum

- auch das hyperaktive Kind - im Rahmen seiner Möglichkeiten gefördert werden.

Dabei zeichnet sich ein kreatives Kind durch ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein und

Selbstvertrauen aus, wodurch ihm ermöglicht wird, komplexe Situationen zu ertragen

und Probleme zu lösen, ohne bei Mißerfolgen zu resignieren. Das bedeutet, daß das

kreative Kind eine hohe Frustrationstoleranz besitzt. Aufgrund dieser

Frustrationstoleranz und des Selbstvertrauens ist das Kind in der Lage,

Durchhaltevermögen zu entwickeln, wodurch es den Mut hat, sich nonkonform zu

verhalten. Eine weitere Eigenschaft der kreativen Persönlichkeit ist die Freiheit von

Angst, zum einen vor sich selbst und zum anderen vor der Umwelt. Außerdem ist der

Neuheitsaspekt ein wichtiger Faktor der kreativen Persönlichkeit. Das kreative Kind

löst sich schnell von traditionellen Normen und Vorstellungen und ist offen für

Veränderungen. Damit ist ein spielerisches Überschreiten von Grenzen und ein Experi-

mentieren verbunden, was die Bereitschaft zum Risiko impliziert.486 Das kreative Kind

ist sehr verspielt und besitzt viel Humor und Phantasie. Es geht Konflikten nicht aus

dem Weg. Um zu einer Problemlösung zu gelangen entwickelt es Ausdauerfähigkeit,

welche mit einem hohen Energiepotential verbunden ist. Bei der Problemlösung ist das

kreativen Kind nicht auf einen bestimmten Weg fixiert.487

Auf den ersten Blick werden kaum Parallelen zwischen dem hyperaktiven Kind und

dem kreativen Kind ersichtlich, da das hyperaktive Kind vornehmlich unruhig,

konzentrationsschwach und unaufmerksam ist. Dennoch können es gerade diese

Fähigkeiten sein, die hyperaktive Kinder zu kreativen Handlungen befähigen. Folglich

kann durch eine gezielte Förderung das kreative Potential des hyperaktiven Kindes

hervorgeholt und gefördert werden, da sich dieses z.B. durch eine hohe

Assoziationsflüssigkeit auf der motorischen Ebenen, einer starken Phantasie, die auf

eine hohe Ideengeläufigkeit hinweist, durch Originalität in bezug auf Problemlösungen

und durch ein hohes Durchhaltevermögen bei selbst ausgewählten Tätigkeiten (vgl.

Kapitel 3.2) auszeichnet. Hyperaktive Kinder geben nicht so schnell auf, sie fangen

trotz ständiger Niederlagen wieder von vorne an.488 Die Bereitschaft, immer von neuem

zu beginnen und nichts als definitiv oder als einen geschlossenen Prozeß zu sehen, ist

486Vgl. Ulmann, G. (1979), S. 42.487Vgl. Ihlenfeld, Ch. (1987), S. 125.488Vgl. Walters, U. (1991), S. 24.

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Page 141: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

eine wichtige Voraussetzung für die Kreativität. Somit kann bei hyperaktiven Kindern

ebenfalls von einer Fähigkeit zur Kreativität gesprochen werden.

Die Kreativitätsförderung beeinflußt das Denken, Handeln, Verhalten und damit die

Persönlichkeit des Kindes. Aus diesem Grunde wird die Förderung der Kreativität mit

in den Bereich der Erziehung eingebunden, da sie alles impliziert, was zur Entwicklung,

Förderung und Beeinflussung der Persönlichkeit gehört. Bei hyperaktiven Kindern

fördert eine Kreativitätserziehung hauptsächlich die Fragehaltung, die Vertrautheit zur

Umwelt und die Auseinandersetzung mit der sachlichen und personalen Umwelt.489

Die Umwelt bekommt daher einen zentralen Stellenwert bei der Förderung hyperaktiver

