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1 Dr. med. Gernot Rüter Blumenstr. 11 71726 Benningen Fon: 07144 14233 Fax 07144 4649 Mail: [email protected] Ist “Freiheit” ein Begriff von Bedeutung für den tätigen Hausarzt? (Haus)ärztliche Tätigkeit in historischen Entwicklungen Liberté, Egalité, Fraternité, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder auch „Einigkeit und Recht und Freiheit“, wie Hofmann von Fallersleben es für das „Lied der Deutschen“ formulierte, haben in diesen Wochen eine tragische neue Bedeutung bekommen. Mit den Angriffen religiöser Fanatiker auf das freie Denken, auf freie Lebensformen, auf frei gewählte Religion und Lebensanschauung kehrt ein Konflikt, ein Thema zurück, das in unseren Gesellschaften seit dem Anbruch der Neuzeit überwunden schien. Zwar impliziert Kants „sapere aude“, dass noch ein Wagnis sei, sich auf das Wissen und den eigenen Verstand zu berufen, seine Aufforderung aber wurden von den Philosophen und Dichtern seiner Zeit begierig aufgenommen und entwickelt, so dass Goethe schreiben konnte: „Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht, sind sie alle ans Licht gebracht“. Die amerikanische und französische Revolution gingen durch blutige Tiefen, schüttelten aber am Ende doch das Joch absolutistischer Herrscher ab und führten in Zeitalter religiöser, politischer, geistiger und künstlerischer Freiheiten. Rosa Luxemburg wird das Zitat zugeschrieben, wonach Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden bedeute („Die russische Revolution“), Freiheit bedarf demnach der Regeln und der Grenzen, wo die des Anderen tangiert ist. Wir sind gewohnt, dass diese Regeln in demokratisch festgelegten Gesetzen, einer freien Rechtsprechung und einer kontrollierenden freien Presse und freien Meinungsäußerungen gefunden, ausgelegt und überprüft werden. Nicht nur die Gedanken, sondern auch deren Äußerungen sollten frei sein. Im Rahmen dieser Regeln und Gesetze wird auch die ärztliche Tätigkeit ausgeübt, die medizinische Versorgung der Bevölkerung gewährleistet. In den politischen Gremien und denen der Selbstverwaltung wird um besagte Regeln gerungen. Wo Macht innegehabt und ausgeübt wird, kommt es auch zu Ungerechtigkeiten, zu Niederlagen bis hin zu existenziellen Bedrohungen. Es muss nicht extra betont werden, dass gerade die verfasste Medizin in der Zeit des Nationalsozialismus sehr dunkle Stunden nicht nur erlebte, sondern sich an Verfolgungen und Repressionen, am grenzenlosen Entzug von Freiheit auch sehr aktiv beteiligte, was auch für Philosophie und Philosophen gilt. Nun bin ich weder ein professioneller Philosoph noch ein Historiker, dem obliegen könnte, diese großen Linien der Entwicklung des Auf und Ab von Freiheit nachzuzeichnen, sondern ich bin seit mehr als drei Jahrzehnten tätiger Hausarzt im Württembergischen. In dieser Tätigkeit möchte man meinen, habe man mit der Dimension Freiheit wenig zu tun. Bei näherem Hinsehen aber bietet sich ein vielfältig anderes Bild: Kranksein schränkt die Freiheit ein, eine lumbale Wurzelkompression raubt Bewegungsfreiheit; der Richter verlangt ein Gutachten über Freiheit einschränkende Maßnahmen, die Zwangskrankheit oder die Depression führen die Beschränkung der Freiheit gleichsam schon im Namen. Themen wie Straffreiheit des assistierten Suizids oder die Freiheit zur Vortrag für das Philosophicum für Mediziner der Universität Würzburg, gehalten am 14.01.2016

Dr. med. Gernot Rüter Vortrag für das Philosophicum … · Konflikt, ein Thema zurück ... Nun bin ich weder ein professioneller Philosoph noch ein Historiker, ... dass ausgetauschte

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Dr. med. Gernot Rüter

Blumenstr. 11

71726 Benningen

Fon: 07144 14233

Fax 07144 4649

Mail: [email protected]

Ist “Freiheit” ein Begriff von Bedeutung für den tätigen Hausarzt?

(Haus)ärztliche Tätigkeit in historischen Entwicklungen

Liberté, Egalité, Fraternité, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder auch „Einigkeit und Recht und Freiheit“, wie Hofmann von Fallersleben es für das „Lied der Deutschen“ formulierte, haben in diesen Wochen eine tragische neue Bedeutung bekommen. Mit den Angriffen religiöser Fanatiker auf das freie Denken, auf freie Lebensformen, auf frei gewählte Religion und Lebensanschauung kehrt ein Konflikt, ein Thema zurück, das in unseren Gesellschaften seit dem Anbruch der Neuzeit überwunden schien. Zwar impliziert Kants „sapere aude“, dass noch ein Wagnis sei, sich auf das Wissen und den eigenen Verstand zu berufen, seine Aufforderung aber wurden von den Philosophen und Dichtern seiner Zeit begierig aufgenommen und entwickelt, so dass Goethe schreiben konnte: „Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht, sind sie alle ans Licht gebracht“. Die amerikanische und französische Revolution gingen durch blutige Tiefen, schüttelten aber am Ende doch das Joch absolutistischer Herrscher ab und führten in Zeitalter religiöser, politischer, geistiger und künstlerischer Freiheiten. Rosa Luxemburg wird das Zitat zugeschrieben, wonach Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden bedeute („Die russische Revolution“), Freiheit bedarf demnach der Regeln und der Grenzen, wo die des Anderen tangiert ist. Wir sind gewohnt, dass diese Regeln in demokratisch festgelegten Gesetzen, einer freien Rechtsprechung und einer kontrollierenden freien Presse und freien Meinungsäußerungen gefunden, ausgelegt und überprüft werden. Nicht nur die Gedanken, sondern auch deren Äußerungen sollten frei sein.

Im Rahmen dieser Regeln und Gesetze wird auch die ärztliche Tätigkeit ausgeübt, die medizinische Versorgung der Bevölkerung gewährleistet. In den politischen Gremien und denen der Selbstverwaltung wird um besagte Regeln gerungen. Wo Macht innegehabt und ausgeübt wird, kommt es auch zu Ungerechtigkeiten, zu Niederlagen bis hin zu existenziellen Bedrohungen. Es muss nicht extra betont werden, dass gerade die verfasste Medizin in der Zeit des Nationalsozialismus sehr dunkle Stunden nicht nur erlebte, sondern sich an Verfolgungen und Repressionen, am grenzenlosen Entzug von Freiheit auch sehr aktiv beteiligte, was auch für Philosophie und Philosophen gilt.

Nun bin ich weder ein professioneller Philosoph noch ein Historiker, dem obliegen könnte, diese großen Linien der Entwicklung des Auf und Ab von Freiheit nachzuzeichnen, sondern ich bin seit mehr als drei Jahrzehnten tätiger Hausarzt im Württembergischen. In dieser Tätigkeit möchte man meinen, habe man mit der Dimension Freiheit wenig zu tun. Bei näherem Hinsehen aber bietet sich ein vielfältig anderes Bild: Kranksein schränkt die Freiheit ein, eine lumbale Wurzelkompression raubt Bewegungsfreiheit; der Richter verlangt ein Gutachten über Freiheit einschränkende Maßnahmen, die Zwangskrankheit oder die Depression führen die Beschränkung der Freiheit gleichsam schon im Namen. Themen wie Straffreiheit des assistierten Suizids oder die Freiheit zur

Vortrag für das Philosophicum für Mediziner

der Universität Würzburg,

gehalten am 14.01.2016

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Präimplantationsdiagnostik oder Fragen der Leihmutterschaft, von Samen- oder Eizellenspende, von offener, halboffener oder inkognito-Adoption oder Adoptionserlaubnis für gleichgeschlechtliche Paare erreichen auch den tätigen Hausarzt. Der Hausarzt ist neben seiner Teilhabe an der Gesellschaft als zoon politicon in seiner eigentlichen Tätigkeit konfrontiert mit Menschen und ihren Schicksalen, die ihn hineinziehen in diese Fragen und ihn zwingen, eine professionelle Position als Person zu beziehen. Anders als der Politiker, der gleichsam top down die großen Lebens- und Volksfragen bearbeitet, wird der Hausarzt bottom up, im Erleben der Lebensthemen seiner Patienten in diese Bezüge hineingezogen. Er wird als empfindende, erlebende und handelnde Person verstrickt, infiziert, zuweilen gar überschwemmt.

