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Jacob, Prüfung und Anwendung von Theorien 1 Dr. habil. Rüdiger Jacob Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung Vorlesung mit Diskussion 10. Prüfung und Anwendung von Theorien Wissenschaftliche Wahrheit, Induktion und Deduktion; Verifikation und Falsifikation, Basissatzproblem D-N-Modell, Logik von Erklärung und Prognose

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Jacob, Prüfung und Anwendung von Theorien

1

Dr. habil. Rüdiger JacobMethoden und Techniken der empirischen Sozialforschung

Vorlesung mit Diskussion

10. Prüfung und Anwendung von Theorien

Wissenschaftliche Wahrheit, Induktion und Deduktion; Verifikation und Falsifikation, Basissatzproblem D-N-Modell, Logik von Erklärung und Prognose

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Wahre Aussagen? Typus der Aussage?

Das Durchschnittsalter der 1997 in der Bundesrepublik Verstorbenen war (auch) vom Familienstand abhängig: Personen, die nie verheiratet waren, sind im Durchschnitt 72 Jahre alt geworden, Personen, die verheiratet waren, dagegen 78 Jahre.

Die Ehe wirkt lebensverlängernd.

1998 sind in der Bundesrepublik 425.606 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben.

Ursachen für chronische Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind Hypertonie, Hypercholesterinämie (LDL-Fraktion) Diabetes mellitus, Rauchen, Adipositas und Bewegungsmangel.

Das Bruttosozialprodukt in Deutschland ist von 1997 auf 1998 um 2 Prozentpunkte gewachsen, damit hat gesamtgesellschaftlich gesehen auch der Wohlstand zugenommen.

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Es gibt im Universum nichts, dass sich mit größerer Geschwindigkeit als das Licht fortbewegt.

Ursache für die Pest ist ein Miasma, also eine giftige Ausdünstung unbestatteter Leichen.

Die menschliche Lebenserwartung liegt bei maximal 130 Jahren.

Dinosaurier waren wie alle Reptilien Kaltblüter.

Lange Hälse dienten großen Sauropoden wie Diplodocus oder Apatosaurus dazu, die gleiche ökologische Nische zu besetzen wie heute die Giraffen.

Die Dezimierung von Krokodilen in den stärker besiedelten Fluss-tälern und Seegebieten Afrikas verbessert die Sicherheit und die allgemeinen Lebensbedingungen der dort lebenden Bevölkerung.

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… die Krümmung des Femurs beidseitig deutet darauf hin, dass der Verstorbene an einer sehr schmerzhaften Rachitis gelitten hat. Diese Krankheit dürfte auch für die wulstartige Deformation des Os frontale und des Hinterhauptes ursächlich sein. …

Dr. Rudolf Virchow über die im Neandertal gefundenen Knochen

Der Bonner Anatomieprofessor Franz Josef Carl Mayer hielt den Fund gar für das Skelett eines Kosaken, der "in der Gegend von Mettmann oder in der Umgebung des Düsselthales lagerte, um am 14. Januar 1814 über den Rhein gegen Frankreich zu ziehen". Die auffällige Krümmung des Oberschenkelknochens führte Mayer auf die langjährige Reiterei des "Kosaken" zurück.

„Wahrheit“ durch Reputationszuschreibung

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Wissenschaft als soziales System

Reputation ZitierkartelleAbhängigkeitenMotive, InteressenWerte und WertungenIdeologie

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Wissen und Wahrheit

Unterschiedliche Formen und Begründungen von Wissen:AlltagserfahrungIntuitionReligionWissenschaft

Gemeinsame Überzeugung dieser Sichtweisen: Wahres, objektives Wissen ist möglich und wird erreicht durch Anwendung bestimmter Regeln und MethodenWissen und Wahrheit als synonyme Begriffe. Wissen ist wahr, andernfalls ist es kein Wissen.

Wahrheitsgeneratoren oder WahrheitsgarantenGott/GötterErleuchtungTraditionErfahrungGeneralisierung

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Substantialistische Wahrheitsvorstellung (objektive, erkennbare Wahrheit)

Zunächst philosophisch/religiös begründet: Wahrheit als im Transzendenten existentes Seinsgebilde.

Wahrheit manifestiert sich in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß in Objekten der diesseitigen Realität.

Durch den „richtigen Zugang“ zu diesen Objekten und die Erkenntnis ihres „Wahrheitsgehaltes“ erkennt man Teile dieser transzendenten Kategorie und im Idealfall das „Wesen“ von Wahrheit.

Problem: Unmöglichkeit einer solchen zweifelsfreien, objektiven Letztbegründung von Wahrheit. „Wahrheit“ war noch nie für jeden in gleicher Weise zwingend einsichtig oder erkennbar.