Kinder. Somit ist eine Kreativitätsförderung in einer anregungs- und impulsarmen Welt

nicht möglich. Folglich liegt die Gestaltung einer ansprechenden und

kreativitätsfördernden Umwelt bei den Eltern und Pädagogen. Eines der

Hauptprinzipien einer kreativitätsfördernden Umwelt sollte in der Freiheit der Auswahl

des Raumes, des Materials, der notwendigen technischen Hilfsmittel und in der freien

Wahl der Aktivitäten begründet sein. In der praktischen Anwendung bedeutet dies, daß

die Bezugspersonen bestimmte Ge- und Verbote einschränken sollen, wobei jedoch bei

hyperaktiven Kinder wenige, sorgfältig ausgewählte Regeln aufgestellt werden müssen,

die für alle Beteiligten innerhalb einer Gruppe gelten. Auf die Einhaltung dieser

berechtigten Regeln sollte auch bestanden werden. Hyperaktive Kinder verfügen über

eine Hartnäckigkeit, mit der sie gegen erzieherische Regeln angehen. Dabei sollte die

Bezugsperson die Ziele jedoch konsequent verfolgen, da eine inkonsequente Haltung

bei hyperaktiven Kindern negative Folgen haben kann (vgl. die Erzieherhaltung in

Kapitel 2.2 und 4.5).490

Zunächst besteht die Aufgabe des Erziehers jedoch darin, die Voraussetzungen zur

Kreativitätsförderung zu schaffen. Dies geschieht durch die Förderung von neuen Pro-

blemlösungen, Phantasie und Selbstvertrauen. Außerdem ist eine konstruktive Kritik,

Flexibilität, Spontaneität, Offenheit, divergentes Denken, Neugierverhalten und

Problemsensitivität zu fördern. Des weiteren sollte der Erzieher immer um seine eigene

Kreativität besorgt sein und nicht nur um die der hyperaktiver Kinder. Dabei sollte er

selbst kreativ offen sein und das kreative Verhalten des hyperaktiven Kindes erkennen,

akzeptieren und fördern.491 Es liegt somit zum großen Teil am Erzieher, ob sich ein

hyperaktives Kind kreativ entwickelt. Dabei muß der kreative Erzieher immer

Entscheidungen fällen, zwischen Rezeptivität und Spontaneität, Tradition und

Innovation, Konformität und Nonkonformität, Regel und Freiheit, konvergentem und

divergentem Denken, defensivem und expressivem Verhalten sowie zwischen

Geschlossenheit und Offenheit.492

489Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 79f.490Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1994), S. 96f.491Vgl. Finkel, K. (1976), S. 9.492Vgl. Flechsig, K.-H. (1972), S. 198ff.

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Page 142: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

Außerdem sollte dem Kind in der Erziehungspraxis eine hinreichende Anzahl verschie-

dener Materialien und Handwerkszeuge zur Verfügung stehen. Dabei sollten alle Mate-

rialien eine anregende Wirkung auf das Kind ausstrahlen und die Möglichkeit zur

Veränderung offen lassen. Das Material sollte vom Kind zweckentfremdet werden

können, damit schöpferische Tätigkeiten zustande kommen. Alles, was vom Kind

neugeschaffen wird, muß in seiner Umwelt Platz und Anerkennung finden. Aus diesen

Aspekten geht hervor, daß eine kindgerechte Umwelt erzeugt werden muß, die sich an

den kindlichen Bedürfnissen orientiert.493 Dabei sollte sich der Erzieher jeglicher

Beurteilung weitestgehend enthalten, da dadurch das kreative Verhalten gehemmt

werden kann. Außerdem sollten Faktoren wie Konformitätsdruck, Autoritätsfurcht,

Erfolgsprämien, das Verbot Fragen zu stellen, die Überbetonung von

Geschlechterrollen und die Dichotomie von Spiel und Arbeit vermieden werden (vgl.

