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1/39 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2019 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Dok 5 Das Feature WDR5, Sonntag, 01.09.2019, 11.04 12.00 Uhr Wiederholung: Montag, 02.09.2019, 20.04 21.00 Uhr Vor Erdogan auf der Flucht Anhänger der Gülenbewegung erzählen. O-Ton: Kübra Akin My castle? Yes you can say this is my castle (lacht), my small and you know, tiny castle. One of my Greek friends find it for me. When I first came to Greece. As I told you the journalism union helped us. This house is one of my friend friends house. So she helped us finding it. Übersetzerin Das ist mein kleines Schloss. (Lacht!) Ein griechischer Freund hat es gefunden. Als wir hier ankamen, haben uns die Kollegen des griechischen Journalistenverbandes bei der Wohnungssuche geholfen. Erzählerin Die junge Frau hat mich zum Abendessen in ihre Wohnung in der nordgriechischen Stadt Thessaloniki eingeladen. Die 36 jährige ist 2017 mit ihrer Familie aus der Türkei geflohen. Ich nenne sie Kübra Akin, weil sie nicht erkannt werden möchte. Es ist unser erstes Treffen. An diesem Abend sind auch ihre Griechisch-Lehrer dabei. Kübra ist vorsichtig. Überlegt lange, bevor sie mir antwortet. Manchmal weicht sie meinen Fragen auch aus. Denn auch in Griechenland fühlt sie sich nicht sicher. O-Ton: Kübra Akin Someone of the officers contacted me from your ministry and told me that, we are observing you. And also from Turkey you are tracing. Someone is looking for you from Turkey. We know that.

Dok 5 Das Feature WDR5, Sonntag, 01.09.2019, 11.04 12.00 ... · So somehow we were lucky, they released him, the case was still going, but they released him. Übersetzerin Nach den

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2019 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben

(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Dok 5 – Das Feature

WDR5, Sonntag, 01.09.2019, 11.04 – 12.00 Uhr Wiederholung: Montag, 02.09.2019, 20.04 – 21.00 Uhr

Vor Erdogan auf der Flucht – Anhänger der Gülenbewegung erzählen.

O-Ton: Kübra Akin

My castle? – Yes you can say this is my castle (lacht), my small and you know, tiny castle. One of my Greek friends find it for me. When I first came to Greece. As I told you the journalism union helped us. This house is one of my friend friend’s house. So she helped us finding it.

Übersetzerin

Das ist mein kleines Schloss. (Lacht!)

Ein griechischer Freund hat es gefunden. Als wir hier ankamen, haben uns die Kollegen des

griechischen Journalistenverbandes bei der Wohnungssuche geholfen.

Erzählerin

Die junge Frau hat mich zum Abendessen in ihre Wohnung in der nordgriechischen Stadt

Thessaloniki eingeladen. Die 36 jährige ist 2017 mit ihrer Familie aus der Türkei geflohen. Ich

nenne sie Kübra Akin, weil sie nicht erkannt werden möchte. Es ist unser erstes Treffen. An

diesem Abend sind auch ihre Griechisch-Lehrer dabei.

Kübra ist vorsichtig. Überlegt lange, bevor sie mir antwortet. Manchmal weicht sie meinen

Fragen auch aus. Denn auch in Griechenland fühlt sie sich nicht sicher.

O-Ton: Kübra Akin

Someone of the officers contacted me from your ministry and told me that, we are observing you. And also from Turkey you are tracing. Someone is looking for you from Turkey. We know that.

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Übersetzerin

Ein Beamter vom griechischen Außenministerium hat mir gesagt, wir beobachten dich. Wir

wissen, dass auch jemand aus der Türkei dich hier beschattet.

Ansage

„Vor Erdogan auf der Flucht“

Anhänger der Gülenbewegung erzählen

Ein Feature von Ariadne Grec

Erzählerin

Ich habe für diese Sendung mehrere Geflüchtete gesprochen, die sich nach dem

Putschversuch in der Türkei vom Juli 2016 der willkürlichen Verfolgung durch Präsident

Erdogan entziehen. Ihre Geschichten möchte ich erzählen.

O-Ton: Kübra Akin

One week later after Coup, the police came to my house and asked where is your husband?. And I told I don’t know, he went somewhere. Two weeks later they came again. Asked again, where is your husband? And I told ok, I don’t know. And they told, I he calls you, please tell him, he must come to the police detention centre, we will ask something to him. And they started to detain the wives or you know the husbands. When I heard that I started to hide in another city.

Übersetzerin

Eine Woche nach dem Putsch, erschien die Polizei bei mir zuhause und fragte, wo mein Mann

sei. Ich erklärte ihnen, ich wüsste nicht, wo er ist. Nach zwei Wochen kamen sie wieder. Sie

sagten, er soll in die nächste Polizeidienststelle kommen, weil sie ihn etwas fragen wollten. Als

ich erfuhr, dass sie begonnen hatten Frauen als Geiseln zu nehmen, wenn sie die Männer

nicht kriegen konnten, habe ich mich in einer anderen Stadt versteckt.

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Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben

(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Erzählerin

Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Kübras Mann ist Journalist. Ich nenne ihn Yusuf. Er

arbeitete bei verschiedenen Zeitungen. Um ihn zu schützen darf ich auch die Namen der

Blätter nicht nennen. Yusuf ist schon mal im Gefängnis gewesen, weil er sich kritisch über die

türkische Politik geäußert hatte. Das war direkt nach der Wahl zur Nationalversammlung und

noch vor dem Putschversuch.

O-Ton: Kübra Akin

After 1. November election 2015 immediately they captured my husband and he stayed two months in prison. In Silivri. So somehow we were lucky, they released him, the case was still going, but they released him.

Übersetzerin

Nach den Wahlen am 1. November 2015 wurde mein Mann sofort festgenommen und blieb

zwei Monate im Hochsicherheitsgefängnis Silivri.

Wie durch ein Wunder hat man ihn freigelassen, obwohl sein Fall noch nicht abgeschlossen

war.

Erzählerin

Silivri ist zwei Autostunden von Istanbul entfernt und das größte Gefängnis Europas. Damals

wurde Yusuf nicht verfolgt, weil er Gülen-Anhänger ist. Dieses „Vergehen“ ahndete Erdogan

erst nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Yusuf saß ein, weil er etwas publiziert hatte, das

Erdogan verärgerte. Was, dürfen wir hier nicht erzählen, damit er nicht identifiziert werden

kann.

Yusuf Akin werde ich später in Deutschland treffen, wo er mir sagen wird:

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Übersetzer

Bereits vor meiner Verhaftung hatte Erdogan mich im türkischen Staatsfernsehen namentlich

bedroht. Zum Beispiel sagte er, dass ich dafür noch bezahlen werde. Alle, die bisher derart

von Erdogan angesprochen wurden, haben kein gutes Ende genommen.

O-Ton: Kübra Akin

Six Months later, this coup happened. And immediately after the coup they released in the twitter accounts, or in the news media, some media outlets, they released names of journalists who must be detained, who must be prisoned, the famous blacklist and my husband was in that blacklist.

Übersetzerin

Sechs Monate später war der Putsch. Kurz danach veröffentlichten sie in den Nachrichten und

auf Twitter die Namen von Journalisten, die ins Gefängnis sollten. Auf der berüchtigten

schwarzen Liste war auch der Name meines Mannes.

Erzählerin

Im türkischen Staatsfernsehen ruft Erdogan die Suche nach Yusuf Akin aus. Diesmal mit dem

Argument, er sei Mitglied der Gülen-Bewegung. Yusuf taucht unter. Bei einer

Hausdurchsuchung konfiszieren Polizisten die Pässe der Familie.