Krankheiten als Gegenstände und Kranksein als persönliches Erleben

Dies überhaupt wahrzunehmen ist für Ärzte nicht selbstverständlich. Es könnte auch die vermeintlich objektive Haltung eines persönlich unbeteiligten Beobachters eingenommen werden, der nach Lage der Fakten und nach gegebener Studienevidenz für das jeweilige Problem mit dem Patienten zusammen Entscheidungen trifft. Allerdings sprechen die allgemeine Lebenserfahrung und meine spezielle Erfahrung als langjährig tätiger Hausarzt gegen die Kultivierung einer solchen Haltung. Mein berufliches Leben erfährt dadurch eine Besonderheit, dass ich seit 35 Jahren wöchentlich eine so genannte Balintgruppe besuche. Den Namen tragen diese weltweit existierenden Gruppen in Referenz an den ungarisch-englischen Psychoanalytiker Michael Balint, der diese Gruppenarbeit in seinem wegweisenden Buch „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“ in den 1950er Jahren erstmals beschrieb. An der Londoner Tavistock-Klinik hatte er Hausärzte versammelt, welche über Begegnungen zwischen ihnen und ihren Patienten berichteten, in denen sie besonders betroffen und berührt waren oder über Patienten, mit denen sie nicht weiter kamen. Eine ganze Anzahl regelmäßig wiederkehrender Phänomene konnte dabei formuliert werden. Mir eröffnete sich durch die Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen in der Gruppe unter Leitung eines Psychoanalytikers, dass den Objectiva von Erkrankungen immer subjektives Erleben von Kranksein, eine subjektive Lebenssituation des Kranken und eine individuell geprägte Arzt-Patienten-Beziehung zur Seite stehen, welche den Umgang dieses Arztes mit diesem Kranken und damit dessen Möglichkeiten des Gesundens prägen. Der Umgang miteinander ist wesentlich von der Emotionalität geprägt.

Hermann Schmitz, jahrzehntelang philosophischer Ordinarius in Kiel, kommt das Verdienst zu, der Anschauung widersprochen zu haben, wonach die Gefühle eines Menschen seine Privatsache seien, eingeschlossen in eine innere Welt, die von alters her mit den Begriffen Seele oder Psyche bezeichnet wurde. Die neueren Untersuchungsmethoden der Neurophysiologen schienen prinzipiell diese überlieferten Anschauungen zu stützen. Konnten sie doch empfundenen Gefühlen Stoffwechselaktivierungen bestimmter Hirnareale zuordnen. Fast wäre geschehen, dass alte Lokalisationstheorien, wie sie in den Brocaarealen oder dem Gall‘schen Schädel zur Medizingeschichte gehören, wieder auferstanden wären. Antonio Damasio, aus Portugal stammender, in den USA arbeitender Neurophysiologe konnte dann aber nachweisen, dass an der Wahrnehmung von Gefühlen das ganze Lebewesen teilhat. Das Gehirn alleine, so äußert sich auch Thomas Fuchs, Philosoph und Psychiater in Heidelberg, ist gar nicht zu fühlen imstande. Damasio definiert Gefühle als „Gedanken über Körperzustände“, sieht Körperzustände demnach als Wegbereiter und Vorbedingung des Fühlens. Schmitz geht noch einen wichtigen Schritt weiter und sieht die Gefühle eben nicht als etwas Privates sondern als Phänomene der sozialen Sphäre. Er definiert: Gefühle sind ortlose, räumlich ergossene Atmosphären und beschreibt ihren ergreifenden, Mensch und Situation umfassenden Charakter. Schmitz bezeichnet seine Philosophie als Neue Phänomenologie und er kommt mit dieser Aussage über Gefühle seinem Anspruch nach, wonach seine Philosophie „die Abstraktionsebenen und Begrifflichkeiten näher an die allgemeine Lebenserfahrung heranlege als die etablierte Wissenschaft“ das tut.

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Jeder kann über Erfahrungen berichten, von den Gefühlen seiner Umgebung angesteckt, von ihnen erfasst worden zu sein. Einem fröhlichen oder einem trauernden Menschen, einem jubelnden Stadion, aber auch den Atmosphären eines warmen Sommerabends oder einer Novemberstimmung kann man sich nur schwer entziehen. Das gilt im Besonderen auch für die Begegnung zwischen Patient und Arzt. Der alarmierten Stimmung eines Menschen mit einer Nierenkolik oder einem Herzinfarkt oder der Angst eines Patienten, dessen Leben mittelfristig durch Krankheit bedroht ist, kann man sich ebenso wenig entziehen. In der Atmosphäre der Balintgruppe geschieht oft eine emotionale Veränderung der Gruppenmitglieder, ohne dass dafür eine Ursache angegeben werden kann. Erst im Verlauf der Gruppenarbeit tritt hervor, dass die von den Ärzten empfundenen Gefühle nicht ursprünglich ihre eigenen sind, sondern Resonanzen auf Patientengefühle. So formuliert Balint den Anspruch, der Arzt möge sich selbst und seine Gefühle als Diagnostikum für das komplexe Geschehen um diesen Patienten nutzen.

Schwingen zwischen Modell und Wirklichkeit

In seinem bekannten 4 Zungen- und 4 Ohrenmodell formuliert der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun, dass ausgetauschte Botschaften eines Gesprächs nicht nur Sachmitteilungen sind: sie intendieren daneben, dass der Sprecher etwas über sich selbst mitteilt, das ihm in Bezug auf das Gegenüber wichtig ist; dass die Äußerung darüber hinaus der Beziehungsgestaltung dient und dass schließlich ein Appell an den Gesprächspartner gerichtet wird. Diese vier Botschaftsebenen sollte der Empfänger idealerweise mit den entsprechenden vier Ohren vernehmen und sich danach im Sinne dessen formen lassen, der die Botschaft sendet. Hier geraten wir in Berührung mit einem anderen Modell des Umgangs zwischen Patient und Arzt und mit Krankheit, dem Modell der Integrierten Medizin von Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiak. In ihren Begriffen könnten wir sagen, dass im Gespräch zwischen Patient und Arzt eine Passung erzeugt werden soll. Der Patient möchte den Arzt für sein Anliegen gewinnen, ihn so in Passung bringen; der Arzt umgekehrt möchte den Patienten in der Weise verändern, dass er sich seiner Krankheit entsprechend verhalten möge, also zum Arzt, den Vorlagen der Wissenschaft und zum Management seiner Erkrankung in Passung gebracht werden soll.

Nun sehen wir, dass durch den Selbstoffenbarungsaspekt, durch den Appellationsaspekt und die Beziehungsgestaltung im Gespräch jeweils mit einer Formungsintention auf das Gegenüber eingewirkt wird. Wenn diese Intention nicht auf Bereitwilligkeit, nicht auf Gegenliebe stößt, kann es –wieder ein Begriff der Psychoanalyse- zum Widerstand kommen. Hermann Schmitz würde ein wenig neutraler und auch allgemeingültiger von einer Engung sprechen. Damit sprechen wir nun von einem sehr subtilen Begriff von Freiheit, der gleichwohl in jeder Begegnung zwischen Patient und Arzt bedeutsam ist: Für Veränderungsimpulse im Leben, für Inhalt und Richtung menschlicher Strebungen, für das Handeln in Situationen und dessen Wurzeln findet Schmitz den Begriff „vitaler Antrieb“. Der nun hängt in Inhalt, Richtung und Stärke wesentlich davon ab, ob die betroffene Person sich in einer Engungssituation befindet oder einer Situation der Weitung bis hin dazu, sich in strukturloser Weite zu verlieren. Beide Extreme sind für die Betroffenen gleich unangenehm, so dass eine ausgewogene Mitte zwischen Engung und Weitung angestrebt wird. Die Engung verknüpft Schmitz mit Spannung, in die Weite hinein schwellt sich raumnehmend das Ich, so wird Weitung mit geschwelltsein verknüpft. Meine Eingangsbemerkung zu einem sehr subtilen Freiheitsbegriff bezieht sich auf folgende Überlegung: Der Rat und Hilfe suchende Patient, der den Arzt in einem sehr wörtlichen Sinne in Anspruch nimmt, wird damit den Arzt in eine Engungssituation bringen. Der Patient, der durch Zeichen und Symptome, die ihn ängstigen oder durch eine Konfliktsituation am Arbeitsplatz oder im familiären Umfeld schon in eine Engung geraten ist, reicht nun, da die eigenen Lösungskräfte nicht ausreichen, seine Engung an den Arzt weiter. Sehr viel seltener wird der Fall sein, dass ein Mensch durch ängstigenden Strukturverlust den Arzt um Hilfe angeht.

