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DZPhil, Akademie Verlag, 60 (2012) 3, 435–456 ARCHIV Drei Sitzungsprotokolle aus den Frankfurter Seminaren Theodor W. Adornos Ende Oktober 1949 kam Theodor W. Adorno zum ersten Mal seit Beginn des Zweiten Welt- kriegs wieder zurück nach Frankfurt am Main. Zuvor war er, den die Nazis zum ‚Halbjuden‘ gemacht hatten, für 15 Jahre im Exil: ab 1934 in England, ab 1938 in den Vereinigten Staaten, wo er unter anderem zunächst für das ‚Princeton Radio Research Project‘ in New York gear- beitet hatte, gemeinsam mit Max Horkheimer die Dialektik der Aufklärung verfasste, Thomas Mann als musikalischer Berater für dessen Doktor Faustus diente sowie den Nachlass des Freundes Walter Benjamin versammelte. Über Paris erreicht Adorno, der in Amerika lediglich einigen Exilanten bekannt, in Europa hingegen ein vollkommen Unbekannter war, Frankfurt. Er findet am 5. November das weitge- hend zerstörte ehemalige Institutsgebäude vor – und beginnt an der Universität umgehend seine Lehrtätigkeit, die sich über die nächsten 20 Jahre bis zu seinem Tod 1969 fortsetzen sollte. Zu diesem Zeitpunkt gilt er als einer der einflussreichsten Intellektuellen der Bundesrepublik und Mitbegründer der weltweit bekannten Frankfurter Schule. Was sich im Nachhinein wie die Erfolgsgeschichte eines Heimkehrers lesen lässt, liegt nicht nur in den Texten begründet, die Adorno im Nachkriegsdeutschland publizierte, sondern auch in eben jener Lehrtätigkeit, an die sich der Schüler Alfred Schmidt später als „ein universitäres Ereignis“ 1 erinnern wird. In jenem Wintersemester 1949/50 hält Adorno eine Vorlesung zum Thema „Theorie der Gesellschaft“ 2 ab und gibt zugleich Übungen zur Politik des Aristoteles sowie ein Seminar über die „Transzendentale Dialektik bei Kant“. Bereits in diesem Seminar wählt Adorno eine Vorgehensweise, die er bis zu seinem zuletzt gehaltenen Seminar über „Subjekt-Objekt-Dia- lektik“ im Sommersemester 1969 nicht mehr ändern sollte: Pro Seminarsitzung hatte ein Student ein Protokoll der Sitzung zu verfassen. Rolf Tiedemann, Begründer und langjähriger Direktor des Theodor W. Adorno Archivs, Herausgeber der Gesammelten Schriften Ador- nos (und derjenigen Walter Benjamins) und darüber hinaus auch Schüler Adornos, erinnert sich: „Das Seminar begann stets mit der Verlesung des Protokolls der vorigen Sitzung, das in der Regel auch den Ausgangspunkt für die Diskussion bildete. Weil die Sitzungsprotokolle scharfer Kritik der Seminarleiter, aber auch von den übrigen Teilnehmern, unterzogen wur- den, war es nicht selten schwierig, Studenten zu finden, die bereit waren, das der aktuellen 1 A. Schmidt, „Wir wollen hier nicht so drauflos philosophieren“. Theodor W. Adorno, in: H. Sarko- wicz (Hg.), Die großen Frankfurter, Leipzig 1994, 248. 2 Die Stichworte, die Adorno vorab zur Vorlesung notierte – er hielt sie in Vertretung für Horkheimer, der erst im Februar 1950 nach Frankfurt kommen sollte –, finden sich publiziert in: Th. W. Adorno, Theorie der Gesellschaft. Stichworte und Entwürfe zur Vorlesung 1949/50, hg. v. M. Schwarz, in: Frankfurter Adorno Blätter, hg. im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs v. R. Tiedemann, Mün- chen 1992 ff., Bd. VIII, 111–142. Brought to you by | University of Southern California Authenticated | 68.181.176.15 Download Date | 4/5/14 8:26 AM

Drei Sitzungsprotokolle aus den Frankfurter Seminaren Theodor W. Adornos

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DZPhil, Akademie Verlag, 60 (2012) 3, 435–456

