Documenta Menke Brauchen Wir Kunst

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  • 7/29/2019 Documenta Menke Brauchen Wir Kunst

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    KUNST

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    D O C U M E N T A

    Brauchen wir Kunst?

    Und wenn ja, wozu? In Kassel hat die Documenta erffnetund eine aufregende Kontroverse ber zeitgenssische Werkeentfacht.VON Christoph Menke | 14. Juni 2012 - 08:00 Uhr

    BARBARA SAX/AFP/GettyImages

    Ein Besucher fotografiert das Kunstwerk "The Disobedient (The Revolutionaries), 2012" derfeministischen kroatischen Knstlerin Sanja Ivekovic.

    Jede Documenta entwirft einen Begriff der Kunst . Das ist der Sinn der Documenta:

    Sie fragt, wie und wozu es Kunst gibt. Das unterscheidet sie von allen themen- oder

    ortsbezogenen Ausstellungen und vor allem von den Biennalen der Gegenwartskunst.

    Der emphatische Gegenwartsbezug einer jeden Documenta liegt nicht darin, dass sie

    aktuelle Kunst zeigt oder ein dringliches Thema inszeniert. Eine Documenta ist nicht

    gegenwrtig durch ihre Objekte und ihre Themen, sondern weil sie die Frage nach dem

    gegenwrtigen Begriff der Kunst stellt. Deshalb verwandelt jede Documenta die Frage nach

    der derzeitigen Lage der Kunst in die Frage nach der Kunst in unserer derzeitigen Lage.

    Jede Documenta arbeitet am Begriff der Kunst. Aus diesem Grund ist die Auswahl der

    Werke weder rumlich noch zeitlich begrenzt. Es war bereits die Absicht der ersten

    Documenta, Kunst von anderswo zu zeigen. Dafr ist Kassel seit dem Krieg die Stadt

    ohne Eigenschaften, eine Stadt, die berall liegen knnte der beste Ort. Weil Kassel

    nichts Eigenes hat, ist hier jeder und alles fremd. Das machte den Documentas den Ausgriff

    auf Kunstwerke von berall her mglich. Eine Documenta zeigt Kunstwerke aus ganz

    verschiedenen Kontexten . Aber sie stellt die Kunstwerke nicht in ihren Kontext zurck,

    sondern lst sie aus ihm heraus. Eine Documenta bringt die Freiheit zur Erfahrung, mit der

    die Kunstwerke den Kontext ihrer Herkunft bersteigen.

    http://www.zeit.de/schlagworte/organisationen/documenta/indexhttp://www.zeit.de/schlagworte/themen/kunsthttp://www.zeit.de/kultur/kunst/2012-06/fs-documentahttp://www.zeit.de/kultur/kunst/2012-06/fs-documentahttp://www.zeit.de/2012/24/Kunst-Documentahttp://www.zeit.de/reisen/2012-04/kassel-quizhttp://www.zeit.de/schlagworte/themen/kunsthttp://www.zeit.de/schlagworte/organisationen/documenta/index
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    Indem jede Documenta nach dem gegenwrtigen Begriff der Kunst fragt, gibt sie bereits

    eine Antwort: Sie versteht ihn als den Begriff einer Kunst, die sich durch radikale

    Selbstbefragung selbst bestimmt. Darin liegt der Modernismus, der mit der Documenta

    als Ausstellungsform verbunden ist. Ohne an diesem modernistischen Begriff einer sich

    selbst befragenden Kunst festzuhalten, wrde die Documenta zu einem Ort der Beliebigkeit

    werden. Beliebigkeit aber bedeutet siehe Vittorio Sgarbis widerliche Inszenierung

    auf der Biennale in Venedig Zynismus. Es gibt keinen greren Gegensatz dazu als

    die Konsequenz, die Adorno aus der Einsicht gezogen hat, die der erste Satz seiner

    sthetischen Theorie festhlt: da nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverstndlich

    ist, weder in ihr noch im Verhltnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht. Adornos

    Konsequenz aus dieser Einsicht lautet: zweite Reflexion weiterdenken.

    DER AUTOR

    Christoph Menke ist Professor fr Praktische Philosophiean der Goethe-Universitt in Frankfurt. Als Teilnehmer derDocumenta 13 gestaltet er eine Vortragsreihe zum ThemaWas ist Denken?

    Eine Kunst, die sich durch radikale Selbstbefragung bestimmt, begreift sich als radikales

    Experiment der Form. Ein Kunstwerk kann nur etwas darstellen, indem es eine Form

    herstellt; in der Kunst geht es um das Machen von Formen. Der Grund und Anfang der

    Formwerdung, die das Kunstwerk ist, kann aber nur das Formlose sein. So sind die Zonen

    der Unbestimmtheit, mit denen Gerhard Richter seine Gestalten umgibt, der Grund der

    Formlosigkeit, aus denen sie hervorgehen; so ist der Tanz der Striche, den Jasper JohnsBilder auffhren, nicht gestisch, nicht Ausdruck eines Inneren, sondern das Spiel, in dem

    Ordnungen zugleich gebildet und aufgelst werden.