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Lösung: Glaubensakte. Eine allseits akzeptierte Sinngebungsinstanz verwaltete den Wahrheits-begriff und klassifizierte Objekte dementsprechend, wobei sie die Legitimation (zunächst) ebenfalls aus transzendenten Quellen bezog.

Für Wissenschaft unbrauchbar, weil Glauben keine intersubjektive Kategorie ist.Die Idee der absoluten Wahrheit wird beibehalten, nur die Art der Letztbegründung geändert.

Modell: Naturgesetz. Wahrheit manifestiert sich mechanisch in dem immer gleichen Ablauf bzw. in typischen Zusammenhängen: Manifestationsverständnis von Wahrheit.

18. und 19. Jahrhundert: Klassischer Empirismus/Jahrhunderte derMechanisierung. Leitwissenschaft: Physik.

Vorstellung einer gleichförmigen, linearen Entwicklung der Welt und linearer kausaler Zusammenhänge.

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Wissenschaftliches Wissen: Aus Erfahrung abgeleitetes und damit bewiesenes Wissen, wobei Beobachtungen und Experimente die üblichen Verfahren sind.

Basis der Erkenntnis sind damit singuläre Sätze – Deskriptionen – die per Induktion verallgemeinert werden und als Manifestationen wahrer Gesetze gelten, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

1. Es muss eine große Zahl von Beobachtungen zum gleichen Sachverhalt vorliegen

2. Die Beobachtungen müssen unter einer Vielzahl von Bedingungen (räumlich, zeitlich, von verschiedenen Beobachtern) mit dem stets gleichen Ergebnis wiederholt worden sein

3. Die Beobachter müssen gesund sein, normal funktionierende Sinnesorgane haben und völlig unvoreingenommen beobachten

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Idealvorstellung: Beobachter als neutrale Erhebungsinstrumente

Induktion als Verfahren zur Verifikation von Theorien:Logisch nicht zu rechtfertigen, da induktive Schlüsse gehaltserweiternd sind.

statt dessen: empirische Begründung

Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheit A.Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheit B...Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheit X.

Das Induktionsprinzip ist immer erfolgreich.

Der Beweis erfolgt induktiv.

Die Unlösbarkeit des Induktionsproblems hat zu der Einsicht geführt, dass Theorien nicht verifiziert werden können.

Folgerung

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Ob Naturgesetze wahr sind, also immer und überall gelten, können wir nur wissen, wenn wir alle Möglichkeiten überprüft haben - und dies sind bei Allaussagen immer unendlich viele, so dass eine umfassende Prüfung unsere Möglichkeiten grundsätzlich übersteigt.Unmöglichkeit des empirischen Beweises der Gültigkeit des Induktionsprinzips

Weitere Probleme: - Was bedeutet die Forderung nach einer "großen Anzahl"

von Beobachtungen konkret? Wer legt die Kriterien dafür fest?

- Welche Variationen bei Beobachtungssituationen sind bedeutsam, welche nicht?

- Zuverlässigkeit von Sinneswahrnehmungen?

- Objektive, neutrale Beobachter?

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Probleme bei der Verifikation von wissenschaftlichen Theorien

• Messprobleme• Inadäquate Indikatoren• Unzulässiger Schluss von Korrelationen auf kausaleZusammenhänge

• Humesches Problem (Induktionsproblem)• Problem der empirischen Prüfung

- Unmöglichkeit der Verifikation von All-Aussagen

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Semantische Wahrheitsvorstellung

Wahrheit als Eigenschaft einer Aussage, die nach überprüfbaren Regeln formuliert wurde.

Aussagen werden erst durch einen Konsens der beteiligten Personen zu „wahren Aussagen“.

Wahrheit durch Verfahren!

Ob es objektive Wahrheit überhaupt gibt und ob man diese irgendwann erkennt, wird nicht mehr thematisiert und bleibt subjektiver Spekulation überlassen. Wie Theorien entwickelt werden, ist dabei von nachgeordneter Bedeutung.

Wichtig ist die Prüfung von Theorien durch Widerlegungsversuche!

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Erkenntnisfortschritt:Statt Kumulation von „wahrem Wissen“ Elimination von falschen Vorstellungen = Approximationsverständnis von Wahrheit

Falsifikationsprinzip

Fortschritt durch Versuch und Irrtum.Eine Theorie wird stets nur vorläufig akzeptiert, sie gilt als bewährt, wenn sie mehreren Falsifikationsversuchen standgehalten hat, also keine widersprüchlichen empirischen Befunde vorliegen.

Wahrheit heißt hier „Widerspruchsfreiheit“.

