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Dorotheas Thesis

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Page 1: Dorotheas Thesis

Pädagogische Hochschule Karlsruhe

Die Fakultät der Psychologie

Die Persönlichkeit von hochbegabten Schülern

und ihre Identi�zierung

Dorothea Zalewski

August 2007

Erster Prüfer:

Akad. Rat Dr. Abele

Zweiter Prüfer:

Prof. Dr. Pfei�er

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Danksagung

Zu Beginn möchte ich Dr. Abele danken, der für alle Fragen, jeder Zeit o�en warund diese hilfsbereit beantwortete.

Auÿerdem bin ich meiner gesamten Familie für die tatkräftige Unterstüzung zudank verp�ichtet. Mein Dank gilt meinen sorgenden Eltern, Danuta und Stanislawdie mir von Beginn an durch ihre Motivation und ihre �nanzielle Unterstützungdas Studium möglich gemacht haben.

Ich möchte meinem liebevollen Ehemann, Fernando für seine Geduld und seinegeopferte Zeit, die er mit dem Hütten unseres Sohnes verbrachte, danken. Nurdurch seine Unterstüzung ist die Bewältigung meines Studiums und vor allem dasSchreiben dieser Arbeit möglich gewesen.

Ebenfalls eine groÿe Hilfe war mein Schwager Raimund, dem ich für seinenBeistand und seine Hilfestellungen danken möchte.

Zu letzt möchte ich meinem kleinen lieben Sohn, Sebastian danken der dieletzten Wochen verständnissvoll und mit altersentsprechenden Reife meisterte.

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Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort 1

2 Einleitung 2

3 Was heiÿt Hochbegabt? 33.1 De�nitionen von Hochbegabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43.2 Begabung und Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53.3 Intellektuelle Hochbegabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73.4 Hochbegabung und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73.5 Anlage und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93.6 Hochbegabungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3.6.1 3-Ringe-Modell von Renzulli (1979) . . . . . . . . . . . . . 103.6.2 Komponentenmodell der Talententwicklung von Wieczer-

kowski und Wagner (1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123.6.3 Di�erenziertes Begabungs- und Talentmodell von Gagne

(1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133.6.4 Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

4 Hochbegabte Kinder und Jugendliche 184.1 Die Persönlichkeit von Hochbegabten . . . . . . . . . . . . . . . . 19

4.1.1 Körperliche Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194.1.2 Denkweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194.1.3 Soziale Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214.1.4 Bedürfnisse und Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224.1.5 Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244.1.6 Temperament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254.1.7 Introversion und Extraversion . . . . . . . . . . . . . . . . 264.1.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

4.2 Hochbegabte in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274.2.1 Familäre Strukturmerkmale, Erziehungsstile und Anregungs-

bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284.2.2 Beratungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

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INHALTSVERZEICHNIS iv

4.2.3 Geschwisterbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314.3 Hochbegabte in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

4.3.1 Unterforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334.3.2 Underachiever . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344.3.3 Lehrer für Hochbegabte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364.3.4 Mentoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

5 Diagnostik von Hochbegabung 405.1 Warum wenden sich Eltern an die Beratungsstellen? . . . . . . . . 40

5.1.1 Nutzen der Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415.2 Der diagnostische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

5.2.1 Psychologische Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435.2.2 Gütekriterien von psychologischen Tests . . . . . . . . . . 445.2.3 Intelligenztests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

5.2.3.1 Der Intelligenzquotient . . . . . . . . . . . . . . . 455.2.3.2 Intelligenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

5.2.4 Intelligenztests in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 475.2.4.1 Intelligenztests bei Vorschulkindern . . . . . . . . 475.2.4.2 Intelligenztests bei Schulkindern . . . . . . . . . . 495.2.4.3 Intelligenztests bei älteren Kindern und Jugend-

lichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515.2.4.4 Abschlieÿende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . 52

5.2.5 Testen oder nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535.3 Beobachtungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

5.3.1 Lehrerurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545.3.2 Peernomination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565.3.3 Elternurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

6 Das Marburger Hochbegabtenprojekt 596.1 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596.2 Allgemeine Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606.3 Projekt-De�nition von �besonderer Begabung� . . . . . . . . . . . 61

6.3.1 Verzicht auf die Erfassung von Kreativität und sozialer In-telligenzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

6.4 Untersuchungsphase 1 (November 1987 - August 1988) . . . . . . 626.4.1 Gesamtstichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636.4.2 Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

6.4.2.1 Datenquelle �Kind� . . . . . . . . . . . . . . . . 646.4.2.2 Datenquelle �Peer� . . . . . . . . . . . . . . . . . 646.4.2.3 Datenquelle �Lehrkraft� . . . . . . . . . . . . . . 65

6.4.3 Zusammenstellung von Ziel- und Vergleichsgruppe . . . . . 656.4.3.1 Psychometrische Qualität der Intelligenztests . . 65

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INHALTSVERZEICHNIS v

6.4.3.2 De�nition der allgemeinen Intelligenz �g�, des Zielsund der Vergleichsgruppe . . . . . . . . . . . . . 66

6.5 Untersuchungsphase 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676.5.1 Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

6.5.1.1 Datenquelle �Kind� . . . . . . . . . . . . . . . . 686.5.1.2 Datenquelle �Eltern� . . . . . . . . . . . . . . . . 696.5.1.3 Datenquelle �Lehrkraft� . . . . . . . . . . . . . . 70

6.6 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

7 Hochbegabtenförderung 727.1 Begabungsspezi�sche Maÿnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

7.1.1 Akzeleration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737.1.1.1 Früheinschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737.1.1.2 Das Überspringen . . . . . . . . . . . . . . . . . 747.1.1.3 Spezialklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

7.1.2 Enrichment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767.1.2.1 Plus-Kurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767.1.2.2 Schülerwettbewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . 767.1.2.3 Schul-Arbeitsgruppen (AG�s) . . . . . . . . . . . 77

7.1.3 Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777.2 Bewertung von Fördermaÿnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787.3 Vereine zur Förderung und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . 79

7.3.1 Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V. (DGhK) 797.3.2 Hochbegabtenförderung e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . 817.3.3 Mensa in Deutschland e.V. (MinD) . . . . . . . . . . . . . 82

8 Nachwort 84

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Abbildungsverzeichnis

3.1 Allgemeines Bedingungsgefüge für auÿergewöhnliche Leistungen. . 63.2 Allgemeines Bedingungsgefüge für auÿergewöhnliche Leistungen. . 83.3 �Hochbegabung als Leistung� . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103.4 �Hochbegabung als Disposition� . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113.5 Drei-Ringe-Modell der Begabung von Renzulli (1979). . . . . . . . 123.6 Komponentenmodell der Talententwicklung von Wieczerkowski &

Wagner (1985). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133.7 Di�erenziertes Begabungs- und Talentmodell von Gagné (1993). . 14

5.1 Beispielaufgaben des CFT 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

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Tabellenverzeichnis

5.1 CFT1 (Grundintelligenztest Skala 1, Catell, R.B.: Weiÿ, R.H. &Osterland, J., 1977, 5. Au�age 1997) . . . . . . . . . . . . . . . . 48

5.2 KFT-K (Kognitiver Fähigkeitstest-Kindergartenfrom, Heller, K.und Geisler, H. J. 1983). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

5.3 AID 2 (Adaptives Intelligenz Diagnostikum 2, Kubinger, K. undWurst, E. 2000). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

5.4 HAWIK 3 (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder, Tewes,U., Rossmann, P. und Schallberger, U. 1999, 3. Au�age). . . . . . 50

5.5 CFT 20 (Grundintelligenztest Skala 2; Weiÿ, r.H. 4, Au�age 1997mit überprüften Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

5.6 APM (Advanced Progressive Matrices, Raven, J.C. Court, J. & Ra-ven Jr., dt. Heller, K.A., Kratzmeier H. und Lengfelder, A. (1998):neues Manual mit aktuellen Normen). . . . . . . . . . . . . . . . . 51

5.7 BIS (Berniler Intelligenzstruktur-Test, Form 4, jäger, A.O., Süÿ,H.M., Beauducel, A.1997). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

6.1 Mittelwerte, streuungen, minimale und maximale Wertein den In-telligenzvariablen �g�, CFT, ZVT und ANA für Jungen und Mäd-chen von Zielgruppe (ZG) und Vergleichsgruppe (VG). . . . . . . 63

6.2 Gesamtstichprobe (I. Untersuchungspahse), aufgegliedert nach Ge-schlecht und Alter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

6.3 Verteiling der 287 Kinder auf die 116 Schuklassen. . . . . . . . . . 676.4 Gesamtstichprobe (I. Unersuchungsphase), aufgegliedert nach Kin-

dern nach Kindern, Klassen, Schulen und Bundersläden . . . . . . 67

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Kapitel 1

Vorwort

Hochbegabtenforschung war in Deutschland lange Zeit ein wegbeachtetes The-ma. Seit dem 20. Jahrhundert gewinnt wie auch bei uns immer mehr an Bedeu-tung.Das Bundesministerium für Bildung hält eine intensive Förderung besondersbegabter junger Menschen für eine wichtige pädagogische, gesellschafts- und bil-dungspolitische Aufgabe.

Für mich ergab sich aus zwei Gründen ein besonderes Interesse für diesesThema. Als zukünftige Lehrerin ist es für mich ein wichtiges Anliegen, hochbe-gabte Kinder zu erkennen und ihnen somit rechtzeitig, bevor es zu Demotivationund Schulunlust kommt, zu helfen. Ich fühle mich verantwortlich, diese Aufgabebestmöglich zu erfüllen. Denn jedem einzelnen Kind soll durch ein di�erenziertesBildungs- und Ausbildungsangebot sowie durch Fördermaÿnahmen die Möglich-keit zur vollen Entfaltung seiner Fähigkeiten und neigungen gegeben werden. Umdies zu realisieren muss eine korrekte Diagnose erstellt werden. Aufgrund dergroÿen Bedeutung von Diagnostik gebe ich diesem Thema einen hohen Stellen-wert in meiner Ausarbeitung. Die Wichtigkeit dieses Prozess zeigt sich in denFolgen einer Fehldiagnose und falschen Intervention, die sich auf das gesamtepersönliche, schulische und spätere beru�iche Leben auswirken.

Ferner möchte ich mit dieser Ausarbeitung Eltern grundlegende Informationenüber Hochbegabung anbieten. Ich möchte mit meiner Arbeit insbesondere aufAnlaufstellen und eventuelle Fördermaÿnahmen aufmerksam machen.

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Kapitel 2

Einleitung

Die erste grundsätzliche Frage, die ich mir zu diesem Thema stellte, war: �Washeiÿt Hochbegabt?� Deshalb wählte ich diese Frage und ihre Beantwortung alsEinstieg für meine Arbeit. Hier werden nicht nur Begri�e und Modelle de�niert,sondern auch bisherige Behauptungen der Wissenschaftler in Frage gestellt. Eben-so wird Hochbegabung unter dem Ein�uss der Umwelt betrachtet.

Auÿerdem interessierte mich, wie sich das Phänomen Hochbegabung in derPersönlichkeit der Kinder, in der Schule und in der Familie äuÿert. Im Unterkapi-tel �Hochbegabte in der Schule� werden wichtige Merkmale einer Hochbegabungbeschrieben. Auÿerdem werden die gestellten Ansprüche an einen Lehrer undMentoren geklärt.

Das nächste Kapitel ist der �Diagnostik von Hochbegabung� gewidmet. InAnbetracht ihrer groÿen Bedeutung beschäftigte ich mich intensiv mit der testge-stützten Intelligenzdiagnostik. Hier habe ich Diagnostik- und Beobachtungsver-fahren dargestellt. Dabei stellte ich die für Pädagogen und Eltern entscheidendeFrage, welches Verfahren das beste ist und alle Gütekriterien erfüllt. Im Folgendenentschied ich mich, eine aktuelle Studie zur Hochbegabung in die Ausarbeitungeinzuschlieÿen, um den Verlauf einer Diagnostik praktisch mit verfolgen zu kön-nen. Dabei werden verwendete Tests, Texte und Fragebögen sowie Ergebnissepräsentiert.

Als Abschluss fand ich es entscheidend, mich auf die Hochbegabtenförderungund die Fördermaÿnahmen die grundlegend zur Verfügung stehen, zu konzentrie-ren. Es wurden ferner in Deutschland aktive Vereine für Hochbegabtenförderungmit ihren Zielen, Aufgaben und Maÿnahmen vorgestellt.

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Kapitel 3

Was heiÿt Hochbegabt?

Den Begri� Hochbegabung (engl. meist �giftedness�) ist vorwiegend nur aus wis-senschaftlicher Literatur bekannt. wesentlich häu�ger werden die BezeichnungenBegabung, hohe Begabung und besondere Begabung benutzt. Der Grund für diebevorzugte Benutzung der o.g. Synonyme ist die negative Konnotation, die derBezeichnung Hochbegabung angeheftet wird. Hochbegabung wird als ein �elitär-er� Begri� angesehen. Dabei sind Vorurteile gegenüber dem Begri�, dem Phä-nomen oder den Personen die als hochbegabt bezeichnet werden, unangebracht.Was bedeutet Elite? Als Elite wird eine von der Gesellschaft führende Schichtbezeichnet. Diese Schicht stellt die Spitze der Herrschafts- oder Machtpositionendar. Somit ist der Begri� Elite zur Kennzeichnung von hochbegabten Personensachlich sicherlich ungeeignet. Um die negativen Assoziationen und Vorurteilegegen Hochbegabte abzuscha�en, sollte man sich sachlich und rational mit demBegri� und dem Phänomen auseinandersetzen (vgl. Stapf 2006).

Hochbegabung ist auf den ersten Blick, bzw. rein äuÿerlich, nicht erkenn-bar. Es bedarf bestimmter Situationen oder Problemstellungen, bei denen diebesonderen Fähigkeiten zum Vorschein kommen. Jede Begabung benötigt daspassende Instrument. So brauchen musikalisch hochbegabte Personen ein Mu-sikinstrument, künstlerisch hochbegabte Personen z.Bsp. Pinsel und Farbe undintellektuell hochbegabte Personen dementsprechend schwierige Aufgabenstellun-gen.

In Deutschland beschäftigen sich die Psychologen und Pädagogen seit Beginndes 20. Jahrhunderts mit dem Begri� und dem Phänomen Hochbegabung. Ein be-deutender Psychologe, der sich tiefgründig mit dem Phänomen der Hochbegabungbefasste, war William Stern (1871-1938). Dieser war Begründer der �Di�erentiel-len Psychologie1�. Er führte den Intelligenzquotienten ein. William Stern befasstesich auch mit der Intelligenz von Kindern und Jugendlichen. Dabei verwendete erden Begri� Hochbegabung als die höchste Ausprägung von Intelligenz (vgl. Stapf

1Bereich der Psychologie, der das Erleben und Verhalten des Einzelnen unter dem Aspektder individuellen Unterschiede betrachtet/ nach L.W. Stern

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KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 4

2006).In Amerika war die Hochbegabten-Studie von L. M. Terman aus dem Jahr

1921 von groÿer Bedeutung. In diese Studie nahmen ausgesuchte Kinder amStanford-Binet-Intelligenztest teil (vgl. u.a. Holahan 1996). Das Ziel der Stu-die, war die Widerlegung der These von Lombroso (1887) und Lange-Eichbaum(1928), die besagt, dass hochbegabte Personen sehr häu�g eine gestörte Persön-lichkeitsentwicklung bis hin zur Abnormalität im Sinne des Psychopathologischen,der Psychose erleiden. Zu diesem Zeitpunkt gab in der Begabungsforschung einigewirre Vorstellungen über hochbegabte Personen. Noch heute gibt es dazu kontro-verse Standpunkte, vielfältige Interpretationen und De�nitionen, die im nächstenUnterkapitel näher de�niert werden sollen.

3.1 De�nitionen von Hochbegabung

Es gibt zahlreiche De�nitionen von Hochbegabung. In diesem Abschnitt werdendie am häu�gsten verwendeten wissenschaftlich belegten De�nitionen erklärt.

• Ex-post-facto-De�nition: Hochbegabt ist, wer etwas Hervorragendes geleis-tet hat (absolutes qualitatives Kriterium).

• IQ-De�nition: Eine Person gilt als hochbegabt wenn sie einen bestimmtenGrenzwert der Intelligenz erreicht hat. Dieser liegt bei 130 oder höher.

• Talent-De�nition: Bei dieser De�nition werden Sonderbegabungen und Be-gabungen aus einer Vielzahl von Bereichen mit einbezogen. Hier gelten Per-sonen als hochbegabt, die in einem spezi�schen Bereich besondere Leistun-gen erbringen, wie sie nur von wenigen Personen der Bezugsgruppe erbrachtwerden können. Es wird eine quantitative Grenze gesetzt (cuto� point). Die-se wird als das �relative quantitative Kriterium� bezeichnet.

• Prozentsatz-De�nition: Ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung wirdals hochbegabt de�niert. Als Kriterium werden Noten, Schulleistungstestsoder Intelligenztestwerte genutzt.

• Kreativitäts-De�nition: Hier dient eine originelle und produktive Leistungals Kennzeichen für Hochbegabung.

Diese unterschiedlichen De�nitionen zu Hochbegabung schlieÿen sich gegenseitignicht aus (vgl. Holling und Kanning 1999).

Es werden unterschiedliche De�nitionen verwendet. Zum Teil erfolgt die Zu-schreibung einer Person als hochbegabt sogar nach zwei Kriterien; dem absolu-ten qualitativen Kriterium und dem relativen quantitativen Kriterium. Jedochist es bei der Bestimmung von Hochbegabten häu�g schwierig, ein �qualitativesKriterium� zu �nden. Die Problematik ergibt sich aus der klaren Abgrenzung

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KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 5

zwischen Hochbegabten und Nicht-Hochbegabten. Wesentlich einfacher ist es, diemit einem Intelligenztest gemessene Leistung einer Person mit den Leistungen ih-rer Vergleichsgruppe in Beziehung zu setzen (relatives quantitatives Kriterium).Personen mit den höchsten Messwerten werden als hoch- bzw. höchstbegabt be-zeichnet. Für manche Autoren ist Hochbegabung jedoch identisch mit der intel-lektuellen Fähigkeit. Somit gehen diese nur auf die intellektuelle Hochbegabungein (vgl. Stapf 2006).

3.2 Begabung und Intelligenz

Der Begri� Begabung wird in erster Linie in der Begabungsforschung verwen-det. Mit diesem Begri� werden oft Annahmen über angeborene Merkmale oderVerhaltenstendenzen verknüpft. In der Persönlichkeitsforschung wird anstatt vonBegabung von Fähigkeiten gesprochen, die als Dispositionen erworben sind odergenetisch bedingt sein können. Begabung im Sinne von Fähigkeiten wird hier oftgleichbedeutend mit dem Begri� Intelligenz verwendet. Es ist jedoch der begri�i-chen Klarheit wegen wichtig, Intelligenz und Begabung voneinander abzugrenzen.Der Begri� Intelligenz ist als Fähigkeit zu abstrakt-analytischem Denken festge-legt (vgl. Stern 1920).

Heute unterscheidet die Forschung fünf Fähigkeits- oder Begabungsbereichevoneinander:

• Intellektuelle Fähigkeit (Intelligenz)

• Soziale Fähigkeit (interpersonale Kompetenz)

• Musische Fähigkeit (Musikalität)

• Bildnerisch-darstellende Fähigkeit

• Psychomotorisch-praktische Fähigkeit

Intelligenz wird in dieser Au�istung mit intellektueller Fähigkeit (Intelligenz)gleichgesetzt. Man kann es auch als die �Fähigkeit zu Denken� und �Probleme zulösen� bezeichnen, deren spezi�sche Fähigkeitsdimensionen oder auch Intelligenz-faktoren, wie verbale und mathematische Intelligenz sowie räumlich-abstraktesVorstellungsvermögen am bekanntesten sind. Intelligenzfaktoren wie Einfallsreich-tum, Flexibilität des Denkens oder Wortgewandtheit zeigen, dass kreative Denk-fähigkeiten innerhalb des Konstruktes �Intelligenz� Rechnung getragen wird (vgl.Stapf 2006).

Die Annahme, dass die verschiedenen Fähigkeitsbereiche relativ unabhängigvoneinander sind, bedeutet, dass ein Mensch in einem oder keinem, in mehrerenoder sogar allen Bereichen äuÿerst fähig also hochbegabt sein kann. Gleichzeitig

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KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 6

können die einzelnen Fähigkeitsbereiche sehr unterschiedlich, also über-, unter-oder durchschnittlich ausprägt sein. Beispielweise kann ein Kind musisch und in-tellektuell hochbegabt sein, jedoch andere Fähigkeiten nur durchschnittlich aus-geprägt haben. Meist lassen sich hohe Leistungsausprägungen nur in einem oderzwei Bereichen feststellen. Auÿer der gegebenen Disposition sind noch Erfahrung,intensives Üben oder systematisches Training für die Umsetzung der Fähigkeitenin Leistung erforderlich (vgl. Stapf 2006) I

Ein wichtiges und interessantes Thema für die Psychologie und vor allemfür den Bereich der Persönlichkeitsforschung war in der Vergangenheit und istin der Gegenwart die Intelligenz. Alltagsbeobachtungen und daraus stammendeForschungsergebnisse zeigen die hohe Bedeutung des Konstruktes Intelligenz. DieIntelligenz hat für die Menschheit und ihre Bewältigung der alltäglichen Problemein allen Lebensbereichen einen hohen Stellenwert (vgl. Stapf 2006).

Weltweit gibt es hierzu viele theoretische Konzepte und Forschungsergebnis-se, die kontrovers diskutiert werden. In diesen Diskussionen geht es meist um dieFrage, �ob Intelligenzmodelle, die einen allgemeinen Intelligenzfaktor �g� undverschiedene spezi�sche Faktoren annehmen (vgl. Spearman 1927, Vernon et al.1977), die Struktur der Intelligenz besser abbilden, als Modelle, die viele unab-hängige Intelligenzfaktoren postulieren (vgl. Guilford 1967)�.

Zum Thema allgemeine Intelligenz �ndet man mehrere angewandte De�ni-tionen u.a. die De�nition von Hofstätter. Dieser bestimmt Intelligenz (g-Faktor)als Fähigkeit zur Au�ndung von Ordnung. Instrumente der Intelligenz sind u.a.Lernen, Gedächtnis und Sprache. Diese entsprechen �besonderen Faktoren� derIntelligenz. Faktoren der geistigen Fähigkeiten wie z.Bsp. verbales Verständnis,schlussfolgerndes oder rechnerisches Denken lassen sich in einzelnen Untertestswieder�nden (siehe Abbildung 3.1).

Allgemeine Intelligenz g

Fähigkeit zur Auffindung von Ordnung

<< >>

Wahrnehmung Gedächtnis Lernen Sprache Tradition Wissenchaft

Abbildung 3.1: Allgemeines Bedingungsgefüge für auÿergewöhnliche Leistungen.

Eine andere noch heute verwendete Intelligenzde�nition stammt von WilliamStern (1920): �Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, seinDenken bewuÿt auf neue Forderungen einzustellen, sie ist allgemeine geistige An-passungsfähigkeit an neue Bedingungen des Lebens.� (Stapf 2006, S. 22). Hier

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KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 7

�nden sich sehr wichtige Aspekte für die Bestimmung von intelligentem Verhal-ten. Stern sieht das Denken als Faktor zum Problemlösen bei neuen Anforde-rungen, bezogen auf neue Umwelt- oder Organismusbedingungen. Somit könnenwir feststellen, dass Intelligenz kulturabhängig ist. Ihre Ausprägung hängt u.a.von den an ein Individuum gestellten Anforderungen, die je nach Kulturkreisunterschiedlich sein können, ab.

Die allgemeine Intelligenz erweist sich durchgängig als das beste Kriterium fürdie Unterscheidung zwischen Menschen, die als begabt, durchschnittlich oder zu-rückgeblieben angesehen werden. Intelligenz ist ein stabiles Merkmal, das relativzeitunabhängig ist. Vorschulkindern, denen Intelligenz gemessen wurde, hattenauch noch im Jugendalter ähnliche Intelligenzwerte (vgl. Stapf 2006).

3.3 Intellektuelle Hochbegabung

Unter dem Begri� intellektuelle Hochbegabung wird eine sehr hohe Ausprägungder allgemeinen Intelligenz (g-Faktor) verstanden. Dadurch kann der Hochbegabtegeistige Hochleistungen erbringen. Natürlich sind bei jedem Hochbegabten ver-schiedene spezi�sche Intelligenzfaktoren in unterschiedlichen Ausprägungen vor-handen (vgl. Stapf 2006).

Sternberg entwickelte 1986 ein Hochbegabungsmodell, bei dem sich konkreteAussagen über geistiges Arbeiten ableiten lassen. Das Modell umfasst drei unter-geordnete Theorien. Die erste Theorie bezieht Intelligenz auf die innere Welt desIndividuums. Die zweite Theorie befaÿt sich mit den Erfahrung im Hinblick aufAufgaben und Situationen. Die dritte Theorie beschreibt die externe Welt desIndividuums.

Bei diesen Untersuchungen wurde festgestellt, dass Hochbegabte durchschnitt-lich Begabten in kognitiven Grundprozessen überlegen sind und sich besondersdurch Einsichtsfähigkeit auszeichnen. Hochintelligente Personen gingen bei derAnalyse und Anwendung der Einsichtsprozesse langsamer aber insgesamt e�zi-enter vor, als weniger intelligente Personen. Bei diesen Untersuchungen stellte sichheraus, dass Hochbegabung als besonders wirksame Ausprägung der allgemeinenIntelligenz im Sinne des �geistigen Arbeitens�, des Einsatzes der bei Sternberggenannten Grundprozesse angesehen werden kann. Geistige Leistungen hängennicht nur von kognitiv-intellektuellen Komponenten ab. Sie werden auch durchUmweltbedingungen wie z.Bsp. durch Anforderungen und Anregungen in Familieund Schule stark beein�usst (vgl. Stapf 2006).

3.4 Hochbegabung und Leistung

Die Unterscheidungen zwischen intellektueller Fähigkeit als Disposition, die Leis-tung ermöglicht und der geistigen beobachtbaren Leistung, erscheint zunächst

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KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 8

zweitrangig. Es ist jedoch zu bedenken, dass sich die Begabung eines hochbegab-ten Kindes, in der Praxis, nicht immer in Leistung wiederspiegelt. Leistungenkönnen mal besser und mal schlechter sein. Man kann nicht immer von der Leis-tung auf die Fähigkeiten schlieÿen, denn jede Leistung setzt sich aus Fähigkeitenund Anstrengungen zusammen (siehe Abbildung 3.2) (vgl. Stapf 2006).

Im abgebildetem Modell wird deutlich, dass die dispositionellen intellektu-ellen Fähigkeiten zwar notwendig, aber für das Erbringen von herausragenderLeistung nicht alleine hinreichend sind. Um auÿergewöhnliche Leistungen zu er-zielen, braucht es viele Faktoren. Z.Bsp. die Erfahrungen, die ein Kind in seinerFamilie, im Kindergarten oder in der Schule gemacht hat. Diese Faktoren könnensich hemmend oder förderlich auf Persönlichkeitsentwicklung und Leistungen ei-nes Kindes auswirken. Einen groÿen Ein�uss haben Temperamentsmerkmale aufdie Leistung. Temperamentsmerkmale sind z.Bsp. Motivation, spezielle Sozialisa-tionsbedingungen und biographische Zufälle. Die sogenannten �Zufälle� sind hierganz besonders zu berücksichtigen, denn selbst wenn alle Faktoren berücksich-tigt sind, ist es durch diese Zufälle nicht möglich eine vollständige Vorhersage fürdie Leistungsentwicklung einer Person über einen gröÿeren Zeitraum hinweg zuerstellen (vgl. Stapf 2006).

Vermittelnde

Bedingungen

Dispositionen

(Kompetenz)

Sehr hohe

allgemeine

Intelligenz

Spezifische

kognitive

Fähigkeiten

(verbal,

mathematisch,

räumlich-

abstrakt)

Nicht-

kognitive

Persönlich-

keitsmerk-

male (Tem-

perament

wie Intro-

version,

Persistenz,

Motive)

Umweltbedingungen z.Bsp. in Familie, Kindergarten

Spielgruppe, Schule

Anregungs- und Anforderungsbedingungen

Akzeptanz

Erworbene Motivationen

Zufallsbedingungen

Außergewöhnlich hohe kognitive/intelligente Leistungen

Verhalten/

Leistungen

(Performanz)

Abbildung 3.2: Allgemeines Bedingungsgefüge für auÿergewöhnliche Leistungen.

Page 16: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 9

3.5 Anlage und Umwelt

Seit langer Zeit ist bekannt, dass zur Erklärung von Begabungsunterschieden Erb-ein�üsse mit heranzuziehen sind. Schon Francis Galton (1969) entdeckte unterAnwendung der Stammbaummethode eine hohe Konzentration berühmter Män-ner in bestimmten Familien. Das zeigt unter anderem, dass Intelligenz kein aus-schlieÿlich sozial oder gesellschaftlich konstruiertes Merkmal ist. Sie beruht auchauf genetischen Prozessen.