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Entgleisung durch Verlust der Lebensstruktur

Die folgende Begegnung wird Ihnen Aspekte massivster Engung aber auch von existenziellem Strukturverlust illustrieren: Einen Diplomingenieur, Mitte Fünfzig, begleite ich nun schon seit Jahrzehnten als Hausarzt. Er selbst ist selten krank, kümmert sich dabei liebevoll um seine Mutter. Der Vater starb schon vor knapp zwanzig Jahren. Nun wurde die Mutter im Laufe des letzten halben Jahres immer kränker. Vor Jahren schon hatte sie einen Herzinfarkt erlitten. Eine zunehmende demenzielle Entwicklung macht die Aufnahme in ein Pflegeheim nötig. Dort wird sie zur problematischen nächtlichen Schreipatientin, für die einen Mittelweg zwischen beruhigender Therapie und medikamentösem Lahmlegen zu finden immer schwierig ist. Studien weisen eine erhöhte Letalität von Demenzkranken unter neuroleptischer Therapie nach, eine fast ausweglose Spannung für den Arzt. Als die Patientin wiederholte Pneumonien bekommt, besteht der Sohn auf stationärer Therapie und umfangreicher Diagnostik für die inzwischen Neunzigjährige. Das Sterben der Patientin kann aber nicht verhindert werden. Gut vier Wochen nach ihrem Tod, sucht der Sohn mich in der Sprechstunde auf. Er könne weder Stuhl absetzen noch Wasser lassen. Es sei, „wie am Ende bei seiner Mutter“. Ich untersuche ihn und finde tatsächlich einen sehr gefüllten Darm, aber auch beidseitige Leistenbrüche. Die Blase scheint ebenfalls gefüllt zu sei. Ich schlage vor, sie mittels Einmalkatheter zu entleeren, er lehnt das ab und verlässt fast fluchtartig die Praxis. Zwei Tage später erscheint er wieder. Er steht im Sprechzimmer, als ich es betrete, will sich auch nicht setzen. Er wirkt starr und emotional sehr eingeengt. Er eröffnet die Begegnung mit den Worten: „Ich bring‘ mich um“, dann schweigt er wieder. Ich versuche mit sehr sparsamen Worten mit ihm in Kontakt zu kommen, äußere, dass die letzten Wochen sicher schwer für ihn waren. Er reagiert allerdings kaum, schaut vor sich hin. Ich habe keinen Zweifel an seinem existenziellen Verlorensein, mir ist klar, dass er stationär-psychiatrischer Hilfe bedarf. Ich traue mich aber nicht, das Zimmer zu verlassen, bin gebannt, und sende der Helferin an der Anmeldung eine Textbotschaft: „Rufen Sie einen Rettungswagen“ und schicke noch hinterher „und das bitte schnell!“ Ich halte zu dem Patienten nur Blickkontakt, wage nicht, ihm zu nahe zu kommen, um diesen Kontakt nicht zu gefährden. Nun sagt er mit lauter Stimme: “Es ist mein Wunsch und Wille, jetzt nach Haus zu gehen“. Ich vertrete ihm den Weg zur Tür und sage so ruhig wie möglich: „Ich kann Sie nicht gehen lassen, aber ich bitte Sie, wenn gleich die Rettungssanitäter kommen, mit denen mitzugehen, ohne dass wir dafür die Polizei brauchen“. Ich denke darüber nach, ob und wie ich ihn festhalte, sollte er davonlaufen wollen. Er kann seine Ankündigung aber offenbar nicht umsetzen, wirkt ebenso gebannt. Der eintreffende Rettungssanitäter ist sensibel, schickt seine Kollegen hinaus, wir sind jetzt zu dritt im Zimmer. Immer noch ruhig erklären der Sanitäter und ich dem Patienten die Aufnahmemodalitäten. Am Ende geht er mit den Rettungsleuten mit. – Eine Stunde später ruft er mich mittels Mobiltelefon aus der Klinik an, ich solle ihn um Himmels willen da herausholen, sonst würde er verrückt. Ich sage am Telefon, dass ich noch einmal die Ärztin vom Dienst kontaktieren werde. Sie hatte ihn noch gar nicht gesehen, wolle dann aber sofort zu ihm gehen. Zwei Stunden später ruft sie mich an und bestätigt, dass er wahnhaft dekompensiert sei und für Mitternacht den Weltuntergang erwarte. Er war medikamentös behandelt worden mit Haloperidol und Lorazepam und werde, für den Fall, dass er am nächsten Tag gehen wollte, fürsorglich untergebracht. In diesem dritten Telefonat mit der Kollegin fiel eine Menge Spannung –Engung, wenn man will, von mir ab und ich hätte die Kollegin umarmen mögen. Nach dieser Begegnung, ansatzlos und unangekündigt, in der laufenden Sprechstunde, brauchte ich erstmal fünf Minuten für mich alleine zur Sammlung.

Ist überhaupt klar, was Freiheit ist?

In dieser Begegnung spielt sich eine solche Fülle von Engungen und Weitungen, von Freiheit und Zwängen, ja von Freiheit im Zwang ab, dass sie gar nicht alle zu benennen sind. Wir haben die Frage

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des Freitodes, wir haben die ärztliche Garantenpflicht, die diesen Freitod verhindern muss, wir haben die fürsorgliche Unterbringung auf einer Station, die früher „geschlossene“ hieß und heute „beschützende“ genannt wird. Ich will jetzt hier nicht von dieser konkreten Fallgeschichte abstrahieren, sondern Ihnen als Hörer die Abstraktion überlassen.

Medikamentöse Therapien mit sedierendem, z. B. neuroleptischem Charakter, werden von Juristen ja durchaus als freiheitsbegrenzende Maßnahmen eingestuft. Ein befreundeter Psychiater sagte mir einmal, das Gegenteil sei insofern der Fall als der Zwangspatient durch das Neuroleptikum überhaupt erst befreit werde. Hier wird deutlich, dass wir als Ärzte durchaus nicht nur mit äußeren Zwängen und äußerer Freiheit zu tun haben, sondern auch mit inneren und situativen Zwängen und Engungen, aus denen Freiheit und Weitung im Laufe ärztlicher Behandlung erst gefunden werden muss.

Eine berühmte Szene dieser Engung durch innere und äußere Umstände beschreibt Friedrich Schiller im 4. Auftritt des 5. Aufzuges in „Wallensteins Tod“:

Wallenstein (mit sich selbst redend):

Wär's möglich? Könnt' ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mir's beliebt? Ich müsste die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht,

Nicht die Versuchung von mir wies - das Herz genährt mit diesem Traum, auf ungewisse Erfüllung hin die Mittel mir gespart, die Wege bloß mir offen hab gehalten? -

Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht mein Ernst, beschlossne Sache war es nie. In dem Gedanken bloß gefiel ich mir; die Freiheit reizte mich und das Vermögen.

War's unrecht, an dem Gaukelbilde mich der königlichen Hoffnung zu ergötzen? Blieb in der Brust mir nicht der Wille frei, und sah ich nicht den guten Weg zur Seite, der mir die Rückkehr offen stets bewahrte?