Kapitel 4.3). Je mehr Druck auf das hyperaktive Kind ausgeübt wird, um so mehr

versucht es zu beweisen, daß es sich nicht unterordnet. Die Folge wird eine Erhöhung

der Auffälligkeiten sein, wodurch das Kind nicht mehr in der Lage ist, kreative

Verhaltensweisen zu entwickeln, da es völlig abblockt und für keinerlei unterstützenden

Maßnahmen mehr offen ist.494 Für die Entfaltung der Kreativität sind folglich die Kultur,

Umwelteinflüsse und das erzieherische Verhalten von besonderer Bedeutung. Burton

(1964) stellt zehn Punkte zur pädagogischen Förderung kreativer Kräfte auf:

"1. Schaffen einer Atmosphäre, in welcher jedes Kind als Persönlichkeit akzeptiert wird, in der es respektiert und als Mitglied der Gruppe ge-

achtet wird.2. Jedes Kind soll sich selbst verstehen, sich selbst annehmen und sein eigenes Denken akzeptieren lernen.3. Das Kind soll Mut und Vertrauen zu seinen eigenen Leistungen be-

kommen und in seinen schöpferischen Versuchen bestätigt werden.4. Das Kind braucht Freiheit zum Explorieren, zum Experimentieren mit seinen Fähigkeiten und seiner Umwelt, um Freiheit zu lernen.5. Das Kind braucht Belohnung und Dank für das Neue, das Erfinde-rische, das Andersartige.6. Die Kinder sollten angehalten werden, nach Alternativen zu suchen, neue Wege zu finden, nicht am Augenfälligen hängen zu bleiben.7. Die radikale Fragehaltung sollte ein Hauptziel der Erziehung sein.8. Der Erzieher sollte zuhören, beobachten, schweigen können.9. Drucksituationen, die Angst zur Folge haben, sollten vermieden wer-den. Angst blockiert die geistige Aktivität, versperrt den Zugang zu neuen Ideen und macht das Wagnis des Erkennens zum Abenteuer. Un-sicherheit führt zur Trübung des Urteils und verstellt den Zugang zu Alternativlösungen. 10. Autoritätsgläubigkeit im Werturteil sollte vermieden werden."495

493Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 45.494Vgl. Krause, J. (1995) S. 75.495Burton, W. (1964), zitiert nach: Schwerdt, D. (1975), S. 386f

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Page 143: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

In bezug auf eine ganzheitliche Erziehung wird durch die Kreativitätsförderung die För-

derung der immanenten Kräfte des hyperaktiven Kindes ermöglicht, die durch reaktives

Lernen ignoriert werden. Durch eine kreative Erziehung können weitere Fähigkeiten

des Kindes freigelegt werden, die tief in den Persönlichkeitsbereich hineinreichen und

die durch bestimmte Dispositionen geweckt werden. Damit kann die Förderung der

Kreativität zu einer Komplettierung der Persönlichkeit des hyperaktiven Kindes

beitragen.496 Als Folge dieser Erziehungsbemühungen wird am Ende ein anderer Mensch

stehen, der sich aufgrund seiner Hyperaktivität immer noch von anderen abhebt, der

sich jedoch zu einer Persönlichkeit entwickelt hat, die entsprechend ihrer Eigenart und

Einmaligkeit geprägt ist. Dennoch darf die Kreativitätsförderung nicht überbewertet

werden, da sie nicht die einzige Aufgabe einer pädagogischen Förderung hyperaktiver

Kinder ist, sondern lediglich eine unter anderen. Dennoch kann durch die

Kreativitätsförderung das hyperaktive Verhalten des Kindes zwar nicht aufgehoben

werden, aber das auffällige Verhalten wird in einigen Merkmalen vermindert, z.B.

durch eine verbesserte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, dessen Folge

eine bessere Integration des hyperaktiven Kindes in seine Umwelt ist. Dadurch kann

sich wiederum ein verbessertes Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen entwickeln.

Somit wird die Hyperaktivität für das Kind und die Umwelt tragbar gemacht.