Seit 1993 gibt es die Behauptung, dass ein �Gen Informationen über Intelli-genz enthalten soll� (vgl. Thompson, Plomin 1993). Jedoch steht hier die For-schung erst am Anfang. Es stellt sich die Frage, in welchem Ausmaÿ und in welcherWeise Gene und Umwelt Ein�uss auf die Intelligenz haben. Jedes Merkmal, dassmit einer hohen Wahrscheinlichkeit vererbt wurde, ist durch Umweltbedingungenbeein�ussbar, also auch veränderbar. Anlage- und Umweltein�üsse hängen engmiteinander zusammen. Sie werden niemals unabhängig von einander wirksam.Die genetische im Genotyp festgeschriebene Information darf als feste Gröÿe ange-sehen werden. Erst durch die Stimulation der Umwelt wird diese jedoch wirksamund kann sich unterschiedlich ausprägen. �Der stärkste Nachweis dafür, dass Geneeine Ähnlichkeit zwischen Menschen bewirken, ist die empirisch ermittelte korre-lative Beziehung2 der Intelligenzwerte bei eineeigen Zwillingen, welche getrenntaufgewachsen sind. In verschiedenen Studien fanden sich hierfür Korrelationen3

von .72 bis .78. Im Vergleich dazu, betrug die entsprechende Korrelation bei ge-trennt aufgewachsenen zweieiigen Zwillingen nur .32. Eine hohe Erblichkeit derIntelligenz ergaben auch Schätzungen bei weit überdurchschnittlichen intelligen-ten Personen (vgl. Thompsen und Plomin 1993)�.

Ebenfalls wurde festgestellt, dass Intelligenzunterschiede mit steigendem Alterstärker auf genetischen Unterschieden beruhen. D.h. die Entstehung von Intelli-genzunterschieden in der Kindheit, ist stärker auf Umweltein�üsse durch Eltern,Erzieher, Lehrer und anderen Bezugspersonen zurückzuführen als im Erwach-senenalter. Beispielsweise erbringt ein überdurchschnittlich intelligentes Klein-kind, das in einer nicht stimulierenden Umwelt aufwächst, im Schulalter nur nochdurchschnittliche Leistungen. Fehlende Stimulationsfaktoren können das Fehlenvon Büchern, die fehlende vorzeitige Auseinandersetzung mit Zahlen und Buch-staben, usw., sein. Den Ein�uÿ von hemmenden Umweltein�üssen zeigen Un-tersuchungsbefunde, die einen Rückgang der Intelligenz bei länger anhaltenderHemmung und dem Fehlen angemessener Förderung wahrscheinlich machen (vgl.Stapf 2006).

2wechselseitige Beziehung3Zusammenhang zwischen statistischen Ergebnissen, die durch Wahrscheinlichkeitsrechnung

ermittelt werden.

Page 17: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 10

3.6 Hochbegabungsmodelle

Die bestehenden Modelle lassen sich in zwei Kategorien einordnen:

• �Hochbegabung als Leistung�: Das Modell betri�t nur die sichtbare, weitüberdurchschnittliche Leistung. �Underachiever� werden nicht als Hochbe-gabte berücksichtigt (siehe Abbildung 3.3).

• �Hochbegabung als Dispositionen�: Hierzu zählen Modelle, die Hochbega-bung als eine Disposition zu hohen intellektuelle Fähigkeiten betrachten.Mit Hochbegabung ist die Anlage gemeint, die mit Intelligenztests messbarist. Bei diesem Modell werden �underachiever� als hochbegabt bezeichnet.Es gibt hier keine Voraussetzung der Erkennung am sichtbaren Verhalten(siehe Abbildung 3.4).

Bis zu Beginn diesen Jahrhunderts war man davon überzeugt, dass Hochbega-bung erblich ist und somit automatisch zu hohen Leistungen führt (Hany undNickel 1992). Nach einer Langzeitstudie von Terman (1925), in der belegt wur-de, dass soziale Faktoren sowie Persönlichkeitsmerkmale groÿen Ein�uss auf dieEntwicklung und somit schlussfolgernd auch auf die Realisierung von Begabunghaben, revidierten einige Forscher, u.a. Terman, ihre Meinung. Heute ist man voneiner Kombination aus Anlage- und Umweltfaktoren überzeugt. Derzeit interes-siert die Frage, in welcher Interaktion sie stehen und wie diese die Entwicklungbeein�usst. Dazu sind im Folgenden einige Modelle aufgeführt (vgl. Holling undKanning 1999).

Anlage

Intelligenz

(Pyschomotorik,

Sensorik...)

+

Umwelt- und

Persönlichkeits-

faktoren=

Hochbegabung

= Sichtbare

Leistung

Abbildung 3.3: �Hochbegabung als Leistung�

3.6.1 3-Ringe-Modell von Renzulli (1979)

1979 entwickelte Renzulli das �3-Ringe-Modell� und wollte damit verdeutlichen,dass Begabung als Schnittmenge dreier Personenmerkmale zu sehen sei. Diese drei

Page 18: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 11

+

Umwelt- und

Persönlichkeits-

faktoren=

Anlage

Intelligenz

(Pyschomotorik,

Sensorik...)

Sichtbare

Leistung

Hochbegabung

Abbildung 3.4: �Hochbegabung als Disposition�

Personenmerkmale sind: überdurchschnittliche Fähigkeit, Kreativität und Auf-gabenverp�ichtung. Die überdurchschnittlichen Fähigkeiten umfassen allgemei-ne kognitive und spezielle Fähigkeiten auf verschiedenen Wissensgebieten. Unterdem Begri� Kreativität versteht Renzulli eine bestimmte Art des Lösungsverhal-tens4 für Aufgaben. Mit Aufgabenverp�ichtung ist die Fähigkeit, sich intensivund über einen längeren Zeitraum einer Aufgabe und ihrer Lösung zuzuwenden,gemeint. Die Aufgabenverp�ichtung beinhaltet eine kognitive, emotionale und diemotivationale Komponente.

Renzulli vertritt die Ansicht, dass eine Person nicht hochbegabt geboren wird,sondern ihr hochbegabtes Verhalten entwickelt. Zu einer Entwicklung kann es nurdann kommen, wenn Verbindung von überdurchschnittlichen allgemeinen oderspezi�schen Fähigkeiten mit hoher Aufgabenorientierung und hoher Kreativitätzustande kommt.

Sein Ziel ist es, mit diesem Modell eine breite Gruppe von potentiell Hoch-begabten zu erreichen und möglichst viele davon für Förderprogramme auszu-wählen. Renzulli vermeidet es grundsätzlich, nur Intelligenztests zur Ermittlungvon Hochbegabung heranzuziehen. Für Renzulli sind alle erwähnten Faktoren vongleicher Wichtigkeit. Besonders wichtig ist für ihn, nicht nur die Schulbegabtenzu identi�zieren, sondern auch die kreativ-produktiv Begabten (siehe Abbildung3.5) (vgl. Holling und Kanning 1999).

Renzullis Modell ist in Forschungskreisen sehr bekannt und gleichermaÿen be-achtet worden. Er musste jedoch auch Kritik erfahren. Gagne kritisierte 1993die Gleichsetzung von Begabung und Leistung sowie die notwendigen Bedingun-gen der Aufgabenverp�ichtung und Kreativität für Begabung. Dieser Kritikpunktist durchaus angebracht, denn gerade das, was für Renzulli selbst von groÿerBedeutung war, nicht nur die Schulbegabten zu identi�zieren sondern auch diekreativ-produktiv Begabten, wird in seinem Modell nicht berücksichtigt. Durch

4originelles, produktives, �exibles, und individuell selbständiges Vorgehen

Page 19: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 12

überdurch-

schnittliche

Fähigkeiten

Aufgaben-

verpflichtung

Kreativität

Begabung

Abbildung 3.5: Drei-Ringe-Modell der Begabung von Renzulli (1979).

die Gleichsetzung von Leistung und Begabung werden gerade die Schüler(innen)ausgeschlossen, die zwar durch einen Intelligenztest als hochbegabt identi�ziertworden sind aber schlechte schulische Leistungen erbringen, die so genannten �un-derachiever�. Laut Renzullis Modell werden diese Kinder nicht als hochbegabtanerkannt, weil sie die notwendige Bedingung der Aufgabenverp�ichtung nichterfüllen. Ebenso werden wenig kreative Personen mit dem 3-Ringe-Modell nichtals hochbegabt identi�ziert. Dabei wird auÿer acht gelassen, dass es durchaushochbegabte Personen gibt, die in einem spezi�schen Fähigkeitsbereichen auÿer-ordentliche Leistungen erbringen aber trotzdem nicht besonders kreativ sind (vgl.Holling und Kanning 1999).

Zusammenfassend läÿt sich sagen, dass die Begabungsde�nition von Renzullidem Alltagsverständnis widerspricht. Dennoch wurde das 3-Ringe-Modell vonmehreren Wissenschaftlern als Grundlage für eigene Modellkonzeptionen genutztund modi�ziert. Einige Beispiel werden im Folgendem genauer beschrieben underläutert.

3.6.2 Komponentenmodell der Talententwicklung vonWiec-zerkowski und Wagner (1985)

Bei diesem Modell (siehe Abbilgung 3.6) wurden die drei Komponenten vonRenzulli genauer di�erenziert und eine Unterscheidung zwischen den Begri�enBegabung und Talent eingeführt. Als Begabung wird Renzullis überdurchschnitt-liche Fähigkeit bezeichnet. Begabung stellt, nach Au�assung der beiden Psycholo-gen, die Voraussetzung zur Entwicklung von Talent dar. Somit können bei diesemmodi�zierten Hochbegabungsmodell auch �underachiever�, die kein Talent ent-wickeln, als hochbegabt bezeichnet werden (vgl. Holling und Kanning 1999).

Als Kritikpunkt kann angemerkt werden, dass Talent im deutschen Sprach-raum mit einer genetischen Disposition assoziiert wird. Doch gerade das wollten

Page 20: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 13

BegabungMotivation

und

UmweltTalent

intellektuelle

Begabung

künstlerische

Begabung

psychomotorische

Begabung

soziale

Begabung

Fleiß

Ausdauer

Ehrgeiz

emotionale

Stabilität

Anerkennung

der Umgebung

optimale

Förderung

Divergentes

Denken

Originalität

Phantasie

Flexibilität

Einfallsfülle

Kreativität

Abbildung 3.6: Komponentenmodell der Talententwicklung von Wieczerkowski& Wagner (1985).

Wieczerkowski und Wagner nicht zum Ausdruck bringen. Deshalb wäre es sinn-voller, den Begri� Leistung statt Talent zu verwenden. Unter anderem habensie die Komponente der Aufgabenverp�ichtung (hier Motivation genannt) umden Begri� der Umweltein�üsse erweitert. Mit Umweltein�üssen sind z.Bsp. dieFörderung oder Anerkennung durch eine Bezugsperson gemeint. Die detaillier-ten Ausdi�erenzierungen der Komponenten können der Abbildung entnommenwerden.

Weitere Modi�zierungen des 3-Ringe-Modells von Renzulli sind z.Bsp. das�Triadisches5 Interdependenzmodell6 der Hochbegabung� von Mönks (1990) unddas �Mehrdimensionale Begabungskonzept� von Urban (1990). Auch Renzul-lis groÿer Kritiker, Gagne hat 1993 ein Modell entwickelt. Das �Di�erenzierteBegabungs- und Talentmodell�, das im nächsten Abschnitt beschrieben wird.

3.6.3 Di�erenziertes Begabungs- und Talentmodell von Ga-gne (1993)

5triadisch <gr.-lat.>: die Triade, betre�end6Interdependenz <lat.-nlat.>: gegenseitige Abhängigkeit

Page 21: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 14

Intrapersonale

Katalysatoren

MotivationInitiative

Interessen

Ausdauer

PersönlichkeitAutonomie

Selbstvertrauen

Selbstwertgefühle etc.

Begabung

spezifisch

Fähigkeitsbereiche

allgemein

{__________________

intellektuell

{__________________

kreativ

{__________________

sozio-affektiv

{__________________

senso-motorisch

{__________________

andere

Lernen

Training

Übung

Bedeutende FaktorenPersonen, Orte,

Interventionen,

Ereignisse, Zufälle

Umwelt-

Katalysatoren

Talent

Gebiete des Talentes

(Beispiel)

- Kunst (visuell/ausdrucksvoll)

- Leichtathletik und Sport

- Geschäfte und Handel

- Kommunikation

- Handwerk

- Bildung

- Gesundheitsdienste

- Wissenschaft

- Transport

Abbildung 3.7: Di�erenziertes Begabungs- und Talentmodell von Gagné (1993).

Wie bereits beschrieben, kritisierte Gagne, dass Renzulli nicht zwischen Bega-bung und auÿergewöhnlicher Leistung di�erenziert. Gagne di�erenziert zwischenBegabung und Talent. Unter Begabung versteht er weitgehend angeborene, nochnicht systematisch entwickelte Fähigkeiten in unterschiedlichen Bereichen. Als Ta-lent bezeichnet er die als systematisch entwickelten Fähigkeiten oder Fertigkeiten,die eine Person zum Experten auf einem bestimmten Gebiet machen. Begabungde�niert Gagne als weit überdurchschnittliche Kompetenz und Talent als weitüberdurchschnittliche auf einem oder mehreren Gebieten. Seiner Meinung nachentsteht ein Talent dadurch, dass Begabungen in einem bestimmten Tätigkeits-feld verwendet werden und hierbei eine systematische Übung erfolgt, so dass diesePerson Kenntnisse und Fertigkeiten auf einem bestimmten Gebiet gewinnt. Alsnotwendig sieht er die Unterstützung durch Motivation oder Selbstvertrauen undUmgebungskatalysatoren z.Bsp. Familie, Freunde und Schule. Seine Modellvor-

Page 22: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 15

stellungen werden in der Abbildung 3.7 veranschaulicht.Gagne sieht Begabung zwar als eine starke genetische Komponente ist aber

von der Stimulation durch Umweltein�üsse im gleichen Masse überzeugt. Krea-tivität wird nur als eine der Begabungskategorien aufgefasst und nicht als Vor-raussetzung für alle Talente gesehen. Eine andere Kategorie ist u.a. die sozio-a�ektive7 Begabung die aus dem Modell von Urban (1990) stammt. Diese um-fasst die emotional-a�ektiven und die sozialen Fähigkeiten. Ein weiterer Fähig-keitsbereich ist die sensomotorische Begabung. Diese Begabung ist sehr vielfältig.Darunter fällt u.a. die Geruchserkennung des Perfumherstellers, die Geschmacks-di�erenzierung des Weinherstellers, usw.. Auf der motorischen Seite umfasst diesensomotorische Begabung u.a. Kraft und Ausdauer. Unter der letzten Kategorie,der anderen Begabungen, werden alle Erweiterungsmöglichkeiten einbezogen, diebisher noch nicht ausreichend untersucht worden sind. Dem Pfeil in der Abbildungist der Schwerpunkt des Modells, der Talententwicklung durch Training, Lernenund Üben, zu entnehmen. Motivation und Umweltvariablen zeigen die internenund externen Ein�üsse auf den Prozess der Talententwicklung. Weitere Kataly-satoren stellen die Persönlichkeitsfaktoren dar. Zu den Persönlichkeitsfaktorenbemerkte Gagne, dass nur ein kleiner Teil der Unterschiede zwischen Hochbe-gabten und durchschnittlich Begabten erklärt werden kann. Gagne unterteilt dieUmweltkatalysatoren in:

1. Bedeutende Personen in der Lebensumwelt des Kindes wie z.Bsp. Eltern,Geschwister, Lehrer und andere bezugspersonen.

2. Physikalische Umwelt, die Ein�uss auf den Zugang zu den Umweltressour-cen hat.

3. Interventionen wie z.Bsp. Förderprogramme oder Begabtenschulen.

4. Bedeutsame Ereignisse, die einen dauerhaften Ein�uss auf Entscheidungenim Leben eines Individuums haben.

5. Glück, womit das Glück des Lebens gemeint ist, die richtige Person mit dementscheidende Ein�uss zu tre�en, die die richtigen Schritte für die Talent-entwicklung vornehmen kann und die hochbegabte Person unterstützendlenken kann.

Unter Talent versteht Gagne eine Vielfalt von auÿergewöhnlichen Leistungenunabhängig vom Bereich. Der Pfeil in der Modellskizze von Abbildung 7 ver-deutlicht, dass Talente durch systematisches und formales Training ausgebildetwerden können.

7(a) gefühls-, a�ektbetont, durch heftige Gefühlsäuÿerungen gekennzeichnet; (b) (Psychol.)auf einen A�ekt (a) bezogen.

Page 23: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 16

Jede einzelne Komponente hat Ein�uss auf alle anderen Komponenten. ZurBeziehung zwischen Begabung und Talent erklärt Gagne, dass jede Begabung zurEntwicklung von vielen verschiedenen Talenten beitragen kann und dass jedesTalent seine zugrunde liegende Fähigkeit aus verschiedenen Begabungsbereichenbeziehen kann. Anders als Renzulli behauptet Gagne, dass es keine einzelne Be-gabung gibt, die eine grundsätzliche Vorraussetzung für jedes Talent darstellt.Eine talentierte Person ist immer begabt, jedoch ist nicht jede begabte Persontalentiert, wie es im Fall der �underachiever� vorkommt (Holling und Kanning1999).

Gagnes Modell enthält wichtige Implikationen für die Förderung von Hochbe-gabten. Gagne betrachtet die Hochbegabungsde�nition und die Hochbegabungs-diagnostik nicht als einseitig auf die kognitiven Fähigkeiten bezogen. Diese Be-trachtungsweise stellt einen Fortschritt für die Forschung dar aber es macht auchden Terminus Hochbegabung noch komplexer. Es fallen sowohl Dispositionen zukognitiven als auch zu handwerklichen oder musikalischen Leistungen darunter.Da bis heute Kreativität oder Musikalität nicht zufrieden stellend diagnostizieretwerden können, konnte bislang auch keine empirische Überprüfung der Mehrdi-mensionalität von Hochbegabung erfolgen.

3.6.4 Zusammenfassung und Fazit

Auf den vorangegangenen Seiten wurden einige Modelle für Hochbegabung vor-gestellt, die am häu�gsten in der Literatur zu �nden sind. Diese sind wichtigeSchritte in der Forschungsgeschichte.

Das erste Modell von Renzulli, dass weite Verbreitung gefunden hat, war fürdie Forschungsgeschichte von groÿer Bedeutung. Renzulli ist von der reinen Intel-ligenzde�nition der Hochbegabung von Terman (1925) abgerückt und konzentrier-te sich auf die Persönlichkeitsmerkmale, die er als notwendige Bedingung nebenden überdurchschnittlichen Fähigkeiten zur Entstehung von Hochbegabung de�-nierte. Weitere Psychologen haben Renzullis Modell um die Umweltfaktoren, diedie menschliche Entwicklung und somit auch Begabungsentwicklung beein�ussen,erweitert (vgl. Holling und Kanning 1999).

Ein weiterer Fortschritt ist den bereits vorgestellten Modellen zu entnehmen.Das erste Modell versteht unter Begabung in erster Linie intellektuelle Begabung.In den weiter entwickelten Modellen wie z.Bsp. im Modell von Gagne (14 Jahrespäter) wird der Begabungsbegri� bereits auf weitere Leistungsbereiche ausge-dehnt. Aus allen den vorgestellten Modellen können wir folgendes Fazit ziehen:

1. Vorraussetzung für Hochbegabung sind angeborene Leistungsdispositionen.

2. Damit sich die Dispositionen in Leistung manifestieren können, bedarf esder richtigen Motivation und Ausdauer der Person sowie die angemesseneFörderung durch die Umwelt.

Page 24: Dorotheas Thesis

KAPITEL 3. WAS HEIßT HOCHBEGABT? 17

3. Wenn es um die Diagnostik geht, stellt sich noch immer die Frage, ob einIntelligenztest ausreichend ist, um Hochbegabung festzustellen oder ob nochweitere Diagnostikverfahren eingesetzt werden müssen.

4. Eine angemessene Förderung ist von groÿer Wichtigkeit. Darin stimmen alleForscher überein. Einerseits um Begabung entstehen zu lassen und ande-rerseits um vorhandene Hochbegabung zu entwickeln.

Page 25: Dorotheas Thesis

Kapitel 4

Hochbegabte Kinder und

Jugendliche

Neben der Intelligenz sind, für das Meistern von Lebensaufgaben eine ganze Reiheweiterer Persöhnlichkeitsfaktoren, nötig. Hochbegabte werden oft mit Neid undMiÿgunst, Bewunderung und Verehrung konfrontiert. Mit diesen Lebensbedin-gungen kommen einige besser und andere gar nicht zurecht. Einige können durchihre Persönlichkeitseigenart, förderliche anregende Bedingungen aufnehmen undhemmende Bedingungen und Hindernisse überwinden (vgl. Stapf 2006).

Bei gleichem Intelligenzgrad zeigen verschiedene Hochbegabte mit unterschied-lichem Temperament und anderen Merkmalen verschiedene Verhaltensweisen.Persönlichkeit ist in der psychologischen Forschung ein sehr komplexes Phäno-men. Die Mehrzahl der Forscher geht davon aus, dass individuelle Besonderhei-ten des Menschen durch bestimmte Eigenschaften zu erklären sind. Somit verstehtman unter Persönlichkeit die organisierte Gesamtheit dieser Eigenschaften (vgl.Asendorpf 1999). Asendorpf unterteilt Persönlichkeit in folgende Persönlichkeits-bereiche:

• Gestalt (Konstitution, physische Attraktivität)

• Fähigkeiten (Intelligenz, soziale Kompetenz)

• Handlungseigenschaften (Bedürfnisse, Motive, Interessen)

• Temperament (Emotionen, Introversion, Ängstlichkeit)

• Selbstbezogene Dispositionen (Selbstkonzept, Selbstwertgefühl)

18

Page 26: Dorotheas Thesis

KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 19

4.1 Die Persönlichkeit von Hochbegabten

4.1.1 Körperliche Merkmale

Zu Beginn der Forschung über Hochbegabte existierte das Vorurteil, hochbegabteseien vom körperlichen Zustand schwächlich und kränkliche, so genannte Stuben-hocker. Terman belegte, dass hochbegabte Kinder eine früher einsetzende körper-liche Entwicklung und eine bessere physische Gesundheit haben. Bei Termans Tes-tergebnissen ist zu beachten, dass die Kinder seiner Testgruppen zu einem groÿenAnteil aus Akademikerfamilien stammten, bei denen der sozio-ökonomische Sta-tus hoch war. Da ein Zusammenhang zwischen körperlicher Gesundheit und sozio-ökonomischen Status besteht (früher noch mehr als heute) ist es denkbar, dassalle Kinder solcher Abstammung, egal wie intelligent, eine gute Gesundheit haben(vgl. Stapf 2006).

Heute liegen jedoch auch Testergebnisse, über einen Zusammenhang zwischenIntelligenz und körperlicher Gesundheit vor. Intelligentere Personen werden meistälter, sie sind körperbewuÿter, ernähren sich gesünder und nehmen regelmäÿig anVorsorgeuntersuchungen teil. Sicher können wir sagen, dass Hochbegabte nichtschöner als andere Menschen sind. Auch diese Feststellung wurde mit empiri-schen Untersuchungen belegt. Es wurde die physische Attraktivität hochbegab-ter Kinder im Vergleich zu durchschnittlich begabten Kindern untersucht. Das�Marburger Hochbegabtenprojekt�( vgl. Rost 1993) fand hierbei keine signi�-kanten Unterschiede.

4.1.2 Denkweisen

Wie schon im vorherigen Kapitel beschrieben, verfügen Hochbegabte über dieFähigkeit, intellektuelle Hochleistung zu erbringen. Es wäre interessant, zu ana-lysieren ob sich bestimmte Komponenten geistigen Arbeitens Hochbegabter in be-sonderer Weise von denen anderer Menschen unterscheiden. Von Untersuchungendes kindlichen Denkens erho�t man sich Aufschluÿ darüber, ob sich das DenkenHochbegabter anders entwickelt als das durchschnittlich Begabter.

Waldmann und Weinert haben 1990 zu diesen Fragen einige Antworten gefun-den. Hier einige Aussagen über unterschiedliche Denkprozesse bei hochbegabtenund durchschnittlich begabten Kindern:

• Hochbegabte Kinder erweisen sich hinsichtlich des Erwerbs von Wissen, derKapazität des Arbeitsgedächtnisses, der E�ektivität ihrer Strategien sowiedes Erkennens abstrakter Relationen als überlegen.

• Bei einfachen Prozessen des Wissensabrufs gibt es keine Unterschiede imHochbegabtenbereich.

Page 27: Dorotheas Thesis

KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 20

• Komplexe Denkaufgaben zeigen die interindividuellen Unterschiede besserauf. Bei einfachen Denkaufgaben sind keine Unterschiede zwischen hochbe-gabten und durchschnittlich begabten Kindern zu erkennen. Erst bei zu-nehmender Aufgabenschwierigkeit treten deutliche Unterschiede hervor.

• Studien bei Erwachsenen lassen im räumlich-bildhaften Denken qualitativeund quantitative Unterschiede zwischen Hochbegabten und durchschnittlichBegabten erkennen. Auch bei hochbegabten Kindern scheinen die bildhaftenRepräsentationen e�zienter abzulaufen.

Es bestägtigte sich in vielen Studien, dass Hochbegabte Erinnerungsstrategienmit Gewinn einsetzen. Sie verwenden Denkstrategien, um Beziehungen zwischenAufgaben zu bilden. Sie übertragen trainierte Strategien besser auf neue Aufga-benklassen, verstehen Strategien schneller, verwenden kompliziertere Regeln undbesitzen eine gröÿere Anzahl von Gedächtnisstrategien. Sie lernen neue Regelnschneller und entwickeln selbständig die nötige Einsicht bei einem neuen intellek-tuellen Problem (vgl. Heilmann 1999). Hochbegabte unterscheiden sich nicht inder Geschwindigkeit bei der Bearbeitung von Informationen oder Aufgaben vondurchschnittlich begabten sondern in der Qualität, die durch die geringere Feh-leranzahl gekennzeichnet ist. Aufgrund der Automatisierung haben Hochbegabteeinen schnellen Zugang zu relevantem Wissen. Dadurch werden mehr Konzen-trationsreserven für andere Aufgaben frei (Sternberg 1986). Somit können wirannehmen, dass Hochbegabte bessere Problemlösungsfähigkeiten und auch bes-sere Problem�ndungsfähigkeiten als durchschnittlich Begabte besitzen.

Bislang ungeklärt sind die Fragen über die qualitativen Unterschiede d.h. übereine fraglich andere Art des Denkens bei Hochbegabten. Die einzigen brauchbarenund bisher nicht widerlegten Befunde der Kognitionsforschung bei hochkomplexenAufgaben deuten darauf hin, dass die Kombination der verschiedensten basalenProzesse auf verschiedenen Ebenen der kognitiven Architektur, in die Nähe eineranderen Qualität des Denkens kommt (vgl. Amelang und Bartussek 1985). Hoch-begabte Kinder in unterschiedlichem Alter wurden zur Bearbeitung einer Aufgabemit dem Ziel eine Lösung zu erhalten, befragt. Vier- bis fünf-jährige Hochbegabteantworteten: �Das ist so in meinem Kopf oder das kommt aus meinem Bauch�.Etwas ältere Kinder zwischen 12 und 15 Jahren beschrieben verschiedene Stra-tegien, vor allem aber die Verwendung von bildhaften Vorstellungen. Auch hier�el auf, dass hochbegabte Kinder bei der Findung einer Lösung oft zögerten undviel Zeit benötigten. Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass Hochbegabteauch bei einfach erscheinenden Fragen gründlicher, intensiver und tiefgehenderals andere Menschen vorgehen.

Das Visualisieren von Problemstellungen ist von vielen herausragenden Den-kern in verschiedenen Bereichen wie Physik, Mathematik und anderen Natur-wissenschaften sowie in den Geisteswissenschaften bekannt. Auch schon Einstein

Page 28: Dorotheas Thesis

KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 21

benutzte das Visualisieren von Problemen, um Lösungen zu �nden. Manche Hoch-begabte berichten, dass das Visualisieren ab einem bestimmten Abstraktionsgradunerläÿlich sei um Probleme zu lösen.

4.1.3 Soziale Kompetenz

Soziale Kompetenz bedeutet ein gutes Zurechtkommen mit anderen Menschen;ein gutes miteinander Umgehen. Das fördert nicht nur die Zufriedenheit und dasWohlgefühl der Umwelt sondern auch das eigene Wohlbe�nden und Selbstwertge-fühl. Oft stellt man bei hochbegabten Kindern einen Mangel dieser Fähigkeitenfest. Vorschulkindern, die bereits sehr früh über eine geistige Reife verfügen, wirdimmer wieder von einer vorgezogenen Einschulung aufgrund mangelnder sozialerReife abgeraten. In diesem Fall ist es wichtig, zwischen sozialem Verhalten (Per-fomanz) und sozialen Fähigkeiten (Kompetenz) zu unterscheiden. Soziale Kom-petenz, auch soziale Intelligenz genannt, wird in zwei Komponenten eingeteilt. Indie Durchsetzungsfähigkeit; das ist die Fähigkeit, die eigenen Interessen zu ver-treten und in die Beziehungsfähigkeit; das ist die Fähigkeit, gute Beziehungen zuanderen Mitmenschen zu haben. Um sozial kompetent zu sein, muss man überbeide Fähigkeiten verfügen. Zwischen sozialer Kompetenz und Intelligenz bestehtein enges Verhältnis. Durch bestimmte intellektuelle Fähigkeiten werden sozialeKon�ikte beein�uÿt. Anders als bei der Intelligenz kann von der sozialen Kom-petenz ungenau auf zukünftige soziale Verhaltensweisen geschlossen werden, dadiese u.a. stark von den sozialen Partnern abhängen. Somit können wir anneh-men, dass Hochbegabte über eine höhere soziale Kompetenz verfügen. Doch istes ebenfalls zu beachten, dass andere Charaktereigenschaften dieses sozial kom-petente Verhalten in bestimmten Situationen verhindern (vgl. Stapf 2006).