Für die Familie beginnt eine Zeit ohne direkten Kontakt untereinander. Ein gemeinsamer

Freund überbringt gegenseitige Botschaften. – Monate später treffen sich Kübra und Yusuf in

Istanbul wieder und planen ihre Flucht.

Für gefälschte Papiere zahlen sie für sich und die Kinder fünfzehntausend Euro. Verkaufen

dafür ihr Wohnmobil. Die Eigentumswohnung überschreiben sie einem Freund, damit sie nicht

- wie sonst üblich - in die Hände der Regierung fällt. Ende 2017 schließlich passieren sie die

Grenze nach Griechenland.

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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Doch auch hier fürchtet Yusuf um sein Leben. Ohne Frau und ohne Kinder zieht er direkt nach

Deutschland weiter, um dort Asyl zu beantragen.

Erzählerin

Sie werde beobachtet, sagt Kübra beim Essen noch einmal. Der Beamte des griechischen

Außenministeriums habe zu ihr noch gesagt:

O-Ton: Kübra Akin

So, we warn you to be careful, and also we are following you and the whole Turkish people, not only me, but especially me, because I am always talking to the media.

Übersetzerin

„Wir warnen dich, sei vorsichtig“. „Wir beobachten alle türkischen Geflüchteten, nicht nur dich“.

Aber er meinte mich ganz besonders, weil ich immer mit den Medien spreche.

O-Ton: Kübras Lehrerin

Observing means protecting?

Kübra:

Yes, protecting! Not following you.

Lehrerin:

Ah, ok.

Übersetzerin

Mit Beobachten meinen sie Beschützen?

Ja, beschützen!

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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Erzählerin

Kübras Lehrerin, bei der sie griechisch lernt, atmet erleichtert auf. Denn alle, die Kübras

Familie inzwischen kennen, machen sich Sorgen.

Nur wenige Tage nach dem Essen treffe ich Kübra wieder und erlebe die junge Frau

entspannter. Sie sitzt mit anderen türkischen Geflüchteten beim Tee. Offenbar hat sie jetzt

mehr Vertrauen zu mir, spricht offener.

O-Ton: Kübra Akin

Huh, I am not sure, if intelligence services are observing me. But to be honest, what can I do? I have to take my children, you know, school, or I have to make my shopping, I have to do something, because I can’t live with this fears.

Übersetzerin

Ich bin nicht sicher, ob der Geheimdienst mich beobachtet. Aber ehrlich gesagt, was kann ich

tun? Ich muss meine Kinder zur Schule bringen, ich muss meine Einkäufe machen. Ich mag

mit diesen Ängsten nicht mehr leben.

Erzählerin

Angst hat Kübra Akin vor allem deshalb, weil auch sie immer wieder namentlich in türkischen

Medien erwähnt wird.

O-Ton: Kübra Akin

….always in the Turkish media, they are doing news about us. Yes propaganda. And they have objected me. Oh, this woman is living in Thessaloniki, she is very rich, she took a 250 Thousand Euros home, you know, many many things. And she is always making in Greece propaganda, nationalist speech. This was in the newspaper.

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Übersetzerin

Es wird berichtet, dass es diese Frau in Thessaloniki gibt und dass sie sehr reich ist. In den

Zeitungen steht, ich hätte mir hier eine Wohnung für 250.000 Euro gekauft. Sie behaupten, ich

mache Propaganda gegen die türkische Regierung.

Erzählerin

Kübra sucht auf ihrem Handy nach Zeitungsberichten, die sie als Terroristin beschimpfen. Ich

kann im türkischen Text ihren Namen erkennen.

O-Ton: Kübra Akin

The Turkey is like hell for us. Like an open-air prison. The whole country is like an open-air prison. For people who are opponent, not only for us. Then Turkey is a very strict and dangerous place for you.

Übersetzerin

Die Türkei ist die Hölle. Das gesamte Land ist wie ein Openair Gefängnis. Nicht nur für uns,

sondern für alle, die anders denken. Die Türkei ist ein sehr gefährlicher Ort für uns.

Erzählerin

Ich erzähle Kübra, dass ich eigentlich geplant hatte in der Türkei zu recherchieren. Aber davon

hält sie nichts.

O-Ton: Kübra Akin

From the Norwegian TV made a documentary about all these things. They made interviews with Gülenist people in Turkey, they filmed their lives. And two weeks after the documentary the Turkish police detained this family. The house where they had been hiding. They watched the documentary and observed the place, I don’t know how they find the place.

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But somehow in some way they found the house they were hiding. And they detained them. And so with Gülenist it’s impossible (to talk now). I don’t think so.

Übersetzerin

Ein Team vom norwegischen Fernsehen hat Interviews mit Gülenisten in der Türkei geführt

und gefilmt, wie und wo sie leben. Zwei Wochen nachdem die Doku im Fernsehen lief, wurde

die Familie festgenommen. Ihr Versteck flog auf. Ich weiß nicht wie, aber die Behörden haben

es gefunden. Ich denke, mit Gülenisten zu sprechen ist unmöglich geworden. Du wirst

niemanden finden.

Erzählerin

Vorsichtig mussten Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in der Türkei schon immer sein,

sagt Kübra. Auch schon in den 1980er Jahren, als ihre Eltern seinen Lehren folgten. Das

politische Klima im Land war – im Gegensatz zu heute – eher liberal-demokratisch und

laizistisch. Die Ausübung einer Religion wurde ausnahmslos als Privatangelegenheit

angesehen und nur innerhalb der eigenen vier Wände praktiziert. Wer sich öffentlich zu seiner

Religion bekannte, bekam Probleme.

O-Ton: Kübra Akin

For example my mother finished university, but she couldn’t work, because she was wearing a scarf. And my father had problems in his professional life, because if it is known that you are religious and others know this, you can’t get promotion those times. Or even if you don’t drink alcohol in the meetings, they think: Oh, this guy is a little bit conservative, and religious, and you face discrimination.

Übersetzerin

Beispielsweise fand meine Mutter nach dem Studium keine Arbeit, weil sie ein Kopftuch trug.

Mein Vater hatte Probleme in seinem Beruf. Wenn bekannt wurde, dass jemand religiös ist,

wurde er nicht befördert.

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Wenn jemand keinen Alkohol bei Meetings trinken oder eine Frau beim Schwimmen keinen

Bikini tragen wollte, glaubte man, du bist streng religiös und wurdest diskriminiert.

Erzählerin

Kübra selbst besuchte in der Nähe von Ankara eine Privatschule, die von der Gülengemeinde

finanziert wurde und alle Unterrichtsfächer lehrte. Der Religionsunterricht, sagt sie,

unterschied sich von den strengen Koranschulen deutlich.

Nach dem Abschluss erlaubten ihr die Eltern auf der Universität Ökonomie zu studieren. Zehn

Jahre lang arbeitete sie nach dem Examen bei einem Unternehmen – bis zum Putschversuch

im Sommer 2016. Seitdem wird ihr vorgeworfen, Mitglied einer terroristischen Organisation zu

sein. Ihr Chef feuerte sie.

O-Ton: Kübra Akin

Because they have police decision. There is no law, there is no law in Turkey, everyone can

do whatever they want.

Übersetzerin

Es war die Entscheidung der Polizei. Es gibt keine Gesetze in der Türkei. Alle können machen,

was sie wollen.

Erzählerin

Für den Putschversuch macht Ministerpräsident Erdogan die Anhänger Fethullah

Gülens verantwortlich. Kübra ist sichtlich erschüttert über das, was sie von Freunden in

der Türkei hört. Es soll Festnahmen gegeben haben und Todesfälle, die nicht aufgeklärt

wurden.