    Warum es nicht ausreicht, die Kunst als Kritik zu definieren

    Das Formlose als Grund der Form hat die Moderne seit Nietzsche auf ganz verschiedene

    Weise benannt: als Spiel, Chaos, Rausch, Zufall, Materie oder Leben. Immer aber geht es

    darum, das Kunstwerk als das Geschehen der allerunwahrscheinlichsten Verwandlung zu

    begreifen: des Hervorgehens der Form aus dem Formlosen. Unwahrscheinlich ist diese

    Verwandlung, weil sie durch nichts abgesichert ist. Man kann nicht vorweg und allgemein

    wissen, wie und ob sie gelingen wird; man kann es daher auch nicht knnen. Das macht

    jedes Kunstwerk zum Experiment: zum Experiment mit einer bestimmten Weise, einer

    bestimmten Strategie des Machens einer Form aus dem Formlosen.

    Wenn eine Documenta nach dem Begriff der Kunst fragt, dann fragt sie danach, wie

    die Kunst die Formwerdung aus dem Formlosen vollziehen kann. Sie fragt danach,

    ob diese Weisen und Strategien uns berzeugend erscheinen; ja, ob es berhaupt noch

    Weisen und Strategien gibt, in denen diese Experimente so geschehen, dass sie fr das

    Ganze (Adorno) von Bedeutung sind, weil sie aufs Ganze gehen worin also das

    Existenzrecht (Adorno) der Kunst gegenwrtig besteht.

    http://www.zeit.de/schlagworte/themen/kunstwerkhttp://www.zeit.de/schlagworte/themen/kunstwerk
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    Wenn der Modernismus einer jeden Documenta darin liegt, dass die Kunst mit dem Begriff

    und der Mglichkeit der Kunst experimentiert, dann mssen auch die Strategien befragt

    werden, mit denen die Kunst die Frage nach ihrer Mglichkeit seit den 1960er Jahren zu

    beantworten versucht hat. So viel ist richtig an der These von Arthur Danto, dass in der

    Kunst seit Warhol alles gehe: Es ist nicht mehr klar, wie es geht, vor allem, ob es so wie

    bisher weitergeht. Dieser Zweifel betrifft vor allem zwei Strategien der Gegenwartskunst.

    BARBARA SAX/AFP/GettyImages

    Eine Frau liest in der Audio-Installation "Il Processo (The Trial), 2010-2012" der Knstlerin RossellaBiscotti einen Text.

    Die erste Strategie bindet die Selbstbefragung der Kunst an die Kritik ihrer Institutionen,

    und zwar nicht nur an die Kritik der Museen, sondern aller gesellschaftlichen Institutionen,

    aus denen sie hervorgeht. Die Kritik der Kunst beginnt damit, dass das Bild sich (so bereits

    in Eva HessesHang Up) als Teil einer rumlichen Situation begreift und diese in sich

    reflektiert. Und sie endet damit, dass das knstlerische Bild (virtuos in den Arbeiten und

    Ausstellungen von Alice Creischer) zum Medium der kritischen Reflexion der politischen,

    konomischen und ideologischen Funktionen der Bildproduktion in einer Gesellschaft der

    Bilder wird.

    Aber indem diese Strategie die Kunst als Kritik definiert, macht sie sie wiederum

    zum Mittel eines anderen, eines Gegenzwecks: Die Kunst soll die Wahrheit ber die

    Institutionen sagen. Das heit aber: Die Kunst wird darauf festgelegt, ein Medium

    kritischen Wissens zu sein. Weil die Kunst jedoch zugleich mehr und weniger als kritisches

    Wissen ist; weil die Selbstbefragung der Kunst auch noch der Kritik gilt, die sie leistet und

    deshalb nicht Kritik ist, verselbststndigt sich das kritische Wissen. Es zieht sich in die

    Texte der Ausstellungen und Kataloge zurck, denen gegenber die Kunst leer und stumm

    zurckbleibt. Ohne ihren Text wird sie bloe Dekoration.

    Eine zweite Strategie der mit sich selbst experimentierenden Kunst ist das Gegenteil

    zur Kunst als Kritik: die Kunst als Geschmack, eine Kunst der sinnlichen Effekte und

    Phnomene. Das kann im heftigen Schock des Ekels geschehen (wenn Teresa Margolles

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    die Besucher durch Dampf aus dem Wasser von Leichenwaschungen schickt) oder in der

    subtilen Erkundung der Gesetze und Illusionen des Wahrnehmens bei Olafur Eliasson.

    Die Experimente der Kunst sind hier Experimente des sinnlichen Scheins; dann ist dieKunst das Medium eines Erlebens des Erlebens, eines Schmeckens des Schmeckens durch

    die Produktion von Oberflchen, die sich (wrtlich bei Jeff Koons) in sich selbst spiegeln.