Erzieherinnen stellten bei hochbegabten Vorschulkindern ein höheres sozialkompetentes Verhalten fest. Sie beobachteten, dass Hochbegabte Kon�ikte häu-�ger verbal lösten, allerdings auch viel lieber allein spielten (vgl. Stapf und Lang2001). Hochbegabte Vorschul- und Schulkinder sind anderen Kindern im Bereichder sozialen Kognition überlegen. Soziale Kognition meint hier das Lösen sozialerProbleme, die soziale Perspektivübernahme und das Wissen der sozialen Struktu-ren in ihrer Gruppe. Hochbegabte Kinder unterbreiten oft Vorschläge, wie Kon-�ikte kooperativ in der Gruppe gelöst werden können. Sie haben ein sehr hohesmoralisches Urteilsvermögen und geben oft moralische Begründungen an. Mitdem moralischen Verhalten hängt auch ihr Gerechtigkeitsemp�nden zusammen.Sie lassen sich weniger durch Gruppenzwang beein�ussen. Ihr moralisches Ur-teilsvermögen und Gerechtigkeitsemp�nden sind stärker. Deshalb sind es oft diehochbegabten Kinder, die sich gegen die Masse für schwächere und unterdrückteMitschüler(innen) einsetzen. In entsprechenden empirischen Untersuchungen wirdvon Lehrern und Erzieherinnen bestätigt, dass Hochbegabte sozial und emotionalreifer als andere Kinder gleichen Alters sind.

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KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 22

Die sozialen Fähigkeiten eines Kindes, d.h. die Fähigkeit gute Beziehungen zuseinen Mitmenschen aufzubauen, hängen stark von seiner Umwelt ab. Bei Ableh-nung durch Erwachsene, vorallem durch die Eltern, ist es durchaus möglich, dasssie aggressive und feindselige Verhaltensweisen übernehmen. Dieses Verhalten istvollkommen unabhängig von ihrer jeweiligen Begabung. Es ist abhängig von derErziehung des Kindes und den Erfahrungen mit dessen Mitmenschen.

4.1.4 Bedürfnisse und Motive

Bedürfnisse, Motive und Interessen sind die Antriebe für das jeweilige Handelneines Kindes. Im ersten Moment erscheint es so, als ob die Grundbedürfnisse allerKinder gleich wären. Alle Kinder haben das Bedürfnis nach Sicherheit, sozialerBindung und Selbstachtung. Alle Kinder wollen anerkannt, geschätzt und geliebtwerden. Sie benötigen Unterstützung und Zuwendung, angemessene Anforderun-gen und Aufgaben, deren Bewältigung ihnen Freude bereitet, ihnen Erfolg undeinen Platz in ihrer Gruppe sichert (vgl. Webb 1993). Bei hochbegabten Kindernist das Bedürfnis nach geistiger Stimulation und nach Anforderungen besondersgroÿ. Sie stellen nicht nur an sich selbst hohe Anforderungen sondern auch anihre Mitmenschen. Vor allem in ihren Begabungsbereichen haben sie eine Ten-denz zum Perfektionismus. Die hohen Anforderungen an die Mitmenschen, bzw.das Fordern von hohen Leistungen von ihrer Familie wir oft als Arroganz oderIntoleranz miÿverstanden. So sollte es jedoch nicht sein. Die Familienmitgliedereines hochbegabten Kindes sollten verstehen, dass das Kind zwar die Disposi-tionen, also auch die Begabung, für einen bestimmten Bereich von Geburt anbesitzt, aber die Entwicklung dieser Dispositionen durch Umweltein�üsse starkbeein�uÿbar ist (positiv wie negativ). Diese Tatsache sollten Lehrer, Eltern undBezugspersonen bei jedem pädagogischen Handeln beachten (vgl. Stapf 2006).

Ein lebensnotwendiger Antrieb, den alle Kinder besitzen, ist die Neugierde. Siewird von Psychologen auch als Erkenntnisdrang beschrieben. Die Art und Weise,wie hochbegabte Kinder ihren Erkenntnisdrang ausleben, unterscheidet sich vonder Neugierde durchschnittlich begabter Kinder. Es ist die Art, wie hochbegabteKinder Fragen stellen, wie lange und tief sie fragen und wonach sie fragen, diefür geschulte Beobachter au�ällig ist. Aus den Fragen und Schluÿfolgerungen, dieein hochbegabtes Kind aus einer Geschichte zieht, lassen sich nicht nur intellek-tuelle Fähigkeiten ableiten, sondern auch das Bedürfnis nach geistiger Anregung.Bei Untersuchungen gaben überdurchschnittlich begabte Jugendliche an, dass siegerne lesen oder denken. Als Motiv nannten sie, dass es ihnen Spaÿ mache. Sieberichteten alle, dass sie während der Arbeit in ihrem speziellen Begabungsbe-reich sehr konzentriert seien. Während ihrer Aktivitäten schilderten sie Gefühle,die als ��ow� (Fluÿ-Erlebnis) bezeichnet werden. �Flow� meint die Emp�ndungeines Glückszustandes, in dem man höchst konzentriert ist und die Welt um sichherum vergiÿt. Hochbegabte führen Arbeiten mit höchstem Einsatz, mit Anstren-

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gung, Energie und Ausdauer aus. Dabei schreiben sie, früher als andere Kinder,Erfolge ihren eigenen Fähigkeiten und Anstrengungen zu. Fehler aktzeptieren siebei sich nicht, was zu heftigen Wutausbrüchen führen kann (vgl. Stapf 2006).

Motivationale Merkmale sind für das Erbringen von Leistung (Performanz)und den beru�ichen Erfolg ausschlaggebend. Zum Problemlösen werden Moti-vation und Fähigkeiten benötigt. Hochbegabte erfolgreiche Erwachsene zeichnensich im Vergleich zu durchschnittlich begabten Erwachsenen durch einen wesent-lich stärkeren Antrieb zum Inangri�nehmen und Lösen von Problemen aus, fernerdurch ungewöhnliche, divergente Lösungsansätze, durch Initiative, Ein�uÿstrebenund Führungserfolg sowie durch Konzentration und Beharrlichkeit. Diese Eigen-schaften bzw. Merkmale machen sich schon im Kindesalter deutlich bemerkbar(vgl. Trost und Sieglen 1992). Natürlich lassen sich diese Merkmale nicht auf alleintellektuell Hochbegabten übertragen.

Bei einer Untersuchung von 271 Grund-, Real-, und Gymnasialschülern wie-sen die hochintelligenten Realschüler(innen) eine niedrigere Leistungsmotivationauf als durchschnittlich intelligente Schüler(innen). Ein Grund dafür war, dassdie Schüler(innen), die mit einer hohen Intelligenz nach der Grundschule auf dieRealschule gewechselt waren, niedrigen geistigen Anforderungen ausgesetzt wa-ren. Deren Leistungsmotivation sank ab. Ebenfalls wurde bei diesen Schülern eingroÿer Zusammenhang zwischen Leistungsmotivation und Schulnoten festgestellt.Schüler(innen) mit einer niedrigen Leistungsmotivation hatten oftmals schlechteNoten, trotz hoher Intelligenz. Das zeigte wiederum, dass Intelligenz von Moti-vation zu trennen ist, denn die Schulnoten bzw. die gezeigten Leistungen sag-ten nicht bedingt etwas über die Intelligenz der Schüler(innen) aus. Andererseitswirkt sich die Motivation ganz stark auf die Beziehung zwischen Begabung und(Schul)-Leistungen aus (vgl. Stapf 2006).

Es gibt auch hochbegabte Schüler(innen) mit schlechten Schulleistungen. DieSchüler(innen) sind zwar auf ihrem Fachgebiet hochmotiviert und anstrengungs-bereit, aber wenn es um schulische Aufgaben geht sehr bequeme und unmotivierteHochbegabte. Diese Schüler(innen) bearbeiten eine Aufgabe mit dem minimals-ten Aufwand und den minimalsten Anstrengungen, um bestimmte, notwendigeZiele zu erreichen. Dabei wird alles genaustens kalkuliert, um das Verfehlen desZieles zu vermeiden.Bei dem dritten Fall von hochbegabten Schülern handelt es sich um Schüler(innen),die ihrer Hochbegabung entsprechend, eine angemessene Leistung aufweisen. Die-se (innen) haben ein positives Selbstwertkozept. Sie haben ein gutes Urteilsvermö-gen bezüglich ihrer akademisch-intellektuellen Leistungsfähigkeit. Sie können ihreeigene Leistungsfähigkeit realistisch einschätzen. Wichtig ist es, bei der Zusam-menarbeit mit Hochbegabten zu Wissen, dass auch begabte Schüler(innen) Lob,Ermutigung und Unterstützung durch ihre Umwelt, durch Lehrer und Eltern,aber auch die Anerkennung von Gleichaltrigen z.Bsp. Freunden oder Klassenka-meraden brauchen (vgl. Stapf 2006).

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4.1.5 Interessen

Interesse gilt als ein erworbenes gelerntes Motiv des Handelns. Interessen ent-wickeln sich parallel zur geistigen Entwicklung in Abhängigkeit von Alter, Ge-schlecht und sozio-ökonomischem Status der Familie. Um die Interessen von Vor-schulkindern zu erfassen, wurde eine Eltern-Umfrage durchgeführt. Bei der Aus-wertung der Ergebnisse zeigten sich erste Unterschiede zwischen hochbegabtenund durchschnittlich begabten Kindern. Hochbegabte Kinder zwischen drei undfünf Jahren interessierten sich sehr viel früher als durchschnittlich begabte Kinderfür Buchstaben, Texte, Zahlen, Rechenaufgaben und Bücher. Selbstverständlichvarieren die Interessen der hochbegabten Kinder je nach Begabungsbereich, dochim Allgemeinem wurde bei hochbegabten Kindern ein stark ausgeprägtes Inter-esse für das Lesen festgestellt. Das, was gelesen wird, ist ganz unterschiedlich.Manche Kinder lesen liebend gern Geschichten und Romane andere nur Sachbü-cher. Unabhängig von den individuellen Präferenzen zeigte sich, dass Hochbegabteanspruchsvolle Literatur, die für Erwachsene geschrieben wurde, deutlich früherlesen als ihre Mitschüler(innen) (vgl. Terman 1926).

Man entdeckte bei hochbegabten Vorschulkindern bereits ein Interesse fürLyrik. Viele Hochbegabte lesen vor der Einschulung �ieÿend und sinnverstehendfremde Texte. Doch läÿt sich aus der Fähigkeit, früh das Lesen zu beherrschen,nicht sofort auf Hochbegabung schlieÿen. Es gibt durchaus durchschnittlich be-gabte Kinder, meist Mädchen, die früh über eine gute verbale Intelligenz undLesefähigkeiten verfügen.

Das Verlangen nach geistiger Anregung erscheint Auÿenstehenden oft als be-sonders. Au�ällig ist, dass die Aufgaben dem hohen Intellekt der Kinder ent-sprechend anspruchsvoll sind. Ebenfalls au�allend ist das Interesse für abstrak-te Symbole. Hochbegabte Kinder beschäftigen sich intensiv damit, Gegenständeund Ereignisse ihrer Umwelt in Zeit und Raum zu ordnen und zu strukturieren.Sie beobachten, sammeln und kategorisieren. Hochbegabte Kinder lieben Rätselund Denksportaufgaben, Gesellschaftsspiele, Karten- und Brettspiele sowie z.Bsp.Schach, das eigentlich erst Jugendliche oder Erwachsene beherrschen. Sport stehtin der Rangfolge der genannten Interessen ganz unten (vgl. Stapf 2006).

Weiter interessieren sich hochbegabte Kleinkinder bzw. Vorschulkinder häu�gfür alle möglichen elektrischen Geräte. Sie spielen seltener mit typischem Kinder-spielzeug sondern bevorzugen alles, womit sich Erwachsene beschäftigen.

Auch Interessen von Hochbegabten lassen sich natürlich nicht verallgemeinern.Hochbegabte sind sehr unterschiedlich in ihren Persönlichkeits- und Intelligenz-pro�len und somit auch sehr unterschiedlich in ihren Interessen. Doch manche dergenannten Grundmerkmale von hochbegabten Kinder tauchten in allen Studienauf. Was auf viele Kinder zutri�t, ist dass sie physische Wettkämpfe und Ausein-andersetzungen nicht mögen und diese auch nur schwer verarbeiten können. Dasbedeutet allerdings nicht, dass Hochbegabte unsportlich sind. Besonders beliebte

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Sportarten bei hochbegabten Kindern sind Schwimmen, Skifahren und Fechten.In diesen Sportarten besitzen manche von ihnen hohe Fähigkeiten und erbrin-gen sehr gute sportliche Leistungen. Fussball wäre wegen der vielen Regeln undStrategiemöglichkeiten in der Theorie zwar sehr interessant. Doch die körperli-che Auseinandersetzung und der Kampf um den Ball ist etwas, was hochbegabteKinder lieber vermeiden. Stattdessen bevorzugen sie die Rolle des Schiedsrichters(vgl. Stapf 2006).

Nicht zuletzt spielt bei der Interessensentwicklung das Geschlecht eine ent-scheidende Rolle, es ist sogar wichtiger als die Intelligenz. Zwischen den Bega-bungsgruppen konnte man keine Unterschiede feststellen auch nicht in der Interes-sensvielfalt. Die gröÿten Unterschiede konnte man bei der Interessensentwicklungzwischen Jungen und Mädchen erkennen.

4.1.6 Temperament

Bei diesem Thema gibt es in den Studien gegensätzliche Ergebnisse und Meinun-gen.

Erster Standpunkt:Vertreter der Annahme eines hohen Verwundbarkeitsrisikos bei Hochbegabten

gehen davon aus, dass alle Hochbegabten Schwierigkeiten und Probleme erleben,d.h. deutlich stärker psychisch verletzbar sind als andere Kinder.

Zweiter Standpunkt:Vertreter der Unverwunderbarkeitsthese schreiben Hochbegabten eine höhe-

re psychische Stabilität und gröÿere seelische Gesundheit bei einem geringerenAusmaÿ an Störungen und Verhaltensau�älligkeiten zu.

In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass es kaum oder nur sehr geringeUnterschiede im Bereich des Temperaments zwischen Hochbegabten und Nicht-Hochbegabten gibt.

Mit Temperament wird der Bereich der Persönlichkeit bezeichnet, der im Sin-ne eines �Verhaltensstils�, das �Wie� oder auch die �Farbe� des Verhaltens be-stimmt (vgl. Thomas und Chess 1980). Temperament, das als vererbte und an-geborene Verhaltensdisposition angesehen wird, unterliegt ähnlich wie bei derBegabung Umweltein�üssen, insbesondere dem elterlichen Vorbild und der Sozia-lisation.

Thomas und Chess unterscheiden neun verschiedene Temperamentsdimensio-nen: Aktivität, Rhythmizität, Annäherung/ Rückzug, Anpassungsvermögen, sen-sorische Reizschwelle, Stimmungslage, Intensität, Ablenkbarkeit und Ausdauer.

Bei drei- bis zwölfjährigen Kindern wurden in den Bereichen Aufmerksamkeit,Annäherung/ Vermeidung sowie Anpassung, am ehesten positive Zusammenhän-ge mit Intelligenz gefunden. Klügere Kinder waren aufmerksamer, bei den Auf-gaben beharrender. Sie sind anpassungsfähiger, wenn die Umwelt dies von ihnenerfordert (vgl. Matheny 1989). Impulsivität dagegen weist einen negativen Zu-

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sammenhang mit Schulleistungen und Intelligenz auf. Impulsive Kinder habenschlechtere Noten und niedrigere Intelligenztestwerte. Ebenfalls stehen motorischeAktivitäten negativ in Beziehung zur Intelligenz. Diese Untersuchungsergebnis-se erklären, warum intelligente Kinder weniger körperlich aktiv sind (vgl. Brody1992). Dagegen sind emotionale Gestimmtheit und Intelligenz völlig unabhängigvoneinander.

Beobachtungen hochbegabter Kinder lassen eine besondere Sensitivität undEmp�ndsamkeit erkennen. Allerdings beruhen diese Beobachtungen auf Fallbei-spielen. Selbsteinschätzungen von älteren Kindern und Jugendlichen ergeben einegeringer ausgeprägte Ängstlichkeit bei Hochbegabten.

4.1.7 Introversion und Extraversion

Als introvertiert werden Personen bezeichnet, die ein geringes Bedürfnis nachKontakten zur Auÿenwelt haben, dabei weniger Stimulation von auÿen benötigenund eine stärkere Ichbezogenheit aufweisen. Extravertiert werden solche Men-schen genannt, die der sozialen Umwelt gegenüber sehr aufgeschlossen sind unddort Kontakte suchen (vgl. Stapf 2006).

Hochbegabte werden meist als introvertiert bezeichnet. Jedoch darf man auchhier, wie so oft, nicht verallgemeinern. Man kann von einer Fallstudie nicht aufalle Kinder schlieÿen und auch nicht von einer beobachteten Situation auf dasgesamte Verhalten einer hochbegabten Person. Die Aussage: �Alle Hochbegabtenmögen das Alleinsein� wäre falsch. Dennoch zeigten viele Beobachtungen ein grö-ÿeres Bedürfnis nach dem Rückzug. Dieses Bedürfnis läÿt sich mit dem reichenInnenleben von intelligenten Kindern erklären. Hochbegabte nutzen nicht nur dieAuÿenwelt sondern auch die eigene Innenwelt, um Wissen zu gewinnen. Hochbe-gabte beobachten genau, analysieren scharfsinnig, strukturieren und vergleichen.Weil sie damit viel Zeit verbringen, kann es durchaus sein, dass sie sich des öfterenaus der Auÿenwelt in ihr Innenleben zurückziehen (vgl. Stapf 2006).

4.1.8 Zusammenfassung

Nach all den Aussagen, die über die Persönlichkeit von Hochbegabten gemachtwurden und durch Studien und Untersuchungen mit ihren Ergebnissen belegtwurden, können wir eines ganz klar feststellen: �Eine hochbegabte Persöhnlichkeitgibt es nicht�. Genauso selbstverständlich können wir auch behaupten, dass eseindeutige Unterschiede gibt die mit den herausragenden geistigen MöglichkeitenHochbegabter zusammenhängen.

Psychologische Untersuchungen haben zum Glück dazu beigetragen, dass ver-alterte Vorurteile, wie z.Bsp. �Hochbegabte wären verrückt� durch neue Ergeb-nisse, widerlegt wurden. Viele Untersuchungen bewiesen, dass hochbegabte Kin-der ganz normale Kinder sind, die sich in vielen Eigenschaften und Merkmalen

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nicht von anderen Kindern unterscheiden sowie z.Bsp. in ihrer psychosozialenAnpassung oder ihrer physischen Atraktivität. Manchmal halfen auch psycholo-gische Untersuchungen nicht, um eine eindeutige Aussage zu tre�en, wie z.Bsp.die Frage nach den Emotionen von hochbegabten Kindern.

Das Einzige wirklich sichere Merkmal bei Hochbegabten ist die höhere Intelli-genz, durch die sich intellektuell Hochbegabte von anderen Menschen unterschei-den.

4.2 Hochbegabte in der Familie

Die Familie ist eine soziale Gemeinschaft in der alle Mitglieder im Normalfall bio-logisch miteinander verwandt sind. Sie weisen einen unterschiedlichen Entwick-lungsstand auf, der mit bestimmten Rechten und P�ichten verbunden ist. Elternund Kinder können sich gegenseitig nicht wählen und müssen zumindest einigeJahre miteinander leben und bis zu einem gewissen Punkt auch als Gemeinschaftfunktionieren. In der psychologischen Sozialisationsforschung wird die Familie alsein komplexes System, sich wechselseitig beein�uÿender Interaktionspartner be-schrieben, das aus verschiedenen Teilsystemen besteht. Nicht auÿer acht zu lassenist, dass die Familie als wichtigste Instanz für die Persöhnlichkeitsentwicklungdes Kindes und die Ausbildung der späteren Persönlichkeit des Erwachsenen an-gesehen wird. Diese Tatsache folgt daraus, dass die Beziehung zwischen Elternund Kind in vielen Fällen die intensivste und längste Beziehung im Leben einesMenschen ist. Jedoch weiÿ man auch seit einigen Jahren, dass Beziehungen zugleichaltrigen Personen, auÿerhalb der Familie stehenden Personen einen ebensogroÿen Ein�uÿ bei bestimmten Altersgruppen sogar einen gröÿeren Ein�uÿ alsdie Familie auf die Persönlichkeitsentwicklung haben können (vgl. Stapf 2004).

Wie gerade erwähnt, ist es altersabhängig, welche Personen den jeweils gröÿtenEin�uÿ auf die aktuelle Entwicklung einer Person haben. Bis ins Schulalter hängtes insbesondere von den Eltern ab, ob ein Kind die Verhaltensweisen, Regeln undNormen, die es für die Lebensbewältigung benötigt, erwerben kann. Dazu brauchtein Kind vor allem eine strukturierte, liebende und fördernde Umwelt. Emotionenwie Sicherheit und Vertrauen, die Entwicklung kognitiver und sozialer Kompe-tenzen sowie Motivation werden zum gröÿten Teil durch die Erfahrungen, die einKind im Elternhaus macht, bestimmt. Die Komplexität des Ein�usses der Elternauf den gesamten Lebensablauf eines Kindes ist enorm. Eltern legen Eÿ- undSchlafgewohnheiten eines Kindes fest. Eltern bestimmen wann, wo und womitein Kind spielen darf. Eltern bestimmen die sozialen Kontakte des Kindes, d.h.mit wem das Kind Umgang haben darf. Eltern sind auch die jenigen, die einemKind durch Lob beibringen, was gut und richtig ist und durch Strafe und Tadelwelches Verhalten falsch und schlecht ist. Eltern sind diejenigen, die als Ersteversuchen, das Kind durch Aktivitäten wie Sport- oder Musikvereine zu fördern.

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An dieser Aufzählung läÿt sich entnehmen, dass die Eltern durch ihre Taten imAlltag für die Entwicklung des Kindes verantwortlich sind. Die Dispositionen,die sich durch diese Ein�üsse erst ganz entfalten können, sind jedoch teilweiseschon genetisch von den Vorfahren an die Kinder, von Geburt an vererbt worden.Die angeborenen Dispositionen kommen mit steigendem Alter immer mehr zurGeltung, da sich Jugendliche und Erwachsene aufgrund der gröÿeren Entschei-dungsmöglichkeit zunehmend ihre Umwelt selbst bestimmen können. (vgl. Stapf2004)

Freemann (2000) �ndet Hinweise dafür, dass sich Genetik und Umweltein�ü-ÿe bei verschiedenen Kindern in unterschiedlichem Ausmaÿ auswirken. Die in-telligenten Kinder scheinen relativ stärker befähigt, Vorteile aus der Umwelt zuziehen.

Für das Merkmal Intelligenz ist ein bedeutsamer genetischer Ein�uÿ nachge-wiesen worden. Für ein intellektuell hochbegabtes genetisch prädisponiertes Kindbesteht beispielsweise eine hohe Wahrscheinlichkeit, bei seinen überdurchschnitt-lich intelligenten Eltern nicht nur mehr Bücher vorzu�nden, sondern die Elternlesen ihm auch deswegen öfters vor, weil es aufgrund seiner Prädispositionenaufmerksam und ausdauernd zuhört. Es erhält mehr Bücher, weil es danach ver-langt. In dieser Familie wurde die Intelligenz dominant vererbt. Nicht nur dasKind sondern auch die Eltern sind überdurchschnittlich intelligent. Somit ist indiesem Fall beim Kind die Disposition für das aufmerksame und ausdauerndeZuhören von vorgelesenen Geschichten gegeben. Durch diese Disposition fordertdas Kind Bücher und die Umwelt, hier die ebenfalls intelligenten Eltern, gehendiesen Forderungen nach. Deshalb entwickelt sich das Kind durch seine vererbtenDispositionen und sein Umwelt optimal. Ein Ausdruck der mit steigendem Alterstärker zur Geltung kommenden Disposition wäre die Neigung des älteren Kindes,sich Bücher selber zu kaufen (vgl. Stapf 2004)

4.2.1 Familäre Strukturmerkmale, Erziehungsstile und An-regungsbedingungen

Gleich zu Beginn möchte ich, um die Erwartungen nach faszinierenden For-schungsergebnissen zu reduzieren, Freemann zitieren, der aussagt und belegt, dasses eine typische hochbegabten Familie nicht gibt. Dieses Forschungsthema ist lei-der durch einen Mangel an Daten gekennzeichnet. Der Grund dafür liegt in derKoplexität des Themas. Dennoch kann man zusammenfassend sagen, dass Fa-milien mit hochbegabten Kindern keine typischen Merkmale aufweisen. Familienmit und ohne hochbegabte Kinder sind sich sehr ähnlich. Au�allend ist jedoch,dass hochbegabte Kinder häu�g aus oberen und mittleren sozio-ökonomischenSchichten stammen. Sie haben häu�g überdurchschnittlich gut und länger aus-gebildete Eltern. Das impliziert zur Folge, dass die Mütter oft schon älter sind,wenn sie ihre Kinder zur Welt bringen und auch nach der Geburt oft berufstä-

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tig bleiben (vgl. Roedell et al. 1989, Gottfried et al. 1994, Tettenborn 1996). ImDurchschnitt sind Eltern hochbegabter Kinder intelligenter als die Eltern durch-schnittliche und unterdurschscnittliche intelligenter Kinder (vgl. Slateres 1995).Die Zusammenhänge von Lebenserfolg, Berufsstatus, sozio-ökonomischen Statussowie Länge der Schulausbildung mit Intelligenz sind ausreichend hoch und gutbelegt (vgl. Gottfredson 1999).

Die Erziehungsstilforschung fand heraus, dass eine kindorientierte, �exible,anregende, konsistente und demokratische Erziehung förderlich für die kognitivewie soziale Kompetenz und Leistungsmotivation ist. Im Gegensatz dazu steht dieautoritäre Erziehung, die durch strenge Kontrollen und Strafen gekennzeichnetist. Schwer zu beurteilen sind Beobachtungen der elterlichen Anregungsbedingun-gen. Ist es die bessere �nanzielle Situation, das bessere Anregungsangebot, d.h.die vielen Bücher, Museumsbesuche oder die höhere Intelligenz der Eltern, welchedie Grundlage für den hohen Status der Familie ist und die als förderlich für dieEntwicklung der Entfaltung des kindlichen Potentials gilt? Untersuchungen zuden Anregungsbedingungen ergaben meist, dass in Familien mit hochbegabtenKindern eine hohe Anzahl an Büchern, insbesondere Sachbüchern und Lexika zu�nden ist. Museumsbesuche kommen häu�ger vor als bei Familien mit durch-schnittlich begabten Kindern (vgl. Stapf 2004).

Zusammenfassend kann man sagen, dass es in Familien mit hochbegabtenKindern mehr intellektuelle und kulturelle Aktivitäten gibt. Es herrscht eine At-mosphäre, die das Lernen und Streben nach akademischen Leistungen positivfördert. Ein Grund dafür ist der sogenannte �Kind-E�ekt�. Das Kind fordertdiese intellektuellen und kulturellen Aktivitäten von seiner Umwelt. Die Ursachedafür ist das Bedürfnis des Kindes nach Wissen. Es benötigt diese Aktivitätenfür seine Persöhnlichkeitsentwicklung bzw. -entfaltung (vgl. Stapf 2004).

Viele Eltern von hochbegabten Kindern kommen diesen Forderungen nach.Manche Eltern versuchen, ihre Kinder durch Unterstimulation zu bremsen. Diesgeschieht teilweise aus Angst, ihre Kinder könnten sich durch eine zu starke För-derung in der Schule langweilen, mit der späteren Folge der Demotivation undschlechten schulischen Leistungen. Daraus können wir erschlieÿen, dass elterlicheErwartungen, Werte und Normen nicht nur groÿen Ein�uÿ auf die Kinder haben,sondern auch unbewuÿt das Verhalten der Eltern in unbekanntem Ausmaÿ lenken.Die elterlichen Erwartungen bezüglich der kindlichen Schulausbildung und desspäteren Berufslebens sind der Intelligenz entsprechend für Hochbegabte höher alsfür durchschnittlich Begabte. Im �Marburger-Hochbegabtenprojekt� geben 10%der Eltern von hochbegabten Kinder an, für ihr Kind einen Doktor- oder Profes-sorentitel zu erwarten. Bei Eltern von durchschnittlich begabten Kindern warenes nur 5%. 56% der Eltern hochbegabter und 29% Eltern von durchschnittlichbegabten Kindern erwarten die Absolvierung eines Studiums (vgl. Stapf 2004).