7.2 Abschließende Bemerkungen zu den medizinischen und pädagogisch-therapeutischen Interventionen unter Einbezug kreativer Aspekte

Pädagogik und Therapie bilden ein Kontinuum, wobei sich Präventives und Kuratives

ineinanderfügen. Durch die Kombination der vom Ansatz her unterschiedlichen

Disziplinen wird die Möglichkeit des Austausches und des Voneinander-Lernens

hervorgehoben.497 Folglich ist eine Betrachtung der pädagogisch-therapeutischen

Interventionsansätze im Zusammenhang mit einer pädagogischen Förderung

hyperaktiver Kinder von besonderer Bedeutung.

In Kapitel 5 wurde ein Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten einer

medizinischen und pädagogisch-therapeutischen Intervention gegeben. Bei der

Betrachtung und Diskussion der unterschiedlichen Therapieansätze stellt sich die Frage,

ob die vielen vorgeschlagenen Hilfsmittel überhaupt etwas an der Symptomatik des

hyperaktiven Verhaltens ändern. In Anbetracht der wenigen Langzeitstudien kann daran

gezweifelt werden. Dennoch wird in der Praxis von deutlichen Unterschieden und

Erfolgen berichtet. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß in der Praxis regelmäßig

verschiedene Therapiemöglichkeiten kombiniert werden, um einer ganzheitlichen

Förderung des hyperaktiven Kindes gerecht zu werden. In den unterschiedlichen

496Vgl. Seeboth, F.-H. (1973), S. 80.497Vgl. Kiphard, E.J. (1989), S. 24.

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Studien wird auf die Kombination verschiedener Möglichkeiten nur verwiesen, wobei

Langzeitstudien darüber bisher nicht vorliegen. Ansatzweise wurde über eine

Kombination der medikamentösen Behandlung mit der kognitiven Verhaltenstherapie

berichtet, jedoch liegen auch hier keine empirisch sicheren Daten vor. Trotzdem soll an

dieser Stelle wiederholt darauf hingewiesen werden, daß die medizinisch orientierten

Verfahren eine Möglichkeit der Intervention bei hyperaktiven Kindern darstellen. Aus

pädagogischer Sicht sind diese Methoden jedoch abzulehnen, da sie dem Kind die

Möglichkeit nehmen, sein eigenes Veränderungspotential einzusetzen. Folglich sind

solche Interventionsmodelle vorzuziehen, die Selbstheilungskräfte im Kind aktivieren

und dadurch eine Veränderung der Einstellung in den unterschiedlichen sozialen

Bereichen hervorrufen. Erfolgsversprechender sind die Methoden des Verhaltensthe-

rapie, obwohl hierzu ebenfalls keine ausreichend abgesicherten Langzeitstudien vorlie-

gen. Besonders die kognitiven Trainingsformen ermöglichen eine aktive

Auseinandersetzung mit der Verhaltensproblematik. Durch die Beherrschung entspre-

chender Problemlösungs- und Bewältigungsstrategien bekommt das hyperaktive Kind

die Möglichkeit, die Diskrepanz zwischen unkontrolliertem Eigenverhalten und

Umweltanforderungen auszugleichen und eine situationsangemessene

Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Ebenfalls von großer Bedeutung sind die

bewegungsorientierten Verfahren der Motopädagogik. Erste Untersuchungen zeigen

entsprechend positive Ergebnisse, wobei auch hier noch keine Langzeitstudien

vorliegen.498

Bei hyperaktiven Kindern kann seltenst eine völlige Symptomfreiheit erzielt werden,

dennoch gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten mit der kindlichen Verhaltensstörung

besser umzugehen, so daß eine große Anzahl von Folgestörungen verhindert werden

können.

Aus pädagogischer Sicht sollte nicht nur eine Therapieart gewählt, sondern ein

multimodaler Ansatz befürwortet werden. Ein solches Vorgehen kann der Komplexität

der Symptomatik im Hinblick auf die verursachenden Persönlichkeits-, Umwelt- und

Organismusfaktoren am ehesten gerecht werden. Generell sollte dabei die Therapie

speziell auf das Kind zugeschnitten sein, denn jede Therapie ist abhängig von der in-

dividuellen Störung, dem Alter aber auch von den jeweiligen sozialen Lebensbedingun-

gen. Außerdem sollte die Bereitschaft des Kindes, zur Mitarbeit eine besondere Rolle

spielen, da die Therapie immer freiwillig erfolgen sollte und nicht gegen den Willen des

Kindes, was eine Verstärkung der hyperaktiven Verhaltensweisen zur Folge haben

kann.