ARCHIV

Drei Sitzungsprotokolle aus den Frankfurter Seminaren Theodor W. Adornos

Ende Oktober 1949 kam Theodor W. Adorno zum ersten Mal seit Beginn des Zweiten Welt-kriegs wieder zurück nach Frankfurt am Main. Zuvor war er, den die Nazis zum ‚Halbjuden‘ gemacht hatten, für 15 Jahre im Exil: ab 1934 in England, ab 1938 in den Vereinigten Staaten, wo er unter anderem zunächst für das ‚Princeton Radio Research Project‘ in New York gear-beitet hatte, gemeinsam mit Max Horkheimer die Dialektik der Aufklärung verfasste, Thomas Mann als musikalischer Berater für dessen Doktor Faustus diente sowie den Nachlass des Freundes Walter Benjamin versammelte. Über Paris erreicht Adorno, der in Amerika lediglich einigen Exilanten bekannt, in Europa hingegen ein vollkommen Unbekannter war, Frankfurt. Er findet am 5. November das weitge-hend zerstörte ehemalige Institutsgebäude vor – und beginnt an der Universität umgehend seine Lehrtätigkeit, die sich über die nächsten 20 Jahre bis zu seinem Tod 1969 fortsetzen sollte. Zu diesem Zeitpunkt gilt er als einer der einflussreichsten Intellektuellen der Bundesrepublik und Mitbegründer der weltweit bekannten Frankfurter Schule. Was sich im Nachhinein wie die Erfolgsgeschichte eines Heimkehrers lesen lässt, liegt nicht nur in den Texten begründet, die Adorno im Nachkriegsdeutschland publizierte, sondern auch in eben jener Lehrtätigkeit, an die sich der Schüler Alfred Schmidt später als „ein universitäres Ereignis“1 erinnern wird. In jenem Wintersemester 1949/50 hält Adorno eine Vorlesung zum Thema „Theorie der Gesellschaft“2 ab und gibt zugleich Übungen zur Politik des Aristoteles sowie ein Seminar über die „Transzendentale Dialektik bei Kant“. Bereits in diesem Seminar wählt Adorno eine Vorgehensweise, die er bis zu seinem zuletzt gehaltenen Seminar über „Subjekt-Objekt-Dia-lektik“ im Sommersemester 1969 nicht mehr ändern sollte: Pro Seminarsitzung hatte ein Student ein Protokoll der Sitzung zu verfassen. Rolf Tiedemann, Begründer und langjähriger Direktor des Theodor W. Adorno Archivs, Herausgeber der Gesammelten Schriften Ador-nos (und derjenigen Walter Benjamins) und darüber hinaus auch Schüler Adornos, erinnert sich: „Das Seminar begann stets mit der Verlesung des Protokolls der vorigen Sitzung, das in der Regel auch den Ausgangspunkt für die Diskussion bildete. Weil die Sitzungsprotokolle scharfer Kritik der Seminarleiter, aber auch von den übrigen Teilnehmern, unterzogen wur-den, war es nicht selten schwierig, Studenten zu finden, die bereit waren, das der aktuellen

1 A. Schmidt, „Wir wollen hier nicht so drauflos philosophieren“. Theodor W. Adorno, in: H. Sarko-wicz (Hg.), Die großen Frankfurter, Leipzig 1994, 248.

2 Die Stichworte, die Adorno vorab zur Vorlesung notierte – er hielt sie in Vertretung für Horkheimer, der erst im Februar 1950 nach Frankfurt kommen sollte –, finden sich publiziert in: Th. W. Adorno, Theorie der Gesellschaft. Stichworte und Entwürfe zur Vorlesung 1949/50, hg. v. M. Schwarz, in: Frankfurter Adorno Blätter, hg. im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs v. R. Tiedemann, Mün-chen 1992 ff., Bd. VIII, 111–142.

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Sitzung zu unternehmen. In diesem Fall, und nur in ihm allein, griff Adorno dann auch einmal zur autoritären Bestimmung des Protokollanten.“3

Von diesen Sitzungsprotokollen hat sich der größte Teil erhalten: über 470 Protokolle von etwa 330 Verfassern aus 57 Seminaren. Die Protokolle (die sämtlich im DIN A4-Format vorliegen), die in den Soziologischen Seminaren angefertigt wurden, sind, zusammen mit den überlieferten Referaten, in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung, jeweils für ein oder zwei Semester zusammengefasst, zu Büchern gebunden worden. Über die Biblio-thek des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften, die sich der Protokollbücher nach Auf-lösung der Fakultäten an der Johann Wolfgang Goethe-Universität annahm, gelangten sie ins Universitätsarchiv Frankfurt. Diejenigen Protokolle hingegen, die in den Philosophischen Seminaren – die Adorno offiziell sämtlich gemeinsam mit Horkheimer gab4 – abgefasst wur-den, finden sich als Teil des Nachlasses von Horkheimer im Archivzentrum Frankfurt/M. Fast sämtliche Protokolle weisen maschinenschriftliche oder, zumeist, manuelle Sofortkor-rekturen auf; einige darüber hinaus auch Anstreichungen und Marginalien, unter anderem von Adornos Hand. Auf einigen Protokollen der letzten Semester hat Adorno handschriftlich seine Beurteilung vermerkt. Die Sitzungsprotokolle hatten im Wesentlichen zwei Funktionen: erstens, den Verlauf der jeweiligen Sitzung auch für diejenigen Studenten festzuhalten, die an der Sitzung nicht teilnehmen konnten; zweitens sollten sie, indem das Protokoll der letzten Seminarsitzung stets zu Beginn der folgenden Sitzung verlesen wurde, eine Kontinuität in der Diskussion gewährleisten.