Für die Umsetzung kognitiver Fähigkeiten in geistige Hochleistungen scheinenfamiliäre wie auch kulturell-gesellschaftliche Bedingungen stark ausschlaggebend

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zu sein. Ein Beispiel dafür ist die Beobachtung, dass Personen jüdischer Konfes-sion unter den Nobelpreisträgern häu�ger vertreten sind, als Personen andererReligionszugehörigkeiten. Untersuchungen haben gezeigt, dass in der jüdischenKultur das Erfolgsstreben in der Familie vermittelt und stark gefördert wird. Leis-tungsmotivation, Anstrengungsbereitschaft und Erfolgsstreben sowie die positiveEinstellung gegenüber hoher und höchster Leistung sind neben der Intelligenzdie wichtigste Voraussetzung für das Erbringen hoher Leistungen. Doch Vorsichtist geboten. Leistungsstreben und Anstrengungsbereitschaft machen Kinder undauch hochbegabte Kinder nicht automatisch zu glücklichen Kindern (vgl. Stapf2004).

1968 war die Annahme der Schädlichkeit eines Leistungsdrucks in Deutschlandstark vertreten. Das führte zu einer Abwertung von Leistung. Leistungsstrebenin der Gesellschaft, in der Schule und in der Familie wurden negativ abgewertet.Dazu kam die falsche Annahme, Hochbegabte müssten sich nicht anstregen, weilsie alles schon können. Dieses Vorurteil hemmte die Verwirklichung des geisti-gen Potentials der Kinder. Heute wird eine völlig gegensätzliche Meinung überdie Förderung von hochbegabten Kindern vertreten. Jedoch wissen viele Elternnicht, dass die Leistungsmotivationsentwicklung bereits im Alter von zweieinhalbJahren beginnt. Diese Entwicklung wird vorrangig durch elterliche Anforderun-gen, Vorbildwirkung und positive wie negative Rückmeldung der Eltern gefördert.Eltern erfolgreicher hochbegabter Kinder haben eine hohe Leistungsmotivation.Sie stellen hohe Anforderungen an ihre Kinder, die sie intensiv unterstützen. Sieakzeptieren die kindliche Begabung und handeln dementsprechend. Die Kinderfordern von den Eltern bereits genannte Aktivitäten und sensible Eltern reagie-ren entsprechend, ohne auf Kontrolle oder Lenkung zu verzichten. Wichtig ist esauch, hochbegabten Kindern Regeln, Rechte und P�ichten im gemeinschaftlichenFamilienleben zu vermitteln. Sie müssen lernen, ihre Bedürfnisse im Kontext deranderen Familienmitglieder zu sehen und sich auch so zu verhalten. Es ist ei-ne Aufgabe der Eltern, Rücksichtsnahme von den Kindern zu fordern, ohne dasLeistungsstreben der Kinder zu bremsen (vgl. Stapf 2004).

Das von den Eltern erforderliche erzieherische Verhalten im Umgang mit ei-nem hochbegabten Kind ist im alltäglichen Leben nicht immer leicht umzuset-zen. Meiner Meinung nach ist der erste und gleichzeitig auch ein sehr wichtigergrundsätzlicher Schritt das Bewuÿtsein zu erlangen, ein hochbegabtes Kind zuhaben, und das Kind mit seiner hohen Intelligenz anzuerkennen. Erst wenn die-ser Schritt erfolgt ist, kann das fördernde Verhalten der Eltern oder das sensibleReagieren der Eltern auf die Anforderungen des Kindes einsetzen. Ein weiterer,zweiter Schritt ist es, dabei nicht zu vergessen, dass das hochbegabte Kind immernoch ein Kind ist, das wie jedes andere die Verhaltensregeln in der Familie lernenmuss. Bei diesem zweiten Schritt ist zu beachten, dass ein hochbegabtes Kindwie jedes andere Kind Lob, Verständnis und Anerkennung braucht. Jedoch sollteder Lob angemessen sein. Es sollte nur das gelobt werden, was auch Mühe und

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Anstrengung gekostet hat (vgl. Stapf 2004).Weniger groÿ, als in Familien mit durchschnittlich begabten Kindern, ist in

Familien mit hochbegabten Kindern die Gefahr einer Überforderung der Kin-der durch überhöhte Erwartungshaltungen der Eltern. Die groÿen Forderungengehen meist von den hochbegabten Kindern aus. Überforderungen durch elterli-che Erwartungen sind eher im sozial-emotionalen Bereich möglich, denn es giltnicht zu vergessen, dass die soziale Entwicklung eines hochbegabten Kindes meistseinem Alter entspricht und sich nicht von der Entwicklung von durchschnittlichbegabten Kindern unterscheidet. Somit kann das Kind durchaus überfordert sein,wenn ihm zu früh zu viele Entscheidungen überlassen werden, wenn dem Kindzu wenig hilfreiche Lenkung und Kontrolle geboten wird oder wenn an das Kindkaum Anforderungen an Selbstdisziplin und Verhaltenssteuerung gestellt werden.Dann könnte sich dies negativ auf die Entwicklung des Anstrengungverhaltensauswirken.

4.2.2 Beratungspraxis

Häu�g suchen Eltern von hochbegabten Kindern Beratungsstellen auf. Ein Grundsind die schlechten Schulleistungen der Kinder. Eltern berichten auch, dass sie sichmit der Erziehung ihres hochbegabten Kindes überfordert fühlen. Sie fühlen sichdem Druck ausgeliefert, optimale Bedingungen für die Entwicklung des Kindes zuscha�en. Hier ist es die Aufgabe der beratenden Psychologen, die Eltern in ihremErziehungsverhalten zu stärken, um den bestehenden Druck abzubauen und beiKind und Eltern für gegenseitigen Respekt zu sorgen.

Manche Eltern leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen, die durch die ver-meintliche eigene geringere Intelligenz hervorgerufen werden, können. Wenn einhochbegabtes Kind in der Schule schlechte Leistungen erbringt, ruft dies vor allembei Müttern Schuldgefühle hervor (vgl. Moon et al. 1998). Sie haben Angst, dasssie ihrem Kind nicht genug bieten können. Deshalb ist es wichtig, diesen Mütterndie Schuldgefühle in der Beratung zu nehmen und ihnen die Gründe für schlech-tere Noten zu nennen, z.Bsp. die fehlende Anregung des Kindes in der Schule. Esist gut, in solchen Situationen eine Beratungsstelle aufzusuchen, da die falschenAnnahmen der Eltern Gefühle hervorrufen können, die das familiäre Klima bzw.die Mutter-Kind-Beziehung stark belasten können. Dadurch kann die Förderungund Entwicklung des Kindes gehemmt werden.

4.2.3 Geschwisterbeziehungen

Relevante Au�älligkeiten und systematische Unterschiede in den Geschwisterbe-ziehungen zwischen Familien mit und Familien ohne hochbegabte Kinder scheintes nicht zu geben. Das in einigen Fallstudien genannte niedrige Selbstwertgefühlder Geschwister von Hochbegabten, das nach der Identi�kation des hochbegabten

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Kindes vermehrt beobachtet wurde, soll sich nach einer Weile wieder normalisie-ren (vgl. Cornell 1984). Natürlich gibt es zwischen Geschwistern auch in Familienohne hochbegabte Kinder eine groÿe Vielfalt an Kon�ikten und Rivalitäten. An-lass zu Spannungen und Kon�ikten in hochbegabten Familien kann vor allemdurch elterliches Verhalten ausgelöst werden. Eltern konzentrieren ihre Aufmerk-samkeit und Kraft oft so stark auf das hochbegabte Kind, dass die Geschwistersich für vernachlässigt und zurückgesetzt halten (vgl. Silverman 1993).

Die Beziehung zwischen den hochbegabten und nicht hochbegabten Geschwis-tern können wie alle Geschwisterbeziehungen eng und harmonisch, angespanntund neutral bis distanziert sein. Den vorliegenden Befunden zur Geschwisterbe-ziehung bei Hochbegabten ist zu entnehmen, dass es keine Anzeichen für verstärk-te Eifersucht oder besondere Geschwisterrivalitäten in Familien mit einem odermehreren hochbegabten Kindern gibt (vgl. Moon et al. 1998). Eine intensive Kon-zentration der Eltern auf nur ein Kind wirkt sich aber meist negativ auf das andereKind und auf die Geschwisterbeziehung aus, unabhänig davon, ob die Eltern demKind mehr Aufmerksamkeit schenken, weil es Hochbegabt ist, weil es z.Bsp. dasAufmerksamkeits-De�zit-Syndrom hat, oder weil es eine körperliche Behinderunghat. Selbstverständlich ist es für die Eltern schwer, jedem Kind die angemesseneFörderung und Aufmerksamkeit zu schenken, in manchen Situationen vielleichtauch nicht möglich. Um gröÿere oder langandauernde Kon�ikte zwischen Elternund Kindern bzw. zwischen den Geschwistern zu vermeiden, bietet es sich an, dieKinder zu einem verständnisvollen Verhalten und gegenseitiger Anerkennung fürdie Schwächen und Stärken des anderen zu erziehen. Misslingt diese Vermittlungder Eltern sollte man sich psychologischen Rat in einer Beratungsstelle holen.

4.3 Hochbegabte in der Schule

Jede Gesellschaft und somit jedes Land hat bestimmte teilweise unterschiedlicheForderungen an die Bildung der Schüler(innen) und an Bildung der Lehrer. DieseForderungen werden von der Politik jedes Landes bestimmt. Somit tragen diePolitiker eine hohe Verantwortung für jeden Schüler und jede Schülerin im eige-nen Land. Der Besuch einer Schule ist für Kinder nachweislich sehr bedeutsam.Schulische Bildung beein�uÿt die weitere kognitive Entwicklung sowie geistigeLeistungsfähigkeit. Ab der Einschulung werden an Kinder vermehrt und kon-sequenter Anforderungen gestellt wie Fleiÿ, Tüchtigkeit, Selbstkontrolle, Selbst-steuerung, Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und fokussierte Aufmerksamkeit.Das sind Verhaltensweisen, die fünf bis sechsjährige Kinder erbringen sollten.Fraglich ist, ob die Lernbedingungen, die eine positive Entwicklung unterstützen,in der Schule für jedes Kind gleichermaÿen gegeben sind. Es ist zu beachten, dassjedes Kind bei der Einschulung andere Voraussetzungen, Fähigkeiten und Erfah-rungen mit sich bringt. Die Kinder waren in verschiedenen Kindergärten oder

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besuchten kein Kindergarten; sie kommen aus verschiedenen Familien mit unter-schiedlichem sozio-kulturellen Status; manche von ihnen beherrschen die deutscheSprache nicht, andere nur mangelhaft; ein oder zwei Kinder in der Klasse sindvielleicht verbal weit entwickelt oder sogar hochbegabt und andere unterentwi-ckelt. Alle diese Kinder sollen in der Schule zunächst die gleichen Aufgaben lösen(vgl. Stapf 2004).

Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass die Nachfragenach Privatschulen für hochbegabte Kinder steigt, um die hochbegabten Kinderaus der Allgemeinheit bzw. aus den allgemeinheitlichen Schulaufgaben herauszu selektieren und ihren Bedürfnissen besser gerecht zu werden. Es ist bekannt,dass manche hochbegabte Kinder mit Problemen in herkömmlichen staatlichenSchulen zu kämpfen haben. Intellektuell unterforderte Hochbegabte kämpfen mitsinkenden geistigen Anforderungen und zunehmender Schulunlust. Es gibt jedochauch Hochbegabte, die sich in ihrer Schule bzw. Klasse integrieren, die gerne indie Schule gehen und dabei erfolgreich sind (vgl. Stapf 2004).

4.3.1 Unterforderung

Wie vorab beschrieben, ist die Langeweile, die durch Unterforderung verursachtwird, bei hochbegabten Kindern ein Grund, sich für eine Früheinschulung zuentscheiden. Doch oft ist damit alleine das Problem der Unterforderung nichtgelöst. Auch in der Schule können hochbegabte Kinder eine Unterforderung undeine Enttäuschung erleben. Die groÿe Enttäuschung nach anfänglicher Vorfreude,kann schon nach wenigen Schulwochen eintreten. (vgl. Stapf 2004)

Hochbegabte Kinder erwarten von der Schule bzw. von der ersten Klasse oftviel. In der Realität dürfen sie in den ersten Monaten Kreise ausmalen und ler-nen erste Buchstaben. Auf jeden Fall nicht das erwartete, spannende Neue, wasfür diese Kinder herausfordernd wäre. Schon nach einigen Wochen kommt dieAussage der Kinder: �Da gehe ich nicht mehr hin; da lerne ich nichts�. Da die-se Kinder meist vor der Einschulung lesen können, eignen sie sich selbständigimmer mehr Wissen an. Der Leistungsabstand zu den durchschnittlich intelligen-ten Schülern wird immer gröÿer (Scherene�ekt). Dazu kommt, dass der groÿeLeistungsunterschied von den Lehrern oft nicht wahrgenommen wird. Die Lehrerpassen den Lehrsto� den langsamer begreifenden Kindern bzw. den Schwächerenin der Klasse an. Der Rest der Klasse muss aus Rücksicht mitziehen (vgl. Stapf2004).

Zu bedenken ist, dass hochbegabte Kinder über herausragende geistige Fä-higkeiten verfügen und diese, wie viele Lehrer nicht wissen, zwingend besondereschulische Bedingungen erfordern, um eine Integration von Hochbegabten in derSchule zu ermöglichen. Doch konventionelle Schulen mit ausreichend geistigenAnforderungen für Hochbegabte sind sehr selten. Selbst hochbegabte Gymnasial-schüler(innen) berichten über Enttäuschungen über die niedrigen intellektuellen

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KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 34

Anforderungen. Als Reaktion auf diese Enttäuschung treten oft Schwierigkeitenauf. Aus den vorhandenen Fähigkeiten und den fehlenden Anforderungen entstehteine Spirale aus Enttäuschungen beginnend im Kindergarten bis hin zum Studi-um. Es gibt die Möglichkeit, die Schule z.Bsp. die Grundschule für hochbegabteKinder etwas anzupassen und die Anforderung zu erhöhen, so zu sagen als einKompromiss zwischen lernschwachen und lernstarken Schülern.

Befunde der pädagogisch-psychologischen Forschung zeigen eindeutig, dass derUnterricht so gestaltet werden kann, dass Lernschwache sich über die Leistungender Lernstarken freuen und umgekehrt. Von einem hohen Anspruchsniveau pro-�tieren alle Schüler(innen) einer Klasse. Jedoch ist es ebenfalls eine Tatsache,dass Höchstbegabte in keiner Schule ausreichend gefordert werden und auch einKompromis wohl für diese Schüler(innen) kein Kompromis wäre; nur eine weitereEnttäuschung, die sie in diesem Schulsystem hinnehmen müssten. Höchstbegabtequällen sich oft bis zum Abitur. Suchen, Einige �nden dann im Ausland eine ih-ren Anforderungen und Bedürfnissen entsprechende Elite-Universität (vgl. Stapf2004).

Der empirische Nachweis für eine Unterforderung ist schwer zu erbringen. Mankann nur fragen und beobachten. �Was sind Anzeichen für eine Unterforderung?Welches Verhalten kann man bei einem hochbegabten Kind, das unterfordert ist,beobachten?� Das sind Fragen, die für alle Lehrer von groÿer Bedeutung sind,um ein solches Kind identi�zieren zu können. Beobachtungen bei Hausaufgabenkönnen z.Bsp. Aufschluss über eine Unterforderung geben. Fehler vor allem beileichten Aufgaben, bei gleichzeitigem Lösen der schweren Aufgaben und Fehlerin den für sie unnötigen Aufgaben sind Hinweise auf eine Unterforderung. Auf-gaben, die keinerlei Denkanstrengung erfordern, werden äuÿerst widerwillig undunter langem Zeitaufwand erledigt. Sind die Aufgaben zu leicht, kommt bei denKindern eine Lustlosigkeit auf, was wiederum eine negative Auswirkung auf dieMotivation hat. Ausmaÿ und Art der negativen Auswirkung der Unterforderung,die eine Form von Stress darstellt, hängt nicht nur von der Höhe der Intelligenzab, sondern auch von den übrigen Persönlichkeitsmerkmalen des Kindes sowieden familiären Bedingungen (vgl. Stapf 2004).

Es ist unklar, warum einige Hochbegabte sehr strikt, unerbitterlich und ri-goros den Schulbesuch verweigern, andere herumkaspern und den Unterrrichtstören, während wieder andere ganz abschalten oder träumen. Manche reagierensogar mit Kopf-, Bauchschmerzen und Erbrechen. All diese Reaktionen werdenunter dem Bereich der Unterforderung zusammengefasst, die in vielen Fällen eineAblehnung durch Lehrer und Mitschüler(innen) verursacht.

4.3.2 Underachiever

Das Phänomen der Minderleistungen (underachievment) bedeutet, das hochbe-gabte Kinder trotz ihrer hoher Intelligenz schlechte Leistungen, z.Bsp. Schul-

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KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 35

leistungen, erbringen. Dieses Phänomen wurde in dieser Arbeit schon mehrmalserwähnt. Es ist bekannt, dass es hier nicht um einige wenige Hochbegabten gehtund das es unterschiedliche Fälle von �underachievment� gibt. Ebenso ist die Fra-ge nach den Gründen für diese Minderleistungen bei verschiedenen Altersgruppenzu beantworten.

Zwei Erkenntnisse auf diesem Gebiet sind wissenschaftlich gesichert:1. Es gibt minderleistende Hochbegabte, die sich in einer Reihe von Persön-

lichkeitseigenarten von den leistenden Hochbegabten unterscheiden. Doch hierstellt sich wiederum die Frage: �Was bedeutet Minderleistungen? Ab welcher No-te können wir von Minderleistungen bei hochbegabten Kindern, sprechen?�

2. Minderleistung wird als eine Diskrepanz zwischen geistigen Fähigkeiten al-so Intelligenz und intellektuell-akademischen Leistungen, meist Schulleistungen,de�niert. Je gröÿer die Diskrepanz zwischen den zwei genannten Gröÿen ist, de-sto sicherer können wir von einer Minderleistung ausgehen. Empirische Arbeitenverwenden meist aus den Schulnoten der Hauptfächer Mathematik, Deutsch undEnglisch gemittelte Werte, die dann auf die Intelligenzwerte bezogen werden.Ab einem willkürlich bestimmten Diskrepanzwert gilt eine Leistung als Minder-leistung. Jedoch sollte von Minderleistungen nur gesprochen werden, wenn dieschlechten Schulleistungen über einen längeren Zeitraum d.h. ein bis zwei Jah-re stabil zu beobachten sind. Eine Verfälschung der Aussagekraft aufgrund ei-ner schlechten Lehrer-Schüler-Beziehung oder emotionalen Schwankungen in derPubertät als Auslöser für schlechten Schulnoten sollen so möglichst vermiedenwerden(vgl. Stapf 2004).

In der Beratungsstelle tre�en Psychologen meist auf extreme Fälle. Eltern vonhochbegabten Kindern sind bei durchschnittlichen Noten in der Regel noch nichtbeunruhigt und sehen nicht die Notwendigkeit, einen Psychologen aufzusuchen.Bei einem Notendurchschnitt von fünf oder sogar sechs, mit Versetzungsgefahr,bekommen die Eltern in der Regel Angst und gehen aus Sorge um die Zukunftihres Kindes in eine Beratungsstelle und erho�en sich möglichst schnelle Verände-rungen in den Leistungen ihres Kindes. In einem solchen Fall muss der Psychologein Erwägung ziehen, dass hier eine Minderleistung bei Unterforderung vorliegenkönnte. Dann muÿ in einem solchen drastischen Fall überlegt werden, welches dieUrsachen für eine Minderleistungen sind (vgl. Stapf 2004).

Minderleistende Hochbegabte sind keine homogene Gruppe mit gleichen Per-sönlichkeitseigenarten. Man �ndet auch minderleistende Personen, die sich be-wuÿt verweigern, die die Leistungswerte in diesem Schulsystem nicht akzeptie-ren. Diese Rebellen sind meist vorzeitige Schulabgänger, die ihren Schulabbruchmit zu leichten, langweiligen und sich wiederholenden Aufgaben begründen. Esgibt auch minderleistende Hochbegabte, die generell Leistungen erbringen wollen,aber auf eine andere Weise, als es die Bildungsinstitutionen vorsehen. Meist zei-gen Hochbegabte auf einem bestimmten Interessensgebiet aussergewöhnlich hoheLeistungen. Doch gerade diese Leistungen sind in der Schule häu�g nicht zu be-

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KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 36

werten, bzw. werden nicht bewertet.In Termans Stichprobe sowie in der Marburger-Studie wurden ähnliche nega-

tive Persönlichkeitseigenarten bei �underachievern� erkannt: niedriges Selbstbe-wuÿtsein, stärkere Minderwertigkeitsgefühle, geringes Durchhaltevermögen undmangelnde Integration ihrer Zielvorstellungen. Man kann von diesen Ergebnissennicht auf eindeutige Gründe oder Ursachen für Minderleistungen schlieÿen. Umdiesen Personen helfen zu können, sind die motivationalen Bedingungen genaus-tens zu diagnostizieren. Oft stellt sich heraus, dass geringe Leistungserwartungenund geringe Leistungsanforderungen der Eltern und Lehrer einen groÿen negati-ven Ein�uss auf die Motivation, Leistung zu erbringen, haben (vgl. Stapf 2004).

In der Beratungsstelle bezieht man die Eltern, die Lehrer und die Mitschü-ler(innen) ein. Positive Beziehungen zu Schulkamaraden und kleine Leistungser-folge sind erste Ziele. Ein ständiger Schulwechsel, um den Problemen zu ent�ie-hen, verspricht keine langfristige Verbesserung der Schulsituation. Wichtig sindVeränderungen an den sozialen Beziehungen und den Anforderungen an die Schü-ler(innen).

4.3.3 Lehrer für Hochbegabte

Bei der Frage, welche Schule die beste oder welcher Unterricht der beste ist,warten Eltern und Pädagogen gespannt auf eine Anwort. Doch eine eindeutigeAntwort mit einer zu benennenden Schule, Lehrmethode oder einer Unterrichts-form gibt es nicht. Es gibt zu dieser Frage jedoch mehrere Aussagen, die unszu einem individuellen Urteil verhelfen können. Z.Bsp. die Aussage: �Der Unter-richt, die Lehrmethode ist die beste, hinter der der Lehrer steht.� (Helmke undWeinert 1997) oder: �Vom Lehrer hängt es ab, ob ein gut wie schlecht geplantesProgramm erfolgreich ist.� ( vgl. Baldwin 2000)

Diese Aussagen lassen uns erkennen, dass die Abhängigkeit eines guten Un-terrichts oder einer guten Schule von den Lehrkräften groÿ ist. Die Persönlichkeitder Lehrkraft ist ausschlaggebend für eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung. Die-se ist von hoher Bedeutung für die Schullaufbahn und das künftige Berufslebeneines Kindes. Wie groÿ der Ein�uss des Lehrers auf Grundschulkinder ist, lässtsich daran beobachten, dass alles, was der Lehrer sagt, richtig ist und damit auchbefolgt wird. Man kann an Hochbegabten die schon vor der Einschulung Kopf-rechnen konnten, beobachten, dass sie nach einigen Wochen Schule plötzlich dieFinger zum Rechnen benutzen, weil es die Lehrerin so empfohlen hat und es alleMitschüler(innen) so machen.

Hochbegabte Kinder wünschen sich Lehrer mit einer positiven Autorität, dasbedeutet Lehrer, die kompetent über ihr Wissen verfügen, die angemessene Leis-tungen fordern, Abmachungen und Versprechungen einhalten. In Kürze: Lehrerdie streng aber gerecht sind, gerecht zu allen Schülern auch zu den Hochbegab-ten und diese genauso tadeln und vor allem loben. Hochbegabte Kinder machen

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KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 37

es den Lehrern oft nicht leicht, da sie nicht nur kritsch mit sich selbst sondernauch mit ihrem Umfeld sind. Sie sind vor allem Lehrern gegenüber sehr kritischund fordernd. Sie nehmen jede kleinste Schwäche eines Lehrers wahr und könnenmit Ablehnung reagieren. Vor allem Ungerechtigkeit bei Lehrern verabscheuensie. Sie reagieren mit Protest. Durch das Verhalten der Hochbegabten lässt sicherschliessen, dass nicht jeder Lehrer für das Unterrichten von hochbegabten Schü-lern geeignet ist.

Muss ein Lehrer, der für hochbegabte Schüler(innen) geeignet ist, auch hoch-begabt sein? Der Lehrer muss nicht unbedingt hochbegabt sein. Jedoch ist eineüberdurchschnittliche Intelligenz wünschenswert, da Ähnlichkeiten in den geis-tigen Fähigkeiten die Kommunikation, das gegenseitige Verstehen und das har-monische Klima fördern. Ein Lehrer, der hochbegabte Kinder unterrichtet, solltedie geistigen Besonderheiten und Bedürfnisse seiner Schüler(innen) nachvollzie-hen und entsprechend darauf eingehen können. Umso älter die Hochbegabtenwerden, desto anspruchsvoller sollte der Unterricht sein. Also werden die Lehrermit dem steigendem Alter der Schüler(innen) immer mehr herausgefordert. Beidiesen Ansprüchen an die richtige Lehrkraft ist nicht nur eine überdurchschnitt-liche Intelligenz und eine gute Fachkompetenz Voraussetzung sondern auch einhohes Maÿ an Energie und Flexibilität sowie selbstverständlich eine angemesseneBegeisterungskraft für den zu vermittelnden Lehrsto�. Unter Flexibilität ist indiesem Fall die Fähigkeit des Lehrers, sich möglichst schnell an die Bedürfnissedes Schülers anzupassen, gemeint und wenn notwendig, den Lehrsto� oder auchdie Methoden abzuwandeln.

Wie amerikanische Studien ergeben gelten Lehrer von Hochbegabten, als er-folgreich wenn sie �über Selbstvertrauen verfügen, eine hohe Leistungsorientie-rung besitzen und ihre Rolle als Lernhelfer ernst nehmen� (vgl. Baldwin 2000).

Es ist schwer, einen Lehrer zu �nden, der neben all den Anforderungen, an sei-ne Person, die das Unterrichten von hochbegabten Schülern verlangt, auch nocheine ganze Klasse mit bis zu 30 anderen Schülern mit unterschiedlichen Proble-men und Vorausetzungen beherrschen kann. Leider ist es aber eine Tatsache, dasses momentan kaum Privatschulen für hochbegabte Kinder in Deutschland gibt.Deshalb ist es Eltern nur empfehlen, die Schulen, die in der nahen Umgebung lie-gen, sich genau anzusehen. Vermutlich werden sie nicht auf das perfekte, auf ihrKind und dessen Anforderungen und Bedürfnisse zugeschnittene Angebot tre�en.Wie erläutert, sind ein gutes Lernklima und eine harmonische Atmosphäre in derKlasse, die durch den Lehrer und durch die Mitschüler(innen) gestaltet werden,wichtige Grundpfeiler einer erfolgreichen Schullaufbahn. Es ist ratsam, mit demSchulleiter und dem zukünftigen Lehrer ins Gespräch zu kommen und zu erfra-gen, wie ihre Einstellung zu einer Früheinschulung oder zum Überspringen einerKlasse ist. Die Eltern sollten sich darüber hinaus nach dem Angebot an intellek-tuellen Aktivitäten, Projekten oder Arbeitsgemeinschaften erkundigen, denn oftwerden in Schulen viele sportliche und musische Arbeitsgemeinschaften angebo-

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KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 38

ten die hochbegabte oft weniger reizen. Anregender kann z.Bsp. die Teilnahme an�Jugend forscht� oder einem fremdsprachlichen Schüleraustausch sein (vgl. Stapf2006).

Grundlegend kann man annehmen, dass sich ein hochbegabtes Kind an ei-ner staatlich-konventionellen Grundschule wohfühlen und seine Begabung positiventwickeln kann, wenn bestimmte Vorraussetzungen gegeben sind wie z.Bsp. dierichtigen Wertevorstellungen eines Schulleiters bzw. die Aufgeschlossenheit einesLehrers hochbegabten Kindern gegenüber.

4.3.4 Mentoren

Der Abschnitt zum Thema Mentoren ist kurz gehalten, nicht aufgrund der ge-ringen Bedeutung von Mentoren und ihrer Arbeit mit hochbegabten Schülern,sondern wegen der geringen Verbreitung von Mentoren in Deutschland. Grund-sätzlich ist es ratsam, für einen Hochbegabten einen Mentor zu haben.

Mentoren kennt man von den Elite-Universitäten in Amerika, wo die Hoch-begabten groÿen Nutzen aus den Mentoren ziehen. Selbst wenn man einen aus-gezeichneten Lehrer hat, der die Ansprüche eines perfekten Lehrers für hochbe-gabte Schüler(innen) erfüllt; selbst wenn man perfekte Eltern hat, die auf dieBedürfnisse und Interessen des Kindes eingehen und es bestmöglich fördern istes nicht gewährleistet, dass diese hochbegabten Kinder als Erwachsene herausra-gende Leistungen erbringen und im Beruf erfolgreich sind (vgl. Stapf 2006).