498Vgl. Bauer, A. (1986), S. 156f.

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Page 145: diplomarbeit hyperaktivität adhs ads

"Es ist einerlei, ob man mit dem Kind mehr spielt, Sport treibt, oder ob man es mehr zu musischen Aktivitäten anleitet. Man sollte sich da durchaus nach den Begabungen und Neigungen eines Kindes richten."499

Des weiteren ist es sehr wichtig, die Umwelt (Elternhaus und soziale Institutionen) in

den ganzheitlichen Förderansatz zu integrieren, da diese häufig im

Kausalzusammenhang mit den Störungen steht. Dabei kommt den unterschiedlichen

Erziehungsstilen eine besondere Bedeutung zu, die von einer autoritären bis zu einer

absoluten Laissez-Faire Haltung reichen. Ein stark autoritäres Verhalten z.B. und eine

lieblose Erziehung wirken sich auf das hyperaktive Kind hemmend aus, da es zum

einen Sanktionen befürchtet, auf die es dann mit Rache- oder Ablehnungsgefühlen

reagiert, wodurch keine sozialen Kontakte entstehen können. Zum anderen kommen

durch die autoritäre Erziehung eigene Handlungsimpulse der hyperaktiven Kinder nicht

zum Tragen, da sie bereits zuvor unterbrochen werden (vgl. Kapitel 2.2.4.3).500 In bezug

auf eine Förderung der Kreativität und das Erreichen einer Verbesserung der Symptome

ist ein freiheitlich-demokratischer Erziehungsstil als sehr günstig anzusehen. Folglich

spielen die Familienverhältnisse, die Stabilität oder Gestörtheit der Familie, ihre soziale

Integration sowie andauernde psychische Belastungen und negative Erfahrungen eine

immer wesentlichere und zuletzt entscheidende Rolle.501

Dies wird auch in der Literatur bestätigt. So sagen z.B. Voss / Wirtz (1990), daß das

störende Kind die gestörte Lebenswelt widerspiegelt und das Verhaltensauffälligkeiten

gesunde Reaktionen darauf sind. Sie sind Ausdrucksformen des Kindes in einer

problembeladenen, bedrückenden und krankmachenden Situation.502

Aus diesem Grund müssen Eltern mit in die Therapie hyperaktiver Kinder einbezogen

werden. Die Mitarbeit der Eltern besteht in einer Verhaltensänderung ihrem

hyperaktiven Kind gegenüber. Den Eltern wird häufig die Schuld am Verhalten ihrer

Kinder gegeben. Daher ist es im therapeutischen Prozeß besonders wichtig, den

Kreislauf dieser Schuldzuweisungen zu durchbrechen, um das hyperaktive Kind

wirksam zu fördern.

Voss / Wirtz (1990) erläutern weitere Verhaltensregeln für Eltern und Pädagogen, um

einen besseren Umgang mit dem hyperaktiven Kind zu erreichen. Dabei ist es vor allem

wichtig, z.B. die Wutanfälle und das auffällige Verhalten des Kindes zu ignorieren,

denn dadurch, daß die Umwelt nicht mehr auf das hyperaktive Verhalten reagiert,

verliert es von selbst das Interesse an den Auffälligkeiten. Ein weiteres Merkmal für

einen verbesserten Umgang mit einem hyperaktiven Kind wird zum einen darin

gesehen, daß dem Kind Problembewältigungen überhaupt erst zugestanden wird.