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O-Ton: Kübra Akin

We found some dead bodies in the forest or arrest both parents, and let the children alone, or are giving the children to the dorms. In some cases they arrest mother and father, and they let children in home alone. Then the grandmother or grandfather, if they came to home, they find them. We have some of these problems. Obviously we can say, it’s a genocide.

Übersetzerin

Da werden tote Leiber gefunden. Oder sie nehmen Eltern fest und stecken die Kinder in

Wohnheime oder lassen sie allein im Haus zurück. Wenn sie Glück haben, werden sie dann

von den Großeltern gefunden. Was sich in der Türkei abspielt, gleicht für mich einem Genozid.

Erzählerin

Um mehr über die Gülenbewegung und die Verhältnisse in der Türkei zu erfahren, reise ich zu

Kübras Mann in ein kleines Dorf nach Deutschland. Er willigt ein mich zu treffen. Unter der

Voraussetzung, dass ich seinen Namen und den Ort seines Aufenthalts nicht nenne.

Auf dem Marktplatz der kleinen Ortschaft herrscht Hochbetrieb. Die Begrüßung ist freundlich.

Yusuf Akin spricht türkisch, seine Deutschkenntnisse reichen für ein Interview noch nicht aus.

Zur Verständigung hat er einen jungen türkischen Juristen mitgebracht, der für ihn übersetzt.

Nach seiner Flucht aus der Türkei wurde Yusuf in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von

zweiundzwanzig Jahren und sechs Monaten verurteilt.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Ich bin im Lastwagenanhänger hergekommen, mithilfe von Schleusern, so wie auch aus

der Türkei, ich war allein. Im Lastwagen.

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Erzählerin

Yusuf ist vorsichtig, setzt sich so, dass er den Marktplatz überblickt. Er sagt, die Gefahr sei

groß, von türkischen Spitzeln enttarnt zu werden. Seine Furcht ist nicht unbegründet, und er

erzählt von einem Fall, der sich in Paris ereignet hatte.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Dort wurden drei kurdische Aktivistinnen von einem fanatischen Erdogan-Anhänger getötet.

Später kam heraus, dass dieser Anhänger den Befehl zu der Tat vom türkischen Geheimdienst

erhalten hat.

Erzählerin

In Deutschland fürchten die Gülenisten ähnliche Handlungen. Yusufs Anwalt hat das deutsche

Innenministerium über die Lebensgefahr seines Mandanten informiert.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Vor einigen Wochen hat der Regierungssprecher der türkischen Presse erklärt, dass Erdogan

den direkten Befehl an den türkischen Geheimdienst gegeben habe, überall auf der Welt, also

auch in den USA und in Deutschland Operationen gegen Gülen-Anhänger durchzuführen.

Erzählerin

Ich frage Yusuf, ob er glaubt, dass Deutschland für ihn sicherer sei als Griechenland.

O-Ton: Yusuf Akin

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Übersetzer

Prinzipiell fühle ich mich hier sicherer als anderswo. Hierher reicht der lange Arm Erdogans

zwar auch, aber er ist auf die Hilfe der deutschen Behörden angewiesen. Allerdings gibt es

auch hier fanatische Anhänger Erdogans. Die sind mir unheimlich. Ich halte deshalb großen

Abstand von der türkischen Gemeinde, da ich nur schwer einschätzen kann, wer auf wessen

Seite steht.

Zitator

„Das Bundeskriminalamt … hat im Zeitraum 16. Juli 2016 bis 31. Januar 2019 990

Fahndungsersuchen der türkischen Behörden erhalten, davon 925 zur Festnahme … und 65

zur Aufenthaltsermittlung“.

Erzählerin

Antwortet die Bunderegierung auf eine kleine Anfrage der Partei Die Linke im März 2019.

Zitator

„Das Erdogan-Regime versucht über Interpol, Rechtshilfe- und Auslieferungsersuchen,

politische Kritiker selbst im Ausland massiv zu verfolgen.“

Erzählerin

Zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen von

den Linken.

Erzählerin

In einem 15-seitigen Schreiben an Die Linke vom 15.März 2019, teilt die Bundesregierung mit,

dass Ankara 2018 insgesamt 64 Auslieferungsanträge an Deutschland gestellt hat.

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Im ersten Quartal 2019 waren es zwölf. Anders als in den Jahren zuvor sei aber niemand mehr

ausgeliefert worden.

Bisher hat Yusuf Akin also Glück.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Die Gefahr existiert für uns überall. Aber wir sollten unsere Angst überwinden und uns nicht

mundtot machen lassen.

Erzählerin

Wie kam es eigentlich zu der Feindschaft zwischen Erdogan und Gülen, möchte ich wissen.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Alles begann am 28. Februar 1997, damals hatten die Militärs die Regierung aufgrund ihrer

politischen Überzeugung gestürzt. Erdogan war damals ein Teil der Regierung.

Erzählerin

Aus Sicht der Militärs war die Politik der regierenden islamistischen Wohlfahrtspartei mit der

Laizismus-Klausel der Verfassung¸ der Trennung von Staat und Religion, nicht vereinbar. Der

„als „postmoderner“ oder „weicher Staatsstreich bekannte Putsch von 1997 wurde zu

Erdogans Trauma.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

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Übersetzer

Damals hatte Erdogan erkannt, dass er die Macht nur gewinnen kann, wenn er eine dem

modernen Westen kompatible Türkei entwickelt. Er reagierte auf den Putsch mit der Gründung

einer neuen Partei.

Erzählerin

Der ehemalige Istanbuler Bürgermeister Recep Tayyip Erdogan gründete die AKP, als

reformorientierte Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung. Liberale, Demokraten, Kurden und

Gülenisten unterstützten die neue Partei sofort, denn Erdogan wollte der Türkei durch

Reformen auch den Weg in die EU ebnen.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Zur Umsetzung seiner Reformen fehlte es Erdogan an ökonomischer und personeller Stärke.

Die Anhänger Gülens dagegen verfügten damals schon über genügend finanzielle Mittel, da

sie gutbezahlte Berufe ausübten und meist sehr gebildet waren. Auf diese „Ressourcen“ griff

Erdogan zurück, stellte sich gut mit ihnen und rekrutierte sie für seine Partei.

Erzählerin

Fethullah Gülen hatte bereits als junger Prediger dazu aufgerufen, lieber in

Bildungseinrichtungen zu investieren als in den Bau von Moscheen. Seine Anhänger folgten

dem Aufruf und stiegen zur Bildungselite auf. Sie besetzten wichtige Positionen als Beamte in

staatlichen Einrichtungen oder als Mitarbeiter im privaten Sektor.

Als Erdogan in den 1990er Jahren verspricht, die Türkei auf den EU-Beitritt vorzubereiten,

geben ihm viele Gülenisten ihre Stimme. Das blieb so bis zu den türkischen Parlamentswahlen

2010.

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O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Damals erreichte Erdogan zum ersten Mal die 50 Prozent Marke, so dass die AKP die

Regierung allein stellen konnte. Seitdem war er der Auffassung, dass er keine Verwendung

mehr für die Liberalen, Demokraten, Kurden oder die Anhänger Gülens in seinen Reihen hatte.

Und seine Regierungsmitglieder entwickelten ihre neue osmanische Idee.

Erzählerin

Eine Idee, die sich kulturell und religiös zurück besinnt auf die osmanische Zeit vor Gründung

der Republik Türkei. Also auf die Zeit vor 1923.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Mit der Entstehung dieser osmanischen Ideologie, zerbrach das Bündnis. Und Erdogan wurde

immer nationalistischer. Er sah jeden Gegner als Feind an.

Da die Gülen-Anhänger der gebildeten Gesellschaftsschicht angehören, stehen sie dieser Idee

feindlich gegenüber. Seine Unterstützer wandelten sich zu seinen entschiedensten Gegnern.