Was macht einen Mentor aus? Ein Mentor ist ein Berater, ein Vertrauter,der eine(n) Schüler(in) unterstüzt und fördert. Mentoren teilen mit ihren Schütz-lingen gleiche Leidenschaften und gleichen Interessen. Auch der Lernstil sollteübereinstimmen. Ihr Lebensstil ist oft ähnlich. Aufgrund der Gemeinsamkeitenführen Mentor und Schützling eine lebenslange vertrauensvolle Bindung. Unterdiesen Bedinungen ist ein optimales geistiges Arbeiten und Lernen gesichert. Mo-tivation und Arbeitsfreude sind groÿ, neustes Wissen wird e�zient ausgetauscht.Somit gelten Mentoren zumindest für den beru�ichen Erfolg als sehr hilfreich.Ein Mentor gilt als eine der e�ektivsten Bedingungen, unter der Hochbegabte ihrPotential verwirklichen können. Ein weiterer Vorteil von Mentoren ist der Zugangzu anderen wichtigen Personen.

Für hochbegabte Vorschulkinder übernehmen in der Regel die Eltern die Funk-tion von liebevollen Mentoren. Um die Eltern etwas zu entlasten, kann man einenPädagogen oder Studenten als Mentor einstellen. Diese Mentoren können einmalbis zweimal in der Woche die wissensgierigen, für die Eltern manchmal anstren-genden Kinder abnehmen, um mit ihnen etwas interessantes und spannendes zuunternehmen. Um eine Person mit gleichen Interessen zu �nden, sollte das Kindin die Auswahl einbezogen werden, denn bei einem Mentor ist gegenseitiges Ver-trauen und ein harmonisches Arbeitsklima ausschlaggebend für e�zientes undproduktives Arbeiten sowie für die positive Begabungsentwicklung und das Wohl-

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KAPITEL 4. HOCHBEGABTE KINDER UND JUGENDLICHE 39

be�nden des Kindes (vgl. Stapf 2006).

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Kapitel 5

Diagnostik von Hochbegabung

Das Erkennen einer intellektuellen Hochbegabung, d.h. einer auÿergewöhnlich ho-hen Intelligenz, ist die Voraussetzung und gleichzeitig der erste Schritt, um fürHochbegabte förderliche Entwicklungs- und Lebensbedingungen scha�en zu kön-nen. Die Diagnostik von Hochbegabung kann von Beratungsstellen oder ärztlichenPraxen durchgeführt werden. Dort ist mit Hilfe psychologischer Tests eine Iden-ti�kation der Hochbegabung möglich. Eine Hochbegabungsdiagnostik ist umsonotwendiger, wenn sich schulische Bedingungen verändern, wie z.Bsp. das Absin-ken des Leistungs- und Bildungsniveaus.

Seit 1978 gibt es in Deutschland die �Gesellschaft für das hochbegabte Kind�.Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Beratungseinrichtungen in Deutsch-land (Braunschweig, Hamburg, Hannover, Marburg, München und Tübingen).Die Nachfrage ist groÿ und insofern sind die Wartelisten oft lang (vgl. Hollingund Kanning 1999).

5.1 Warum wenden sich Eltern an die Beratungs-

stellen?

Die Gründe für das Aufsuchen einer Beruntungsstelle sind ganz unterschiedlich.In den meisten Fällen liegt die Vermutung einer intellektuellen Hochbegabungvor die kompetent überprüft und damit bestätigt oder verworfen werden soll.Ein Hinweis kommt meist von Erzieherinnen, Kinderärzten oder Lehrern, die dieEltern ermutigen und sogar au�ordern, eine Beratungsstelle aufzusuchen. Einesolche Diagnostik ist für das Umfeld des hochbegabten Kindes wichtig, um esrichtig behandeln zu können. Eine Unterlassung dieser Diagnostik könnte sichnegativ auf die weitere Entwicklung des Kindes auswirken (vgl. Stapf 2006).

Zentraler Bestandteil der Hochbegabungsdiagnostik ist eine genaue Unter-suchung. Die Aufgabe der Hochbegabungsdiagnostik ist die Identi�kation zumZweck der Hochbegabtenförderung. Ziel ist, für jedes hochbegabte Kind das rich-

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 41

tige spezielle Förderprogramm zu �nden und es eventuell einer Gruppe für Hoch-begabtenforschung zuweisen zu können.

Viele Eltern fürchten die Diagnose: �hochbegabt�. Sie möchten zwar ein sehrintelligentes Kind aber kein hochbegabtes Kind haben. Einige Eltern haben zudiesem Zeitpunkt schon gemerkt, dass ein hochbegabtes Kind nicht ein leichtzu handhabenes Kind ist, sondern ein Kind, das eine besondere Umgangswei-se benötigt. Dennoch wollen die Eltern natürlich, dass es ihrem Kind gut gehtund wünschen sich im Falle der Bestätigung der Hochbegabung praktische Ent-scheidungshilfen. Zudem kommen Probleme im Sozialverhalten und Unterforde-rungssituationen, bei denen die Eltern Lösungsvorschläge erwarten wie z.Bsp.Schullaufbahnberatung und Fördermöglichkeiten (vgl. Stapf 2006).

Wie erwähnt, steht bei der Erkennung von intellektueller Hochbegabung einefachliche Diagnostik der kindlichen Intelligenz im Mittelpunkt. Andere Merk-male oder Charakterzüge des Kindes tragen zur Diagnose zunächst wenig bei.Denn gleiche Merkmale und Charakterzüge können auch durchschnittlich begabteKinder aufweisen. Bestimmte Verhaltensau�älligkeiten ohne Kenntnis des Intel-ligenzgrades sind kein Hinweis für eine Hochbegabung. Aus diesem Grund reichtden Schulbehörden die reine Vermutung einer Hochbegabung eines Schülers oderSchülerin nicht aus. Sie verlangen ein psychologisches Gutachten, wenn es z.Bsp.um eine vorzeitige Einschulung oder um das Überspringen einer Klasse geht.

5.1.1 Nutzen der Früherkennung

Heller stellte 1987 fest, dass der Nutzen einer Identi�kation von Hochbegabungdeutlich gröÿer ist, als ihr Schaden. Es wird davon ausgegangen, dass auf eineentsprechende Diagnose die passende Beratung und eventuell auch Interventio-nen folgen. Doch schon die Kenntnis, ein hochbegabtes Kind zu haben, hilft invielen Fällen. Die Eltern-Kind-Beziehung verbessert sich oft schnell, beruhendauf der Tatsache, dass die Eltern den Grund für die Probleme und Kon�iktenun kennen und somit mehr Verständnis für das Kind aufbringen können. Eben-so steigt nach einer positiven Diagnosestellung das Selbstwertgefühl der Kinderoder Jugendlichen. Die Scha�ung eines förderlichen Lern- und Sozialumfelds istnun möglich.

Manche Eltern fürchten die Auswirkungen einer Etikettierung. Sie befürchten,dass die Kinder in negativer Hinsicht mit der Bezeichnung hochbegabt in ihremsozialen Umfeld abgestempelt werden (Schule, Mitschüler(innen), Lehrer und Fa-milienmitglieder). Mit Sicherheit gibt es einige Menschen, die Vorurteile gegenHochbegabte haben. In diesem Fall ist es notwendig, diejenigen darüber aufzu-klären, welche Bedeutung die Bezeichnung hochbegabt für den Identi�zierten undsein soziales Umfeld bedeutet (vgl. Stapf 2006).

Eine Identi�kation sollte im Vorschulalter erfolgen, damit das hochbegabteKind Frühförderprogramme in Anspruch nehmen kann. Lewis und Louis sehen

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 42

sogar ein Risiko für Hochbegabte, die nicht rechtzeitig, das bedeutet früh, identi-�ziert werden. Sie vertreten die Ansicht, dass Kinder, die nicht ihren Fähigkeitengemäÿ angeregt und gefördert werden können, ab einem bestimmten Alter nichtmehr die Leistungen erbringen, die ihrer Hochbegabung entsprechen würden. Al-lein diese Aussage zeigt für alle Eltern die Bedeutsamkeit einer frühen Identi�ka-tion und der daraus folgenden Maÿnahmen wie z.Bsp. der Früheinschulung oderim etwas späteren Zeitpunkt das Überspringen einer Klasse. Eltern, die sich füreine Frühidenti�kation für ihr Kind entschieden haben, waren sehr glücklich, dieseEntscheidung getro�en zu haben. Sie empfanden die psychologisch-diagnostischeUntersuchung für sie und ihr Kind aufschlussreich und hilfreich für das Sozialle-ben in der Familie und für alle schulischen Entscheidungen (vgl. Stapf 2006).

Meist wollen die Eltern schon nach der Einzelfallberatung wissen, ob ihr Kindhochbegabt ist. Diese Frage kann ohne einen Intelligenztest nicht eindeutig beant-wortet werden. Tests reichen allein nicht aus. Sie tragen zwar zu einer Klärungbei, insbesonders besonders zur Genauigkeit der Diagnose, aber die wichtigsteArbeit liegt immer noch beim Diagnostiker. Dieser muÿ die Testergebnisse aus-werten, interpretieren und beurteilen. Von den Fähigkeiten und dem Wissen desDiagnostikers hängt das Gelingen der Identi�kation und damit auch die Zukunftder zu diagnostizierenden Person ab.

5.2 Der diagnostische Prozess

Was versteht man unter einer psychologischen Diagnose? �Eine psychologischeDiagnose ist der Prozess, der mit Hilfe verschiedener Meÿinstrumente (Verfah-ren) systematisch und zielgerichtet Informationen über psychische Eigenschaftendes zu untersuchenden Menschen, gewinnen will� (Stapf 2006, S.114). Um einegenaue und professionelle Beratung gewährleisten zu können, benötigt man eineausführliche psychologische Diagnostik. Diese besteht aus einer Untersuchung dergeistigen Leistungsfähigkeit, der Persönlichkeitsmerkmale und der Verhaltenswei-sen des Kindes. Die psychologische Diagnose wird in sechs Teilprozesse unterteil:

1. Klärung der Fragestellung

2. Auswahl der diagnostischen Verfahren

3. Anwendung und Auswertung der diagnostischen Verfahren

4. Interpretation der Ergebnisse, Entscheidung über eine Handlungs- und In-terventionsempfehlung

5. Beratung und Gutachtenerstellung

6. Festlegung der Intervention

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 43

Nach der ausführlichen Diagnostik kommt es zu einem Beratungsgespräch, indem die Befunde und die zu ergreifenden Maÿnahmen mit den Eltern bespro-chen werden. Der Diagnostiker ist eine Person die der Schweigep�icht unterliegt.Wenn es jedoch notwendig ist, kann er von seiner Schweigep�icht befreit wer-den, um über den jeweiligen Fall mit Ärzten, Lehrern oder Jugendamtsvertreternzu diskutieren und die richtigen Maÿnahmen zu ergreifen. Es lässt sich ohneZweifel erkennen, dass die Arbeit eines Diagnostikers komplex und voller Verant-wortung ist. Er muss weitreichende Empfehlungen aussprechen, die das Lebender betro�enen Personen stark beein�uÿen können. Gerade deshalb ist die Kom-petenz des Diagnostikers entscheidend. Ein guter Diagnostiker sollte nicht nurüber Kenntnisse aus allen Bereichen der Psychologie verfügen sondern auch einbreites methodisches Wissen vor allem gute Kenntnisse der Meÿverfahren haben,deren Aussagekraft und Einsatzmöglichkeiten haben. Die Kenntnisse über dieMeÿverfahren sind so wichtig, weil es so verschiedene Hochbegabungen gibt, d.h.verschiedene Begabungen und verschiedene Ausmaÿe der Begabung (Hochbegab-te und auch Höchstbegabte). Diese zeigen verschiedene Persönlichkeitsmerkmaleund verschiedene Verhaltensweisen (vgl. Stapf 2006).

5.2.1 Psychologische Tests

Psychologische Tests gelten zunächst als die besten Meÿinstrumente zur Erfassungmenschlicher Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Kritik, die an denTests erhoben wird, zeigt nicht zuletzt die Schwierigkeit und die hohen Ansprüchedie an einen Test gestellt werden. Psychologische Tests gehören mit Abstand zuden am häu�gsten eingesetzten Verfahren. Weitere Verfahren sind Lehrerurteil,Peernomination, Elternurteil, Selbstnomination und kombinierte Verfahren. Indiesem Kapitel werden Verfahren erläutert, die für den Gebrauch mit Kindernbzw. Schülern oder Lehrern und Eltern von Bedeutung sind.

Ein psychologischer Test ist ein Routineverfahren zur Untersuchung eines odermehrer empirisch abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale mit dem Ziel einer mög-lichst quantitativen Aussage über den relativen Grad der individuellen Merkmals-ausprägung ( Lienert und Raatz 1994). Die Aussage über die Merkmalsausprä-gung bei einer Person werden im Bezug zu einer Eichstichprobe1 gesetzt undkönnen dadurch quantitativ eingestuft werden. Bei der Konstruktion und bei derAnwendung sind Gütekriterien2 und die Kenntnisse über Meÿinstrumente vongroÿer Bedeutung (vgl. Stapf 2006).

1Eine Stichprobe, die zur Nominierung eines Testverfahrens eingesetzt wird. Die Eichstich-probe sollte aus einer hinreichend groÿen Zufallsstichprobe der Grundgesamtheit der Zielpopu-lation bestehen.

2Beurteilung der Messmethoden nach verschiedenen kriterien hinsichtlich ihrer Qualität.

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 44

5.2.2 Gütekriterien von psychologischen Tests

Damit psychologische Tests zuverlässige und gültige Ergebnisse erzielen, müssensie bestimmte Bedingungen erfüllen. Diese Voraussetzungen, als Gütekriterienbezeichnet, werden in Voruntersuchungen überprüft, bevor der Test zum Einsatzkommen darf. Die drei Hauptgütekriterien sind Objektivität, Reliabilität undValidität eines Tests.

Objektivität:Objektiv ist ein Test, wenn verschiedene Testleiter bei der gleichen Testper-

son zum gleichen Ergebniss kommen. Das bedeutet, dass der Testleiter bei derDurchführung und Auswertung bzw. Interpretation der Antworten keinen Ein�uÿauf das Testergebnis haben darf.

Reliabilität:Reliabel ist ein Test, wenn er bei der gleichen Person über mehrere Messungen

zu etwa gleichen Ergebnissen führt. Das gilt nur für Eigenschaften die stabil sindwie z.Bsp. die Intelligenz.

Validität:Valide ist ein Test, wenn er tatsächlich das miÿt, was er zu messen vorgibt.

Um das zu überprüfen, untersucht man, inwieweit die Ergebnisse des neu entwi-ckelten Tests mit bereits bestehenden Tests übereinstimmen. Natürlich müssendie zu vergleichenden Tests auf ähnlichen De�nitionen beruhen. Zudem nimmtman zum Vergleich Auÿenkriterien wie z.Bsp. Schulnoten (Vorsicht, sagen nichtviel über die Intelligenz aus) und überprüft die Übereinstimmung (vgl. Hollingund Kanning 1999).

Es gibt noch ein Kriterium, das ebenfalls von hoher Bedeutung für einenguten psychologischen Test ist, die Normierung. Dieses Kriterium wird erfüllt,wenn das Bezugssystem zur Relativierung des individuellen Testergebnisses, diegenannten Bedingungen erfüllt. Die individuelle Leistung der zu untersuchendenPerson wird auf die Ergebnisse einer Bezugsstichprobe bezogen. Wichtig ist beider Bezugsstichprobe, das es die gleiche Zielgruppe ist, also z.Bsp. altersgleich.Die Stichprobe muÿ repräsentativ sein.

Da Hochbegabung sehr komplex ist, stellt sich die Frage was für Merkmalegetestet werden müssen, um ein Kind als hochbegabt diagnostizieren zu können?Bei der Diagnose von intellektueller Hochbegabung steht die Frage nach dem Aus-maÿ der kognitiven Fähigkeit im Mittelpunkt. Und somit muÿ ein Intelligenztestheran gezogen werden (vgl. Holling und Kanning 1999).

5.2.3 Intelligenztests

Ein psychologischer Test ist der Intelligenztest. Intelligenz ist kein physikalischesMerkmal das man konkret sehen, tasten kann oder direkt erfassen kann. �Intelli-genz ist ein Konstrukt. Ein von Wissenschaftlern über die Jahrzehnte geprägter

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 45

Begri� zur Beschreibung kognitiver Fähigkeit, die nicht direkt beobachtbar sind,sondern nur aus bestimmten Anzeichen erschlossen werden können (vgl. Ingen-kamp 1997)�. Ein Intelligenztest ist eine Sammlung von Aufgaben die Aufschluÿüber die Intelligenzleistung des Getesteten bringen sollen (vgl. Holling und Kan-ning 1999).

5.2.3.1 Der Intelligenzquotient

Der erste Intelligenztest wurde von Binet und Simon (1911) in Frankreich ent-wickelt. Zu diesem Zeitpunkt diente der Test zur Selektion bzw. Feststellungder Eignung der Kinder für verschiedene Schulformen. Die Autoren stellten Auf-gaben entsprechend der Alterstufe zusammen. Konnte ein Kind die Aufgabenseiner Alterstufe entsprechend korrekt lösen, bekam das Kind ein Intelligenzalterbescheinigt, das in dem Fall auch dem Lebensalter entsprach. Entsprechend be-kam ein Kind, das eine Aufgabenreihe löste, die über seiner Alterstufe lag, einIntelligenzalter zugeschrieben, das über seinem Lebensalter lag. Binet und Simonliessen jedoch auÿer acht, dass die Intelligenzentwicklung bei ältern oder jungerenKindern unterschiedlich verläuft wie z.Bsp. die Geschwindigkeit der Entwicklung.Folglich ist ein Intelligenzrückstand oder Vorsprung von zwei Jahren bei einemKind mit vier Jahren und einem mit 14 Jahren ganz unterschiedlich zu bewerten(vgl. Holling und Kanning 1999).

Um dieses Problem zu lösen, entwickelte William Stern 1912 den Intelligenz-quotienten (IQ), bei dem das Intelligenzalter durch das Lebensalter geteilt wird.Damit war eine Maÿzahl gescha�en, anhand der Kinder unterschiedlichsten Al-ters bezüglich ihrer intellektuellen Fähigkeiten miteinander vergleichen konnte.Ein Intelligenzquotient von 100 bedeutet, dass eine Übereinstimmung von Le-bensalter und Intelligenzalter und somit ein durchschnittlicher IQ-Wert vorliegt.Doch auch hier ist noch eine Kritik anzumerken. Das Lebensalter steigt immerweiter, das Intelligenzalter bleibt ab einem bestimmten Lebensalter jedoch kon-stant. Deshalb lies sich nach dieser Formel die Ausprägung der Intelligenz nichtmehr sinnvoll berechnen.

Wechsler konnte dieses Problem 1955 mit einer Entwicklung des Abweichungs-IQ beseitigen. Es ist eine Formel, in der das individuelle Testergebnis einer Personsowie Kennzahlen ihrer Altersgruppe eingesetzt und so der Intelligenzwert ermit-telt wurde. Dieser Wert gibt das Ausmaÿ der positiven oder negativen Abwei-chung der entsprechenden Person vom Mittelwert der Altersgruppe an und stelltdar, was heute als IQ-Wert bezeichnet wird. Als Angabe für ein Testergebnis istauch der Prozentrang3 eine übliche Maÿzahl. IQ-Punkte können in Prozenträngeumgerechnet werden. Ein IQ von 100 entspricht einem Prozentrang von 50, d.h.eine Person hat genauso gut abgeschnitten wie 50% seiner Altersgruppe. Ein IQ

3Es ist ein statistisches Rang-Maÿ. Er gibt die relative Stellung an, die man bezüglich einesbestimmten Merkmals in einer Vergleichs- oder Bezugsgruppe einnimmt.

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von 130 entspricht einem Prozentrang von 97,6%, dass bedeutet die betre�en-de Person hat besser oder gleichgut abgeschnitten wie 97,6% ihrer Altersgruppe.Oder anders ausgedrückt: nur 2,4% der Altersgruppe erreichen ein noch höheresErgebnis (vgl. Holling und Kanning 1999).

5.2.3.2 Intelligenztheorien

Die De�nitionen für Intelligenz unterscheiden sich geringfügig. Gemeinsam habensie jedoch alle als wesentliches Merkmal der Intelligenz die Fähigkeit, sich in neuenSituationen zurechtzu�nden oder Aufgaben mit Hilfe des Denkens zu lösen.

Eine der bekanntesten Theorien, auf deren Grundlage verschiedene Intelligenz-tests entwickelt wurden, ist das �Faktoranalytische Modell der Intelligenz�. Es istein statististisches Verfahren, das miteinander zusammenhängende, individuellunterschiedliche Einzelleistungen zu Faktoren gruppiert. Unter Berücksichtigungder in ihnen zusammengefassten Einzelaufgaben werden diese Faktoren dann ver-bal interpretiert, d.h. möglichst aussagekräftig benannt (vgl. Holling und Kanning1999). Das erste Modell das �Zweifaktorenmodell� wurde 1904 von Spearmankonzepiert. Danach wird die Intelligenz in zwei Komponenten geteilt, in einenallgemeinen Faktor �general factor� (g-Faktor) und in mehrere spezielle Intelli-genzfaktoren �special-factors� (s-Faktor). Mit dieser Zwei-Faktoren-Theorie sollteerklärt werden, warum manche Menschen generell bessere intellektuelle Leistun-gen erbringen können als andere. Ihr g-Faktor ist stark ausgeprägt. S-Faktorensind besonders stark ausgeprägt, wenn spezi�sche Begabungen bestehen. Späterwurde jedoch Spearmans Theorie revidiert, denn es zeigte sich, dass die s-Faktorennicht unabhängig voneinander sind.

In den 30er Jahren konzepierte Thurstone das �Gruppenfaktoren Modell�. Ergliederte Intelligenz in sieben Primärfaktoren, die alle zusammen die Leistungeiner geistigen Funktion ausmachen sollen. Die sieben Primärfaktoren sind:

• rechnerisches Denken

• schluÿfolgerndes Denken

• Wortverständnis

• Wort�üssigkeit

• räumliche Vorstellung

• Wahrnehmungsgeschwindigkeit

• Gedächtnis

Mit den Jahren erweiterten Wissenschaftler diese Faktoren immer weiter.Guilford benannte 1964 bereits 60 unterschiedliche Faktoren.

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 47

Ein anderes Faktorenmodell entwickelte Catell (1963). Er sprach von zwei ver-schiedenen Formen der Intelligenz, der ��uiden� und der �kristallinen� Intelli-genz. Die �uide Intelligenz ist die Funktionstätigkeit hirnphysiologischer Prozesseund damit eine abhängige, erbbedingte Intelligenz. Kristalline Intelligenz ist einvom Lernen und der Umwelt abhängiger Intellignzfaktor.

Natürlich gab es auch noch in diesem Entwicklungsstand Kritik, die die For-scher herrausforderte, neue Modelle und damit nächste Schritte in der Forschungzu tätigen.

5.2.4 Intelligenztests in der Praxis

In diesem Kapitel werden einige Intelligenztestverfahren vorgestellt, die im deut-schen Sprachraum benutzt werden und einige, die nicht zu empfehlen sind. Eswerden für jede Altersgruppe spezi�sche Intelligenztests, der Altersgruppe ent-sprechend angepasst, aufgeführt (vgl. Holling und Kanning 1999).

5.2.4.1 Intelligenztests bei Vorschulkindern

Bei jeder Altersgruppe gibt es andere Störfaktoren die das Testergebnis negativbeein�uÿen können. Bei Vorschulkindern ist es die motivationale Be�ndlichkeit,die einen möglichen Störfaktor darstellt. Bei einer psychologischen Untersuchungist die Arbeitshaltung, die Einstellung und die Motivation für ein korrektes Ergeb-nis ausschlaggebend. Weil Vorschulkinder mit Testsituationen noch nicht vertrautsind und das Erbringen von Leistung auf Abruf noch nicht gelernt haben, ist eswichtig, sie entsprechend auf diese Situation vorzubereiten. Die Eltern sollten dieErwartungen des Kindes erfragen und versuchen ihnen ggb. vorhanden Angst vordem Test zu nehmen, aber gleichzeitig einen gewissen Respekt aufbauen um eineAnstrengung des Kindes zu garantieren. Man kann dem Kind den Test als einSpiel vermitteln, bei dem es besonders wichtig ist, sich anzustrengen. Ein ande-res Problem ist die Unterforderung, die durch bestimmte Testaufgaben entstehenkann und zur Arbeitsverweigerung und Leistungsabfall durch Demotivation füh-ren kann. Bei ängstlichen oder schüchternen Kindern kommt es gelegentlich zuBlockaden, die das Testergebnis ebenfalls verfälschen.

Wenn es notwendig erscheint, kann man ein Elternteil zur Durchführung desTests dazu nehmen, doch muss von den Eltern beachtet werden, dass jeglicheEinmischung, das Ergebnis verfälschen und der Test dadurch ungültig werdenkann (vgl. Stapf 2006).

Im Folgendem werden einige Intelligenztests zur Erfassung der kognitiven Leis-tungsfähigkeit von Vorschulkindern vorgestellt.

Der CFT1 (siehe Tabelle 5.1) soll die Fähigkeiten des Kindes anhand vonsprachfreiem, �guralem Material erfassen. Der CFT enthält dementsprechendkeine sprachlichen Aufgaben. Kulturelle Bedingungen sollen sich nicht auf die

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 48

Testleitung auswirken.

• Altersbereich 5:3-5:5 Jahre (nur Orientierungsnormen)

• Normen erhoben 1976 (Vorschunormen)1955 (Klassennormen)

• Eichstichprobe N = 1500

• Höchster Wert(Normtabelle)

IQ 145 (PR 100)

• Durchführung Gruppen- und Einzelverfahren

Tabelle 5.1: CFT1 (Grundintelligenztest Skala 1, Catell, R.B.: Weiÿ, R.H. & Os-terland, J., 1977, 5. Au�age 1997)

Der KFT-K (siehe Tabelle 5.2) soll die kognitiven Lernfähigkeiten von Kindernermitteln. Dieser Test erfasst das Sprachverständnis, das Erkennen von Relatio-nen, schluÿfolgerndes Denken und rechnerisches Denken. Kritik ist anzumerken,dass die Darstellung nicht bei allen Aufgaben deutlich ist.

• Altersbereich 4;7-7;0 Jahre

• Normen erhoben 1980

• Eichstichprobe N = 590

• Höchster Wert(Normtabelle)

IQ 145 (PR 99.9)

• Durchführung Gruppen- und Einzeltest, keine Zeitbegrenzung

Tabelle 5.2: KFT-K (Kognitiver Fähigkeitstest-Kindergartenfrom, Heller, K. undGeisler, H. J. 1983).

Bei Vorschulkindern sind Schwankungen in stärkerem Maÿe möglich. Deshalbwird es empfohlen, einige Wochen nach der ersten Testung einen zweiten Intelli-genztest durchzuführen. Vor allem bei den ersten Aufgaben eines Intelligenztests

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 49

können die Kinder unterfordert sein, was dazu führt das sie abschalten und sichnicht mehr anstrengen. Die Anweisungen müssen bei sehr intelligenten Kindernzügiger, kürzer und prägnanter vorgegeben werden, um einer Demotivierung vor-zubeugen (vgl. xxxxxx).

5.2.4.2 Intelligenztests bei Schulkindern

Vor der Durchführung eines Tests sind zunächst die Vorstellungen und Erwartun-gen des Kindes und der Eltern zu klären, um Vorurteile, Ängste oder vielleichtauch falsche Erwartungen abzubauen. Bei hochbegabten Kindern ist es zu erwar-ten, das sie einen Menschen und seine Absichten gut durchschauen können undsich somit im Gespräch und im Test je nach Intention des Kindes auch verstellenkönnen. Wenn das Kind z.Bsp. annimmt, dass es bei einem guten Testergebniseine Klasse überspringen muss, dies aber nicht will, kann sich das Kind verstellen,insofern als dass es ein schlechtes Testergebnis erzielt, um das Überspringen derKlasse zu vermeiden. Deshalb ist es wichtig vorab die Ängste, hier vor dem Über-springen einer Klasse, zu klären und wenn möglich zu nehmen. Derzeit werdenmeist folgende Verfahren verwendet (vgl. Stapf 2006).

Der AID 2 (siehe Tabelle 5.3) ist ein Individualtest für Kinder und Jugendlichezur Erfassung komplexer und basaler Kognition. Der Vorteil bei diesem Test ist,dass er so konstruiert ist, dass sich Hochbegabte nicht allzu lange mit zu leichtenAnfangsaufgaben langweilen müssen. Sie erhalten in diesem Test relativ schnellschwere Aufgaben. Alle Personen bekommen die gleiche Anzahl an Aufgaben. DieDurchführung beträgt 70-90 Minuten.

• Altersbereich 6;0-15;11 Jahre

• Normen erhoben (Teil-)Normen von 1995-1997 und 1982-1983

• Eichstichprobe N = 997 Kinder (Teil-Normen, neu),N = 2144 Kinder (alt)

• Höchster Wert(Normtabelle)

IQ-Äquivalent 147 (PR 99.9) (Gesamtwert: untereGrenze der Intelligenzquantität)

• Durchführung Individualtest

Tabelle 5.3: AID 2 (Adaptives Intelligenz Diagnostikum 2, Kubinger, K. undWurst, E. 2000).