Häufig wird das hyperaktive Kind unterfordert, weil ihm keine Problemlösung

499Schweizer, CH. / Prekop, J. (1991), S. 125500Vgl. Becker-Textor, I. (1993), S. 46.501Vgl. Lempp, R. (1994), in: Hartmann, J. (1994), S. 110.502Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1990), S. 70.

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zugetraut werden. Folglich muß jedes Kind die Möglichkeit bekommen eigene

Erfahrungen in bezug auf die Lösung von Problemen zu machen und dabei eine

Sensitivität für diese zu entwickeln. Dazu gehört ebenfalls, daß sich das Kind mit

möglichen Mißerfolgen und den daraus resultierenden Frustration auseinandersetzt. Bei

erfolgreicher Problembewältigung soll das Kind gelobt werden, dennoch darf nicht das

Gefühl entstehen, nur für gute Leistungen Belohnungen zu erhalten, da sonst das Kind

zwanghaft nach Erfolgsprämien sucht. Trotzdem sollte das hyperaktive Kinder

erfahren, daß kreative Leistungen von ihm erwartet werden.503

Um das Sozialverhalten der hyperaktiven Kinder zu verbessern sollte mit ihnen

kommunikatives Verhalten eingeübt werden, bei dem sie lernen, andere Kinder zu

respektieren.

Die Eltern spielen somit bei der Behandlung hyperaktiver Kinder eine besondere Rolle.

Es ist wichtig, daß sie hinter dem jeweiligen pädagogischen Förderkonzept stehen,

damit sie ihre Kinder optimal unterstützen können.

In der Behandlung hyperaktiver Kinder sollte generell von einem ganzheitlichen

Förderkonzept ausgegangen werden, das sowohl kognitive, emotionale und soziale

Aspekt beachtet. Aus diesem Grund könnte die Motopädagogik durch ihren

ganzheitlichen Förderansatz gute Ergebnisse bei der Behandlung hyperaktiver Kinder

erzielen. Dabei würde sich eine Kombination der Mototherapie mit Formen der

kognitiven Verhaltenstherapie (vor allem dem Selbstinstruktionstraining) besonders gut

eignen. Bisher liegen jedoch über die Kombination der beiden Therapieformen keine

wissenschaftlichen Ergebnisse vor.

Des weiteren bietet die Musiktherapie als eine Form des kreativ-therapeutischen Ansat-

zes eine gute Ausgangsbasis für eine Kombination mit den pädagogisch-therapeutischen

Maßnahmen. Die Zielsetzung der Musiktherapie besteht in einer verbesserten Selbst-

und Umweltwahrnehmung durch die Sensibilisierung der sinnlichen

Wahrnehmungsfähigkeiten: Die Ermöglichung der Ichstärkung durch die Entwicklung

von Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein, wobei ebenfalls die Entwicklung der

Kritikfähigkeit gefördert werden soll. Ein weiteres Ziel besteht in der

Konzentrationsförderung und in der Entwicklung von sozialen Beziehungen.504 Damit

werden die Grundlegenden Symptome der Hyperaktivität angesprochen.

Im Zusammenhang mit der Verhaltenstherapie bekommt die Musik die Funktion eines

(positiven oder negativen Verstärkers), wodurch Verhaltensänderungen hervorgerufen

werden sollen. Damit diese Methode jedoch Erfolg hat, muß vorausgesetzt werden, daß

das hyperaktive Kind eine emotional-affektive Beziehung zur Musik hat. Das Ziel

dieser kombinierten Therapieform besteht folglich in einer verbesserten

503Vgl. Voss, R. / Wirtz, R. (1990), S. 97.504Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 132.