Der Verfasser arbeitet zur Zeit an der Gesamtausgabe der Sitzungsprotokolle aus Adornos Frankfurter Seminaren, deren erster Band 2014 im Akademie Verlag erscheinen wird. Die editorischen Prinzipien werden dieselben sein, wie sie dieser Vorabpublikation zu Grunde gelegt werden: Die Edition der Sitzungsprotokolle bietet den originalen Überlieferungsbe-fund. Lediglich die Korrektur offensichtlicher Tipp- und Rechtschreibfehler sowie offensicht-licher grammatikalischer Irrtümer (etwa falsches Tempus, falscher Kasus) erfolgt stillschwei-gend. Fehlende Satzzeichen werden nur in zweifelsfreien Fällen eingefügt (etwa ein fehlender Punkt am Ende eines Satzes), ebenso werden offenkundig falsch gesetzte Satzzeichen (etwa ein doppelt gesetzter Punkt am Satzende) getilgt. Die maschinenbedingte Schreibung von „ss“, „ae“, „oe“, „ue“, „Ae“, „Oe“ und „Ue“ dort, wo ein „ß“ beziehungsweise die entspre-chenden Umlaute gefordert wären, wird ebenfalls stillschweigend angeglichen. Eine über-greifende Vereinheitlichung der Textdarbietung wird nicht angestrebt, um nicht den jeweils individuellen Charakter – der häufig auch zeitbedingt sein dürfte; ein Sitzungsprotokoll zu Anfang der 1950er Jahre bediente sich in aller Regel einer anderen, gleichsam distanzierteren Darstellungsweise als eines zum Ende der 1960er Jahre – zu verwischen. Die Anmerkungen, welche die Protokolltexte begleiten, haben mehere Funktionen: Fehlernachweis; bestmögliche Identifizierung der genannten Personen; Zitataufklärung; Aufklärung über Zusammenhänge, die sich aus dem Text nicht unmittelbar erschließen (das heißt Einordnung in den historischen

3 R. Tiedemann, Adorno und Benjamin noch einmal. Erinnerungen, Begleitworte, Polemiken, Mün-chen 2011, 30.

4 Die Protokolle selbst bestätigen inhaltlich hingegen den Befund Alex Demirovićs: „Anzumerken ist, daß Horkheimer, auch wenn er als Mitveranstalter aufgeführt ist, nach Auskunft mehrerer Teilneh-mer lediglich etwa alle drei bis vier Wochen an den Seminarsitzungen teilnahm.“ (A. Demirović, Bodenlose Politik – Dialoge über Theorie und Praxis, in: Frankfurter Schule und Studentenbewe-gung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, hg. v. W. Kraushaar, Hamburg 1998, Bd. 3, 95) Der Grund hierfür ist recht einfach: 1959 wurde Horkheimer emeritiert und hatte sich bereits zwei Jahre zuvor in der Schweiz niedergelassen.

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beziehungsweise theoriegeschichtlichen Kontext); Binnenverweise; Konkordanzen zu publi-zierten Texten sowie zu unpublizierten Texten aus Adornos Nachlass; Aufklärung zweifel-hafter Stellen.

Das Protokoll von Werner Sörgel umfasst im Original acht Seiten und befindet sich im Uni-versitätsarchiv Frankfurt. Es entstammt einem Buch, das die Protokolle und die Referate aus dem Soziologischen Hauptseminar „Zeitgenössische Ideologien“ aus dem Sommerseminar 1957 versammelt und auf dem Einband mit der Aufschrift „A3“ gekennzeichnet ist. Werner Sörgel (geb. 1931) wurde 1966 in Frankfurt mit der Arbeit Konsensus und Inte-ressen. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland promoviert. Ab Mitte der 1970er Jahre war er geschäftsführender Gesellschafter im von ihm mitgründeten ‚Sinus Institut für Marktforschung und Sozialforschung‘ in München. Die Beschäftigung mit Ideologiegeschichte wie auch mit zeitgenössischen Ideologien, wie sie im Seminar geübt wurde, liegt zeitlich zwischen der Abfassung der Soziologischen Exkurse, die das Institut für Sozialforschung 1956 publiziert hat und die dem Thema ein eige-nes Kapitel widmen5, und der Vorlesung Philosophie und Soziologie, die Adorno im Sommer-semester 1960 abgehalten hat.6 Sie geht nochmals dezidiert auf das Ideologieproblem ein und versammelt einige der Motive, die im Seminar von 1957 bereits besprochen wurden. Das hier präsentierte Protokoll diente bereits Alex Demirović in seiner Schrift Der nonkonformistische Intellektuelle dazu, den Lehrgehalt der Seminare Adornos zu explizieren: Die „dialogische Sequenz“, die das Protokoll wiedergibt, sei insofern interessant, als Adorno, „konfrontiert mit dem Vorwurf, der konservativen Kulturkritik nahezustehen, direkt die Redeposition charakte-risiert, zu deren Einnahme er die Studenten ermutigen möchte: keine Angst zu haben vor einer radikalen und durchaus auf das gesellschaftliche Ganze zielenden Kritik, die als kritische durchaus auch Geborgenheit gewähren können soll. Doch konsequent argumentiert er weiter, dass man sich auch in der Kritik nicht positiv einrichten darf; auch die Kritik darf zu keinem Standpunkt werden.“7