Erzählerin

Auch weil sie sich eine Annäherung an den Westen wünschten. Das Verhältnis zwischen

Erdogan und den Gülenisten ist seitdem zerrüttet, und die Bewegung steht unter

Generalverdacht.

Wer sind die Gülenisten, was ist das für eine Bewegung? Das deutsche Auswärtige Amt –

ansonsten stets abwägend und zurückhaltend – hat 2018 einen Teil der Gülen-Bewegung neu

bewertet.

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Von sektenähnlichen Strukturen ist da die Rede, von gezielter Unterwanderung staatlicher

Institutionen wie Polizei und Justiz. Die Wochenzeitung „Der Spiegel“ durfte den internen

Bericht des Amtes einsehen:

Zitator

„Der konspirative Teil der Bewegung zeichnet sich durch strikte Hierarchien aus und erinnert

in seiner Struktur an Erscheinungsformen organisierter Kriminalität“, zitieren die Diplomaten

ihre Informanten. Der „Anspruch der Bewegung auf die Loyalität ihrer Mitglieder“ sei „absolut“.

Erzählerin

Nicht jeder, der Gülen folgt, gehört dem konspirativen Arm der Bewegung an. Dennoch hat

der Putschversuch vom 15. Juli 2016 für Gülenisten insgesamt Konsequenzen.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Der erste Streich Erdogans gegen die Gülen-Bewegung war der, dass er die Schulen

schließen ließ. Sie bilden den Grundstein der Gülen-Bewegung. Der Höhepunkt der

Auseinandersetzung war erreicht, als Erdogan die Gülen-Bewegung insgesamt zur

Terrororganisation erklärte.

Erzählerin

Seitdem heißt sie offiziell nur noch Fetö, „Fethullahistische Terrororganisation“.

Richter und Staatsanwälte hat Erdogan entlassen und die Posten mit eigenen Leuten besetzt.

Die führen jetzt Massenverhaftungen durch, verbieten die Pressefreiheit, verfolgen einfache

Bürger, die Gefängnisse sind übervoll. Heute muss Yusuf Akin erkennen, dass sich die Türkei

von ihrem Ziel, sich der EU anzunähern, weit entfernt hat.

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Erzählerin

An den einsamen Vormittagen, wenn Yusuf keinen Deutschunterricht hat, läuft er gerne über

den Wochenmarkt, wie auch jetzt. Die Gemüse- und Obststände erinnern ihn ein wenig an

seine Heimat. An der Ecke eines Verkaufsstandes nickt er mir zu, ich darf ihn fragen, warum

Gülen sich über das Schicksal seiner geflüchteten Anhänger nicht öffentlich äußert.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Fethullah Gülen ist ein alter Theologe. Er hat nicht die Möglichkeit, in irgendwas einzugreifen

oder gar Probleme zu lösen. Gülen bietet eine Philosophie. Die Menschen, die jungen Leute,

müssen diese Philosophie lesen und verstehen und was draus machen. Die Gesellschaften

im Nahen Osten warten immer auf einen Erlöser. Gülens Philosophie sagt aber, dass es

diesen Erlöser nicht gibt, sondern dass die Menschen selbst etwas tun müssen.

Erzählerin

Jeder kann etwas tun. So stellt sich Yusuf Akin auch das Modell für eine moderne Türkei vor.

Ein anderes wichtiges Ziel Gülens ist die Ausbildung von Mädchen und Frauen. Besonders in

der Osttürkei ist Schule für Mädchen noch lange nicht Pflicht. Gülen will das ändern. Und damit

zukünftig die Stellung der Frau in der Gesellschaft stärken.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Die Frauen der Gülenbewegung könnten somit als Reformmodell für alle islamischen

Gesellschaften auf der ganzen Welt dienen.

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Erzählerin

Zudem will Gülen muslimische Gemeinden in Europa gründen. In Deutschland wird der

institutionelle Gülenismus teilweise jedoch mit Sorge gesehen.

Erzählerin

Ich bin zurück in Thessaloniki.

Nach dem Besuch bei ihrem Mann willigt Kübra erstmals ein, mich allein zu treffen.

Dieses Mal erzählt sie, wie sie die Tage kurz nach dem Putschversuch erlebte.

O-Ton: Kübra Akin

Oh my God, every day we heard news that people are dying under torture. And we saw their photos in the newspaper, they didn’t hesitate to show them. They showed their pictures after torture, others have been their heads covered, their bodies covered, the damaged bodies, the newspapers showed their damaged bodies.

Übersetzerin

Täglich hörten wir, dass Menschen unter der Folter starben. Und wir sahen ihre Fotos in den

Nachrichten. Sie zögerten nicht, sie zu veröffentlichen. Sie zeigten ihre verhüllten Gesichter

und geschundenen Leiber auch in den Zeitungen.

O-Ton: Kübra Akin

So you can’t trust the legislative system. You can’t trust the judges or the prosecutors. You can’t trust the police. Because they are coming to your house with a TOMA, a kind of police car like a tank. They are coming with weapons, to detain just a teacher.

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Übersetzerin

Du kannst dem Rechtssystem nicht mehr trauen. Nicht den Richtern, nicht den

Staatsanwälten. Plötzlich kommen sie vor dein Haus mit diesen gepanzerten Polizeiwagen.

Sie kommen mit Waffen um einen einfachen Lehrer zu verhaften.

Erzählerin

Kübras Eltern, Schwiegereltern und Geschwister sind ebenfalls Anhänger des Predigers

Gülen. Ihnen konnte sie immer vertrauen. Aber Tanten, Onkel und die Großmutter denken

anders, verurteilten und beschimpften sie. Einige von Kübras Nachbarn kooperierten direkt mit

der Polizei.

O-Ton: Kübra Akin

Some of them act like a government spy. So you can’t trust anyone. Even some mothers and fathers are acting like a spy. They declared their children as a Gülenist to the police. Can you imagine it? I was a very catastrophic atmosphere in Turkey.

Übersetzerin

Manche verhielten sich wie Spione der Regierung. Mütter und Väter, bespitzelten ihre eigenen

Kinder. Sie verrieten der Polizei, dass ihre Kinder Gülen-Anhänger sind. Können sie sich das

vorstellen? Die Atmosphäre in der Türkei war katastrophal!

O-Ton: Kübra Akin

A woman in Turkey in prison was pregnant. And she had twins. But they were dead. She delivered dead babies. And after the injury they throw the babies to the garbage. But they didn’t tell the families, the relatives. So they were searching them and they were asking to officers, where are our babies? In every religion you have to bury or to burn or do something whatever. We had to bury them. This is a main human right!

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Übersetzerin

Eine Frau war bei ihrer Inhaftierung schwanger. Mit Zwillingen. Aber die Babys kamen tot zur

Welt. Und sie haben sie einfach in den Müll geworfen und den Familien davon nichts gesagt.

Die Angehörigen suchten nach den Babys. Es ist doch in jeder Religion üblich, dass man die

Toten bestattet. Das ist doch ein primäres Menschenrecht!

Erzählerin

Die Jagd Erdogans auf die Anhänger Gülens hat viele türkische Familien zerrissen.

O-Ton: Kübra Akin

Last two weeks ago, a family was drowned in Evros. And there is a funeral of the family. And her father couldn’t talk anything. Just looked like this. He felt ashamed. And I show it from video. He came to the river, when they are searching the family. And he said in front of the cameras. Oh, they are not my family. I was just walking here along. But it was their father!

Übersetzerin

Vor zwei Wochen ist eine Familie auf der Flucht im Grenzfluss Evros ertrunken. Die

Angehörigen hielten vor Ort ein Bestattungsritual ab. Der alte Vater der ertrunkenen Familie

schaute nur zu Boden, er schämte sich. Vor den türkischen Kameras distanzierte er sich von

den Opfern und sagte, dass sie nicht zu seiner Familie gehörten.