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Sprachentwicklung, einer Förderung von Immitaitonsverhalten, sowie einer Reduktion

der Hyperaktivität.505

Eine weitere Möglichkeit der Förderung hyperaktiver Kind besteht in der Kombination

der Musiktherapie mit der motopädagogischen Therapie. Durch die Kombination von

Musik und Bewegung kann das hyperaktive Kind seine eigene Körperlichkeit besser

wahrnehmen und zu einem neuen Körpererlebnis gelangen. Außerdem kann das Kind,

nachdem es gelernt hat, verschiedene Grundfertigkeiten im Bereich der Motorik auszu-

führen, diese kreativ anwenden. Das Kind erarbeitet sich neue Bewegungsformen und

verleiht ihnen durch phantasievolle Musik einen individuellen Ausdruck. Durch die

breiten Bewegungsgrunderfahrungen wird der kindlichen Initiative und der Kreativität

genügend Raum gelassen.506 Die Orff-Therapie eignet sich besonders für eine

Verbindung von Musik und Bewegung. Hierbei wird nicht nur Bewegung zur Musik

oder Musik zur Bewegung gefördert, sondern die elementare Musik und die Bewegung

werden in ein Gleichgewicht gebracht. Das bedeutet, daß Melodie, Klang, Instrumente

und Bewegung auf gleicher geistiger und leistungsmäßiger Ebene gehalten werden. Im

Zusammenhang mit der psychomotorischen Therapie soll durch die Erzeugung von

Bewegungsimpulsen durch Musik eine neue Körperbeherrschung und ein positives

Erlebnis der Körperbewegung vermittelt werden.507

In bezug auf die Förderung der Kreativität wirkt sich eine Therapie nur dann günstig

auf kreatives Handeln und dadurch auf kreative Produkte aus, wenn die störenden

Symptome beseitigt werden und das Kind dazu befähigt wird, sich aktiv in die

Gesellschaft zu integrieren. Dagegen schadet die Therapie der kreativen Entwicklung,

wenn sie das Kind sozialisiert und zur Konformität in der Gesellschaft erzieht.508

Prinzipiell kann der therapeutische Prozeß mit dem kreativen Prozeß in Zusammenhang

gebracht werden, wenn nicht sogar jeder therapeutische Prozeß einen kreativer Prozeß

darstellt. Das Ziel der therapeutischen Förderung besteht im allgemeinen in einer Stär-

kung der Persönlichkeit, wobei diese Stärkung des Ichs gleichzeitig als Förderung des

kreativen Verhaltens angesehen werden kann. Des weiteren wird im therapeutischen

Prozeß aus dem vorhandenen Material neue Verbindungen und Beziehungen hergestellt,

die ihren Ausdruck in neuen Erfahrungen, menschlichen Beziehungen oder veränderten

Lebensanschauungen finden. Im kreativen Prozeß werden ebenfalls neue Verbindungen

und Beziehungen hergestellt.509

505Vgl. Ebenda, S. 81. 506Vgl. Kiphard, E.J. (1989), S. 20.507Vgl. Strobel, W. / Huppmann, G. (1978), S. 88ff.508Vgl. Ulmann, G. (1970), S. 42.509Vgl. Landau, E. (1984), S. 142.

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Unter Einbezug kreativer Aspekte bekommt der Therapeut in den

Interventionsmöglichkeiten bei hyperaktiven Kindern eine besondere Bedeutung, da er

über bestimmte Eigenschaften einer kreativen Person verfügen sollte. Dabei sollte der

Therapeut grundsätzlich seiner Umwelt gegenüber offen sein, Sensibilität für die

Probleme des hyperaktiven Kindes zeigen und flexibel in bezug auf die Problemlösung

des hyperaktiven Kindes sein und eventuell neue Methoden ausprobieren. Dies erfordert

wiederum den Mut des Therapeuten, mit einzelnen Elementen zu spielen, auch auf noch

unerforschten Wissensgebieten. Folglich besteht die Notwendigkeit, diese Elemente

sowohl für sich als auch in unterschiedlichen Kombinationen zu sehen und dadurch

neue Konstellationen zu entwickeln. Diese Eigenschaften sind besonders hilfreich, um

den therapeutischen Prozeß zu einem guten und für das hyperaktive Kind erfolgreichen