Das Protokoll von Helmut Dahmer umfasst im Original drei Seiten und befindet sich im Universitätsarchiv Frankfurt. Es entstammt einem Buch, das die Protokolle und die Referate aus dem Soziologischen Oberseminar für Fortgeschrittene „Begriff der soziologischen Theo-rie“ aus dem Sommersemester 1963 versammelt und auf dem Einband mit der Aufschrift „A10“ gekennzeichnet ist. Insgesamt liegen neun Sitzungsprotokolle aus diesem Seminar vor; eine Bestandsliste auf der ersten Seite des Buches gibt darüber Auskunft, dass ein Pro-tokoll aus dem Seminar fehlt. Im selben Semester hielt Adorno die Vorlesung Probleme der Moralphilosophie8 und leitete gemeinsam mit Horkheimer ein Philosophisches Hauptseminar über Kant (aus dem lediglich drei Sitzungsprotokolle überliefert sind).

5 Vgl. Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frank-furt/M. 1956 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, im Auftrag des Instituts für Sozialforschung hg. v. Th. W. Adorno u. W. Dirks, Bd. 4), 162–181. – In der Vorrede, die Horkheimer und Adorno gemeinsam zeichneten, heißt es: „Der Ideologieaufsatz ist die erweiterte und vielfach modifizierte Fassung eines Referats auf dem Deutschen Soziologentag in Heidelberg 1954, das im Heft 3/4 des sechsten Jahrgangs (1953/54) der ‚Kölner Zeitschrift für Soziologie‘ erschien.“ (Ebd., 8) Die Rede ist hier von Adornos Schrift Beitrag zur Ideologienlehre (ebd., 360–375; jetzt in: GS 8, 457–477).

6 Vgl. NaS IV·6, ab 135 passim.7 A. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur

Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 1999, 456.8 Jetzt in: NaS IV·10.

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Helmut Dahmer (geb. 1937) war von 1968 bis1992 leitender Redakteur der Zeitschrift Psyche. 1973 wurde er in Frankfurt mit der Arbeit Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke promoviert. Von 1974 bis 2002 lehrte Dahmer Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Das Sitzungsprotokoll behandelt eine Kontroverse, die Adorno drei Jahre zuvor, in seiner Vorlesung über „Philosophie und Soziologie“, bereits als Ausgangspunkt genommen hatte, um, wie er sagte, „den Konflikt zwischen Soziologie und Philosophie, soweit er von der Sozio­logie aus sich darstellt, […] nicht allgemein, nicht generell abzuhandeln, sondern anhand einer heute tatsächlich vorliegenden Kontroverse, die gerade in Deutschland wohl eine gewisse Aktualität hat, die sich angeschlossen hat an meine eigene Arbeit über ‚Soziologie und empirische Forschung‘, auf die ja mein Hamburger Kollege Helmut Schelsky in seiner ‚Standortbestimmung der deutschen Soziologie‘ eingehend geantwortet hat, und ebenso auch René König in einem seiner letzten Aufsätze“.9

Das Protokoll von Hans­Jürgen Krahl umfasst im Original vier Seiten, befindet sich als Teil des Nachlasses von Horkheimer im Archivzentrum Frankfurt/M. und trägt die Signa-tur XIII 209. Es entstand im Wintersemester 1965/66 im Philosophischen Hauptseminar „Begriff der Negation“, das Adorno offiziell gemeinsam mit Horkheimer abhielt. Da ledig-lich „Prof. Adorno“ als Seminarleiter genannt wird, ist es wahrscheinlich, dass Horkheimer zumindest während der hier protokollierten Sitzung nicht anwesend war. Insgesamt liegen zwölf Sitzungsprotokolle aus diesem Seminar vor. Ins selbe Semester wie dieses Seminar fiel die Vorlesung über „Negative Dialektik“10, ein Soziologisches Hauptseminar „Zum Begriff der Gesellschaft“ (aus dem 13 Sitzungsprotokolle überliefert sind) sowie ergänzende Übungen zu diesem Seminar. Hans-Jürgen Krahl (1943–1970) war führender Theoretiker der antiautoritären Bewe-gung, prominentes Mitglied des SDS und Doktorand bei Adorno. Nachdem er durch einen Autounfall ums Leben gekommen war, stellten Freunde Krahls einige seiner Schriften und Reden zum Buch Konstitution und Klassenkampf zusammen.11

Im Seminar über den „Begriff der Negation“ kam jene Kritik Adornos an der Hegel-schen Philosophie zur Sprache, wie er sie in der Negativen Dialektik (zuerst 1966) sowie in der gleichnamigen Vorlesung im selben Semester übte; an „jener positiven Negativität: der Negation der Negation als neuer Position, wie sie als ein Modell die Hegelsche Philosophie erstellt“.12 Adorno behandelte den Begriff der Negation im Seminar anhand von Texten Spi-nozas, Schellings und eben Hegels.