Wohin denn seh‘ ich plötzlich mich geführt? Bahnlos liegt's hinter mir, und eine Mauer aus meinen eignen Werken baut sich auf, die mir die Umkehr türmend hemmt!

(Er bleibt tiefsinnig stehen)

Personale Regression und personale Emanzipation

Neben der Schwingung zwischen Engung und Weitung als Momenta des Vitalen Antriebes möchte ich noch eine zweite situative Schwingung aus den Schmitz’schen Gedanken einführen, weil ich sie für die hausärztliche Arbeit bedeutsam halte, nämlich die zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation. Personale Regression kennzeichnet eine Lebenssituation, in der ein Mensch von der Macht des Plötzlichen und der Tiefe des Ergriffenseins emotional gleichsam überfahren wurde. Die fünf dafür bedeutsamen Dimensionen sind das betroffene Ich, der eingetretene Sachverhalt, das Jetzt und das Hier und der Eingriff in das gesamte Dasein des Menschen. In dieser Situation schlagen die Gefühle über dem Betroffenen so heftig zusammen, dass eine denkende Distanzierung vom Selbst und der erlebten Situation nicht mehr möglich ist. Je mehr diese Distanzierung auch im Verlauf gelingt, desto eher kann ein Zustand erreicht werden, den Schmitz „personale Emanzipation“ nennt. Die personale Regression kennzeichnet eine Gegenwart, die Schmitz als primitiv bezeichnet und die für den Säugling in den ersten beiden Lebensjahren die physiologische Lebenssituation beschreibt. Alles was ist und geschieht, betrifft mich, empfindet der Säugling. Mit der Fähigkeit, mit der Ich-empfindung auch außer seiner selbst zu sein, kann das Kind und kann natürlich der Erwachsene eine distanzierende Beobachtungssituation von sich einnehmen und sich selbstkritisch bewerten. Diese Sichtweise erinnert an Helmut Plessners exzentrische

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Positionalität als eine Eigenschaft des Menschen, sich zu sich selbst und zu seinem Leben in ein reflexives Verhältnis setzen zu können. Schmitz führt nun aus, dass der erwachsene Zustand der Personalen Emanzipation als Kennzeichen einer entfalteten Gegenwart nicht ein Zustand sei, der –einmal erreicht- für immer bestehen bleibe. Vielmehr schwingen die Menschen zwischen Regression und Emanzipation, zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart hin und her, je nach innerer Verfasstheit und äußeren Umständen. Dabei kann die Regressionssituation mit einem Ausgeliefertsein an Emotionen, auch als eine Situation von Unfreiheit gesehen werden. Hier und jetzt hat mich dieses Ereignis getroffen, das mich betrifft und sonst primär keinen und das mein Dasein erschüttert.

Es ist nur ein kleiner Schritt, diese Betroffenheit im Zusammenhang mit einer akut bedrohlichen Erkrankung oder einer Perspektive zum Tod durch eine Erkrankung zu sehen. Die in den letzten Jahren gebräuchliche sprachliche Figur „Er (oder sie) hat die Diagnose XYZ bekommen“, oft noch mit einem Datum und oder einem Ort präzisiert, beschreibt diesen Vorgang. Patienten, die so überschwemmt werden und zuweilen erst kurz vorher wegen einer akuten Erkrankung zu Patienten geworden sind, äußern in dieser Phase häufig, keinen klaren Gedanken fassen zu können, hilfebedürftig zu sein. Sie in dieser Situation mit dem Anspruch an shared decision making zu konfrontieren, bedeutet eine massive Überforderung, ja eine Verletzung. So Betroffene können jetzt keine kühlen Entscheidungen treffen.

Kranksein als Lebensbruch

In seinem 2015 erschienen Buch „Den kranken Menschen verstehen“ wählt der Arzt und Philosoph Giovanni Maio aus Freiburg als Überschrift zu einem einleitenden Kapitel sicher nicht zufällig: „Eine kleine Phänomenologie des Krankseins“ und beschäftigt sich dann mit dem chronischen Schmerz und mit „Krebs –das Herausgeworfensein aus der Normalität“. Maio schreibt: Die Diagnose Krebs hat zunächst etwas Traumatisierendes, weil sie mit solcher Entschiedenheit und Gnadenlosigkeit in das eigene Leben einbricht, dass man sich ihrer nicht erwehren kann. Es ist schlicht unmöglich, ihr auszuweichen, denn sie lässt keinen Spielraum für Deutungen offen. Die Diagnose Krebs setzt Fakten, die nicht relativiert werden können. Sie führt dem Menschen schmerzlich vor Augen, dass es ein Leben vor der Diagnose und ein Leben danach gibt, ein Leben im Reich der Gesunden und ein Leben im Reich der Kranken, und dass man mit der Diagnose die Fronten gewechselt hat. Man gehört nun nicht mehr dem bis dahin so selbstverständlich geglaubten Reich der Gesunden an, sondern wird brüsk dem Bewusstsein einer Brüchigkeit der gesamten Existenz ausgesetzt.“

In genau dieser Situation wendet sich eine 45-jährige Patienten an mich, die sonst kaum des Hausarztes bedurfte. Sie ist als Psychologin therapeutisch in der Landeshauptstadt in eigener Praxis tätig. Seit wenigen Wochen verspürte sie Oberbauchbeschwerden, nun war sie plötzlich ikterisch-gelb geworden. Die Diagnostik ergab die sehr seltene Diagnose eines nicht mehr kleinen Duodenal-Karzinoms mit Einmauerung des Gallenganges. Sie formuliert schon am Telefon ihre erschütterte Hilflosigkeit. Zunächst galt es, das Ausmaß der Erkrankung festzustellen, dann, unter anderem durch eine Literatur-Recherche, die am ehesten geeignete Therapie zu finden. Das hausärztliche Netzwerk half, die am ehesten geeignete Klinik und einen Operateur zu finden und das mit der Patientin zu besprechen. Sie wurde schließlich in einer Stuttgarter Klinik operiert. Unter Erhaltung des Magenausganges wurden der Bauchspeicheldrüsenkopf, der Zwölffingerdarm und die Gallenblase entfernt, die Bauchspeicheldrüse mit dem Magen, und Magen und Gallengang mit dem Dünndarm verbunden. Ein großer und den Menschen verändernder Eingriff. Schon während des stationären Aufenthaltes kam eine Psychoonkologin ans Krankenbett, beide Frauen fanden aber keinen Draht zueinander. Eine krisenhafte Situation erwuchs daraus, dass bei den postoperativen Bildgebungen eine Veränderung in der Tiefe der Leber, nahe der unteren Hohlvene gesehen wurde, welche zunächst als Metastase angesehen wurde. Einer schon erreichten Zuversicht wurde die Grundlage

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entzogen und erneut stand die Perspektive der Bedrohung des Lebens und einer weiteren Operation im Raum. Allerdings wurde auch diskutiert, dass die Veränderung gutartig sein und einem Hämangiom der Leber entsprechen könnte. Erneute Bildgebungen wiesen in diese Richtung. Jetzt wurde vereinbart, mit der –recht eingreifenden- Chemotherapie zu beginnen und die Auswirkung auf die Leberveränderung zu beobachten. In einer erneuten Bildgebung war die Raumforderung in der Leber unverändert geblieben und der Radiologe hielt sie am ehesten für gutartig. Gleichwohl sprach der Chirurg sich für eine erneute Operation aus. Ich führte ein langes Telefonat mit dem Radiologen, der sich seiner Sache sehr sicher war. Im Gespräch mit der Patientin und ihrem Ehemann entschieden wir, auf die erneute Operation zu verzichten. Die Chemotherapie wurde zu Ende geführt und bis heute gibt es keinen Anhalt für ein Fortschreiten der Erkrankung, alle Zeichen sprechen für ein Hämangiom der Leber.