O-Ton: Kübra Akin

Who can pass the river with this way? Because your life is in danger, your life is in danger!

Übersetzerin

Du überquerst den Fluss nur, wenn dein Leben in Gefahr ist.

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Erzählerin

Kübras Satz klingt bei mir nach, als ich selbst auf dem Weg zum Evros bin, zur griechisch-

türkischen Grenze. Ursprünglich wollte ich den geflüchteten Journalisten – den ich Mahir

Korolu nenne – in Athen treffen. Doch dann höre ich, dass er im Haftlager Filakio einsitzt, dem

griechischen Grenzgefängnis am Evros, und mache ich mich dorthin auf den Weg.

In der Polizeistation von Orestiada und 20 km vom Gefängnis entfernt, muss ich mir eine

Genehmigung für den Besuch ausstellen lassen. Die erhalte ich zu meinem Erstaunen und

erreiche nach einer halben Stunde das kastenförmig angelegte Haftlager mitten im

Niemandsland. Filakio ist von hohem Stacheldraht umzäunt. Und an diesem Tag komplett

überfüllt.

Der Polizist am Eingang verlangt meinen Personalausweis, gibt die Daten in den Computer

ein. Dann darf ich Mahir Korulu eine halbe Stunde lang sehen.

Atmo: Begrüßung mit Mahir

Hallo, danke, dass du gekommen bist.

O-Ton: Mahir Koroglu

They asked me if I know a Greek-German Journalist and they did not tell your name, I said.

Übersetzer

Sie fragten mich, ob ich eine griechisch-deutsche Journalistin kenne, sie haben mir nicht

deinen Namen genannt. Zum Glück wusste ich ihn und nannte ihn sofort!

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Erzählerin

Wir sitzen auf einer Bank im Innenhof des Gefängnisses, während die Grenzpolizisten uns von

ihrem Büroraum aus der Ferne beobachten. Sie bemerken nicht, dass in meiner Tasche das

Aufnahmegerät läuft.

Erzählerin

Mahir erzählt, dass es an der griechisch-türkischen Grenze erneut einen Unfall gegeben hatte.

Beim Versuch den Grenzfluss zu überqueren sei dieses Mal eine Mutter mit ihren drei Kindern

ertrunken. Er habe nach seiner Flucht aus der Türkei von Griechenland aus darüber für den

TV Sender „Euro News“ recherchiert. Die Grenzpolizei habe ihn festgenommen, weil er

unerlaubt griechisches Hoheitsgebiet betreten habe. Er erklärt ihnen, dass er ein Geflüchteter

sei und kommt nach einem Tag wieder frei. Soll sich aber bei der Asylbehörde melden. Hier

fällt nun auf, dass er sich als Geflüchteter nicht hat registrieren lassen, und er wird als Illegaler

erneut verhaftet. Nach griechischem Recht kann er bis zu drei Monate festgehalten werden.

Jetzt sitzt er also in Filakio.

58 Tage später ruft er mich unerwartet an. Er sei wieder frei und auf dem Weg nach Athen.

Eine Anwältin der griechischen Flüchtlingsbehörde habe ihm geholfen einen Asylantrag zu

stellen. Er würde in Thessaloniki einen Zwischenstopp einlegen, damit wir das versäumte

Interview nachholen können: Über sein Leben in der Türkei und warum er sie verlassen hat.

Mahir wirkt abgemagert und erschöpft, aber er ist bereit Auskunft zu geben. In der Putschnacht

vom 15. Juli 2016 sei er auf einer Pressereise im Nahen Osten unterwegs gewesen. Und als

er in die Türkei zurückgekehrt war, teilte man ihm mit, dass sein Pass annulliert wurde und

sein Name auf der „Schwarzen Liste“ stehe.

O-Ton: Mahir Koroglu

It was at the beginning of 2017 and I spend two more months in Turkey. In a small village together with my family. I hid myself that time. The thing is, I knew that I was going to be arrested, if I stay in Turkey. But I did not wanted to happen in front of my children. I was Sunday that we were coming back from picnic. And the Gendarme and the police stopped our car. Because they were checking all cars. Checking all identities of all people.

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Übersetzer

Anfang 2017 versteckte ich mich und flüchtete mit meiner Familie in ein kleines türkisches

Bergdorf. /Mir war schon klar, dass sie mich festnehmen würden, wenn ich in der Türkei bliebe.

Und ich wollte auf gar keinen Fall, dass das im Beisein meiner Kinder passiert. Es war ein

Sonntag, wir fuhren gerade von einem Picknick zurück, als die Gendarmerie uns plötzlich zum

Anhalten zwang.

Erzählerin

Auf den Straßen wurden nach dem Putschversuch vor jeder Stadtgrenze bis in den

entlegensten Winkel des Landes hinein Ausweiskontrollen durchgeführt.

O-Ton: Mahir Koroglu

But that time the officer understood that I was a little bit stressful about this issue. I was pretending to be searching my wallet or something in the baggage. It was not in the baggage. It was in my back inside the car. And I looked at my wife and she understood. And then they collected all the identity cards of my family (wife, children and father and mother of my wife). Then an officer came near me. He asked me: are you going to this village? I said yes. Ok, you go and sit down in your car. I will check the other identities and you go. Because he understood, that he was going to arrest me in front of the children. It was a small village. I am a person who is very obviously a foreigner. Which means, someone is hiding from the police. The people know this.

Übersetzer

Der Polizeibeamte bekam mit, dass gestresst war und ich nur so tat, als würde ich nach meiner

Brieftasche im Kofferraum suchen. Ich schaute meine Frau an und sie verstand. Sie

sammelten die Ausweise meiner Familie ein. Dann fragte mich ein Polizist, ob wir zu einem

bestimmten Ort unterwegs seien. Ich sagte ja. Er sagte okay, ich überprüfe die anderen

Ausweise und du setzt dich in dein Auto. Er hatte verstanden, dass er dabei war, mich im

Beisein meiner Kinder zu verhaften. Denn es war ein kleines Dorf und ich sehe definitiv nicht

wie ein Einheimischer aus. Was bedeutete, dass ich mich vor der Polizei versteckte. Die Leute

wussten das.

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Erzählerin

Mahir durfte weiter fahren. Wäre er festgenommen worden, hätte sich das sofort

herumgesprochen und auch seine Familie gefährdet.

Nur wenige hatten Glück, wie Mahir. Aber als er an einem anderen Tag noch einmal einer

Polizeikontrolle entkommt, entscheidet er sich, die Türkei zu verlassen, ohne seine Familie.

O-Ton: Mahir Koroglu

I said to my wife I need to go out.

One colleague, he has been jailed for 26 months now. He is completely lost. Nobody is talking about him. So I had two options: To stay in Turkey and to go to jail for years, and years and years. And the other option is to go out of Turkey. So I decided to go out. I said to my wife I am going. She said ok. Then I left Turkey.

Übersetzer

Ich erklärte meiner Frau, ich muss weg. Ein Kollege sitzt seit 26 Monaten. Der ist verloren, den

hat man total vergessen. Niemand spricht mehr über ihn. Es gibt also zwei Möglichkeiten,

entweder ich bleibe und gehe in den Knast für Jahre, oder ich verlasse das Land. Meine Frau

war einverstanden, also ging ich.

Erzählerin

In der Türkei sind je nach Quelle zwischen 100 und 200 Journalisten inhaftiert. Laut Reporter

ohne Grenzen sitzen 35 in direktem Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit im Gefängnis,

Dutzende jedoch kennen die genauen Anschuldigungen noch nicht. Laut dem „Stockholm

Center for Freedom“ sind mit Stand Juli 2019:

98 verurteilte Journalisten im Gefängnis,

85 warten noch auf ein Urteil

und nach 167 Medienschaffenden wird gefahndet!