Adornos Schriften, Briefe und Vorlesungen werden hier wie in den Anmerkungen zu den Sit-zungsprotokollen zitiert nach den Ausgaben Briefe und Briefwechsel (hg. v. Theodor W. Ador-no Archiv, Frankfurt/M. 1994 ff.), Gesammelte Schriften (hg. v. R. Tiedemann unter Mitwir-kung v. G. Adorno, S. Buck-Morss u. K. Schultz, Frankfurt/M. 1970 ff.) und Nachgelassene Schriften (hg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M. bzw. Berlin 1993 ff.). Dabei gelten die Abkürzungen:

9 NaS IV·6, 13; vgl. dort auch die entsprechenden Nachweise: 344.10 Jetzt in: NaS IV·16.11 Vgl. H.-J. Krahl, Konstitution und Klassenkampf. Schriften und Reden 1966–1970, hg. v. D. Claus-

sen u. a., 4. Aufl., Frankfurt/M. 1971.12 NaS IV·16, 28; vgl. GS 6, 161–163.

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BB 4·II: (gemeinsam mit M. Horkheimer) Briefwechsel 1927–1969, Bd. II: 1938–1944, hg. v. Ch. Gödde u. H. Lonitz, 2004.

GS 3: (gemeinsam mit M. Horkheimer) Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 4. Aufl., 1996.

GS 6: Negative Dialektik / Jargon der Eigentlichkeit, 5. Aufl., 1996.GS 8: Soziologische Schriften I, 4. Aufl., 1996.GS 10·1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen / Ohne Leitbild, 2. Aufl., 1996.GS 10·2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe / Stichworte, 2. Aufl., 1996.GS 11: Noten zur Literatur, 4. Aufl., 1996.GS 16: Musikalische Schriften I–III: Klangfiguren / Quasi una fantasia / Musikalische

Schriften III, 2. Aufl., 1990.

NaS I·3: Current of Music. Elements of a Radio Theory, hg. v. R. Hullot-Kentor, 2006.NaS IV·4: Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1959), hg. v. R. Tiedemann, 1995.NaS IV·6: Philosophie und Soziologie (1960), hg. v. D. Braunstein, 2011.NaS IV·10: Probleme der Moralphilosophie (1963), hg. v. Th. Schröder, 2. Aufl., 1997.NaS IV·16: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, hg. v.

R. Tiedemann, 2003.

Dirk Braunstein, Frankfurt/M.

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Werner Sörgel23. Juli 1957

Protokoll der Seminarsitzung am 23. 7. 57

Herr Munz1 setzte sein in der Sitzung am 16.7. begonnenes Referat über „Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“2 aus der „Dialektik der Aufklärung“ fort. Der letzte Abschnitt dieses Referats befaßte sich mit der Veränderung im Warencharakter der Kunst. Autonome Kunst hat als käufliche schon immer Warencharakter besessen, doch war sie, solange sie unter der Protektion ihrer Mäzene stand, dem unmittelbaren Einfluss des Marktmechanismus entzogen und konnte darum ihrem eigenen immanenten Gesetz zu folgen suchen. In der spätkapitalistischen Gesellschaft, die jede Regung unter einen Zweck subsu-miert, schwört Kunst ihrem immanenten autonomen Sinn ab und will nichts anderes mehr sein als nur Konsumgut. Der Warencharakter der Kunst realisiert sich vollends und zerfällt zugleich, Kunstwerke werden – vor allem im Radio – als eine Form der Reklame gratis gelie-fert.3

Prof. Adorno bemerkte hierzu, daß es sich um eine Darstellung der Verhältnisse in Amerika handele, wo Radioprogramme von „sponsors“ finanziert werden, also von Firmen, die vor, nach und teilweise mitten in von ihnen bestimmten Programmen ihre Werbeslogans sprechen lassen. Wo im „public service“ der Rundfunkgesellschaften auf eine ausdrückliche Waren- oder Firmenwerbung verzichtet werde, meist bei sog[enannten] „bedeutenden Kunstwerken“, erwähnten diese Tatsache die Stationen so häufig und so eindringlich, daß die Ausnahme gleichsam zur besonders raffinierten Form der Reklame werde.4