Das nächste Problem ging von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) aus. Während der noch laufenden Chemotherapie wurde die Patientin von ihrer KV sehr unter Druck gesetzt, alsbald wieder mit der Patientenversorgung zu beginnen und einen verbindlichen Termin zu nennen, zu dem das möglich sein würde. Die Chemotherapie war mit erheblichen Nebenwirkungen, ausgeprägter Müdigkeit, Durchfällen, Soorinfektionen und ausgeprägter Schwäche verbunden. Am Ende kam meine Patientin so unter Druck, dass ich mich veranlasst sah, in einem sehr deutlichen Brief der KV gegenüber mein Unverständnis darüber zum Ausdruck zu bringen, wie eine Organisation, welche sich der Sorge um Kranke und deren Behandlung verpflichtet fühlt, eines ihrer Mitglieder, das lebensbedrohlich erkrankt ist, so unter Druck setzen könne. Erst jetzt lenkte die KV ein und nahm den Druck heraus. So konnten wir uns in Gesprächen mit salutogener Zielsetzung den anstehenden Problemen widmen: wie kann die Patientin, wie das Paar, die Familie mit der fortbestehenden Bedrohung umgehen? Wie würde psychotherapeutische Arbeit wieder möglich werden, wieviel an innerer Stabilität und Lebenszuversicht würde, auf welchem Weg, wieder gewonnen werden können? Am Ende führten der Abschluss der Akuttherapie, eine onkologische Rehabilitation, negative Staging-Kontrollen, die Stabilisierung durch die Familie, Kolleginnen und Kollegen, eine Beschränkung des Arbeitsumfanges und –dem Feedback der Patientin nach- sicher auch der begleitende Hausarzt zu einer weitgehenden Genesung.

Das Behandlungsbeispiel macht deutlich, wie in der Situation der Engung und Spannung durch eine das Leben und die Existenz bedrohenden Erkrankung, verbunden mit emotionalen Überwältigungen im Sinne der personalen Regression, enge personale Bindungen an die Behandler eingegangen werden. Auf das damit verbundene Phänomen des Vertrauens will ich gesondert noch zu sprechen kommen. In seiner Trilogie „Sphären“ beschreibt Peter Sloterdijk auf insgesamt fast dreitausend Seiten verschiedene Intensitäten, Qualitäten und Ausprägungsformen solcher Bindungen. Entsprechend tragen die 3 Bände die Unterbezeichnungen „Blasen“, „Globen“ und „Schäume“. Begleitet man als Hausarzt Patienten in solchen und durch solche Lebenskrisen, dann erscheint beeindruckend, wie sie sich der engen Therapiebindung im Laufe der Genesung entwinden, wieder mehr an Selbständigkeit und Autonomie zurückgewinnen und –nicht immer, weil selbst Zwischengenesungen ja nicht immer möglich sind- schließlich mit neuer Stärke aus den Lebens- und Krankheitskrisen herausfinden. Den Bericht über eine Patientin, die mich mit einer Längszerreißung der Aorta, einer Aortendissektion, in der Praxis aufgesucht hatte, überschrieb ich mit „Phönix aus der Blase“ um diese Sachverhalte darzustellen.

Kranksein als gesellschaftliches Problem

Das Beispiel des Verhaltens der Kassenärztlichen Vereinigung –aus deren Zwängen und Rechtspositionen heraus- gibt mir die Gelegenheit, auf einen weiteren Aspekt von Freiheit versus Unfreiheit und Regelsystemen hinzuweisen: Ärztliche Versorgung findet beileibe nicht nur im Rahmen einer Beziehung des Patienten zum Arzt statt. In diese Beziehung sind schon das Team des

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Arztes und auf der anderen Seite das familiäre, private und berufliche Umfeld des Patienten eingebunden. Damit ist bereits die notwendige Öffnung der Dyade Patient-Arzt im Sinne einer Triangulierung angesprochen. Über die unmittelbaren, den Beteiligten noch bekannte Personen hinaus, ist aber das gesamte Sozialgefüge eines Staatswesens als „das Dritte“ in das Setting zwischen Patient und Arzt involviert. Marcus Siebolds von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln beschreibt 2014 in einem Aufsatz „Von Eros und Ethos des Vertragsarztseins“ für das Deutsche Ärzteblatt, welch hohes Maß an Freiheit der Staat der Profession „Arzt“ zubilligt, dafür aber die Kontrolle der „irrationalen Potenziale der Gesellschaft“ um „Krankheit, Pflegebedürftigkeit und krankheitsbedingte Devianz bei psychiatrischen Erkrankungen“ erwartet, wobei „die Verfolgung der Zentralwerte der Gesellschaft“ dem Arzt aufgetragen ist. Als handelnde Ärzte nehmen wir oft weniger das von Siebolds beschriebene hohe Maß an Freiheit wahr als vielmehr eine Vielzahl von Regelungen und Vorschriften, denen wir täglich unterworfen sind. Oft genug erscheint uns schon deren Kenntnis kaum leistbar, viel weniger ihre genaue Befolgung. Gleichwohl sind wir uns als Angehörige der Profession bewusst, dass wir in ein Regelsystem nicht nur der klassischen Staatsgewalten der Gesetzgebung, der Exekutive und der Judikative, sondern auch der vierten Gewalt im Staat in Form der Medien eingebettet sind. In der jeweils individuellen, auf diese Person und diesen Sachverhalt bezogenen Begegnung zwischen Patient und Arzt eröffnen sich dennoch große Freiräume für das ärztliche Handeln. Dieses Handeln beschreibt Klaus Dörner 2002 in „Der gute Arzt“ zunächst aus einer ganz wörtlichen Perspektive, des Behandelns, nämlich des Berührens mit der Hand. „Meine Hände“ so Dörner „vermitteln Körper- Selbst- und Welterfahrung über Schwingungen, Gleichgewicht und Rhythmus, Raum- und Zeiterfahrung und sind somit entscheidend für das Urvertrauen, worauf sich alle weiteren Sinneswahrnehmungen aufbauen“. Dörner nähert sich dem Thema aus der Sicht der Pflegeberufe und hier aus dem Umgang mit Menschen im Wachkoma. Da ich auch chirotherapeutisch arbeite, kann ich seine Beobachtungen nachvollziehen und bestätigen. Seit einiger Zeit führe ich als Lehrarzt für die Tübinger Universität Kleingruppenunterricht mit Studierenden in der Erhebung eines Ganzkörperstatus durch. Dabei ist wirklich spannend, die unterschiedliche Fertigkeit der Studierenden zu beobachten mit der sie die Schauspielpatienten berühren, sie behandeln, die sich für die Kurse zur Verfügung stellen. Mit den Jahren ist die eigene, anfängliche Unsicherheit und Unbeholfenheit bei diesen zwischenmenschlichen Annäherungen in Vergessenheit geraten. Auch hier gilt, dass in dieser Berührung Vertrauen entsteht oder auch nicht. Vertrauen in dem Sinne: ich bin verletzlich, vielleicht hilflos und Du wirst mich dennoch nicht verletzen. Dörner unterscheidet in diesem Kontext drei wichtige Beziehungskonstellationen, in denen sich ärztliches Handeln vollzieht: Zum einen eine Subjekt-Objekt-Beziehung, in der der Patient in gewisser Weise und begrenzt zum Gegenstand wird, den ich behandle. In einer zweiten, Subjekt-Subjekt- Ebene handeln Patient und Arzt gemeinsam und auf Augenhöhe ein gemeinsames Vorgehen aus. Unter Beachtung der oben schon genannten Regeln kann dieses Aushandeln partnerschaftlich, aber auch gegnerschaftlich in gegenseitiger Achtung geschehen. Eine dritte Ebene kennzeichnet die Bereitschaft des Arztes, sich in Anspruch nehmen zu lassen, Dörner nennt es „mich von Dir berühren zu lassen und anweisen zu lassen, mein Handeln, also mich, in Deinem Dienst so lange zu ändern, bis Du nicht zur Wiederherstellung Deiner alten Ordnung, sondern zu einer neuen Ordnung als Deiner Heilung gefunden hast.“ Wie wirken sich Honorierungssysteme aus? Zu den oben angesprochenen Regelwerken, welche ärztliches Handeln mitbestimmen, gehören auch die Gebührenordnungen nach denen das Handeln abgerechnet wird und welche das ärztliche Honorar kennzeichnen. Der schon erwähnte Giovanni Maio beklagt in verschiedenen Aufsätzen, dass Honorar fürs Machen gefordert werden kann und bezahlt wird. Das oft viel wichtigere Wägen und