    Diese Strategie bietet Gelegenheiten fr den sich selbst genieenden Genuss. Dadurch wird

    die Kunst zu einer Kunst der Oberflche und Effekte, sie wird eine Kunst der Bastler und

    Handwerker eine Kunst, die ihr Knnen ausstellt. So definiert diese Kunst Kunst: als

    ein Machen-Knnen, das sich verbergen kann. Die Kunst, die nur Oberflche sein will,

    ist zugleich eine Feier handwerklicher Meisterschaft. Bloe, sinnliche Oberflche, ohne

    Sinn und Gehalt, ohne Kritik und Wissen und die Bewunderung souverner Meisterschaft

    entsprechen einander; so wie Andreas Gurskys riesenhafte Fotobilder ihre Montiertheit

    nur verbergen, um sie so auszustellen, dass sie als Operationen der Selbstverfertigung

    eines wahrhaft bermenschlichen Knstlerblicks bewundert werden knnen. Hier ist das

    sthetische nicht mehr (nach Borges Bestimmung) das Bevorstehen einer Offenbarung,

    zu der es nicht kommt, sondern ihre bloe Abwesenheit ja, ihre erschpfte Erfllung in

    der Selbstoffenbarung des Knstlers.

    Die Kunst als Wissen gegen die Kunst als Oberflche, die Kunst der Kritik gegen

    die Kunst des Geschmacks: So lautet eine Beschreibung dieses Gegensatzes. Politische,

    eingreifende Kunst gegen die Kunst des Marktes ist eine andere Weise, diesen Gegensatz

    zu beschreiben. Was aber, wenn heute beide Seiten falsch geworden sind? Wenn sich

    erweist, dass beide Strategien zuletzt die Idee der modernen Kunst preisgeben, die in

    jedem Moment die Frage nach ihrer Mglichkeit stellt: die eine zugunsten der Sicherheit

    des kritischen Wissens, die andere zugunsten des Staunens vor den sinnlichen Effekten

    knstlerischen Knnens? Wenn das zutrifft, kann eine Kunst, die die Frage nach ihrem

    Begriff stellt, heute nur jenseits dieses Gegensatzes liegen.

    Die Frage nach Formen der Kunst jenseits des Gegensatzes von Kritik oder Geschmack,

    von Wissen oder Staunen ist die Frage nach der Form der Kunst: die Frage nach einer

    Form, die aus der Erfahrung des Formlosen der Erfahrung des Rausches und des Spiels

    der Krfte hervorgeht und deshalb diese Erfahrung in sich trgt. Wozu aber brauchen wir

    berhaupt diese Formen? Wozu brauchen wir berhaupt Kunst?

    Genauer gefragt: Wozu brauchen wir eine Kunst, die ein Experiment mit ihrer eigenen

    Mglichkeit ist, in einer Gesellschaft, die so der Ordoliberale Franz Bhm Ende der

    1960er Jahre selbst ein Experimentiersystem ist? Die kapitalistische Gesellschaft bt

    Herrschaft auf eine neue Weise aus: nicht indem sie ein bestimmtes Verhalten vorschreibt,

    sondern die Verhaltensweise, immer weiter und wieder auszuprobieren, mit welchen

    Strategien man Erfolg hat. Die kapitalistische Gesellschaft erzwingt die Haltung des

    Dauerexperiments eines jeden mit sich selbst, mit den eigenen Handlungen, mit den

    eigenen Fhigkeiten, ja, dem eigenen Sein.

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    Der Kapitalismus verdammt uns zum Experiment des Schicksals

    Dem permanenten Selbstexperiment entspricht ein gesellschaftlicher Prozess, der dem

    Einzelnen als Schicksal (so Bhm weiter) erscheinen muss. Als Schicksal erscheint dieGesellschaft dem Einzelnen, weil er die Folgen seines Handelns, Erfolg oder Misserfolg,

    nicht vorhersehen und durchschauen kann. Jeder Einzelne experimentiert, um dem

    Schicksal des eigenen Scheiterns zu entgehen, und deshalb scheitern alle zusammen,

    aber nicht gemeinsam, an der Gesellschaft als Schicksal. Das Experiment, zu dem die

    kapitalistische Gesellschaft uns verdammt, ist das Experiment des Schicksals.

    Das Experiment der Kunst dagegen ist das Experiment der Freiheit. Die Spielrume, die

    wir im gesellschaftlichen Handeln ausloten mssen, sind keine Rume des Spiels; denn

    sie stehen unter dem Gesetz des Erfolgs, des berlebens. Diesem Gesetz des bloen

    berlebens will der evolutionstheoretische Biologismus auch die Kunst unterordnen.Das Formlose, der Rausch und das Spiel der Krfte, aus dem heraus die Form der Kunst

    sich hervorbringt, ist aber die Freiheit von jeder Bestimmung die Freiheit radikaler

    Unbestimmtheit, unendlicher Negativitt. Die Selbsthervorbringung der Form in der Kunst

    ist frei, weil sie aus Freiheit, aus der Freiheit des Formlosen heraus, geschieht. Die Kunst

    ist das Gegenexperiment zu den Schicksalsexperimenten, die wir gesellschaftlich bei Strafe

    des Scheiterns vollziehen mssen. Dazu brauchen wir die Kunst: um die Mglichkeit

    der Freiheit jenseits der Spielrume gesellschaftlicher Anpassung und ihrer biologischen

    Ideologie zu erfahren.

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