Auch der HAWIK 3 (siehe Tabelle 5.4) ist ein Individualtest. Er dient zur Er-fassung geistiger Fähigkeiten, auf Spearman`s Zwei-Faktoren-Theorie beruhend,

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 50

der von allgemeiner Intelligenz (g-Faktor) und spezi�sch geistigen Fähigkeiten(s-Faktor) ausgeht. Im HAWIK 3 wird zwischen drei Gesamtleistungswerten un-terschieden: Verbal-IQ, Handlungs-IQ und Gesamt-IQ. Die Intelligenztests vonWechsler werden sehr oft eingesetzt und sind sehr beliebt. Trotzdem ist zu beach-ten, dass dieser Test für den Normalbereich geeicht ist und deshalb in Extrembe-reichen weniger gut di�erenziert. Schluÿfolgernd kann man davon ausgehen, dasdieser Test für Hochbegabte zu leicht ist. Es wird empfohlen, in Extremfällendiesen Test nur bis zu einem Alter von 13 Jahren zu verwenden.

• Altersbereich 6;0-16;11 Jahre

• Normen erhoben 1995-1998

• Eichstichprobe N = 1570 Kinder (Teil-Normen)

• Höchster Wert(Normtabelle)

IQ 155 (PR 99.9) (Verbal- und Handlungstest)IQ 160 (PR 99.9) (Gesamttest)

• Durchführung Individualtest

Tabelle 5.4: HAWIK 3 (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder, Tewes, U.,Rossmann, P. und Schallberger, U. 1999, 3. Au�age).

Dieser Test wurde von Catell (1963) entwickelt. Die Grundlage von diesemTest ist das �Faktorenmodell der Intelligenz�. Ziel ist es, die �üssige Intelligenz,die abhängig von hirnphysiologischen Prozessen ist, zu erfassen. Deshalb ist dieserTest nonverbal aufgebaut, ohne Elemente der Sprache, die den kulturellen Ein-�uss und somit auch den Umweltein�uÿ miteinbeziehen würden. Der CFT (sieheTabelle 5.5) ist in vier Untertests aufgebaut. In der folgenden Abbildung ist fürjeden Untertest ein Beispiel vorgegeben (siehe Abbildung 5.1).

Der Test ist für Kinder ab neun Jahren geeignet und besteht aus zwei gleichaufgebauten Hälften. Jede Hälfte benötigt 30 Minuten für die Bearbeitung. Die-ser Test ist besonders gut geeignet, die intellektuelle Fähigkeiten von Kindern,die durch geringe Sprachkenntnisse benachteiligt sind und dadurch unterschätztwerden können, festzustellen. Zur impliziten Diagnose von Hochbegabung ist die-ser Test jedoch nicht geeignet, da auch hier die Trennschärfe nicht ausreichendvorhanden ist.

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• Altersbereich 8:7-18 Jahre (3.-10. Schuljahr)

• Normen erhoben 1997

• Eichstichprobe N = 4400 Kinder und Jugendliche

• Höchster Wert(Normtabelle)

IQ 151 (PR 100)

• Durchführung Individual- und Gruppentest

Tabelle 5.5: CFT 20 (Grundintelligenztest Skala 2; Weiÿ, r.H. 4, Au�age 1997 mitüberprüften Normen.

5.2.4.3 Intelligenztests bei älteren Kindern und Jugendlichen

Teil 1 des APM (siehe Tabelle 5.6) erfasst die kognitiven Vorgänge, Teil 2 erfasstanalytische und integrierende Operationen, die an höheren Denkprozessen betei-ligt sind. Hier soll eine bessere Di�erenzierung zwischen den überdurchschnittli-chen kognitiven Fähigkeiten ermöglicht werden. Dieser Test kann als Speed-Testmit einer Bearbeitungszeit von 50 Minuten, eingesetzt werden.

• Altersbereich 16-19 Jahre (Schüler), 18-40jährige Studierende, Er-wachsene über 60 Jahre

• Normen erhoben 1979, 1997

• Eichstichprobe N = 2011 Jugendliche (Ausgangsstichprobe 1979)

• Höchster Wert(Normtabelle)

IQ 145 (PR 99.9)

• Durchführung Individual- und Gruppentest

Tabelle 5.6: APM (Advanced Progressive Matrices, Raven, J.C. Court, J. & RavenJr., dt. Heller, K.A., Kratzmeier H. und Lengfelder, A. (1998): neues Manual mitaktuellen Normen).

Die Grundlage von diesem Test (siehe Tabelle 5.7) ist das BIS (BerlinerIntelligenzstrukturmodell-Test) von Jäger, das hierarchisch und bimodal konzi-

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 52

piert wurde. Jäger geht von einer bimodalen Klassi�kation in Operation und In-halt aus. Ganz oben in der Hierarchie steht die allgemeine Intelligenz (g), darunterbe�nden sich sieben Fähigkeitsstrukturen, die nochmals gegliedert sind in vieroperative Fähigkeiten: Verarbeitungskapazität, Einfallsreichtum, Bearbeitungs-geschwindigkeit und Merkfähigkeit, sowie drei inhaltsgebundene Fähigkeiten desSprach-, Zahlen-, und anschaungsgebundenen, �gural-bildhaften Denkens. DerEinfallsreichtum, der im Test unter den operativen Fähigkeiten zu �nden ist, isteine Kreativitätskomponente.

Die Gesamtdauer beträgt ca. 150 Minuten kann aber auch in Kurzform in47 Minuten durchgeführt werden. Die Durchführung des Tests mit hochbegabtenKindern zeigte, dass sie sich durch die Aufgaben angemessen gefordert fühlten undist deshalb für die Testung von Hochbegabten zu empfehlen (vgl. Stapf 2006).

• Altersbereich 16-19 Jahre

• Normen erhoben vermutlich 1992-1996 vorläu�ge Normen für 16-19-jährige Gymnasiasten/Realschüler

• Eichstichprobe N = 478 Jugendliche

• Höchster Wert(Normtabelle)

Standardwert 130

• Durchführung Einzel- und Gruppentest

Tabelle 5.7: BIS (Berniler Intelligenzstruktur-Test, Form 4, jäger, A.O., Süÿ,H.M., Beauducel, A.1997).

5.2.4.4 Abschlieÿende Bemerkung

Bei einer Einzelfalldiagnostik ist es besser, wenn der Test auch tatsächlich als einEinzeltest durchgeführt wird und nicht in der zeitsparenden Variante, des Grup-pentest. Nur bei einem Einzeltest kann eine korrekte und präzise Beobachtungder Arbeitshaltung, der Leistungsmotivation, der Anstrengungsbereitschaft, derMisserfolgsängstlichkeit und weiterer Beobachtungsfaktoren vorgenommen wer-den.

Manche Tests wie z.Bsp. der AID (ein Test aus der Wechsler-Reihe) ermög-lichen es, Strategien und die Art des Problemlösens zu beobachten, was für einedi�erenzierte Hochbegabungsdiagnose von groÿer Bedeutung ist. Man darf dasZiel, die wahren Fähigkeiten des Kindes zu erfassen, um es angemessen zu för-dern, nicht aus den Augen verlieren (vgl. stapf 2006).

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 53

5.2.5 Testen oder nicht?

Es stellt sich für viele Eltern die Frage: �Ist es notwendig, unser Kind testen zulassen?�

Die Eltern werden auf verschiedene Meinungen stoÿen. Fürsprecher, sagen:�Um ein Kind richtig fördern zu können, muss man es testen lassen�. Gegenspre-cher behaupten, dass eine Testung zu einer Etikettierung als hochbegabt führenwird, die bestimmte, vielleicht zu hohe, Erwartungen nach sich. Jedoch kann dasnicht Erkennen der Hochbegabung fatale Folgen haben. Vor allem zur Entdeckungvon �underachievern�, bei denen Lehrer oft nicht in Betracht ziehen, dass diesehochbegabt sein könnten, kann ein Test vor Falscheinschätzungen schützen. Aufdie Frage nach dem Sinn einer Testung mit einem Intelligenztest, gibt es folgendeAntworten:

1. Die aktuellen verfügbaren Tests geben die verlässlichste Aussage über dieIntelligenz einer Person, die man bisher erzielen konnte, im Gegensatz zuanderen Einschätzungen. Jedoch sollte berücksichtigt werden, das IQ-Testsimmer von erfahrenen Diplom-Psychologen, die besonders für die Anwen-dung und Auswertung solcher Tests ausgebildet wurden, durchgeführt wer-den sollte.

2. Die durch Tests festgestellte intellektuelle Intelligenz ist nicht mit besonde-ren Talenten gleichzusetzen (vgl. Gagne 1993; Wieczerkowski und Wagner1985). Auf die tatsächliche Leistung, die ein Mensch in seinem Lebensver-lauf erbringen kann, haben noch viele andere Variablen Ein�uÿ (Motivation,Kreativität, usw.). Zudem sollte beachtet werden, dass ein IntelligenztestFähigkeiten misst, aber auch nicht alle Fähigkeiten.

3. Eine weitere Problematik der IQ-Tests liegt darin, dass die meisten imRahmen der Hochbegabungsdiagnostik eingesetzten Tests für die gesam-te Bandbreite möglicher IQ-Werte entwickelt wurden. Das bedeutet, dassdiese für die Messung von hohen IQ-Werten eingesetzten Tests am genaus-ten im mittleren Bereich der Intelligenz (IQ zwischen 85 und 115) messen.Bei höheren Messungen wird der Test unscharf.

Mit diesen drei Antworten, lässt sich noch keine eindeutige Entscheidung füroder gegen die Testung durch einen Intelligenztest tre�en. Es erscheint sicher nichtgerechtfertigt, Intelligenztests gar nicht einzusetzen. Der IQ-Wert sollte aber nichtals einziger Maÿstab zur Beurteilung einer Hochbegabung in betracht gezogenwerden (vgl. Holling und Kanning 1999).

Meiner Meinung nach ist es sinnvoll, Kinder einem Intelligenztest zu unterzie-hen, bei denen eine Hochbegabung aufgrund ihres au�älligen Verhaltens, sei es po-sitiv (wissbegierig, ehrgeizig, neugierig, usw.) oder negativ (gelangweilt, schlechteSchulnoten, störend, usw.) vermutet wird und zum Zeitpunkt der Testung keine

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 54

Förderung erfolgt. Wenn sich in einem solchen Fall die Eltern für eine Testungentscheiden, sollten sie sich über einen Diplom-Psychologen über die möglichenTestverfahren informieren.

5.3 Beobachtungsverfahren

Das Beobachten der Schüler(innen) durch Lehrer, im Unterricht bzw. das Beob-achten der Kinder durch Eltern zu Hause durch Eltern ist neben den o.g. Test-verfahren eine weit verbreitete Methode. Kinder können sich durch den Vergleichmit Gleichaltrigen auch selbst vergleichen. Die Frage, die sich hier stellt ist: �Wieobjektiv sind diese Einschätzungen?� bzw. �Sind diese objektiv genug, um sichauf die Diagnose hochbegabt oder nicht hochbegabt verlassen zu können?�

Die Subjektiv erlebte Sicherheit des Beobachters sagt leider nichts über dietatsächliche Güte einer Beurteilung aus. Denn eine subjektive Beurteilung bein-haltet schon, dass ein objektives Ergebnis nicht zu erwarten sein kann.

Ein anderes Problem ist, dass Laien wie Lehrer und Eltern auf dem Gebietder Diagnostik eine andere Vorstellung von dem Begri� hochbegabt haben. Wassollen sie also genau beobachten? Was genau sollen sie diagnostizieren, um fest-stellen zu können, ob ein Kind hochbegabt ist oder nicht? Lehrer beurteilen einKind oft im Vergleich mit anderen Kindern. Den Eltern fehlt jedoch jegliche Ver-gleichsgruppe und Maÿstab zur Leistungsbeurteilung. Es gibt aber auch Vorteilevon dem Verfahren der Beobachtung, z.Bsp. sind Personenurteile ökonomisch inder Anwendung. Für die Diagnostik wird keine zusätzlich Fachkraft benötigt.Auÿerdem können Personenbeobachtungen mehrere Variablen als durch Intelli-gentstests erfasst. Das ist ein deutlicher Vorteil gegenüber Intelligenztests, diedas nicht leisten. Die Forschung steht der Personenbeurteilung zur Identi�kationvon Hochbegabung sehr kritisch gegenüber. Dennoch sind Wissenschaftler über-zeugt, dass es durchaus sinnvoll sein kann, Beobachtungsverfahren, zusätzlich zuTestverfahren einzusetzen (vgl. Holling und Kanning 1999).

Personenurteile können durch �Ratings4� oder durch Nominationen realisiertwerden. Bei Ratings soll der Beurteiler alle Kinder einer Gruppe bewerten. Dabeivergibt er für jedes Mitglied der Gruppe einen Wert z.Bsp. auf einer fünfstu�genSkala. Unter Nomination vesteht man die einfache Nennung von Kindern, diemöglicherweise hochbegabt sind.

5.3.1 Lehrerurteil

Im Hinblick auf praxisorientierte Beobachtungsverfahren liegt es nahe, sich mitLehrerurteilen näher zu befassen. Schlieÿlich ist es die alltägliche Aufgabe eines

4Rating: <engl.> Psychol. Verfahren zur Einschätzung, Beurteilung von Personen, Situatio-nen o.Ä. mithilfe von Ratingskalen.

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 55

Lehrers, die Leistung der Schüler(innen) zu bewerten. Wenn es aber um die Aus-wahl hochbegabter Schüler(innen) geht, muÿ der Lehrer auch andere Faktoren wieKreativität und Motivation bewerten, wofür er primär nicht ausgebildet wurde.Die Forschung zweifelt daran, dass Lehrer hierfür am besten geeignet sind. Beidiesem Verfahren ist der Lehrer vielfältigen Aufgaben in einer komplexen Unter-richtssituation ausgeliefert. Es kommt hinzu, dass viele hochbegabte Kinder nichtden Stereotypen des angepaÿten guten Schülers oder Schüerin entsprechen undsich Hochbegabung nicht in guten Schulnoten widerspiegeln muÿ. Lehrerurteilewurden in vielen Studien mit Intelligenztests verglichen. Zur Beurteilung wurdenin der genannten Studie zwei Kriterien aufgestellt:

1. E�ektivität: Welcher Prozentsatz von den tatsächlich Hochbegabten wirddurch die Vorauswahl erfaÿt?

2. E�zienz: Wie hoch ist der Prozentsatz der tatsächlich Hochbegabten inBezug auf die Zahl der von der Vorauswahl bestimmten potentiellen Kan-didaten?

Ergebnisse: Im Lehrerurteil wurden 45,1% der tatsächlich Hochbegabten alshochbegabt erfasst → E�ektivität 45,1%. Nur 26,6% der von den Lehrern no-minierten Schülern waren auch dem Testverfahren nach hochbegabt → E�zient26,6%.

Die Problematik die sich in den nicht zufriedenstellenden Ergebnissen spiegeltsind Lehrer die sich in ihrem Urteil eng an Schulnoten orientieren (vgl. Rostund Hanses 1997). Es wird des öfteren übersehen, dass zwischen Intelligenz undsichtbarer Leistung keine direkte Beziehung besteht (siehe �underachiever�). Wiebereits erwähnt, können Lehrerurteile Intelligenztests keinesfalls ersetzen. BeideVerfahren messen unterschiedliche Variablen.

Lehrer haben den Vorteil, ihre Klasse gut zu kennen und verfügen über denVergleich innerhalb der Klasse oder mit anderen Klassen der selben Stufe. Lehrerund Schüler(innen) sind im ständigen Kontakt und Austausch zueinander, somitwird eine Beobachtung der aktuellen Lerprozesse ermöglicht. Zudem ist der Leh-rer in der Lage langfristige Lernprozesse vorherzusagen. Unter Berücksichtigungidiosynkratischer5 und kurzfristiger Faktoren liegt ein entscheidender Vorteil derLehrerbeurteilung für die Hochbegabtenidenti�kation. Dagegen können Informa-tionen aus einem standardisierten Test zu einem verzerrten Bild durch aktuel-le Begleitumstände die das Ergebnis des Tests beeinträchtigen würden, führen.Dem Lehrer wären die Umstände des Schülers oder der Schülerin, die zu Leis-tungsschwankungen führen könnten, bekannt. Der Lehrer könnte in diesem Fall,korrigierend in die Beurteilung einwirken oder die Beurteilung auf einen späterenZeitpunkt verschieben (vgl. Holling und Kanning 1999).

5idiosynkratisch: von unüberwindlicher Abneigung erfüllt und entsprechend auf jmdn., etwasreagieren

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Heller (1992) sieht im Lehrerurteil allerdings die Schwierigkeit, dass Bezugs-gruppene�ekte auftreten können, d.h. dass der Lehrer die Bewertung der Leistungeines Schülers oder einer Schülerin zu stark an der Bezugsgruppe orientiert. Be-sonders die Beurteilung von jüngeren Kindern sieht Heller als gefährdet an. ImJugendalter wäre es sinnvoller, Lehrer vermehrt zur Begabungsbeurteilung her-anzuziehen, da es in höheren Klassen einen di�erenzierten Fächerkanon gibt, beidem es einfacher ist, die dem Fach entsprechenden Fähigkeiten zu beobachtenund zu beurteilen.

Hoge und Cudmore (1986) machten darauf aufmerksam, dass aufgrund dermangelnden Qualität und Aussagekraft der vorhandenen empirischen Studien,bislang weder eine negative noch eine positive Schluÿvolgerung möglich ist (vgl.Holling und Kanning 1999).

5.3.2 Peernomination

Unter �Peers� versteht man eine Gruppe von Gleichaltrigen. Peernomination istdie Nennung hochbegabter Kinder durch Klassenkameraden. Die Peernominationbietet den Vorteil, das Kinder eventuell andere Einblicke in die Leistungsfähigkeitund die Interessen anderer Kinder haben als Erwachsene.

Wild (1991) kritisiert, wie viele andere Wissenschaftler auch, dieses Vorhaben.Er geht davon aus, dass Kinder erst ab dem 10. Lebensjahr anfangen, die eigenenFähigkeiten als ein �intraindividuell stabiles Phänomen� zu begreifen. Kinderunter 10 Jahren beziehen äuÿere Erscheinungen oder das Ausdrucksvermögen inihr Urteil ein.

Es ist unbekannt, inwieweit durch Training und Aufklärung das Urteil vonKindern verbessert werden kann. Das wissenschaftliche Fundament ist hier nochsehr schwach, obwohl es bereits einige positive Ergebnisse, die für eine Überein-stimmung von Peernomination und Testergebnissen sprechen, existieren. DenochTatsache ist, dass Kinder unter zehn Jahren die eigene Begabung überschätzenund bis zu ein Drittel der Klasse als hochbegabt benennen (Stipek und Ho�mann1980; Nicholls, 1978; Rustmeyer, 1982). Werden alle vorhandenen Ergebnisse zu-sammenfassend betrachtet, ist die Verwendung von der Peernomination für Kin-der unter zehn Jahren nicht zu empfehlen (vgl. Holling und Kanning 1999).

5.3.3 Elternurteil

Da die Erkennung von hochbegabten Kindern im Vorschulalter besonders schwie-rig ist, ist diese stark Maÿe von der Einschätzung der Eltern abhängig. Es gibt alsHilfestellung biographische Checklisten mit Verhaltensweisen, die für hochbegab-te Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter typisch sind. Checklisten sollten alsMomentaufnahmen ausgefüllt werden, denn Erinnerungsdaten sind häu�g lücken-haft und inkorrekt.

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 57

Elternurteile sind in sofern wertvoll, als das Eltern die beste Möglichkeit ha-ben, die individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit und -kapazität ihres Kindeszu beobachten und einzuschätzen (Heller 1992). Es ist auch eine Beobachtung,dass viele Eltern ihre Kinder für hochbegabt halten, aber nur 23% (HamburgerHochbegabtenstudie) wurden auch tatsächlich als hochbegabt klassi�ziert.

Es gibt noch weitere Beobachtungsverfahren, wie z.Bsp. das Selbstrating oderauch Kombinationen mehrer Verfahren. Es wurden nur die häu�g angewendetenVerfahren erörtert, da die anderen Verfahren für das hier behandelte Thema:�Diagnostik von hochbegabten Schülern� nur von untergeordneter Bedeutungsind (vgl. Holling und Kanning 1999).

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KAPITEL 5. DIAGNOSTIK VON HOCHBEGABUNG 58

Reihen fortsetzen

Beispiel

Es ist die Figur zu suchen, die die Reihen richtig fortsetzt. (a)

a b c d e

Klassifikationen

Beispiel

Es ist die Figur zu finden, die nicht in die Reihe paßt. (d)

a ecb d

Matrizen

Beispiel

Gesucht ist die das Muster richtig ergänzende Figur. (c)

a ecb d

Topologische Schlußfolgerungen

Zu finden ist die Figur, in der der Punkt ähnlich wie im Beispiel (im Kreis,

aber außerhalb des Quadrats) gesetzt werden kann. (c)

Beispiel a ecb d

Abbildung 5.1: Beispielaufgaben des CFT 20

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Kapitel 6

Das Marburger

Hochbegabtenprojekt

Ich habe mich entschieden, das �Marburger Hochbegabtenprojekt� in meine Aus-arbeitung aufzunehmen, um zu verdeutlichen, wie eine Studie zur Identi�zierungvon hochbegabten Schülern in groÿem Umfang (ganz Deutschland) verwirklichtwerden kann. Ich will nicht nur auf den Untersuchungsablauf eingehen sondernebenfalls zeigen, was im voraus zu bedenken ist, wie zeit- und arbeitsaufwendigeine solche Studie ist, welche Tests und weitere Instrumente verwendet werden,welche Faktoren neben der allgemeinen Intelligenz �g� eine Rolle spielen (oderauch nicht). Welchen Ein�uÿ die Umwelt auf das hochbegabte Kind hat, inwieferndie Lehrkräfte die Fähigkeit besitzen, ein besonders begabtes Kind zu identi�zie-ren und welche Probleme während des Verlaufs einer Studie auftreten bzw. dieErgebnisse verfälschen können.

6.1 Ausgangslage

Seit 1982 wurden auch in der Bundesrepublik Deutschland Projekte durchgeführt,die sich auf die Probleme der Entwicklungs- und Erziehungsberatung sowie dieFörderung von Hochbegabten konzentrierten. Das �Marburger Hochbegabtenpro-jekt� basierte auf einer unselektierten und altershomogenen Stichprobe hochbe-gabter Schüler(innen) und einer echten Vergleichsgruppe durchschnittlich begab-ter Kinder. Durch diese Studie konnten erste solide wissenschaftliche Aussagenüber die aktuelle Situation und die spezi�schen Bedürfnisse besonders begabterKinder gewonnen werden. Selbstverständlich können nur solide wissenschaftlicheAussagen für Vorschläge für Beratungs- und Fördermaÿnahmen genutzt werden(vgl. Rost 1993).

59

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 60

6.2 Allgemeine Zielsetzungen

Ziel des �Marburger Hochbegabtenprojekts� war eine Analyse von besonders be-gabten Grundschulkindern in einer am Alltag orientierten Lebensumwelt. Dabeiwaren folgende Fragestellungen ausschlaggebend:

• Wie ist der psychische, emotionale und psycho-soziale Entwicklungsstandeines hochbegabten Kindes?

• Wie nehmen die Interaktionspartner das Kind wahr?

• Welche Anforderungen und Wünsche werden an ein hochbegabte Kind ge-stellt?

• Wie werden die Fördermaÿnahmen für hochbegabte Kinder von Eltern undLehrern bewertet?

• Wie gut können Lehrer und Klassenkammeraden hochbegabte Kinder iden-ti�zieren?

Um diese Fragen korrekt beantworten zu können, hat man sich für die Durch-führung von diesem Projekt auf folgende Hauptgesichtspunkte festgelegt:

• Rückgri� auf eine unausgelesene Grundgesamtheit.

• Einschränkung der Altersvarianz.

• Keine Vorauswahl durch Lehrer und Eltern.

• Einbeziehung einer echten Vergleichsgruppe durchschnittlich begabter Kin-der.

• Betonung der allgemeinen Intelligenz �g� als wichtigstes Kriterium zur De-�nition kognitiver Hochbegabung.

• Nutzung unterschiedlicher Informationsquellen zur Datenerhebung.

• Verwendung multipler Indikatoren für gleiche oder ähnliche Konzepte.

• Verzicht auf Befragungen und Untersuchungen durch psychologische Laien.

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 61

6.3 Projekt-De�nition von �besonderer Begabung�

In diesem Projekt wurde Hochbegabung als eine sehr hohe, einzigartige Ausprä-gung der allgemeinen Intelligenz im Sinne des Spearman`schen (1927) Generalfak-tors �g� de�niert. Diese De�nition entspricht dem klassischen Hochbegabungs-verständnis.

Die Gültigkeit der Intelligenz �g� wurde bereits durch langjährige Forschungbelegt. Intelligenztests, die hoch auf �g� laden, korrelieren hoch bis sehr hoch mitzahlreichen externen Kriterien. Das bedeutet, dass eine Person, die einen Intelli-genztest mit dem Ergebnis extrem hoch abschneidet, nicht nur in der Schule oderUniversität Erfolg hat, sondern auch im allgemeinem Berufsleben in (unterschied-lichsten Bereichen). Somit stellen Tests zur Erfassung der Allgemeinbegabung be-sonders valide beru�iche Prädikatoren dar. Jedoch führen die Verfahren, die füreinzelne Arbeitsbereiche entwickelt wurden, zu keiner substantiellen Validitäts-verbesserung. Schüler(innen), die in nicht-kognitiven Bereichen wie Kunst oderMusik hochbegabt sind, erzielen in der Regel auch in allgemeinen Intelligenztestsüberdurchschnittliche Werte. Personen, die nur durchschnittliche Intelligenzwer-te erzielen, haben nur in wenigen Fällen Hochleistungen auf einem spezi�schenGebiet (vgl. Rost 1993).

Di�erentielle Intelligenztests wollen unterschiedliche Intelligenzfaktoren erfas-sen. Jedoch waren diese Tests wegen der fehlenden Validitätsangaben und derInstabilität des Pro�ls oft nur befriedigend zuverlässig. Subtests (Sprachverständ-nis, verbales und nicht verbales �reasoning�, also typische Indikatoren für �g�)dagegen besitzen die höchsten singulären prädikativen Validitäten. Die Bildungeines Gesamtwertes widerspricht zwar dem Ansatz einer di�erentiellen Intelligenz-messung, erlaubt aber auf Abstraktionsniveau besser als einzelne Untertests dieskönnen, eine gute Abschätzung der allgemeinen Intelligenz �g� und ist deshalbweit verbreitet.

Für bestimmte Fragestellungen wurden auch fachspezi�sche Fähigkeits- undLeistungstests eingesetzt. Wie zum Beispiel in der Mathematik. Ein hervorragen-des mathematisches Leistungspotenzial setzt eine sehr gute allgemeine Intelligenz�g� voraus aber zusätzlich auch eine spezi�sche mathematische Fähigkeit undKenntnis (vgl. Rost 1993).

6.3.1 Verzicht auf die Erfassung von Kreativität und sozia-ler Intelligenzfaktoren

Auf die Messung der Kreativität für das Verständnis der Hochbegabung wurdeim Projekt verzichtet. Kreativität ist ein unscharfes und instabiles Konstrukt, dassich im Verlauf des Lebens verändert. Zudem kommt hinzu, dass es momentanweder klar umschrieben ist noch zufriedenstellend operationalisiert worden ist.

Kreativitätstests können produktivität-schöpferische Leistungen nicht erfas-

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 62

sen. Die Behauptung, Kreativitätsmeÿwerte hätten eine hohe prognostische Va-lidität für hervorragende Leistungen, konnte bislang nicht belegt werden. Bisheute entsprechen vorhandene Kreativitätstests noch nicht den Minimalanforde-rungen der psychologischen Testverfahren und korrelieren in aller Regel unter-einander nicht höher, sondern sogar geringer als die klassischen Intelligenztests.Kreativitätsforscher sind von einem Schwellenkonzept überzeugt. Dieses besagt,dass über einer IQ-Grenze von 130 nur geringe Beziehungen zwischen Kreativi-tät und Intelligenz bestehen. Unter der Grenze bzw. unter der Schwelle bestündeeine groÿe Beziehung zwischen den zwei Variablen. Wissenschaftler kritisieren,dass es nur ein trivialer E�ekt der Varianzreduktion1 sein kann. Nachweise fürdiese Behauptungen gibt es bis heute keine. Unter der Berücksichtigung, dassKreativitätstestwerte und Lebensproduktivität kaum zusammenhängen und dasKreativitätstests, kreatives Verhalten nicht besser vorhersagen, als traditionelleIntelligenztests, fällt der Verzicht auf sogenannte Kreativitätstests bei der Iden-ti�zierung besonderer Begabung leicht (vgl. Rost 1993).