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Überlegen, welches am Ende im Nicht-machen resultiert, wird nicht bezahlt. Im Dezember 2015 hält Maio für die Ärzteschaft Ludwigsburg einen Vortrag „über die Kunst des Seinlassens“. Jeder Chirurg weiß, dass Operieren schwierig sein kann, Nicht-Operieren aber oft wesentlich schwieriger. Besonders die Honorierungssysteme der Klinik bringen den Chirurgen in Konflikte mit der Hospital-Ökonomie, wenn nicht ausreichend oft und umfassend genug operiert wird. Speziell in Baden-Württemberg kennen wir als niedergelassene Ärzte das Honorarsystem der Hausarztzentrierten Versorgung. Das ist weitgehend durch Einschreibe- und Erscheinungspauschalen gekennzeichnet. Nur sehr wenige Leistungen, z. B. Impfungen oder Früherkennungsuntersuchungen werden für ihre Durchführung honoriert. Es gibt sogar ein Honorar, wenn der eingeschriebene Patient in diesem Quartal gar nicht erscheint. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Auswirkungen dieses Honorierungssystems wirklich durchdacht waren, aber sie haben das ärztliche Handeln verändert. Ich muss nicht mehr etwas aktiv tun, um ein Honorar zu bekommen, ich kann auch gar nichts tun, bekomme dennoch Geld. Dieses System wirft den Arzt auf sich und auf die Frage zurück, was der Patient braucht, was gut für ihn ist und wieviel ich für ihn zu leisten bereit bin. Der Arzt hat einen großen Freiraum des Handelns zurückbekommen, ist dabei aber intensiv mit ethischen Fragen konfrontiert. Wo in anderen Systemen Überversorgung droht, besteht hier ein Risiko der Unterversorgung durch fehlendes Handeln. Verzeihen und Versprechen als Merkmale von Handeln Handeln ist auch zentrales Thema für Hannah Arendts Gedanken über die „Vita activa“. Sie unterscheidet drei Ebenen aktiven Lebens: Arbeiten, Herstellen und Handeln. In der griechischen Polis war arbeiten, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht menschenwürdig. Dafür zuständig waren Sklaven. Mit Handeln war das politische Handeln gemeint, frei von materiellen Zwängen. Handeln allein befreit aus dem arbeitenden Endloskreislauf von Arbeit und Verzehr des Erarbeiteten und der Sinnlosigkeit des Herstellens durch Entwertung des Hergestellten. In sehr verkürzter Darstellung möchte ich auf zwei Kerngedanken Arendts hinweisen, die mir auch für den handelnden Arzt von großer Bedeutung scheinen: „Ganz anders liegt der Fall des Handeln und der ihm eigentümlichen Verlegenheit. In diesem einzigen Fall erwächst das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit und Unabsehbarkeit der von ihm begonnenen Prozesse nicht aus einer anderen und potentiell höheren Fähigkeit, sondern aus den Möglichkeiten des Handelns selbst. Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit –dagegen, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wusste und nicht wissen konnte, was man tat- liegt in der menschlichen Fähigkeit, zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit -und damit gegen die chaotische Ungewissheit alles Zukünftigen- liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten. Diese beiden Fähigkeiten gehören zusammen, insofern die eine sich auf die Vergangenheit bezieht…während die andere ein Bevorstehendes wie einen Wegweiser in die Zukunft aufrichtet, in der ohne die bindenden Versprechen, welche wie Inseln der Sicherheit von den Menschen in das drohende Meer des Ungewissen geworfen werden, noch nicht einmal irgendeine Kontinuität menschlicher Beziehungen möglich wäre, von Beständigkeit und Treue ganz zu schweigen. Um die Wucht dieser Gedanken ganz nachzuvollziehen, bleibt einerseits der Verweis auf Hannah Arendt selbst. Zum anderen, das aus der eigenen Lebenserfahrung zu gegenwärtigende, ungeheuer Tröstliche, das aus ihren Sätzen erwächst. Nun eröffnet sich hier der Raum, um einige Gedanken über das Vertrauen anzustellen, das ohne die Möglichkeit des Verzeihens und ohne den Kompass des Versprechens nicht denkbar wäre. Vertrauen ist in der Arzt-Patienten-Beziehung ein sehr oft gebrauchter Begriff, ohne dass der Eindruck entstünde, die Benutzer des Begriffes hätten intensiv darüber nachgedacht. Wieder werde ich bei Giovanni Maio fündig. Er weist im schon erwähnten Buch „Den kranken Menschen verstehen“ darauf hin, dass Handeln in der Medizin zunehmend verrechtlicht und verökonomisiert wird. Daher grenzt er die Bedeutung von Verträgen gegenüber der

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von Vertrauen ab. „Aber ärztliches Handeln“ so Maio „kann im Vollzug einer Vertragsbeziehung nicht aufgehen, weil es darauf angewiesen ist, sich sowohl an Regeln zu halten, als auch in der Begegnung mit dem einzelnen Patienten singuläre und damit kreative Entscheidungen zu treffen, die keinem standardisierten Schema folgen.“ Das ist übrigens exakt der Tenor eines Buches mit dem Titel „Qualität in der Medizin“ von Bruno Kissling und Andrea Abraham. Der Hausarzt und die Ethnologin stellen in einem Buch in Briefen den roten Faden der Dissertation letzterer dar, welche in einer mehrjährigen Begleitung des Qualitätszirkels Bruno Kisslings entstanden war. Hieraus wird deutlich, dass Versorgungsqualität nur entstehen kann, wenn die Regeln wissenschaftliche Evidenz ebenso berücksichtigt werden, wie die singuläre Situation des einzelnen Patienten in Beziehung zum behandelnden Arzt. Nach Maios Worten muss für das notwendige Gefühl des Vertrauens in die Zukunft, in die Solidarität des Anderen die rechtlich verbriefte Grundausstattung angereichert werden durch nicht Einklagbares: Zuwendung, Wohlwollen, persönliche Verantwortungsübernahme. Die sieben Aspekte von Vertrauen, welche Maio auflistet, möchte ich Ihnen nennen:

1. Vertrauen als Unterstellung guter Motive Hier geht es nicht um den einzelnen Handlungsakt des Gegenübers sondern um seine Person als Ganzes, seine Haltung, seinen Charakter und gemeinsame Wertvorstellungen

2. Vertrauen als Geschenk und Anforderung Vertrauen kann nicht eingefordert und nicht verlangt werden, sondern stellt ein verpflichtendes Geschenk für denjenigen dar, dem Vertrauen entgegen gebracht wird. Die mit dem Geschenk verbundenen moralische Verpflichtung könne –so Maio- zu einer Humanisierung der Gesellschaft beitragen.

3. Ein Zugang jenseits des Kalkulatorischen Anders als im Vertragsverhältnis kann in einem Vertrauensverhältnis nicht aufgerechnet werden. Vertrauen entsteht nicht aus Bilanzierung, sondern ist Resultat einer praktischen Urteilskraft, einer bestimmten Weltsicht, eines Klimas, einer Atmosphäre. Letzteres erinnert wieder an die Sloterdijk’schen Sphären, hier der Beziehungsblase.

4. Wagnis Vertrauen Auch im Vertrauen bleibt immer ein Rest von Unsicherheit, Wachheit und Vorsicht. Maio weist auf Niklas Luhmanns Beschreibung von Vertrauen als „riskante Vorleistung“ hin. Ohne Vertrauen allerdings gelinge nicht der Sprung, sich über die dem Leben inhärenten Unsicherheiten hinwegzusetzen.

5. Vertrauen als Gegensatz zum Vertragsverhältnis Über diesen grundsätzlichen Gegensatz wurde eingangs schon gesprochen. Das Besondere des Vertrauens, erläutert Maio, ist, dass wir uns in eine frei gewählte Abhängigkeit begeben und damit nicht nur unsere Verletzlichkeit in dieser Situation anerkennen, sondern uns auch bewusst sind, dass eine Spirale der Kontrolle letztlich in Handlungsunfähigkeit führt.