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Mahir Koroglu musste also raus. Dafür zahlte er 6000 Euro an Schleuser und setzt mit einem

Boot auf die griechische Insel Kos über, verbringt einige Tage in einer Polizeistation und reist

weiter nach Athen, um sich Richtung Westen aufzumachen.

O-Ton: Mahir Koroglu

In my first try I went to Rhodos, with an Italian ID. And I tried to get on the plane. I was flying to Brussels. But the previous day a terror attack occurred in Belgium, in Brussels. And in Crete island airport there were snipers all around and especially for Brussels flights they were checking all people.

And a hostess who was speaking Italian spoke to me, asked some questions, spoked, spoked,

spoked “si”? I said “si”! She asked something, “si”? I said “si”! So she invited a police officer. I

don’t know I had no idea, what she asked. (lachen)

Übersetzer

Bei meinem ersten Versuch stieg ich auf Rhodos mit einem gefälschten italienischen Ausweis

ins Flugzeug, das nach Belgien fliegen sollte. Aber am Tag zuvor gab es einen Terror-

Anschlag in Brüssel und bei einem Zwischenstopp auf Kreta waren überall auf den Dächern

Scharfschützen postiert. Vor allem Reisende nach Brüssel wurden durchgecheckt. Eine

Stewardess sprach mich auf Italienisch an. Sie holte einen Polizisten. Keine Ahnung, was sie

fragte.

Erzählerin

Mahir Koroglu muss für einen Tag ins Gefängnis. Dieses Mal auf Kreta!

O-Ton: Mahir Koroglu

My friends are teasing at me, they are saying that you are going to stay in all prisons of Greece.

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Übersetzer

(lacht) Meine Freunde ziehen mich schon auf und sagen, ich werde noch in jedes Gefängnis

Griechenlands kommen.

Erzählerin

Für seinen zweiten Versuch, kauft er sich ein gefälschtes Schengener Visum auf dem

Schwarzmarkt, schafft es bis nach Deutschland, verbringt ein Jahr in einem Aufnahmelager,

dann wird sein Asylantrag abgelehnt. Mahir Koroglu zeigt mir den Ablehnungsbescheid und

die Begründung.

O-Ton: Mahir Koroglu

The reason they wrote in my paper was very humiliating. I felt more disappointed that time. Because they wrote in that paper. They say we rejected your paper, your application because it is so weird that the police stormed your apartment a year after the coup attempted. – I said Stop that! I did not tell you that I am a General or a soldier or something. I am not being accused of making the military coup. Ok? It’s not my job. So. It is quite normal. When they decide some new people to get arrest. They arrest!

Übersetzer

Der Ablehnungsgrund in den Unterlagen war demütigend. Ich war damals sehr enttäuscht: Es

sei unglaubwürdig, dass mein Apartment erst ein Jahr nach dem Putschversuch durchsucht

worden sei. Ich sagte: „Hören Sie auf damit. Ich hab ihnen niemals gesagt, dass ich ein

General oder Soldat gewesen bin, der angeklagt wurde, weil er vielleicht den Putsch geplant

hatte.“ Es ist inzwischen ganz normal. Wenn sie entscheiden neue Leute zu verhaften, dann

verhaften sie die auch.

Erzählerin

Nachdem sein Asylantrag abgelehnt wurde, ging Mahir Koroglu zurück nach Griechenland.

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Dort wurde er am Evros verhaftet, als er für Euro News die Geschichte von der ertrunkenen

Mutter und ihren Kindern recherchierte, fand er sich als Illegaler im Grenzgefängnis Filakio

wieder, ist jetzt raus und möchte zur Ruhe kommen. Er will nirgendwo mehr hin, sagt er. Er

wartet in Griechenland ab, bis Erdogan weg ist.

O-Ton: Mahir Koroglu

This is my own country. I am not a nationalist one. No! But this is my own land. This is my homeland. I will go back one day. And I will be presenting news or reporting news in front of TVs Live under the umbrella of freedom of speech.

Übersetzer

Ich möchte nicht nationalistisch klingen, aber es ist meine Heimat und ich möchte dorthin

zurückkehren. Ich werde irgendwann wieder unter dem Schutz der Redefreiheit Live aus der

Türkei im Fernsehen berichten.

Erzählerin

Mahir lebt getrennt von seiner Familie, und ich habe den Eindruck, diese Vorstellung gibt ihm

Kraft.

Erzählerin

Für das Bildungswesen in der Türkei bedeutet die Verfolgung von Gülenisten massive

Einschnitte. Viele Dozenten und Professoren sind suspendiert worden und müssen sich

verstecken. Wie dieser türkische Akademiker, den ich in Athen treffe. Er bittet mich, ihn als

Mehmet Erdogan vorzustellen.

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Erzählerin

Wir verabreden uns in einem großen Hotel. Dort kommt niemand ohne Anmeldung rein. Weil

man mich dort kennt, erlaubt man mir das Interview dort zu führen.

O-Ton: Mehmet

In 2012 I was very happy. I was very happy with my job in the university. Because I was paid good. It means in an academy way I can work easily. Because I have money. I can go to conferences abroad. I can pay for the books etc. And I was feeling very, very free. Because I was not hiding my identity at all. I was a lector, not a professor. I taught sociology. I was accused being a Gülenist, I am a Gülenist, but I don’t know how much Gülenist I am. I was not open to say I am Gülenist, but not because I was afraid. I didn’t feel as a complete Gülenist.

Übersetzer

2012 bin ich noch sehr glücklich mit meiner Arbeit an der Universität gewesen. Ich wurde gut

bezahlt und konnte meinen akademischen Weg sehr leicht gehen. Ich fuhr zu Konferenzen ins

Ausland, hatte Geld, um Bücher zu kaufen. Ich fühlte mich frei, musste meine Identität nicht

verstecken. /Ich war Dozent für Soziologie. Ich wurde angeklagt Gülenist zu sein, obwohl ich

gar nicht weiß, ob ich dieser Bewegung überhaupt angehören will, nicht weil ich ängstlich bin,

sondern weil ich mich nicht als Gülenist fühle.

Erzählerin

Der Soziologe hatte ein Treffen der Gülenisten besucht, weil es ihn interessierte, was die Leute

dort erzählen.

O-Ton: Mehmet

I disagree with my Gülenist friends in many cases. Because one of my friends say: Yes, I am a Gülenist because they are very good people. And they have nothing with politics, etc. etc. I said I know that Gülenists have something to do with politics.

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Übersetzer

Ich denke in vielen Fällen nicht so, wie die Gülenisten. Zum Beispiel sagte mir ein Freund, die

Gülenisten hätten mit Politik nichts am Hut. Ich weiß aber, dass sie sich sehr wohl politisch

engagieren.

Erzählerin

Mehmet steht der AKP, Erdogans Partei, nahe. Und deshalb fürchtete er sich zunächst nicht

Erdogans Politik zu kritisieren, wenn ihm etwas nicht gefiel. Doch plötzlich spürte er, dass die

Stimmung an der Universität kippt.

O-Ton: Mehmet

So after 2012 I had the feeling that I should back up. I shouldn’t speak that loud. I shouldn’t speak too much. And then in 2016, before the coup, everyone was silent, every academic was silent. They were not speaking at all. Or they were speaking about irrelevant cases. And today there is no academic freedom in Turkey. There is no academy at all. Not only the freedom of speech, I say. There is no education at all. Why? Thousands of professors are dismissed from their jobs. There are no professors at the university. There is no schedule.