Genauso wird im �Marburger Hochbegabtenprojekt� auf die Messung vonsozialer Intelligenz und sozialer Begabung verzichtet, da es sich auch hier umein unscharfes Konzept mit vielen Facetten handelt. Auch hier gibt es bislangkeine zufriedenstellenden Ergebnisse aus dem Bereich der Forschung. Bislangmessen Testverfahren und Fragebögen zur Erfassung sozialer Intelligenz in derRegel hauptsächlich die allgemeine Intelligenz. Die Tests zur Erfassung sozialerIntelligenz korrelieren nicht höher oder sogar noch geringer miteinander als mitklasssischen Intelligenztests. Hinweise auf Validität sind nur sehr gering. So kannman zusammenfassend sagen, dass soziale Intelligenz und allgemeine Intelligenzmit den zur Verfügung stehenden Tests praktisch nicht voneiander zu trennen ist.Wechsler hat 1958 bereits betont, dass soziale Intelligenz eine Anwendung der all-gemeinen Intelligenz auf soziale Situationen darstellt. Bis heute ist es noch nichtgelungen, spezi�sche Tests zu entwickeln, die unabhängig von der allgemeinenIntelligenz hinreichend zuverlässig und gültig die Fähigkeit von Personen messen(vgl. Rost 1993).

6.4 Untersuchungsphase 1 (November 1987 - Au-

gust 1988)

In der ersten Phase wurden besonders begabte Grundschulkinder und eine Kon-trollgruppe durchschnittlich begabter gleichaltriger Schüler und Schülerinnen iden-ti�ziert.

1Varianz: <lat.> Veränderlichkeit bei bestimmten Umformungen

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 63

6.4.1 Gesamtstichprobe

Dank der kulturministeriellen Genehmigung konnte die Erhebung in allen Bun-desländern durchgeführt werden. In einigen wenigen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern) waren die Untersuchungen auf einigeRegierungsbezirke beschränkt.

Wie aus der Tabelle 6.1 ersichtlich ist, wurden im ersten Schritt 7289 Kin-der aus der dritten Klasse aus 430 Klassen von 206 Schulen untersucht. Ziel wardie Aufnahme der Kinder in die Auswahlprozedur, von denen vollständige undzuverlässige Datensätze vorlagen. Die Folge war die Reduzierung der Datenba-sis um 40 Klassen. Nach dieser Bereinigung waren noch 7023 Schüler(innen) imAuswahlverfahren. Die Abb 6.2 Tabelle zeigt die Zusammensetzung der Schüler-stichprobe. 85% von den Schülern der Stichprobe wurden tatsächlich untersucht.Es gab 15% Minderung durch Ausfälle wegen Krankheit, Beurlaubung oder feh-lendem Einverständnis der Eltern.

Variable Geschlecht Gruppe XMIN M S XMAX

�g� männlich ZG 1.72 2.32 0.39 3.71VG -0.68 0.13 0.40 0.94

weiblich ZG 1.70 2.31 0.39 3.59VG -1.03 0.12 0.46 0.95

CFT männlich ZG 0.41 1.52 0.38 2.36VG -2.11 0.16 0.66 1.24

weiblich ZG 0.64 1.50 0.36 2.20VG -2.78 0.03 0.65 1.10

ZVT männlich ZG 0.41 1.52 0.38 2.36VG -2.11 0.16 0.66 1.24

weiblich ZG 0.64 1.50 0.36 2.20VG -2.78 0.03 0.65 1.10

ANA männlich ZG 0.09 1.90 0.60 3.00VG -1.18 0.22 0.70 1.60

weiblich ZG 0.62 1.71 0.51 2.99VG -1.18 0.15 0.75 1.63

Tabelle 6.1: Mittelwerte, streuungen, minimale und maximale Wertein den Intelli-genzvariablen �g�, CFT, ZVT und ANA für Jungen und Mädchen von Zielgruppe(ZG) und Vergleichsgruppe (VG).

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 64

AlterGeschlecht 10 Jahre 11 Jahre 12 Jahre Summe

männlich 939 (13.4%) 2286 (32.6%) 410 (5.8%) 3335 (51.8%)weiblich 978 (13.9%) 2105 (30.0%) 279 (4.0%) 3362 (47.9%)

Summe 1917 (27.3%) 4391 (62.5%) 689 (9.8%) 6997 (99.6%)

Beachte: 26 Kinder (0.4%) hone Altersangabe

Tabelle 6.2: Gesamtstichprobe (I. Untersuchungspahse), aufgegliedert nach Ge-schlecht und Alter.

6.4.2 Variablen

Die Datenerhebung wurde von sieben Diplom-Psychologen durchgeführt. Diesewaren speziell auf Untersuchungsablauf und Instrumente geschult. Die Untersu-chungen wurden immer in den ersten vier Schulstunden durchgeführt, um dieÜbermüdung zu vermeiden (vgl. Rost 1993).

6.4.2.1 Datenquelle �Kind�

Nach einigen Überlegungen entschieden sich die Wissenschaftler für drei Verfah-ren zur Messung der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit:

• CFT 20 von Weiÿ (1987): Bei diesem Verfahren handelt es sich um eineGrundintelligenztest-Skala, die grundlegende Denkkapazitäten erfasst. Hierwird vor allem die Fähigkeit der Problemerfassung und Problemlösung inneuartigen Situationen gemessen (genaue Beschreibung siehe �Intelligenz-test bei Schulkindern�).

• ZVT von Oswald und Roth (1978): Das ist ein Zahlen-Verbindungstest zurMessung der kognitiven Leistungsgeschwindigkeit. Dieser Test ermöglichtdie Erfassung der basalen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, die al-len kognitiven Leistungen zugrunde liegt.

• ANA von Portmann (1974): Hier wird die Fähigkeit erfasst, an verbalemMaterial Gesetzmässigkeiten zu erkennen und anzuwenden. Dieser Test wur-de erweitert um im oberen Begabungsbereich besser di�erenzieren zu kön-nen. Die Testzeit wurde auf 20 Minuten gekürzt.

6.4.2.2 Datenquelle �Peer�

Von Bedeutung für diese Studie waren auch die psycho-sozialen Beziehungen be-sonders begabter Kinder. Deshalb wurden jedem Kind zwei soziometrische Fragengestellt:

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 65

• Mit wem spielst du gern in den Schulpausen?

• Mit wem spielst du nicht so gern in den Schulpausen?Zur Identi�zierung von hochbegabten Schülern gab es noch eine dritte Fra-ge:

• Wer in der Klasse lernt besonders schnell und weiÿ mehr als die Anderen?

Bei der Beantwortung der ersten zwei Fragen hatten die Kinder die Möglich-keit, drei Angaben zu machen, bei der dritten Frage sollten sie nur einen Namenangeben (vgl. Rost 1993).

6.4.2.3 Datenquelle �Lehrkraft�

Um die Fähigkeit der Lehrkräfte, besonders begabter Schüler(innen) zu identi�-zieren, zu prüfen, wurden zwei Instrumente eingesetzt:

• Schätzskalen für jeden Schüler(in)

• Nominierungsfragen für die besten Schüler(innen) bestimmter Fähigkeits-bereiche

Hier war die Aufgabe der Lehrer, für jeden Schüler(in) auf einer Skala von -3für extrem schwach bis +3 für extrem hoch vorherzusagen, wie dieser Schüler(in)in den Intelligenztests CFT20, ZVT und ANA abschneiden würde. Die intellek-tuellen Fähigkeiten waren formal-logisches Denken, Rechenfähigkeit, Verbalfähig-keit, Au�assungs-Geschwindigkeit, Merkfähigkeit, Konzentration, Neugierde undIdeenreichtum bzw. Kreativität. Die Lehrer sollten zu jeder Fähigkeit die dreibesten Schüler(innen) ihrer Klasse wählen (vgl. Rost 1993).

6.4.3 Zusammenstellung von Ziel- und Vergleichsgruppe

Bei der Zusammenstellung der Ziel- und Vergleichsgruppe sind zwei Faktoren, dieim Folgendem erläutert werden, von groÿer Bedeutung.

6.4.3.1 Psychometrische Qualität der Intelligenztests

Bei der teststatistischen Analyse des CFT20 zeigte sich, dass nur zwei von vierUntertests für die Identi�kationsprozedur geeignet waren. Deshalb wurden für dieweiteren Berechnungen nur die ausreichend homogenen und miteinander korrelie-renden Subtests herangezogen. Die zwei weiteren Tests (ZVT und ANA) konntenohne Veränderungen zu Identi�kationsprozedur benutzt werden (vgl. Rost 1993).

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 66

6.4.3.2 De�nition der allgemeinen Intelligenz �g�, des Ziels und derVergleichsgruppe

Intelligenz �g�: �Ist die Fähigkeit, die allen geistigen Funktionen und geistigenLeistungen gemeinsam zugrunde liegt und demzufolge die Interkorrelationen un-terschiedlicher kognitiver Fähigkeiten und unterschiedlichen Intelligenztests stif-tet.� (Rost 1993, S. 11)

Die allgemeine Intelligenz �g� wurde im Projekt über eine Hauptkomponen-tenanalyse bestimmt. Die erste Hauptkomponente war die mathematische opti-male Zusammenfassung der Gemeinsamkeit aller Variablen.

Das Auswahlverfahren der 151 Kinder für die zweite Phase der Untersuchun-gen mit breiter intellektueller Leistungsfähigkeit (= Zielgruppe) verlief wie folgt:

• Ausschluÿ derjenigen Kinder, die in einem der Tests (CFT, ZVT, ANA) nurunterdurchschnittliche Werte aufwiesen.

• Auswahl der Kerngruppe hochbegabter Schüler und Schülerinnen nach derallgmeinen Intelligenz.

• Erweiterung der Kerngruppe besonders begabter Kinder um jene beson-ders begabten Schüler(innen), die in einem der drei Verfahren extrem guteLeistungen erzielten.

Bei der Bildung der Vergleichsgruppe wurde versucht, jedem Kind aus derZielgruppe ein intellektuell durchschnittlich leistungfähiges Kind zuzuordnen. Mitdem gleichen Geschlecht, der gleichen Schule, wenn möglich der gleichen Klasseund mit möglichst ähnlichem familiären Hintergrund.

Diese Aufgabe übernahmen die Lehrkräfte, da diese die Kinder mit ihrenfamiliären Hintergründen am besten einschätzen konnten. Den Lehrern wurdengrobe Berufskategorisierungen mit dem sozio-ökonomischen Status der Eltern zurVerfügung gestellt. Zuerst sollten sie das Zielkind einordnen und dann die vorge-schlagenen Kinder für die Vergleichsgruppe. Es war nicht in jedem Fall leicht, einpassendes Kind der Vergleichsgruppe dem Kind der Zielgruppe zuzuordnen. EinProblem war der hohe sozio-ökonomische Status vieler hochbegabter Kinder derZielgruppe. Somit umfasste die Vergleichsgruppe 15 Kinder weniger als die Ziel-gruppe. Wir können der Tabelle 6.3 die genaue Aufteilung pro Klasse entnehmen(vgl. Rost 1993).

Aus der Tabelle 6.4 wird ersichtlich, dass die Mittelwerte und Standardabwei-chungen für Jungen und Mädchen mit Ausnahme des ZVT in ähnlicher Gröÿen-ordnung liegen. Varianzanalysen belegten ledeglich für die Variable ZVT einenbedeutsamen Ein�uÿ des Geschlechts, der aber mit den aus der Tabelle ersicht-lichen Werten theoretisch wie praktisch vernachlässigt werden kann. Dabei ist esbesonders erfreulich, dass gerade im zentralen �g�-Kriterium praktisch identischeMittelwerte und Streuungen für Jungen und Mädchen vorliegen.

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 67

Anzahl Projectkinder Pro KlasseKlassenzahl ProjecktKinder Vergleichsgruppe Zeilgruppe Zusammen

13 Klassen 1 Kind 5 8 1372 Klassen 2 Kind 71 73 1446 Klassen 3 Kind 6 12 1818 Klassen 4 Kind 36 36 722 Klassen 5 Kind 4 6 105 Klassen 6 Kind 14 16 30

116 Klassen 136 151 287

Tabelle 6.3: Verteiling der 287 Kinder auf die 116 Schuklassen.

Bundersland Kinder Klassen Shulen

Hessen 2724 (37.4%) 163 97Schleswig-Holstein 1140 (15.6%) 62 16Rheinland-Pfalz 949 (13.0%) 51 17Nordrhein-Westfalen 825 (11.3%) 55 27Bayern 538 (7.4%) 27 16Baden-Württemberg 482 (6.6%) 26 11Niedersachsen 332 (4.6%) 25 13Berlin (West) 221 (3.0%) 15 5Saarland 78 (1.1%) 6 4

Sume 7289 (100%) 430 206

Tabelle 6.4: Gesamtstichprobe (I. Unersuchungsphase), aufgegliedert nach Kin-dern nach Kindern, Klassen, Schulen und Bundersläden

6.5 Untersuchungsphase 2

Die Hauptaufgabe der zweiten Untersuchungsphase war, Kontakt zu den Familienund den Lehrern der beiden Begabungsgruppen aufzunehmen, um die erforderli-chen psychologisch-pädagogische Variablen zu erheben.

6.5.1 Variablen

In der zweiten Untersuchungsphase wurden die gleichen Anforderungen an dieDiplom-Psychologen sowie an die Durchführung der Untersuchung gestellt wie in

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 68

der ersten Untersuchungsphase.

6.5.1.1 Datenquelle �Kind�

Hier wurden mit unterschiedlichen Tests verschiedene Variablen gemessen:

• Persönlichkeitsfragebogen von Seitz und Rausch (1976): Es wurden verschie-dene Aspekte der Persönlichkeit in den Bereichen: Verhaltensstile, Motiveund Selbstbild gemessen.

• Zahlen-Verbindungstest (ZVT) von Oswald und Roth (1987): Das ist einsprachfreier Test zur Messung der kognitiven Leistungsgeschwindigkeit.

• Attributionskiste (ATTK) (Projektentwicklung): Hiermit werden attributi-ve Zuschreibungen wie internale (Anstrengungsbereitschaft, Fähigkeit) undexternale (soziale Unterstützung, Zufall/ Glück) Ursachenfaktoren in vierSituationen, wie Lob, Tadel, gute Noten, schlechte Noten erfasst.

• Fragebogen zur Erfassung schulspezi�scher Kompetenz-, Ursachen-, undKontrollerwartungen der Kinder (SEUK) (Projektentwicklung): Dieser Fra-gebogen umfasst Items zu den Attributionsdimensionen Anstrengung, Fä-higkeit, Unterstützung durch Andere und Glück/ Zufall sowie weitere Itemszu Kontrollerwartungen in Leistungs- und Lob/ Tadel- Situationen.

• Die Selbstkommunikationsliste (SKK) (Projktentwicklung): Die Selbstkom-munikationsliste dient zur Erfassung der Reaktionsbereitschaft und Selbst-kommunikation in Belastungssituationen. Hier werden Bewältigungsstrate-gien in zwei unterschiedlichen Situationen schlechte Noten und Tadel durchLehrer gemessen.

• Sozialfragebogen für Schüler(innen) (Petillon 1984): Dieser Fragebogen er-fasst, wie die Schüler(innen) ihre Umwelt und sich selbst wahrnehmen.

• Familienbeziehungstest (FRT) von Bere und Anthony (1978): Dieser Testsoll emotionale Beziehungen in der Familie aus der Sicht der Kinder erfassen.Dazu wurden 44 Aussagekarten genutzt, um die Gefühle des Kindes zumessen. Sie können nach Qualität und Intensität gegliedert werden.

• Matching-Familiar-Figures-Test (MFFT) von Kagan, Rosman, Dany, Al-bert und Philips (1964): Hierbei handelt es sich um ein Bildersuchtest zurErfassung von Re�exivität und Impulsivität.

• Freundschaftsfragebogen (FFB) von Bierman und Mc Cauley (1987): Indiesem Fragebogen sind drei Dimensionen zu Freundschaftsbeziehungen wiez.Bsp. positive und negative Interaktionen vorhanden.

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 69

• Bild malen (BM) (Projektentwicklung): Bei diesem Projekt wurde die zeich-nerische Kreativität getestet.

• Di�erentieller Interessenstest für Kinder (DIT-K) von Todt (1987): DieserTest besteht aus drei Teilen; Interessensbereichen, Merkmalen von hochbe-gabten und Interessen an Unterrichtsfächern und Freizeitaktivitäten.

Die meisten Tests, Fragebögen und Skalen wurden für den Gebrauch in dieserStudie in modi�zierter und zum Teil auch in einer übersetzten Version verwendet.Manche Tests wurden um Variablen ergänzt und andere in der Bearbeitungszeitgekürzt (vgl. Rost 1993).

6.5.1.2 Datenquelle �Eltern�

Aufgrund des groÿen Ein�usses der Eltern auf die Entwicklung der Kinder wur-de im �Marburger Hochbegabtenprojekt� auch eine genaue Analyse der Elternmiteinbezogen.

Diese Untersuchungen wurden mit folgenden Instrumenten durchgeführt:

• Elterninterview (E-IN) (Projektentwicklung): Mit dem Elterninterview sol-len Informationen über das Kind, über die Eltern und über die Eltern-Kind-Beziehung erfasst werden.

• Erziehungsstilfragebogen (EZZF) (Projektentwicklung): Hier müssen die El-tern getrennt die Eigenschaften bewerten, die ihnen bei der Erziehung be-sonders wichtig sind.

• Persönlichkeitsbeurteilung des Kindes durch die Eltern (PBK-E) von Göt-tert und Asendorf (1989): Bei der Persönlichkeitsbeurteilungen sollen dieEltern die Persönlichkeit ihres Kindes seperat beschreiben.

• Elternfragebogen (EF) (Projektentwicklung): Es wurde ein umfassenderFragebogen zusammengestellt, der zahlreiche Informationen über das Kindund die Eltern abfragt, u.a. die Berufstätigkeit der Eltern oder das Schul-besuchsverhalten des Kindes.

• Temperamentfragebogen für die mittlere Kindheit (MCTQ) von Hegvik, McDevitt und Covey (1982): Es werden verschiedene Faktoren wie Aktivität,Intensität, Annährung, Vermeidung untersucht.

• Familien-Struktur-Fragebogen (FACES 3) von Olsen, Portner und Lavee(1985): Mit diesem Fragebogen werden zwei Grunddimensionen des Fami-lienverhaltens gemessen; Kohäsion und Adaptabilität.

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 70

• Selbstkonzeptfragebogen (SKF) von Mummendey, Riemann und Schiebel(1983): Hier beurteilen sich Mutter und Vater selbst. Es werden sechs Selbst-konzepte gemessen u.a. Selbstsicherheit, Flexibilität, Toleranz.

• Fragebogen zur Akzeptanz von Fördermaÿnahmen für besonders begabteKinder (FAF-E) (Projektentwicklung): Die Eltern der Zielgruppe werdenüber ihre Einstellung zu Fördermaÿnahmen befragt. Die Eltern der Ver-gleichsgruppe sollen angeben, für wie wünschenswert sie die vorgegebenenMaÿnahmen zur Förderung besonders begabter Kinder halten.

• Verfahren zur Messung des für das Bildungsverhalten relevanten, sozialenStatus (BRSS) von Bauer (1972): Es werden Informationen über die Bildungder Eltern gesammelt, was zur Einstufung in eine von sechs Kategorien desberufsbildungsrelevanten, sozialen Status führt.

6.5.1.3 Datenquelle �Lehrkraft�

Auch die Lehrkräfte mussten Fragebögen zu der Ziel- und Vergleichsgruppe be-arbeiten:

• Lehrerinterview (IN-L) (Projektentwicklung): Das Lehrerinterview zielt aufVerhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften des Schulkindes ab.

• Persönlichkeitsbeurteilung des Kindes durch die Lehrkraft (PBK-L) (Pro-jektentwicklung): Dieser Fragebogen soll das Verhalten der Kinder in derSchule festhalten, um den Unterschied zum Verhalten des Kindes im El-ternhaus erkennen zu können.

• Temperamentfragebogen für Lehrer (TTQ) (Projektentwicklung): Der Fra-gebogen soll die Temperamentsfaktoren Ausdauer, Ablenkbarkeit und Ak-tivität erfassen.

• Fragebogen zur Akzeptanz von Fördermaÿnahmen-Lehrerversion (FAF-L)(Projektentwicklung): Der Lehrer soll bei der Beurteilung der vorgegebe-nen Maÿnahmen zwischen allgemeinen und den Maÿnahmen für besondersbegabte Kinder unterscheiden.

• Schulleistungen und sportliche Leistungsfähigkeit(SC) (Projektentwicklung):Hier sind die Schulnoten des Versetzungszeugnisses von der dritten bis zurvierten Klasse, die Leistungen der Bundesjugendspiele (Punktzahl) undSchwimmabzeichen (Schwierigkeitsgrad) des Kindes ausschlaggebend.

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KAPITEL 6. DAS MARBURGER HOCHBEGABTENPROJEKT 71

6.6 Auswertung

Die Daten wurden auf Bögen in computerlesbarer Form erhoben. Diese Datenwurden von einer anderen Person auf Eingabefehler hin überprüft. Somit konnteein fehlerfreier Ausgangsdatensatz sichergestellt werden.

Die Auswertung erfolgte mit Hilfe von Standard-Software am Hochschulre-chenzentrum der �Philipps-Universität� in Marburg. Es gibt zahlreiche Verfahrenum eine solche Studie, die reich an Interviews, Fragebögen und Tests ist, auszu-werten. Das Auswerten ist ein arbeitsaufwendiger Prozess bestehend aus vielenAnalysen und statistischen Verfahren. Die hier angewendeten Verfahren wurdenvorab beschrieben. Um die erfassten Daten zu beschreiben und zusammenzufas-sen wurden übliche statistische Kennwerte verwendet. Variablenzusammenhängewurden durch Rangkorrelationen abgebildet. Zur Überprüfung der Dimensionali-tät wurden Hauptkomponentenanalysen benutzt. Zur Überprüfung der Gruppen-di�erenzen werden zweigestufte, zweifaktorielle uni- und multivariate2 Varianz-analysen mit anschlieÿender Klassi�kation der Probanden gerechnet.

Für den Einsatz der erwähnten statistischen Verfahren gibt keine Vorausset-zungen oder Einschränkungen. Auf Voraussetzungsverletzungen wird nur danneingegangen, wenn mehrere geforderte Bedingungen als nicht erfüllt angesehenwerden müssen und dies eine vorsichtige Interpretation der Befunde erfordert(vgl. Rost 1993).

2multivariat: <lat.-engl.>: mehrere Variablen betre�end

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Kapitel 7

Hochbegabtenförderung

Nur in eine Lernumwelt, die eine Vielfalt an Lern- und Arbeitsmöglichkeitenbietet, kann jedes Kind seine natürlichen Interessen, Neigungen und speziellenBegabungen entdecken und entfalten. So beschreibt Jensen 1998 die wichtigstenAnforderungen an eine gute Schule. Jedoch ist es bekannt, dass in den meistenSchulen diese Vielfalt an Lern- und Arbeitsmöglichkeiten nicht gegeben ist.

Ein Grundproblem liegt darin, dass die beträchtlichen interindividuellen Un-terschiede der Schüler(innen) in der allgemeinen Intelligenz (g) zu wenig beachtetwerden. Nicht nur die Intelligenzunterschiede auch die der Lernmotivation sindsehr groÿ, wobei beides miteinander verknüpft ist. Es sind Faktoren wissenschaft-lich nachgewiesen worden die nicht missachtet werden sollten. Dazu gehören u.a.die Unterschiede in der Lernwirksamkeit und im Leistungsniveau zwischen ver-schiedenen Kindern (vgl. Weinert 2000) oder die individuellen Lernpotentiale inunseren Schulen, die noch keineswegs optimal ausgeschöpft werden, unabhängigvon der Höhe der Intelligenz der Schüler(innen) (vgl. Weinert 2000).

Es sind sich alle Fachleute einig, dass in der gesamten Schulzeit eine starkeDi�erenzierung des Unterrichts ausgerichtet an den individuellen Schulleistungenjedes einzelnen Kindes erfolgen sollte. Es sollte beachtet werden, dass vor allemdie leistungsstarken Schüler(innen) nur dann erfolgreich lernen und arbeiten kön-nen, wenn ihre Ansprüche und ihre Interessen berücksichtigt werden. Es ist einbinnendi�erenzierender Unterricht zu verlangen (vgl. Holling und Kanning 1999).

Fakt ist, dass diese Di�erenzierung derzeit an den üblichen Schulen kaumverwirklicht wird. Wie sollte ein solcher Unterricht in Bezug auf hochbegabteKinder, aussehen? Wie wir schon gehört haben, sollte ein solcher Unterricht anindividuellen, intellektuellen Fähigkeiten und Lernbedürfnissen orientiert sein.Ebenfalls ist es bekannt, dass hochbegabte Kinder verstärkt beim Schuleintritt dasBedürfniss haben, Neues zu lernen. Sie begreifen auch abstrakte und komplizierteZusammenhänge sehr schnell mit wenig Aufwand.

Hochbegabte Kinder brauchen dementsprechend ein Lernangebot das den kur-zen Lernaufwand berücksichtigt und Lehrprogramme, die auf einem höherem

72

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KAPITEL 7. HOCHBEGABTENFÖRDERUNG 73

Ausgangsniveau beginnen ( vgl. Heller und Hany 1996). Es gibt mehrere För-dermöglichkeiten, auf die im Folgenden di�erenzierter eingegangen wird.

7.1 Begabungsspezi�sche Maÿnahmen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten und Maÿnahmen Begabte spezi�sch zu för-dern. Dazu ist es entscheidend zu wissen, ob sich ein hochbegabtes Kind qualitativoder quantitativ von seinen durchschnittlich intelligenten Mitschülern unterschei-det.Wenn bei einem hochbegabten Schülern auf einzelnen Faktoren einfach mehrgegeben ist, dann kann als Fördermaÿnahme ein schnelleres Durcharbeiten des inder Schule vorgesehenen Sto�es ausreichend sein. Diese nennt man Akzeleration,worauf ich im weiteren eingehen werde. Wenn sich die Hochbegabung eines Schü-lers oder einer Schülerin nicht in der reinen Mehrleistung sondern eher in seinerAndersartigkeit ausdrückt ist als Maÿnahme ein vollkommen anderer Lehrplannotwendig. Dieses fördert Förderungsmaÿnahmen wie u.a. das Enrichments, wasim Folgenden erläutert werden soll (vgl. Holling und Kanning 1999) .

7.1.1 Akzeleration

Darunter sind alle Maÿnahmen zu verstehen, die ein schnelleres Durchlaufen desgesamten Schullehrplans bzw. der Schullaufbahn gemeinsam haben. Akzelerati-onsmaÿnahmen sind u.a. Früheinschulung, Überspringen von Klassen sowie Spe-zialklassen (vgl. Holling und Kanning 1999).

7.1.1.1 Früheinschulung

Viele hochbegabte Kinder beschäftigen sich schon ab dem dritten Lebensjahr mitZahlen und Buchstaben. Deshalb ist es kein Einzelfall, wenn hochbegabte Kin-der schon vor dem Schuleintrittsalter rechnen, schreiben und lesen können. DerGrund für diese groÿe Motivation der Kinder, das Lesen zu beherrschen, ist derDrang noch neuem Wissen, das sie sich selbständig ihrem Bedürfnis entsprechenderschlieÿen möchten. Der Drang nach neuem Wissen ist auch der Grund für dieoft groÿe Freude auf die Schule. Sie erho�en sich das Lernen von neuen interessan-ten Dingen, richtiges Rechnen, spannendes, neues Wissen über Weltphänomene,Rätsel und Problemlösungen. All dies bekommen sie im Kindergarten nicht aus-reichend und langweilen sich dort mit zunehmendem Alter mehr und mehr (vgl.Sapf 2006).

Casey und Quisenberry (1982) vertreten die Ansicht, dass es bedeutungs-schwer ist, Hochbegabte nicht früh einzuschulen. Diese Entscheidung wird vonallen Seiten kontrovers diskutiert. Trotzdem kann man zunächst ober�ächlich sa-gen: �Wenn sich das Kind im Kindergarten nicht mehr wohl fühlt; es ihm dortschlecht geht und es dort mit groÿer Unlust jeden Tag hingeht, ist es eine schlechte

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KAPITEL 7. HOCHBEGABTENFÖRDERUNG 74

Entscheidung das Kind im Kindergarten zu belassen.� Es ergibt sich oft ganz vonalleine, an einen Wechsel in die Schule nachzudenken, bzw. sich sogar dafür zuentscheiden. Dazu kommt, dass Deutschland eines der europäischen Länder ist,in dem Kinder im Vergleich zu anderen Ländern spät eingeschult werden (z.Bsp.Holland Einschulung mit vier Jahren).

Gründe für heiÿe Diskussionen für und wider Früheinschulung sind verschiede-ne Ansichten und Vorurteile z.Bsp. die Ansicht, dass eine vorzeitige Einschulungdas Kind überfordere und man dem Kind mit dieser Entscheidung die Kindheitraube. Die Überforderung hätte negative Auswirkungen auf die Persönlichkeits-und Leistungsentwicklung des Kindes. Diese Ansicht hat sich in vielen Studiennicht bestätigt. Im Gegenteil: Ceci und Williams (1997) fanden heraus, dass es�bei einem verspäteten Schuleintritt zu einem Intelligenzabfall von fünf bis sie-ben Punkten kommen kann.� Morrison et al. (1995) gaben an: �Kinder pro�tierenmeÿbar durch bessere geistige Leistungen aufgrund der Früheinschulung; ein Ver-bleib im Kindergarten erwies sich nicht als förderlich.� Ein anderes Argument,das immer wieder in dieser Diskussion zu hören ist, ist die soziale, emotionaleund körperliche Reife, die den Kindern fehle und somit gegen eine Früheinschu-lung spreche. Auch diese Ansicht hat sich in der Praxis nicht bewährt (vgl. Stapf2006).