6. Die Untergrabung des Vertrauens durch die Ökonomisierung Hier kehrt Maio zur Medizin zurück: In dem Augenblick, wo der Patient in der Medizin –hier tun sich stationärer und ambulanter Bereich nichts- vor- dringlich unter der Frage gesehen wird, was mir seine Behandlung als Arzt oder Klinik einbringt, ist dem Vertrauen die Grundlage entzogen.

7. Die gemeinschaftsstiftende Kraft des Vertrauens Hier beschreibt Maio die Kraft von Vertrauen als eine der zentralen synthetischen Kräfte einer Gesellschaft. Der Patient sei auf eine vertrauenswürdige Medizin angewiesen, deren Vertrauenswürdigkeit darin zum Ausdruck komme, dass der Arzt gute Motive habe, sorgende Motive, die jenseits des eigenen Vorteils liegen –und zugleich Kenntnisse und Fähigkeiten, diesen Motiven des Wohlwollens Handlungen der Hilfe folgen zu lassen. „Das gute Leben“ könnte mit Bertrand Russel [aus Warum

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ich kein Christ bin] dieser Aspekt beschrieben werden, „ist von Wissen geleitet und von Liebe beseelt.“

Insgesamt geht es in der hausärztlichen Praxis weniger um die großen Freiheitslinien als eher um die kleine, dem Menschen nahe, individuelle Freiheit, welche durch verschiedene Daseinsperspektiven engeschränkt sein kann. Ich weiß nicht, ob Sie meinen Eindruck nachvollziehen können, dass diese Freiheiten gewonnen und ermöglicht werden können, wenn Arzt und Patient zunächst eine Engungsphase durchlaufen haben, in der sich ihre Beziehung sichert und festigt. Zu Weite, Freiheit und Vertrauen könne sie dann wie nach einem Tunnel gelangen. Maio bezieht sich in einem Abschnitt über die Bedeutung der Hoffnung hier auf den Philosophen Richard Schaeffler, der die menschliche Freiheit definiere als „die Kraft, die konkreten, stets relativen und vorläufigen Handlungsalternativen durchsichtig zu machen für die Ziele, auf die die Hoffnung sich ausspannt“. Erst durch den Mut zur Handlung, den die Hoffnung verleihe, so Maio, werde der Mensch dazu befähigt, seine Freiheit in Anspruch zu nehmen. Konstellationen der Arzt-Patienten-Beziehung Hier komme ich noch einmal auf Klaus Dörner und seine beschriebenen drei Beziehungskonstellationen zurück. Auf der einen Seite beschreibt er die Konstellation, in welcher der Arzt das handelnde Subjekt ist, dem sich der Patient in der Annahme des Objektstatus anvertraut. Eine andere Situation ist diejenige, in der beide Partner als Subjekte partnerschaftlich oder -in gegenseitiger Anerkennung- auch gegnerschaftlich versuchen, zu einer gemeinsamen Wirklichkeit zu gelangen und in der sie Möglichkeiten im Probedenken und Probehandeln durchspielen. Genau hier kommt die gerade skizzierte Bedeutung der Hoffnung zum Tragen, wo die Hoffnung geeignet ist, den Weg in Freiheiten zu weisen. Ebenso ist der Arzt in der Behandlung chronischer Krankheiten, eben der chronische Arzt gefragt, hier beim Patienten den Blick für Möglichkeiten zu weiten und ihm zu helfen, Handlungsalternativen in Richtung auf Freiheit zu sehen. Vielleicht klingt etwas von diesem Durchspielen des Möglichen an, wenn Friedrich Schiller in seiner Schrift über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt: ..der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Die dritte Beziehungsform, die Dörner beschreibt, klingt in seinen Worten so: “Du als Subjekt machst mich als Arzt zum Objekt Deines Anspruchs, Deines Anrufes. Diese Haltung ist nicht mehr beschützend, partnerschaftlich oder gegnerschaftlich, sondern in ihr setze ich mich dem Anderen aus, ohne die Chance einer Rückkehr zu mir, werde von ihm in mein Antworten, meine Verantwortung eingesetzt. Diese Form der Inanspruchnahme ist in der hausärztlichen Praxis sehr häufig und bedeutet zunächst eine Engung und Freiheitseinschränkung für den Arzt. Die Form der Inanspruchnahme variiert sehr breit. Sie reicht von fast schon aggressiver Forderung über ein Sich-berufen auf die Institution Hausarzt bis hin zu appellierendem Bitten, auch bannende Bezauberung kommt vor. Diese Begrifflichkeit mag ein bisschen befremdlich sein, aber ich denke, wer nach Michael Balint daran gewöhnt ist, auf die eigene Emotionalität zu achten und sie diagnostisch zu nützen, dem wird diese Empfindung nicht fremd sein. Und die Begrifflichkeit schlägt –unter dem Freiheitsaspekt- eine Brücke zu dem als Geistphilosophen bezeichneten früheren Mönch Giordano Bruno. Mit seinem Aufenthalt in Deutschland 1591 fällt die Entstehung seiner Schrift „De vinculis in genere“ –Über die fesselnden Kräfte im Allgemeinen“ zusammen. Dieses zu den Magischen Schriften gezählte Werk wurde übrigens erst 1993 ins Deutsche übersetzt und trägt auch den Titel: „Die verschiedenen Arten des Bannens und Bezauberns“. Gleich im ersten Satz schreibt Bruno, ohne die spirituelle Bannkraft der Natur, der Lebewesen und Gottes gebe es keinen Arzt, keinen Seher, keinen, der Werke vollbringt, keinen Philosophen, keinen Liebenden. Durch sie, so Bruno, sind sie alle alles. An anderer Stelle ist zu lesen: Diese Bannkraft ist

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eine gewisse Erscheinungsweise eines Wesens, die von ihm zur Seele hinüberwandert, ohne es jedoch zu verlassen, wie das Feuer, das seinen Schein aussendet und mitteilt und doch nicht verschwindet, wie das Bild vom ursprünglichen Wesen zum Spiegel und durch den dazwischen liegenden Raum zu den Augen gelangt. In Dramen sind solche elementaren menschlichen Prozesse oft verdichtet und deshalb anschaulich dargestellt. Eine Bezauberung, die dem ganzen Drama seine Wendung gibt, erfährt Johanna in Friedrich Schillers „Jungfrau von Orleans“ als sie, die bisher gnadenlos die englischen Truppen verfolgte und die Gegner tötete, dem englischen Heerführer Lionel begegnet. Neben dem gesprochenen Text sind Schillers detaillierte Regieanweisungen wichtig: Lionel: Verfluchte, rüste dich zum Kampf – Nicht beide Verlassen wir lebendig diesen Platz Du hast die besten meines Volkes getötet, Der edle Talbot hat die große Seele In meinen Busen ausgehaucht.- Ich räche Den Tapferen oder teile sein Geschick. Und dass du wissest, wer dir Ruhm verleiht, Er sterbe oder siege – Ich bin Lionel, Der letzte von den Fürsten unsres Heers, Und unbezwungen ist noch dieser Arm. (Er dringt auf sie ein, und nach einem kurzen Gefecht schlägt sie ihm das Schwert aus der Hand) Treuloses Glück! (Er ringt mit ihr) Johanna: (ergreift ihn von hinten zu am Helmbusch und reißt ihm den Helm gewaltsam herunter, dass sein Gesicht entblößt wird; zugleicht zuckt sie das Schwert mit der Rechten) Erleide, was du suchtest, Die heil’ge Jungfrau opfert dich durch mich! (In diesem Augenblick sieht sie ihm ins Gesicht, sein Anblick ergreift sie, sie bleibt unbeweglich stehen und lässt dann langsam den Arm sinken.) Lionel: Was zauderst du und hemmst den Todesstreich? Nimm mir das Leben auch, du nahmst den Ruhm, Ich bin in Deiner Hand, ich will nicht Schonung. (Sie gibt ihm ein Zeichen mit der Hand, sich zu entfernen) Entfliehen soll ich? Dir soll ich mein Leben Verdanken? – Eher sterben Johanna: (mit abgewandtem Gesicht) Rette Dich! Ich will nichts davon wissen, dass dein Leben In meine Macht gegeben war. Lionel: Ich hasse dich und dein Geschenk!- Ich will Nicht Schonung – Töte deinen Feind, der dich Verabscheut, der dich töten wollte. Johanna: Töte mich -und fliehe! Lionel: Ha! Was ist das? Johanna: (verbirgt das Gesicht) Wehe mir! Lionel: (tritt ihr näher) Du tötest, sagt man, alle Engelländer, Die du im Kampf bezwingst – Warum nur mich Verschonen? Johanna: (erhebt das Schwert mit einer raschen Bewegung gegen ihn, lässt es aber, wie sie ihn ins Gesicht fasst, schnell wieder sinken) Heil’ge Jungfrau!