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Verifizierender Theorieaufbau nicht möglich

Theoriebildung ist von nachgeordnetem Interesse und wird nicht normiert

Verfahren zur Theoriebildung:

•Generalisierung von Einzelbeobachtungen (induktiver Theorieaufbau)

•Ableitung aus anderen Theorien (deduktiver Theorieaufbau)

•Intuition

Achtung: Induktiver Theorieaufbau ist nicht zu verwechseln mit dem Induktionsprinzip

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FalsifikationsprinzipFormales Vorgehen:

1. Logische Prüfung der zu testenden Hypothese

2. Empirische Prüfung, sofern die Hypothese grundsätz-lich falsifiziert werden kann

3. Formulierung von potentiellen Falsifikatoren (= singuläre Existenzsätze, die der Hypothese widersprechen)

Diese Existenzsätze werden auch Basissätze genannt, weil sie die Basis für die Falsifikation einer Aussage darstellen. Hat der Basissatz eine reale Extension, wird er also verifiziert, so ist die zu prüfende Aussage damit falsifiziert.

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Alle Gesellschaften haben eine Geldwirtschaft = Wenn x eine Gesellschaft ist, dann hat x eine Geldwirtschaft:

1. logische Prüfung:Aussage ist empirisch prüfbar, da sie keine analytische und keine präskriptiven Begriffe enthält.

2. empirische Prüfung:potentieller Falsifikator: Es gibt mindestens eine Gesellschaft ohne Geldwirtschaft

Aus Hypothese abgeleiteter negativer Existenzsatz: Es gibt keine Gesellschaft ohne Geldwirtschaft

Konfrontation mit Basissatz:Das Ägypten des „alten Reiches“ (von 2850-2052 v. Chr.) war eine Gesellschaft und hatte keine Geldwirtschaft

Falsifikation der Hypothese

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Dieses logische Ableitungsschema bezieht sich nur auf streng deterministische Aussagen, problematisch sind probabilistische Aussagen

Die meisten Gesellschaften haben eine Geld-wirtschaft

Spezifizierung der vagen Quantifizierung: „Die meisten Gesellschaften“

95% aller Gesellschaften haben eine Geld-wirtschaftOhne exakte Quantifizierung empirisch nicht überprüfbar

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Das Basissatzproblem

Auch Falsifikation kommt ohne Wahrheitsattributionnicht aus. Um eine Theorie zu falsifizieren, müssen Phänomene existieren, die der Theorie zuwiderlaufen, diese müssen korrekt beobachtet worden sein, die entsprechenden Basissätze müssen wahr sein.

Prüfinstanz für wissenschaftliche Aussagen sind damit Sätze, die selbst vielfältige theoretische Implikationen aufweisen (Problem der Instrumenttheorien) und außerdem Produkt einer ganzen Reihe von Verzerrungen (und bewussten Fälschungen) sein können.

1. Wahrnehmung2. Beobachtung3. Instrumenttheorien4. Verbalisierung

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Das Basissatzproblem

Die Theorie falsifiziert die Beobachtung

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Fazit:Theorien sollen an der Realität überprüft werden, faktisch überprüft man sie aber an anderen Theorien. Es gibt keine theoriefreie „Beobachtung“ der Realität.

Theorien können damit weder endgültig verifiziert noch endgültig falsifiziert werden.

Die Gültigkeit von Basissätzen wird durch Konvention festgelegt.

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Basissatzproblem

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ErklärungenDas deduktiv-nomologische Modell (D-N-Modell)

Erklärung: logische Rückführung eines singulären Ereignisses auf einen allgemeinen Sachverhalt

Bestandteile:Explanans (= das erklärende Aussagensystem)• allgemeines Gesetz• Randbedingungen (= beobachtbare Phänomene), aus

Wenn-Komponente des Gesetzes ableitbar

Explanandum (= der zu erklärende Sachverhalt)• singulärer Satz/Deskription, aus Dann-Komponente des

Gesetzes ableitbar

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Erklärung des singulären Satzes: An der ligurischen Küste sind im Frühsommer 1991 85% der Buchungen storniert worden.

Allgemeines Gesetz: Wenn eine massive Umweltverschmutzung auftritt, dann ist der Fremdenverkehr in dem betroffenen Gebiet rückläufig.

Randbedingung: Im Frühjahr 1991 ist vor der ligurischen Küste ein Tanker auseinandergebrochen und hat Meer und Küste mit Rohöl verseucht.

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Bei Erklärungen wird ein beobachtbarer singulärer Sachverhalt unter Verwendung von Randbedingungen auf ein allgemeines Gesetzt zurückgeführt.

Bei Prognosen formuliert man aus Gesetzen und Randbedingungen abgeleitete Deskriptionen.

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Erklärung und Prognose

Gesetz Randbe-

dingung

Explanandum

Erklärung gesucht gesucht gegeben

Prognose gegeben gegeben gesucht

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Probleme bei Prognosen: Eigendynamik

Self-fulfilling und self-destroying-prophecies:Prognosen, die wahr werden bzw. sich als falsch herausstellen, weil sie publiziert werden.