Der Referent führte sodann aus, wie die scheinbar überparteiliche Autorität, mit der im Radio Kunst gratis frei Haus geliefert werde, ein Schema der „Allgegenwart“ schaffe, welches die Konsumenten für die Ambitionen des Faschismus prädisponiere.5 Kunst als billi-ges Massenkonsumgut werde nicht – wie von der Kulturindustrie behauptet – allen Menschen zugänglich, vielmehr zerstöre sie als verdinglichte im Einzelnen die Intention zur bewußten Aneignung. Der Kunstkonsum nehme Zwangscharakter an, dessen Motor die Angst ist, man könne etwas verpassen. Prof. Adorno wies auf die strukturellen Wandlungen hin, welche die Kulturindustrie seit dem Erscheinen des besprochenen Buches im letzten Krieg durchlaufen habe. Die hier

1 Näheres zu Horst Munz konnte nicht ermittelt werden. Sein Referat ist nicht überliefert.2 Die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno erschien zunächst 1944 in kleiner Auf-

lage unter dem Titel Philosophische Fragmente als mimeographierter Band des Instituts für Sozial-forschung, bevor sie 1947 in Amsterdam verlegt wurde; der erste Titel bildete nun den Untertitel. Eine Neuauflage dieses Buches, das in der Nachkriegszeit lange vergriffen war, erschien erst 1969 in Frankfurt/M. (jetzt in: GS 3, 7–296). Das Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“, das fast ausschließlich von Adorno stammt, findet sich in: ebd., 141–191.

3 Vgl. hierzu den entsprechenden Abschnitt in: ebd., 179–183.4 „Die Toscaniniaufführung übers Radio ist gewissermaßen unverkäuflich. Man hört sie umsonst,

und es wird gleichsam zu jedem Ton der Symphonie noch die sublime Reklame beigegeben, daß die Symphonie nicht durch Reklame unterbrochen wird – ‚this concert is brought to you as a public service‘.“ (Ebd., 182)

5 „Die Nationalsozialisten selber wußten, daß der Rundfunk ihrer Sache Gestalt verlieh wie die Druckerpresse der Reformation. Das von der Religionssoziologie erfundene metaphysische Charis-ma des Führers hat sich schließlich als die bloße Allgegenwart seiner Radioreden erwiesen, welche die Allgegenwart des göttlichen Geistes dämonisch parodiert.“ (Ebd., 182 f.)

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beschriebene Welt sei eine „Tote Welt“ – überholt von der jüngsten Entwicklung vor allem in Amerika, wo das Fernsehen dem Film den Rang abgelaufen habe. Die schon beim Film kaum mehr bestehende Auswahlmöglichkeit sei bei der Television noch einmal um ein Wesentliches verringert, die Qualität des Gebotenen in der Regel noch schlechter, während gleichzeitig der Mechanismus der Anpassung durch die Allgegenwart des Fernsehens sich verstärkt habe. Der Referent führte weiter aus, wie innig Kulturindustrie und Reklame technisch wie öko-nomisch verschmolzen seien. Die Sprache des vergewaltigten Publikums nehme schließlich selbst Reklamecharakter an, und dem Wort werde sein durch historische Erfahrung vermit-telter Bedeutungsgehalt geraubt, wodurch es tendenziell wieder zur Zauberformel werde.6

Prof. Adorno unterstrich, daß diese Erscheinung nicht auf Amerika beschränkt [sei], sondern sich im gleichen Maße auch in Europa nachweisen lasse. Es wäre eine interessante sprachsoziologische Aufgabe zu untersuchen, inwieweit vergleichbare Modeworte unter ana-logen gesellschaftlichen Bedingungen, aber in einander völlig getrennten Sprachräumen ent-stehen. Dem amerikanischen Wort ‚gimmick‘ für ein besonders eingängiges Wirkungssche-ma – z. B. in der Schlagermusik – stehe die deutsche ‚Masche‘ gegenüber.7 Man könne hier gleichsam von einer negativen Sprachschöpfung sprechen, verursacht durch vergleichbare gesellschaftliche Phänomene. Die sich dem Referat anschließende Diskussion berührte im wesentlichen drei Aspekte:

1. Sind die im Referat aufgezeigten Irrationalismen in der Tat nur Ideologien im Sinne eines gesellschaftlich produzierten notwendigen Scheins?

2. Kann Gesellschaftskritik als solche sinnvoll sein, ohne gleichzeitig auf ein „Positives“ zu deuten, das im Gegenstand der Kritik selbst oder wenigstens hinter diesem ist?

3. Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer Totalschau des gesellschaftlichen Seins?