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Lionel: Warum nennst du Die Heil’ge? Sie weiß nichts von dir, der Himmel Hat keinen Anteil an Dir. Johanna (in der heftigsten Beängstigung) Was hab ich Getan! Gebrochen hab ich mein Gelübde! (Sie ringt verzweifelt die Hände) Lionel: (betrachtet sie mit Teilnahme und tritt ihr näher) Unglücklich Mädchen! Ich beklage dich, Du rührst mich, du hast Großmut ausgeübt An mir allein; ich fühle, dass mein Hass Verschwindet, ich muss Anteil an dir nehmen! -Wer bist du? Woher kommst du? Wie kann nun der Arzt diesem Anspruch gerecht werden, die Fesselung wahrnehmen, dem Bannen und Bezaubern erliegen, gleichzeitig aber seinen Standpunkt nicht aufgeben und seine Handlungsfreiheit bewahren? Ein wichtiger Schritt ist sicherlich, dass dem Arzt gelingt, die Sache des Patienten zu seiner eigenen zu machen. Es gibt die Formulierung, man möge sich „in die Schuhe des Patienten stellen“, ich denke, es ist sogar ein aktiver innerer Schritt der Übernahme des Fremden als eines teilweise Eigenen nötig. So kann dem Gefühl des genötigt Seins entgangen werden und einer sonst vielleicht drohenden Erschöpfung, einem burn out vorgebeugt werden. In seinem kleinen Büchlein „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ liefert Hermann Schmitz weitere mögliche Antworten. Unter der Überschrift: „Ästhetische Andacht – Distanz in der Ergriffenheit“ grenzt er zunächst verschiedene Kunstformen von der Dichtung ab. Beispiele aus Dichtungen habe ich hier angeführt. Schmitzt fährt dann fort: Von anderer Art sind Ereignisse, die etwas Ergreifendes unmittelbar als „selbstgegeben“ (ein Ausdruck Husserls) zum Vorschein bringen, wenn man z. B. von einem merkwürdigen Blick, einer merkwürdigen Stimme so getroffen wird, dass man sich eigentümlich berührt fühlt. Dass sie einem „unter die Haut“ gehen. Blick und Stimme sind nicht nur selbst, als Halbdinge, dynamische Eindringlinge ins leibliche Befinden des Betroffenen, sondern auch Träger von Atmosphären, die diesen anwehen und ihm einen charakteristischen Eindruck machen, der haften bleiben kann, dem er nachzuhängen und nachzusinnen versucht sein mag. Etwas weiter fährt Schmitz fort: [gekürzt] Alle wahrnehmbaren Gestalten…, bereit, durch leibliche Kommunikation in das affektive Betroffensein fühlender Wesen einzugreifen, bezeichne ich…als ästhetische Gebilde… Alle Gefühle haben Autorität und stellen Ansprüche. Ästhetische Gebilde strahlen sie aus, wie heilige Innenräume, die den Eintretenden unter das Gesetz der Ehrfurcht stellen. Damit kommt Schmitz den vorhin wiedergegebenen Aussagen Klaus Dörners sehr nahe. Er zieht den Schluss, dass es für den Menschen, um sich im Konzert der Ansprüche konkurrierender Gefühlsmächte behaupten zu können ohne die Ergriffenheit zu verleugnen, einer Distanz in der Ergriffenheit bedürfe. Dieser Satz gilt sicher in besonderem Maß für den Arzt, ist er doch in der beschriebenen Weise besonders existentiellen Gefühlen ausgesetzt. Für die Balance zwischen Distanz und Ergriffenheit findet Schmitz den Begriff der ästhetischen Andacht. Das erforderliche Distanzierungsvermögen erhält der Mensch durch die Entfaltung der primitiven Gegenwart, die ebenfalls schon erwähnt wurde, im Sinne der personalen Emanzipation. Die ästhetische Andacht, in der der Mitfühlende nach Schmitz Worten die personale Emanzipation und damit Denken und Bewegungsfreiheit aufrecht erhält, so sein Resümee, versetzt den Menschen in eine glückliche Mitte zwischen zwei von Entgleisung bedrohten Schicksalen. Das eine ist das völlige Verfallen an der ergreifende Macht von Gefühlen, entweder im Bann eines dominierenden Gefühls oder in der Zerrissenheit durch die Ansprüche konkurrierender Gefühle… Das andere Schicksal ist die Austrocknung des Lebens durch den Verlust der Betroffenheit von Gefühlen, so dass nichts mehr wichtig ist, weil die Vernunft ohne Gefühle keine Ziele setzen kann.

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Für die Beschreibung eines ähnlichen Sachverhaltes bezieht sich Giovanni Maio auf die Philosophin Bennent-Vahle, die den Begriff „nachdenkliche Aufgeschlossenheit“ dafür nennt. [Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen 2013 S.207] Ich fasse zusammen und komme zum Schluss: Aus einem sehr kursorischen Blick auf die geisteswissenschaftliche und politische Entwicklung von Freiheit in den letzten Jahrhunderten leitete ich vom überindividuellen Top-down-Blick auf die großen Freiheitsthemen über zum individuellen Blick auf die persönlichen Freiheitsthemen von Menschen in hausärztlicher Behandlung. Dieser Gegensatz lässt sich wiederfinden, wenn man die Behandlung von Krankheiten und dafür verfügbare Evidenz neben das Erleben von Kranksein stellt, verbunden mit der Frage, wie der Patient selbst und sein behandelnder Arzt mit diesem Kranksein umgehen. Der schon erwähnte Schweizer Hausarztkollege Bruno Kissling und die Ethnologin Andrea Abraham, welche über „seinen“ Qualitätszirkel promovierte, kommen zu der Aussage, dass nur die Kombination aus Studienevidenz UND dem Finden solitärer Wege für den Einzelnen zu guter Qualität hausärztlicher Behandlung führt. Mögliche Themen in diesem Feld, die mit Freiheit im Denken, Fühlen und Handeln verknüpft sind, habe ich dargestellt. Ich habe versucht, Modellvorstellungen zu dieser Beziehungsarbeit aus der Medizin, aber –in Gestalt der Neuen Phänomenologie- auch aus philosophischen Ansätzen in Relation zu bringen zu konkreten Behandlungssituationen aus der hausärztlichen Praxis. Dabei sollten auch Folgen von Gebührenordnungen als Ausdruck der ökonomischen Seite des Gesundheitswesens angesprochen werden. Um die Brücke zu schlagen zwischen der hausärztlichen Praxis und Krankheitssituationen dort und der Generalisierung existenzieller Ausnahmesituationen, in welche Menschen gelangen können, habe ich auch Beispiele aus der Dichtung, aus Dramen herangezogen. Dort schon „verdichtet“ dargestellte Situationen erlauben auch, Ergriffenheit, Betroffenheit und Bedrohung in der Lage des Krankseins zu beleuchten. Die Bedeutung von Haltungen, von Charaktereigenschaften, ihre Auswirkungen auf ebenso notwendige wie schwer fassbare Begriffe wie Vertrauen und Hoffnung, die Bedeutung von Verzeihen und Versprechen, habe ich dargestellt. Sehr oft geht es um Freiheitsdimensionen, um Spielräume, um das Denken und Probehandeln des Möglichen, sowohl des Patienten als auch des verstrickten Arztes. So denke ich, werden Sie mit mir die Titelfrage so beantworten, dass Freiheit ein Begriff sehr vielfältiger und komplexer Dimension für die Hausarzttätigkeit und dafür von großer Relevanz ist.