Übersetzer

Nach 2012 hatte ich das Gefühl, ich sollte nicht so viel sprechen. Und 2016, kurz vor dem

Putsch, wurde es an der Uni ganz still. Jeder Akademiker war still. Sie sprachen nicht mehr

und wenn dann über Belangloses. Heute gibt es überhaupt keine akademische Freiheit mehr,

keine freie Rede. Es gibt keine Ausbildung mehr. Warum? Weil tausende Professoren

entlassen wurden. Es gibt keine Professoren, keinen Lehrplan.

Erzählerin

Mehmet Erdogan ist erst seit ein paar Tagen in Griechenland und sieht müde aus. Er steht

unter Schock. Der 38-jährige Soziologe faltet die Hände, sie zittern. Viele seiner Kollegen

sprechen nicht, um nicht aufzufallen. Andere wie er werden von der Polizei gesucht.

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O-Ton: Mehmet

As I was in Turkey after the coup, most of the government officials’ passport was provoked. And I couldn’t get a new one. So I didn’t have a passport. But I was escaping for more than one year from the police. I moved into Ankara suburbs. And nobody knew me there. I was posing as an ordinary person who has nothing to do with police etc. and avoiding police investigations. But I had to go, because they were visiting my family asking for me. Then when I had the chance I also swam through Evros.

Übersetzer

Nach dem Putsch wurden die Reisepässe vieler Leute für ungültig erklärt. Ich konnte keinen

neuen bekommen. Ich habe mich über ein Jahr vor der Polizei versteckt. Sie suchten, konnten

mich aber nicht finden. Ich bin in einen Vorort von Ankara gezogen. Ich musste das Land

verlassen, weil sie anfingen meine Familie aufzusuchen und sich nach mir zu erkundigen.

Dann ergriff ich die Gelegenheit und bin durch den Evros geschwommen.

Erzählerin

Die Nacht war regnerisch und er war allein am Grenzfluss unterwegs. Weil er kein Geld für

eine Überfahrt hatte, schwamm er.

O-Ton: Mehmet

When I was in the Filakio detention camp, it was like that I was a celebrity. People, they were coming asking: Oh, you are the guy who swim through the river! I said: It is a 60-70 m river. It’s not a big deal. I am not crossing the Atlantic. But many people died trying to pass that river. So people fear a lot. Even myself wouldn’t try to pass that river with my family. Alone? – Ok, I can take that chance.

Übersetzer

Im Aufnahmelager Filakio wurde ich gefeiert: „Du bist also der Typ, der geschwommen ist?“,

fragten sie. Ich sagte ihnen: das sind doch nur 60-70 Meter, ich hab nicht den Atlantik

überquert! Tatsächlich sind viele beim Versuch den Fluss zu überqueren schon ertrunken. Ich

war ohne meine Familie und nur deshalb habe ich es gewagt.

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Erzählerin

Mehmet würde gerne in Griechenland bleiben und hofft, dass er Asyl erhält. Hier ist er seiner

Heimat Türkei und der Familie näher als anderswo. Doch inzwischen denkt er darüber nach

weiter Richtung Westeuropa zu ziehen.

O-Ton: Mehmet

I really like it here. Because is a good country. But it’s a financial problem. Here the Greek asylum service gives our asylum dates 2022, 2021 or 2023. It’s very late for us to wait, we have no work permits here. And there is an economy crisis in Greece. But if we had a sort of residence here, a legal residence, we could figure it out to have some jobs, even with the economic crisis. But so two, three years, we cannot afford that.

Übersetzer

Ich mag es hier, es ist ein gutes Land, aber es ist ein finanzielles Problem. Wir bekommen hier

vielleicht erst Asyl im Jahr 2021 oder 2023. Das ist sehr spät für uns. Und dann die

Wirtschaftskrise in Griechenland. Wenn wir zumindest einen legalen Aufenthaltsstatus hätten,

könnten wir uns nach einem Job umsehen, trotz der Krise. Aber zwei, drei Jahre zu warten,

das können wir uns nicht leisten.

Erzählerin

Immerhin ist Mehmet frei, während in seiner Heimat andere Akademiker im Gefängnis sitzen.

Denkt er an die Türkei, fürchtet er, dass es noch Schlimmer kommen könnte. Als nächstes

könnten Studenten an die Reihe kommen. Viele würden schon gar nicht mehr zur

Abschlussprüfung erscheinen, weil sie fürchteten festgenommen zu werden. Von der

griechischen Flüchtlingsvereinigung erfahre ich, dass inzwischen tatsächlich mehr Studenten

kommen. Sie hoffen darauf, ihr Studium an einer ausländischen Universität abschließen zu

können.

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O-Ton: Mehmet

Now, what is next? Now they are arresting 18 year olds. They are already arresting the children

with their mothers. What are they gonna do? Are they going to take children from playgrounds?

Übersetzer

Was kommt als nächstes? Sie haben jetzt damit begonnen auch 18jährige festzunehmen. Sie

haben schon Kinder mit ihren Müttern festgenommen. Was haben sie vor? Wollen sie

demnächst Kinder auf Spielplätzen mitnehmen?

Erzählerin

Im Zentrum Athens begegne ich einem Mann, den ich Ali Yilmaz nenne. Zweimal hat er

unseren Treffpunkt im Vorfeld geändert. Und auch jetzt fragt er mich, ob wir woanders

hingehen können. Er fühle sich auf dem Platz nicht sicher. Er sieht so aus, als hätte er schon

lange nichts Richtiges mehr gegessen. In einer mir bekannten Taverne entspannt er sich.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

Übersetzer

Was ich mir im Moment Wünsche, ist, dass er geht. Aber Allah weiß es besser.

Erzählerin

Gemeint ist Erdogan. Der Mann mir gegenüber hat Schlimmes erlebt. Da er schlecht Englisch

spricht, begleitet mich bei diesem Treffen ein Freund, der türkisch spricht und Alis Geschichte

für mich übersetzt.

O-Ton: Ali Yilmaz

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Übersetzer

Ich wurde am 6. Oktober 2016 festgenommen, war 12 Tage auf der Polizeiwache, wurde 8

Tage gefoltert, stand dann ich vor Gericht und wurde eingesperrt. Danach wurde ich für 6

Jahre und 3 Monate verurteilt wegen Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation. Und weil ich

gesagt hatte, dass diejenigen, die das Unrecht aussprechen eines Tages zur Rechenschaft

gezogen werden, bekam ich eine Strafe wegen Beleidigung des Staatsanwalts und des

Richters.

Erzählerin

Der junge Mann empfindet seine Festnahme als Farce. Denn er hat die letzten 18 Jahre

überhaupt nicht in der Türkei gelebt.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

Übersetzer

Ich bin im Tourismusbereich tätig und habe Forschungs- und Reiseprojekte organisiert, die

von der EU gefördert wurden. Das waren erweiterte Erasmus-Programme. Die Firma, für die

ich arbeitete hat Büros in Holland. Ich habe türkische Projektmitglieder begleitet, die nach

Holland kamen.

Erzählerin

Wer Ali Yilmaz im Internet sucht, findet weitere Informationen. Mit seinem Handy zeigt er mir

eine Webseite und ein Foto.

Als er 15 war, hat er sich mit einem gefakten Dokument fotografieren lassen. Aus Spaß hatte

er einen FBI Ausweis kopiert. Dieses Foto haben Fahnder gefunden und verwenden es als

Beweis, dass er ein FBI Agenten sei.

Ca. 200 verschiedene Ausweise hat Ali Yilmaz als Jugendlicher hergestellt und sich jeweils

als eine andere berühmte Persönlichkeit dargestellt.

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Er und seine Freunde fanden das damals lustig. Mal war er FBI Agent, mal ein bekannter

Sportler. Was Ali nicht ahnen konnte, dass er diesen Jugendspaß einmal teuer bezahlen

würde.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

Übersetzer

Ich bin am 2.September 2016 in die Türkei gefahren und einen Monat später wurde ich

festgenommen, weil meine eigene Verwandtschaft mich bei der Polizei angeschwärzt hat.