Die FDP scheitert bei der nächsten Bundestagswahl an der 5%-Hürde.

Die Arbeitsmarktchancen für Lehrer in den nächsten Jahren sind gut.

Aufgrund der stagnierenden wirtschaftlichen Entwick-lung und einem zunehmenden Arbeitsplatzrisiko geht die Binnennachfrage zurück.

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TechnologieEntspricht formal der Prognose.Technologie ist eine Anwendungsform des D-N-Modells, die zur Politik- oder Unternehmensberatung eingesetzt werden.

Die Ziele werden dabei von entsprechender Seite vorgegeben, Aufgabe der Wissenschaft ist es, zur Realisierung dieser Ziele geeignete Mittel zu benennen

Formal entspricht dem gewünschten Ziel das Explanandum, die Mittel bestehen aus allgemeinen Gesetzen und deren Anwendungsbedingungen für den vorliegenden Fall.

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Beispiel für Technologie:

Ziel (gesucht/soll erreicht werden):Zahl der Schwangerschaftsabbrüche reduzieren/minimieren

Bewährte Hypothesen: Wenn die Zahl ungewollter Schwangerschaften sinkt, dann geht auch die Zahl der Abtreibungen zurück

• Je früher und umfassender Jugendliche über Maßnahmen zur Empfängnisverhütung aufgeklärt werden, um so geringer wird die Zahl ungewollter Schwangerschaften

• Je einfacher Verhütungsmittel zu bekommen sind, um so eher werden sie auch angewendet.

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Empfehlungen

Maßnahmen gegen ungewollte Schwangerschaften:

• umfassende und frühzeitige Aufklärung über Empfängnisverhütung • leichte Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln,

z.B.:gut zugängliche KondomautomatenKondomausgabe in Schulen Pille auf Krankenschein für Jugendliche/junge Erwachsene

Falls solche Empfehlungen tatsächlich realisiert werden, ohne dass das erwünschte Ziel erreicht wird, haben die bislang bewährten Hypothesen als falsifiziert zu gelten.

Falls das Ziel bei Einsatz der empfohlenen Mittel erreicht wird, ist dies als erneute Bestätigung für die zugrunde liegenden Hypothesen anzusehen.

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Problem:probabilistische Hypothesen

Aus probalistischen Aussagen ist ein Explanandum nicht logisch ableitbar, da hier immer auch Fälle existieren, die bei deterministischen Aussagen das Gesetz falsifizieren würden.

Explanandum mehr oder weniger wahrscheinlich.

Anwendung des D-N-Modells abhängig von Untersuchungsdesign

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BeispielWarum gibt es in den USA keinen Sozialismus?

1. Korrekte und detaillierte Beschreibung

Definition/Explikation und Operationalisierung der ver-wendeten Begriffe

Sozialismus = „zeitstabile Existenz einer sozialistischen Partei mit zweistelligen Wahlergebnissen“.

Sozialistische Partei = „Partei, die von Arbeitern gegründet wurde, der Verbesserung der ökonomischen Situation und der Lebensbedingungen von Arbeitern dienen soll und sich in ihrer Programmatik stark an den Thesen von Marx und Engels orientiert“

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2. Mikromodell:Wann gründen Personen eine sozialistische Partei?

Vereinfacht lassen sich dazu folgende Annahmen formulieren:

Die Gründung einer Partei dient der Artikulation und Durchsetzung bestimmter Interessen einer bestimmten Gruppe in strukturell ähnlicher Lage.

Parteien versuchen, für ihre Mitglieder Probleme zu lösen.

Von der Lösung solcher Probleme würden aber auch Nicht-Mitglieder mit ähnlicher Interessenlage profitieren.

Parteigründungen stellen damit ein Kollektivgutproblem dar.

Personen schaffen dann ein Kollektivgut, wenn der unmittelbar erwartete Nutzen die sicher anfallenden Kosten deckt oder übersteigt, diese Kosten nicht prohibitiv hoch sind und der Problemdruck alsaußerordentlich hoch eingeschätzt wird, ohne dass man Alternativen zur Problemlösung hat.

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Randbedingungen:schlecht bezahlte Arbeitsverhältnissekeine Beschäftigungssicherheitkeine soziale Absicherunggroße Unterschiede zwischen Löhnen und Profiten

im 19. Jahrhundert großer Problemdruck in Europa und den USAUnterschied:Ungleich verteilte „individuelle exits“

3. Aggregation von EinzelhandlungenParteigründung als Resultat massenhaften ähnlichen Verhaltens

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massenhaft schlechte Arbeitsbedingungen

individuelle Bewertung des Kollektivmerkmals

„Sozialismus“(Partei/Gewerkschaft) oder Farm

Ziel/Funktion einer Partei

Schaffung Kollektivgut

Individuelle exits?