Natürlich müssen vor allem die Eltern wissen und fühlen, wie es ihrem Kind imKindergarten geht. Bei Zweifeln oder auch vor der letztendlichen Entscheidung isteine individuelle, fachpsychologische Untersuchung und Beratung zu empfehlen.Für hochbegabte Kinder und ihrer Motivation in der Schule ist es mit Sicherheitbesser, früh eingeschult zu werden und die Fähigkeiten und Fertigkeiten gemein-sam mit der Klasse zu erwerben, als später eingeschult zu werden, um dann durchdie niedrigen Anforderungen gelangweilt, mit schlechten Erfahrungen eine Klassezu überspringen und sich dort wieder neu integrieren zu müssen.

Von einer vorzeitigen Einschulung gegen den Willen der Schule und vor allemgegen den Willen der künftigen Lehrkraft ist abzuraten. Dies hätte eine vorbe-lastete Beziehung zwischen Lehrer und Schüler(in) zur Folge, was sich auf ver-schiedene Entwicklungsbereiche negativ auswirken kann. In einem solchen Fallist es u.U. eher empfehlenswert, sich für eine andere Schule mit einer positivenEinstellung zu entscheiden. Von Eltern, Lehrern, Erziehern und Psychologen soll-te immer bedacht werden, diese Entscheidung zum Wohl des Kindes zu tre�enist und dabei Vorurteile oder veralterte Ansichten zur Seite zu legen (vgl. Stapf2006).

7.1.1.2 Das Überspringen

Es wird gelegentlich behauptet, dass das Überspringen einer Klasse eine Korrek-tur der Fehlentscheidung in Bezug auf den Einschulungstermin sei. Doch Wis-senschaftler halten das Überspringen für eine einfache und e�ziente Möglich-

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keit, Unterforderung eines Schülers oder einer Schülerin abzuhelfen (vgl. Cropley1988). 83% der Schüler(in), die die Möglichkeit des Überspringens einer odermehrer Klassen wahrnehmen, sind Grundschüler(in). In der Grundschule ist derLeidensdruck für Hochbegabte, der sich aus Unterforderung und fehlenden För-derungsmöglichkeiten ergibt, am gröÿten. Das Überspringen von Klassen ist inder Grundschule unbedenklich, da diese Schüler(innen) den Sto� der höherenKlassenstufe teilweise schon vor der Einschulung beherrschten in jedem Fall sehrschnell nachholen. Umso mehr diese Schüler(innen) gefordert werden erbringenmüssen, desto schneller und mit mehr Freude lernen sie den neuen Sto�. Sindjedoch Erfahrungen oder motorische Fertigkeiten gefragt, brauchen auch Hoch-begabte Zeit. Denn diese Fähigkeiten haben nichts mit Intelligenz zu tun.

Eltern und Lehrer haben dem Überspringen von Klassen gegenüber oft einenegative Einstellung. Beim Überspringen einer Klasse sind häu�g falsche Vorstel-lungen, die Gründe für die bestehende Skepsis. Denn mögliche negative Auswir-kungen wie späterer Leistungsabfall, emotionale oder soziale Probleme bestätigensich im Fall des Überspringns nur selten. Im Gegenteil, das Überspringen eineroder mehrer Klassenstufen auch in der Sekundarstufe bis zur 11. Klasse wirdvon den Betro�enen meist als hilfreich erlebt und wirkt sich im Regelfall positivauf die Gesamtpersönlichkeit der Kinder aus. Werden die bestehenden Problemedurch ein Überspringen nicht besser, ersparen sich die Kinder ein Jahr der negativerlebten Schulzeit (vgl. Holling und Kanning 1999).

Es gibt aber ein paar Bedingungen zu beachten. Eine Voraussetzung für er-folgreiches Überspringen ist, dass Kognition und Motivation des Schülers oderder Schülerin ausreichend hoch sind. Dies sollte durch eine kompetente Diagnos-tik festgestellt werden. Empfehlenswert ist es, wenn alle beteiligten Personen vorallem Lehrer, Eltern, Mitschüler(innen), Psychologen und der Schüler(in) selbstmit dem Springen einer Klasse einverstanden sind da sich der Hochbegabte inseiner neuen Klasse wohlfühlen soll und hierfür Unterstützung benötigt. Es bie-tet sich eine Probezeit an, um dem Schüler(in) die Möglichkeit zu geben, seineneue Umgebung und die neuen an ihn gestellten Anforderungen kennenzulernen.Eine solche Probezeit sollte mindestens vier Wochen betragen. In der Probezeitsollte der Schüler oder die Schülerin bei Klassenarbeiten nicht benotet werden,es sei denn die Noten sind sehr gut. Eine Benotung wäre u.U. ungerecht unddemotivierend für den Schüler(in) in dieser neuen Situation, in der er versucht,sich in sein neues Umfeld zu integrieren. Auÿerdem könnte eine Benotung in derÜbergangszeit zur Folge haben, dass ein(e) Schüler(in) die entsprechende Emp-fehlung für das Gymnasium, die man z.Bsp. in Baden-Württemberg benötigt,nicht erhält.Unter Berücksichtigung der o.g. Bedingungen, steht einem reibungs-losen Überspringen grundsätzlich nichts im Wege und es ist eine Verbesserung derSituation, des Schülers oder der Schülerin zu erwarten (vgl. Holling und Kanning1999).

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7.1.1.3 Spezialklassen

Die Frage nach der Notwendigkeit spezieller Klassen für Hochbegabte wird kon-trovers diskutiert, doch gibt es hierfür eine eindeutige wissenschaftlich belegteAntwort. Sie lautet: �Ja, die Leistungen Hochbegabter in homogeneren Spe-zialklassen sind besser als in gemischt-befähigten Klassen.� Dazu tragen zweiFaktoren bei. Erstens sind die Schüler(innen) von Spezialklassen bezüglich ihrerLeistungsfähigkeit ausgelesen und zweitens sind auch die Lehrer stark ausgelesenund bemühen sich sehr um einen sehr guten Unterricht (vgl. Kulik und Kulik1991). Erst durch die Bildung von homogenen Lerngruppen wird die Anpassungan die Fähigkeiten der hochbegabten Schüler(innen) und ihre Lern- und Arbeits-bedürfnisse ermöglicht. Eine Möglichkeit von speziellen Klassen an konventionel-len Schulen sind D-Zug-Klassen. Diese sind für besonders befähigte, motivierteund interessierte Schüler(innen) an einigen wenigen Schulen eingerichtet worden.Die Schüler(innen) der D-Zug-Klassen durchlaufen den Lehrsto� zusammen ineinem kürzeren Zeitraum als andere Klassen. Diese verkürzte Zeit kommt durchkürzere Übungs- und Wiederholungsphasen zustande. Ein Vorteil ist hier im Ver-gleich zum Überspringen und zur Früheinschulung, dass sich die Kinder in einergemeinschaftlichen Gruppe nicht nur intellektuell, sondern auch sozial und emo-tional gemeinsam weiterentwickeln (vgl. Holling und Kanning 1999).

7.1.2 Enrichment

Beim �Enrichment� unterscheidet man zwischen vertikalem und horizontalem�Enrichment�. Unter vertikalem �Enrichment� versteht man das Verbreiten oderVertiefen, des im Lehrplan enthaltenen Lehrsto�es. Beim horizontalen �Enrich-ment� werden neue Lehrsto�e unterrichtet. Enrichment ergänzt das vorhandeneLehrangebot. Darunter sollen aber nicht Ergänzungsaufgaben verstanden werden,die zur Beschäftigung des Kindes dienen sondern Aufgaben, die zur positivenintellektuellen Weiterentwicklung beitragen. Enrichmentmaÿnahmen sind z.Bsp.Plus-Kurse, Schülerwettbewerbe und AG�s (vgl. Holling und Kanning 1999).

7.1.2.1 Plus-Kurse

Sogenannte Plus-Kurse diese werden nur selten in Deutschland angeboten. Diesesollen allgemeine Fähigkeiten wie geistige Flexibilität und Bereitschaft zu Team-arbeit stärken. Hochbegabte Schüler(innen) haben die Möglichkeit meist zweizusätzliche Kurse mit je 2 Stunden in der Woche zu besuchen.

7.1.2.2 Schülerwettbewerbe

Damit sind Wettbewerbe wie �Jugend forscht�, Mehrsprachen-Wettbewerbe oderdie �Internationale Olympiade� gemeint. �Ziel dieser Wettbewerbe ist es, dass

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sich die Schüler(innen) in ihren persönlichen Neigungs- und Begabungsbereichenverstärkt engagieren, Leistungsbereitschaft und Problembewuÿtsein entwickeln,Kreativität entfalten, durch Zusammenarbeit mit Anderen soziale Erfahrungensammeln und ein gesundes Selbstbewuÿtsein entwickeln� (Holling und Kanning1999, S. 72).

Man kann Schülerwettbewerbe auch als Möglichkeit zur Identi�kation Hoch-begabter Schüler(innen) betrachten. Leider bleiben auch hier �underachiever�unberücksichtigt. Da sie nicht durch ihre Leistungen au�allen wird es ihnen auchnicht ermöglicht, an den genannten Wettbewerben teil zu nehmen.

7.1.2.3 Schul-Arbeitsgruppen (AG�s)

Eine weitere Form des Enrichments sind die Schul-AG`s. Diese stellen eine Formdes auÿerschulischen Enrichments dar. Bei Schul-AG�s geht darum, dass sichhochbegabte Schüler(innen) in der auÿerschulischen Zeit in einer Gruppe mit ei-nem Fach, einem Projekt oder einem Thema, das nicht im Lehrplan vertretenist, auseinandersetzen. Dabei sollte es sich um ein Fachgebiet handeln, das derBegabung bzw. den Interessen des Kindes entspricht. Ebenso sollte der Schwierig-keitsgrad an die Fähigkeiten des Kindes angepasst sein. Damit ist gemeint, dassAG`s eine echte Herausforderung für hochbegabte Kinder darstellen sollten, umsie als Fördermaÿnahme nutzen zu können (vgl. Holling und Kanning 1999).

7.1.3 Alternativen

Privat- und Spezialschulen haben nicht von vornherein eine fördernde Wirkungauf Hochbegabte, wie z.Bsp. die Waldorfschule. Hinter der Waldorfschule steht ei-ne anthroposophische1 Gesellschaft, die die Lehre Rudolf Steiners vermittelt. DieWalddorfpädagogik ist mit vielen Ideologien verbunden wie u.a. mit der Reinkar-nation, die sich in einer karmakonformen Erziehung wiederspiegelt. HochbegabteKinder lehnen ideologisch bedingte geistige Einengungen in der Regel ab.

Die Walddorfpädagogik vertritt in Kindergärten und Schulen die Vorstellungüber den Siebenjahresryhtmus der menschlichen Entwicklung. Das hat zur Folge,dass Kindern in ihren ersten Lebens-Jahren keine geistige Anregung geboten wird.Und auch in den nächsten sieben Jahren, also nach der Einschulung, werdenintellektuell-abstrakte Beschäftigungen und technische Geräte abgelehnt. Ebensogibt es in den Schuljahren keine Schulbücher, nach denen Hochbegabte ein sogroÿes Verlangen haben. Das Lernen von Fremdsprachen ist stark auf Liederund Gedichte beschränkt. Bei den groÿen Klassenvon bis zu 40 Kindern, die

1Anthroposophie: die, von R. Steiner begründete Weltanschauungslehre, die die Welt in einerstufenweise Entwicklung begri�en sieht, die der Mensch einfühlend und erkennend nachzuvoll-ziehen hat, um höhere seel. Fähigkeiten zu entwickeln und mit ihrer Hilfe übersinnl. Erkenntnissezu erlangen.

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in Waldorfschulen zu �nden sind, wird das sensible und schüchterne bzw. auchhochbegabte Kind untergehen.

Allgemein ist über die Waldorfschule, in Bezug auf intellektuell Hochbegabtezu sagen, dass sie eine individuelle Förderung von intellektuell begabten Schülernausdrücklich ablehnen (vgl. Feger und Prado 1998). Gerade diese Ablehnung vonFörderung und insbesondere einfachen Fördermitteln wie z.Bsp. Büchern führtbei Hochbegabten zu einer inneren Unruhe und zu Spannungen, sogar zu agres-siven Verhalten Eltern und Gleichaltrigen gegenüber. Beobachtet man als Elternein solches Verhalten, ist an einen Wechsel an eine andere Schule zu denken, damitdie Kinder die akademischen Fertigkeiten nachholen können, was Hochbegabtenin der Regel nicht schwer fällt (vgl. Stapf 2006).

Eine andere schulische Institution sind die Montessori Schulen. Dort sind hoch-begabte Kinder meist unterfordert. Maria Montessori wollte mit ihrer Pädagogikganz besondes auf die unterdurchschnittlich begabten Kinder eingehen.HochbegabteKinder der dritten und vierten Klasse klagten über ein zu langsames Lerntem-po und darüber, dass ihrem Abstraktionvermögen zu wenig Rechnung getragenwerde. Zusätzlich ist es in der Montessori Schule für viele Kinder problematisch,ständig eigene Entscheideungen tre�en zu müssen (vgl. Stapf 2006).

Für alle Schulen, Schulformen und Lebensumwelten von hochbegabten Kin-dern gilt, dass sie geistig anregend, �exibel, o�en, tolerant, fordernd bis strengaber in jedem Fall gerecht sein sollten. In alternativen Schulinstitutionen ist ggfs.zu prüfen, ob die Anforderungen genügend hoch sind und ob die Schule ausrei-chend Materialien bietet, die für Hochbegabte eine Herausforderung darstellen.

7.2 Bewertung von Fördermaÿnahmen

Rost bemerkte 1933, dass empirische Studien zu Fördermaÿnahmen fehlen. Des-halb hat er selbst im Rahmen seines Marburger Hochbegabtenprojektes, das be-reits im letzten Kapitel abgehandelt wurde, Eltern und Lehrer befragt, für wiewünschenswert sie folgende Fördermaÿnahmen für hochbegabte Grundschulkin-der halten:

1. Akzelerationsmaÿnahmen/ äuÿere Di�erenzierung: wie z.Bsp. Übersprin-gen, Sonderklassen, Ferienkurse, usw..

2. Akzelerationsmaÿnahmen/ innere Di�erenzierung: hochbegabte Kinder hel-fen schwächeren Kindern in der Klasse, getrennte Aufgaben mit unterschied-lichen Schwierigkeitsgrad, usw..

3. Auÿerschulische Anreicherungen: AG`s (Kinder arbeiten auÿerhalb ihrerSchulzeit in ihren Interessen wie z.Bsp. Chemilabor), Freizeitaktivitäten(Schachclub), usw..

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Sowohl Eltern von hochbegabten Schülern als auch Eltern von durchschnittlichbegabten Kindern nennen folgende Präferenzreihenfolge:

1. Auÿerschulische Anreicherung

2. Akzeleration/ innere Di�erenzierung

3. Akzeleration/ äuÿere Di�erenzierung

Die Lehrer standen der äuÿeren Di�erenzierung ebenfalls am kritischsten ge-genüber. Dies unterstreicht, weshalb so wenige Kinder eine Klasse überspringen.Jedoch bevorzugten die Lehrer die innere Di�erenzierung vor der auÿerschulischenAnreicherung (vgl. Holling und Kanning 1999).

Hinterfragt man, auf welchen theoretischen Annahmen die bestehenden För-derkonzepte bestehen, so bekommt man von Lehrern die Antwort, dass Hochbe-gabte durch eine höhere Bearbeitungsgeschwindigkeit und eine gröÿere Verarbei-tungskapazität gekennzeichnet seien. Diesen Merkmalen entsprechen die Förder-programme.

Aus den De�nitionen und Modellen der Hochbegabung, die in den vorherrigenKapitel vorgestellt wurden, können wir darauf schlieÿen, �dass Förderprogram-me neben bereichsspezi�scher Wissensvermittlung auch Elemente zur Förderungwissenschaftlichen und problemlösenden Denkens sowie Maÿnahmen sowohl fürdie Ausbildung motivationaler Kontrollprozesse als auch für die eigene Ziel- undBedürfnisklärung enthalten sollten� (Holling und Kanning 1999, S.76).

Durch das Überspringen einer Klasse alleine wird diese umfassende Förderungnicht realisiert. Zudem ist zu kritisieren, dass es kaum Fördermaÿnahmen fürKinder im Vorschulalter gibt.

7.3 Vereine zur Förderung und Beratung

An dieser Stelle werden die drei gröÿten Organisationen, zur Förderung von hoch-begabten Kindern und Jugendlichen in Deutschland vorgestellt.

7.3.1 Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V.(DGhK)

Die DGhK wurde als Zusammenschluÿ betro�ener Eltern 1978 gegründet. Grün-dungsmitglieder waren unter anderem die Lehrerin Dr. Anette Heinbokel und derEntwicklungspsychologe Prof. Dr. Wilhelm Wieczerkowski.

Ziel war es, hochbegabte Kinder so zu fördern, dass sie sich als psychisch sta-bile Individueen in die Gesellschaft integrieren, um sich deren Aufgaben und Ver-antwortungen verp�ichtet zu fühlen. �Die Notwendigkeit, sich speziell um hoch-begabte Kinder zu kümmern, gründet in der Annahme der DGhK e.V., dass hoch-begabte Kinder bei mangelnder Akzeptanz ihrer besonderen Fähigkeiten und der

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daraus resultierenden Unterforderung oder sozialen Isolierung von Verhaltensstö-rungen, Leistungsabfall, Leistungsverweigerung, Schulversagen, psychische Stö-rungen und psychosomatischen Erkrankungen bedroht sind� (Holling und Kan-ning 1999, S.80).

Anfangs zählte die DGhK e.V. 26 Mitglieder. Bei der letzten Zählung 1998waren es schon 4176 Mitglieder. Zunächst stellt sich mir die Frage: Welche Kin-der werden als Mitglieder aufgenommen? Bzw. welche Kinder werden von derDGhK e.V. als hochbegabt angesehen? Die DGhK sieht eine hohe Motivationbei selbstgesetzten Aufgaben, Originalität und Kreativität bei deren Lösung alsbestimmende Verhaltensmerkmale, hochbegabter Kinder (vgl. DGhK 1995).

Die DGhK organisiert eine Reihe von allgemeinen Maÿnahmen:

• Der DGhK e.V. führt Beratung für Eltern hochbegabter Kinder durch. Beidieser Beratung, die meist telefonisch verläuft, werden unter anderem fol-gende Empfehlungen gegeben:

1. Intellektuelle Leistungen wie frühzeitiges Rechnen oder Lesen sollengelobt werden.

2. Eltern sollen sich um das Verständnis der Leherer für die Hochbega-bung bemühen, um eine Schulunlust zu verhindern.

3. Man sollte nur speziell auf dem Gebiet der Hochbegabung ausgebildeteBerater zu Rate ziehen.

4. Eltern sollten eine Selbsthilfegruppe besuchen, um sich mit anderenbetro�enen Eltern auszutauschen.

5. Bei bekanntem IQ-Wert sollte man diesen nicht jedem weitergeben.Denn dieser Wert ist nur eine ermittelte Durchschnittszahl, die nichtsüber Schwächen oder Stärken aussagt.

6. Ein Kind sollte in seinen Interessen gefördert werden.

7. Hochbegabte Kinder sollten Kontakt zu Gleichbegabten haben, um dasSelbstwertgefühl zu stärken, die soziale Kompetenz zu trainieren unddie Zugehörigkeit zu erleben.

• Der DGhK e.V. berät Lehrer, Erzieher und andere in der Erziehungsbera-tung tätige Personen wie z.Bsp. Psychologen, Sozialpädagogen, usw.. DiesePersonengruppen erhalten von der DGhK e.V. speziell auf dem Gebiet derHochbegabung eine Beratung, weil diese in der Berufsausbildung nicht ent-halten ist, was die DGhK bemängelt und vom Staat einfordert.

• Der DGhK e.V. fördert Initiativen wie Elterngesprächskreise in denen Er-fahrungen und Probleme ausgetauscht werden, Informationstre�en mit Vor-trägen für Erzieher, Lehrer oder Kindergarteneltern und bietet ebenfalls einDiskussionsforum im Internet an.

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• Der DGhK e.V. bietet auÿerdem Förderkurse für hochbegabte Kinder zuverschiedenen Wissensgebieten und Sprachen in Form von Feriencamps, Ex-kursionen aber auch kontinuierliche Kurse und Einzelveranstaltungen an.Das Grundlegende Prinzip dieser Aktivitäten ist das �Selber-Tun�.

• Die DGhK vertritt die Interessen hochbegabter Kinder gegenüber Schulbe-hörden. Sie fordert die Einrichtung von Spezialklassen wie z.Bsp. D-Zug-Klassen in allen Schularten, die Lockerung der Bestimmungen zum vorzei-tigen Einschulen oder Überspringen einer Klasse sowie die Nutzung vonFörderstunden und zusätzliche Lehrstunden zur individuellen Förderung.Zudem fordert der Verein eine Anreicherung des Unterrichts mit Enrich-ment und Akzelerationsmaÿnahmen.

• Der DGhk e.V. leistes Ö�entlichkeitsarbeit, indem der Verein Vortragsaben-de mit Fachleuten organisiert, an Messen teilnimmt, und Präsentationen imInternet (http://www.dghk.de) gestaltet.

• Viermal im Jahr bringt der Verein die Vereinszeitschrift �Labyrinth� mitBerichten aus Regionalverbänden, aus der Bildungslandschaft und über For-schungsprojekte heraus.

• Die DGhK angagiert sich auch im Bereich der Forschung. Der Verein hat einForschungsprojekt zur Einrichtung einer Beratungsstelle in Hamburg undein Forschungsprojekt zur Förderung emotionaler und sozialer Fähigkeitenbei Grundschulkindern in München in die Wege geleitet und angetrieben.

7.3.2 Hochbegabtenförderung e.V.

Eine weitere Hochbegabtenförderung ist die Hochbegabtenförderung e.V.. Die-se wurde 1994 auf Initiative von Frau Jutta Billhardt und Frau Susanne Matzgegründet. Frau Billhardt war als Mitglied der DGhK e.V. tätig. Da es jedochaufgrund unterschiedlicher Au�assungen über den Nachweis von Hochbegabungzu Kon�ikten kam, gründete sie die Hochbegabtenförderung e.V..

Dieser e.V. fördert ausschlieÿlich hochbegabte (IQ-Wert gröÿer oder gleich130) und überdurchschnittlich intelligente (IQ-Wert 115- 129) Kinder. Somit istdie Bedingung für die Aufnahme ein durch einen Diplom-Psychologen durchge-führter Intelligenztest und ein Ergebniss mit einem IQ-Wert von mindestens 115.�Ziel der Gründung der Hochbegabtenförderung e.V. war es, nachgewiesener-maÿen hochbegabte Kinder in ihrer Intelligenz- und Persönlichkeitsentwicklungoptimal zu fördern� (Kanning und Holling 1999, S. 85). Die Notwendigkeit einerFörderung Hochbegabter ergibt sich für den Verein aus dem Übel, dass Kinderund Jugendliche unter der Unterforderung in den Schulen leiden und der Staatdieses Problem bis heute nicht lösen konnte.

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Zur Zeit besteht die Hochbegabtenförderung e.v. aus etwa 1200 Vereinsmit-gliedern und betreut 750 Kinder.

�Zweck des Vereins ist die Förderung hochbegabter und überdurchschnittlichintelligenter Kinder und Jugendlicher� (Kanning und Holling 1999, S. 86). Un-ter Hochbegabung wird eine erhöhte Denkgeschwindigkeit verstanden. Für denVerein ist es wichtig zu betonen, dass sich der Begri� Hochbegabung auf allge-meine geistige Dispositionen des Menschen bezieht. Der Verein bezieht sich aufdas Erbringen ungewöhnlicher intellektueller Leistungen und nicht auf tatsäch-lich erbrachte Leistungen (vgl. Hochbegabtenförderung e.V. 1998). Somit ist derIntelligenzrichtwert (IQ-Wert 115) als Bedingung für die Aufnahme entscheidendaber nicht die schulische Leistung, die bei �underachievern� weit unter ihremPotential liegt.

Die Aktivitäten des Vereins werden auf fünf Ebenen organisiert:

1. Die Hochbegabtenförderung e.V. bietet Kurse für hochbegabte und über-durchschnittlich intelligente Kinder und Jugendliche an. Das erste Projektwar 1994 eine �Lehr�rma� in Bochum. Auÿerdem werden Kurse in zahl-reichen Bereichen (Kultur, Technik, Fortschritt, Naturwissenschaften undSprachen) angeboten. Ebenso gibt es Kurse zur Beratung und Aufklärungsolcher Personen, die in der Erziehung Hochbegabter tätig sind.

2. Die Hochbegabtenförderung e.V. betreut die Eltern und Erziehungsberech-tigte durch persönliche Beratungsgespräche.

3. Der Verein betreibt Informations- und Aufklärungsarbeit für Pädagogenund schulpsychologische Einrichtungen.

4. Es werden Erzieher- und Lehrerfortbildungen durchgeführt.

5. Der Verein leistet Ö�entlichkeitsarbeit und sucht hierfür ständig Sponsoren.

Auch die Hochbegabtenförderung e.V. hat wie die DghK e.V. einen Katalogmit Forderungen aufgestellt, die die Umgestaltung der schulischen Bedingungenbetre�en. Ähnlich wie die DGhK fordert sie vom Staat in acht Punkten die Aus-bildung von Lehrern im Bereich der Hochbegabung sowie eine bessere Förderungder hochbegabten Kinder in der Schule und eine Übernahme der entstehendenKosten durch Förderungen (vgl. Holling und Kanning 1999).

7.3.3 Mensa in Deutschland e.V. (MinD)

Es gibt noch eine weitere sehr bekannte Hochbegabtenförderung in Deutschland,die Mensa in Deutschland e.v. (MinD). Zunächst ist es von Bedeutung den, im ers-ten Moment merkwürdig erscheinenden Namen des Vereins zu erklären. �Mensa�kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Tisch und im Wort �mensa� steckt

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das Wort �mens� das soviel wie Geist oder Verstand bedeutet. Somit soll der Na-me des Vereins aussagen, dass das Ziel der Gründung war, Menschen mit Verstand(= mens) in Kontakt bzw. an einen Tisch (= mensa) zu bringen.

Gegründet wurde dieser Verein 1946 nach dem Krieg in Oxford durch einenEngländer und einen Australier. Sie wollten die Intelligenz für den Frieden undzum Wohle der Menschheit einsetzen. 1979 wurde �Mensa� als Regionalgruppeauch in Deutschland gegründet (vgl. Holling und Kanning 1999).

Wie man schon erahnen kann, ist diese Hochbegabtenförderung mit ihrenMaÿnahmen nicht direkt auf hochbegabte Kinder und Jugendliche abgestimmt.Die Zielgruppe sind eher Hochbegabte und überdurchschnittlich intelligente Er-wachsene. Jedoch bietet der Verein einige wenige Veranstaltungen für Jugendlichezwischen 12 und 21 Jahren an. �Mensa� setzt sich auch für die �nanzielle För-derung von hochbegbten Kindern ein. Hier wird weiter nicht auf die Maÿnahmendes Vereins eingegangen, da sie nicht die Altersgruppe der Grundschulkinder undderen Eltern betri�t.

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Kapitel 8

Nachwort

An vielen Stellen meiner wissenschaftlichen Ausarbeitung wurde deutlich, dassgesellschaftliche, bildungspolitische und vor allem familiäre Erwartungen einengroÿen Ein�uss auf die Lebensbedingungen hochbegabter Kinder ausüben. DieseKinder brauchen eine Umwelt, die ihre Besonderheiten erkennt und akzeptiert,ihre Bedürfnisse versteht und angemessen darauf eingeht. Nur dann kann einenotwendige Grundlage für eine Entwicklungsförderung Hochbegabter gescha�enwerden.

Es ist positiv, dass sich die Bedingungen für Hochbegabte in Deutschland inden letzten Jahren nicht zuletzt durch vermehrte wissenschaftliche Forschung we-sentlich verbessert haben. Es sind Ergebnisse von Untersuchungen verö�entlichtworden, die viele Vorurteile beseitigen konnten und insgesamt zu einem deutlichpositiveren Bild des Phänomens Hochbegabung führten.

Dennoch gibt es zu viele hochbegabte Kinder, in zu vielen Kindergärten undSchulen, die zu viele negative Erfahrungen sammeln, die man Kindern und Ju-gendlichen ersparen möchte und ersparen könnte.

Ich ho�e, mit meiner Ausarbeitung einen kleinen Teil Ö�entlichkeitsarbeitleisten zu können, um die Allgemeinheit und vor allem die Pädagogen auf die-se Problematik aufmerksam zu machen und zu einem Bemühen anzuregen, diederzeitige Situation zu ändern.

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LITERATURVERZEICHNIS 89

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