Erzählerin

Er denkt nicht, dass die Polizei sonst auf ihn aufmerksam geworden wäre. Ali lebte fast

zwanzig Jahre in den Niederlanden und hat sich dort irgendwann der Bewegung des Predigers

Gülen angeschlossen. Dort gibt es eine große Gemeinde.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

Übersetzer

Ich war zunächst in Polizeigewahrsam. Das waren 12 Tage, davon acht Tage unter

schrecklicher Folter, 5 Minuten, 15 Minuten, 10 Minuten täglich. Ich sollte ihnen irgendwelche

Namen preisgeben. Ich sagte ihnen, ich kenne keine Gülenisten in der Türkei. Sie lachten nur.

Dann schlugen sie mir auf den Kopf und in den Bauch. Warfen mich vom Stuhl herunter.

Erzählerin

Er zeigt mir die Narben an seinem Körper.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

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Übersetzer

Als nächstes verbrannten sie mir den Fuß mit einer heißen Industriebügelmaschine. Man sieht

noch die Stellen, obwohl es 2 Jahre her ist. Ich konnte nicht mehr. Ich sagte nur, sie sollen mir

endlich in den Kopf schießen, damit das aufhört. Sie antworteten: Nein, wir werden dich nicht

umbringen. Du sollst leiden.

Erzählerin

Auch im Gefängnis erfährt Ali was es bedeutet, Gülenanhänger zu sein.

Übersetzer

Die Gefängniswärter behandelten uns nicht gut. Wenn einer nett zu uns war, musste er

fürchten, seinen Job zu verlieren oder selbst ins Gefängnis zu kommen. Die meisten glaubten,

dass wir Terroristen sind. Es gab in den Zellen die normalen Gefangenen, Diebe, Mörder und

Schmuggler. Aber die Gülen-Leute galten als noch Schlimmer.

Erzählerin

Die Berichte der Gülenanhänger, mit denen ich gesprochen habe, gleichen sich, wenn sie von

Gerichtssälen oder Gefängnissen in der Türkei berichten. Die meisten Gerichtsverfahren

enden mit langen Haftstrafen für die Angeklagten. Meistens würden die Urteile bereits vor der

Gerichtsverhandlung feststehen, berichten sie. Und die Gefängniswärter seien angehalten,

hart gegen Gülenisten vorzugehen. So hat es auch Ali Yilmaz erlebt.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2019 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

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Übersetzer

Wir waren 34 Personen in einer Zelle, die für 7 Personen ausgelegt ist. Wir schliefen auf dem

Boden. Es war sehr kalt im Winter. Wir hatten kein warmes Wasser, manchmal überhaupt

keins. In unserem Trakt waren auch etwa 700 Frauen mit Kindern.

Erzählerin

Die Situation der gefangenen Frauen hat Ali Yilmaz als noch dramatischer empfunden, als die

der Männer. Vor allem, die der Schwangeren.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

Übersetzer

Ich habe erlebt, wie eine Frau ein Kind im Gefängnis gebar, es aber nicht selbst stillen durfte.

Ihre Eltern nahmen es direkt mit.

Erzählerin

Ali möchte, dass ich davon berichte, weil Menschen in türkischen Gefängnissen umkommen,

ohne dass jemand davon erfährt.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

Übersetzer

Es gibt Menschen, die unter Folter sterben. Die Polizei behauptet, einer habe sich erhängt.

Aber eigentlich ist er umgebracht worden.

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Erzählerin

Nach über zwei Jahren Haft wird Ali Yilmaz plötzlich dem Richter vorgeführt. Dieser

entscheidet, ihn vorläufig frei zu lassen. Der Rest der ihm ursprünglich auferlegten Haftzeit

von sechs Jahren, kann in einer gesonderten Gerichtsverhandlung in eine Bewährungsstrafe

umgewandelt werden. Bis dahin darf er die Türkei nicht verlassen. Doch eines Tages erklärt

ein Gericht Alis Freilassung für ungültig, ohne dass er anwesend war.

So schnell wie möglich will er nach Holland zurück, und er verlässt auf illegalem Weg die

Türkei Richtung Griechenland. Doch nach zwei Jahren Abwesenheit ist seine befristete

Aufenthaltserlaubnis abgelaufen. Die Niederländische Botschaft in Athen möchte einen

schriftlichen Nachweis, der seinen Gefängnisaufenthalt in der Türkei belegt. Wie soll er den

beschaffen?

In der türkischen Presse ist sein Fall längst bekannt geworden, und auch in den Niederlanden

diskutieren Türken öffentlich auf Facebook. Verspotten und diffamieren ihn. Er hat Angst und

fragt sich, ob das Land überhaupt noch sicher ist für ihn. Drohungen gegen Gülen-Anhänger

gibt es dort schon länger und 2016 hat Erdogan seine Landsleute in den Niederlanden

aufgefordert, Beleidigungen gegen ihn zu melden.

O-Ton: Ali Yilmaz (Türkisch)

Übersetzer

Ich weiß nicht, ob ich Probleme kriegen werde. Es könnte sein, dass sie mich überfallen und

mir schaden.

Erzählerin

Nach diesem Gespräch habe ich Ali nicht wieder gesehen. Eine kurze Weile haben wir noch

Kontakt über Facebook gehalten. Irgendwann schreibt er, er sei endlich angekommen. Auf

meine letzten Mails reagiert er nicht mehr.

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Erzählerin

In Thessaloniki besuche ich noch einmal Kübra Akin. Sie skyped gerade mit ihrem Mann Yusuf

in Deutschland.

Erzählerin

Sie erzählt ihm von der griechischen Schule der Kinder, den Finanznöten, den vielen Papieren

und Nachweisen, die sie bei Ämtern, Krankenkasse oder Schule vorlegen muss, aber nicht

beibringen kann, weil sie die in der Türkei zurücklassen musste.

Kübra kann Yusuf an diesem Tag auch eine gute Nachricht verkünden: Ihr Asylantrag ist

genehmigt. Im Gegensatz zu Yusufs in Deutschland. Sein Antrag wurde abgelehnt. Sein

Anwalt hat Widerspruch eingelegt, damit er nicht abgeschoben wird.

Yusufs Fall ist kompliziert. Er müsste seinen Asylantrag eigentlich in dem Land der

Europäischen Union stellen, das er zuerst betreten hat, nämlich in Griechenland. Doch er ist

einfach weiter gereist nach Deutschland, ohne sich registrieren zu lassen. Wenn das deutsche

Gericht ihn nun nicht als „politisch verfolgt“ einstufen sollte und ihm keinen Asylstatus verleiht,

und Yusuf nicht freiwillig nach Griechenland zurückkehrt, droht ihm in Deutschland die

Abschiebung in die Türkei. Für ihn fühlt sich das an wie eine Entscheidung über Leben und

Tod.

O-Ton: Yusuf Akin (Türkisch)

Übersetzer

Erdogan hat die türkische Gesellschaft radikalisiert. Neben den Strafen muss sich der Blick

auf die Gesellschaft ändern. Solange sich das nicht ändert, kann ich in der Türkei nicht atmen.

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O-Ton: Kübra Akin

The Turkey is like hell for us. Like an open-air prison. The whole country is like an open-air prison. For people who are opponent, not only for us. If you are an opponent the Turkey is a very strict and very dangerous place for you.

Übersetzerin

Die Türkei ist die Hölle. Das gesamte Land ist wie ein Openair Gefängnis. Nicht nur für uns,

sondern für alle, die anders denken. Wenn du Gegner bist, dann ist die Türkei ein sehr

gefährlicher Ort für dich.