Zum ersten der angerührten Fragekomplexe gab Herr Brandt8 zu bedenken, daß doch in aller Herrschaft, auch in der, die in den Institutionen der Kulturindustrie stecke, ein Stück Vernunft walte. Auch im Kapitalismus seien die Güter nicht nur Tausch- sondern auch Gebrauchswerte. Die Kritik der im Referat gekennzeichneten Erscheinungen erscheine ihm richtig und not-wendig, doch leicht könne jene sich gegen die Organisation der Gesellschaft und Wirtschaft

6 „Durch die Sprache, die er [scil. der Kunde] spricht, trägt er selber zum Reklamecharakter der Kul-tur das Seine bei. Je vollkommener nämlich die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr die Worte aus substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchdringlicher werden sie zugleich. Die Entmythologisie-rung der Sprache schlägt, als Element des gesamten Aufklärungsprozesses, in Magie zurück.“ (Ebd., 187)

7 Ähnlich formuliert Adorno in den Kriterien der neuen Musik, einer Vorlesung des Jahres 1957: „Bedingungen des Charakteristischen scheinen überlieferte Kategorien, wie Einfall und Originalität. Beide sind mit Grund in Verruf geraten. Wie sie erst unterm Kapitalismus zu musikalischen Normen wurden, so waren sie mit dem Markt verfilzt, der nouveauté des Angebots, der Kennmarke des Ver-käuflichen. Wohl steckte in der nach dem originellen Einfall gewerteten Musik auch etwas von bür-gerlicher Emanzipation gegenüber schablonenhafter hierarchischer Starrheit. Aber sie ist längst zur Pseudo-Individualisierung, zum Schlager mit der Melodie verkommen, die wie alle andere ist und durch ein minimales Auffälliges, einen Trick, ein ‚gimmick‘, gleichwohl behalten werden kann.“ (GS 16, 201)

8 Gerhard Brandt (1929–1987) war von 1972 bis 1983 Direktor des Instituts für Sozialforschung. 1964 wurde er mit einer Arbeit über Rüstung und Wirtschaft: Ein Beitrag zum Problem der Integra-tion gesellschaftlicher Macht- und Einflußgruppen in der Bundesrepublik promoviert.

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überhaupt richten. Aber ohne eine – wenn auch modifizierte – Form der Organisation sei auch eine freiheitliche und sozialistische Gesellschaft nicht denkbar. Die Unvollkommenheit der Planung in unserer Gesellschaft müsse angeprangert werden, weil sie dem Irrationalen Platz lasse. Die Polemik gegen die Durchschnittlichkeit des in der Kulturindustrie Gebotenen dürfe uns nicht der Einsicht verschließen, daß die Verwirklichung einer freien Gesellschaft an Mas-senproduktion als Voraussetzung gebunden sei und insofern eine gewisse Durchschnittlich-keit bedinge. Die Kritik dürfe nicht zu dem Mißverständnis führen, daß je eine Rückkehr zur individuellen Produktionsweise möglich sei. Durch eine solche falsche Interpretation könnten die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ leicht in bedenkliche Nähe konservativer Kul-turkritiker gelangen. Auch sollte man bedenken, daß in unserer Gesellschaft, die ja keine freie oder sozialistische sei, Kunst vielleicht nur möglich ist, sofern sie sich ihrer eigenen Verdinglichung bewußt bleibt. So habe Bertolt Brecht in seiner Dichtung niemals versucht, eine Reindividualisierung zu antizipieren, sondern er habe vielmehr die Verdinglichung auf die Spitze getrieben. Prof. Adorno erwiderte auf diese Anmerkungen, daß ein Unterschied zu machen sei zwi-schen der Herstellung materieller Gebrauchsgüter und der ideologisch vermittelten Gebrauchs-wertigkeit des Films, die im Grunde nur den schlechten Zustand der Gesellschaft reflektiere. Der von der Kulturindustrie produzierte Dreck sei kein notwendiges Gebrauchsgut. Zum Begriff des Durchschnitts sei zu bemerken, daß der freilich ein notweniger Bestandteil der Massenproduktion – z. B. von Autos – sei. Diese quantitative Notwendigkeit anzuerkennen bedeute aber etwas anderes, als den Durchschnitt als Qualität zu verherrlichen – und darin bestehe die Funktion der Kulturindustrie. Sie produziere ein genormtes Bewußtsein, das dem Fortschritt im Wege stehe. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen stelle Durchschnittlichkeit ein Unglück dar, es sei darum eine Aufgabe der Aufklärung, sie mit aller Schärfe zu kritisie-ren. Das sog[enannte] „Positive“ der Kulturindustrie seien im Grunde Lappalien. So möge eine gewisse Popularisierung der Psychoanalyse durch den Film und das Radio zwar als posi-tiv gelten, doch die Verdummung durch den Apparat überwiege bei weitem. – Konservative Kulturkritiker könnten einen freilich mißbrauchen, doch dies dürfe einen nicht davon abhal-ten, Kritik zu betreiben. Alle Wahrheit könne isoliert und aus dem Zusammenhang gerissen werden. Noch immer sei aber die Sprache ein Indiz für Wahrheit, denn mit jedem verantwort-lich formulierten Urteil sei implicite eine Anweisung aufs Ganze gemeint. Dr. Habermas9 wies darauf, daß nicht in abstrakter Weise von der technischen Notwen-digkeit der Massenproduktion auf die Notwendigkeit der Produktion von Schund geschlossen werden dürfe. Die Massenproduktion von Kulturgütern müsse nicht deren Substanz zerstören. So zwinge die Anwendung des Rotationsdrucks nicht zur Herstellung der Bildzeitung. Die Dreigroschenoper10 müsse nicht notwendig, wenn sie verfilmt werde, darum mißlingen, weil der Film ein Erzeugnis der Massenproduktion sei. Herr Brandt warf noch einmal die Frage auf, ob Kunst für die Massen nicht andere Gestalt haben müsse als in der bürgerlichen Epoche. Man könne empirisch feststellen, daß die offen-sichtlich einmal vorhanden gewesene Fähigkeit, Nuancen in einem Kunstwerk zu genießen – Wortspiele in einem Shakespeare-Text – dem Publikum unserer Zeit fehle, und man müsse wohl auch bezweifeln, daß der Sinn hierfür wieder neu geweckt werden könne.