Ende zu bringen. Außerdem ist es wichtig, daß der Therapeut versucht, diese

Eigenschaften im hyperaktiven Kind zu finden und zu entwickeln. Dies sollte eines der

therapeutischen Ziele sein.510

Ein weiteres kreatives Ziel der therapeutischen Intervention sollte sein, dem

hyperaktiven Kind das Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu vermitteln, damit es sich

nicht nur den Anforderungen seiner Umgebung anpaßt, sondern, seinen Fähigkeiten

entsprechend neue Bereichen als Herausforderung der Umwelt begegnet. Dadurch soll

dem Kind geholfen werden, trotz seiner Hyperaktivität kreativ zu leben, und es so auf

einen selbständige Zukunft vorzubereiten.511 Daher muß der Therapeut die Flexibilität

besitzen, die verschiedenen Seiten der therapeutischen Situation zu betrachten. Das

bedeutet, daß er seinen Blickwinkel erweitern muß und gegebenenfalls zu einer

Neudefinition des Problems, also zu einer Überprüfung der Therapie zu gelangen.

Trotz der zahlreichen pädagogisch-therapeutischen und kreativ-therapeutischen Metho-

den bleiben Schwächen und Angriffspunkte in einzelnen Gebieten des kindlichen

Verhaltens vorhanden. Dennoch sind hyperaktive Kinder besondere Persönlichkeit die

eine Bereicherung für die Welt darstellen:

"Mit kindlicher Begeisterungsfähigkeit, erfrischendem Neugierverhalten, originellen Problemlösungen bringen sie Leben in einen grauen Alltag. Mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen und anders strukturieter Sensibilität sind sie oft so phantasiereich und farbig, daß Gleichaltrige neben ihnen alt erscheinen."512

Außerdem sollte nicht übersehen werden, daß das "Anders-sein" des hyperaktiven Kin-

des auch Anlaß sein kann, einmalige und originelle Fähigkeiten zu entwickeln und

kreativ zu entfalten. Daß es dazu kommt, bedarf allerdings einer gewissen Toleranz und

Anpassungsfähigkeit der Eltern und Pädagogen. Sie müssen bereit sein, die Eigenart

510Vgl. Ebenda, S. 141.511Vgl. Ebenda, S. 150.512Skrodzki, K. (1993), in: Passolt, M. (1993), S. 165

140

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des hyperaktiven Kindes zu respektieren und zu akzeptieren, da das hyperaktive Kind

eine Persönlichkeit mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenschaften ist.513

Nur durch eine Kooperation der verschiedenen Bezugspersonen des hyperaktiven

Kindes kann dem Kind geholfen werden. Durch eine liebevolle und hilfreiche

Integration kann es so einen Weg zur Verwirklichung seiner Persönlichkeit innerhalb

einer sozialen Gesellschaft finden.

7.3 Ausblick

Insgesamt können durch eine pädagogische Förderung hyperaktiver Kinder im Vor-

schulalter mit Hilfe der Kreativitätsförderung theoretisch einige Symptome der

Hyperaktivität verbessert werden. Dabei ist der Bezug jedoch in der Praxis weiterhin

empirisch zu überprüfen, was nicht Aufgabe dieser Arbeit war.

Die Erziehungswissenschaft sollte sich jedoch in Zukunft um eine empirische Erfor-

schung über den Zusammenhang zwischen Kreativität und Hyperaktivität bemühen.

Erst wenn die soziale Relevanz über die Möglichkeit einer kreativen Förderung bei

hyperaktiven Kindern bewiesen und anerkannt ist, wird eine Einbettung in die

Alltagspraxis möglich sein.

Außerdem ist es wünschenswert, wenn sowohl die Überprüfung der Wirksamkeit der

pädagogisch-therapeutischen Interventionsmöglichkeiten als auch die Überprüfung der

Wirksamkeit hinsichtlich möglicher Kombinationen, Aufgaben in der

wissenschaftlichen Erforschung zum Thema Hyperaktivität werden. Hierzu bietet die

vorliegende Arbeit mögliche Anregungen, damit eine optimale pädagogische Förderung

für hyperaktive Kinder entwickelt werden kann.

513Vgl. Lempp, R. (1994), in: Hartmann, J. (1994), S. 118.

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