9 Jürgen Habermas (geb. 1929) war zur Zeit dieses Seminars Forschungsassistent am Institut für Sozialforschung bei Adorno und Horkheimer.

10 Die Dreigroschenoper Bertolt Brechts – mit der Musik von Kurt Weill – wurde 1928 in Berlin ur-aufgeführt. Das Stück wurde erstmals 1931 von Georg Wilhelm Pabst verfilmt.

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Prof. Adorno erwiderte, daß der Begriff der „Masse“ nicht hypostasiert werden dürfe. Eine richtige Gesellschaft werde zum gegenwärtigen Begriff der Masse genauso quer ste-hen wie zum bürgerlichen des Individuums. Die Masse wie die Kulturindustrie dürfe man dialektisch nur an ihren eigenen Begriffen messen, diese seien aber beide dem bürgerlichen Bildungsbegriff entnommen. Herr Teschner11 deutete auf eine Gefahr der Kulturkritik hin, die sich ausdrücklich auf eine Kritik der Phänomene des Überbaus beschränke. Dies könne leicht dazu verführen, die Mächte hinter der Kulturindustrie zu personalisieren, für den Massenbetrug gleichsam die „bösen Kapitalisten“ verantwortlich zu machen. Prof. Adorno entgegnete, daß die hier zitierte Kulturkritik davon ausgehe, Kulturindustrie sei durch die Bedingungen des expansiven Kapitals bestimmt. Er erinnere daran, daß er immer den Versuch, gesellschaftlich bedingte Verhältnisse zu personalisieren, kritisiert habe, aber trotzdem: zur anonymen Notwendigkeit der Reproduktion und Expansion des Kapitals käme die ganz reale und personale Macht von Individuen hinzu. Am Beispiel des Apparats Holly-wood ließe sich sehen, daß dessen Anonymität nicht zur Idylle werde, wenn es darum ginge, einen Regisseur durch moralische Foltermethoden zu „brechen“, d. h. gefügig zu machen. In den mächtigen Konzernen säßen immerhin barbarische Herren, die Gewalt über andere hätten und diese im Interesse des Apparats zu gebrauchen wüßten. Herr Viehmann12 stellte die Frage, ob nicht auch die Kulturindustrie, wenn auch ungewollt, dazu beitrage, den Menschen in unserer Gesellschaft und vielleicht für eine bessere Gesell-schaft im positiven Sinne fungibel zu machen. Hinzu käme eine wachsende Differenzierung des Arbeitsprozesses, die ja qualitativ Vereinfachung bedeute und eine Mehrung der Frei-zeit der arbeitenden Menschen. Durch Kino, Radio, Fernsehen würden die Menschen ihren traditionellen Freizeitbeschäftigungen entfremdet, und es käme nur darauf an, sie zu einer sinnvolleren Nutzung ihrer freien Zeit zu bringen, was freilich eine gerechtere Gesellschaft voraussetze. Erzeugnisse der Massenproduktion, wie die billige Herstellung von Taschen-buchreihen, gäben den Menschen heute schon die Möglichkeit, sich in ihrer Freizeit mit den Gedanken großer Philosophen vertraut zu machen. Solche Tendenzen gelte es zu fördern. Prof. Adorno warnte vor einem zu eilfertigen, gleichsam sozialdemokratischen Optimis-mus, demzufolge alles darauf angelegt wäre, sich zum Besten zu entwickeln.13 Hegel würde

11 Manfred Teschner (geb. 1928) war zur Zeit dieses Seminars Hilfsassistent am Institut für Sozialfor-schung. 1961 wurde er mit einer Arbeit Zum Verhältnis von Betriebsklima und Arbeitsorganisation promoviert. 1967 übernahm er eine Professur für Soziologie an der Technischen Hochschule Darm-stadt.

12 Näheres zu Herrn Viehmann konnte nicht ermittelt werden.13 Dieses Motiv entspricht der XIII. der Thesen Über den Begriff der Geschichte Walter Benjamins,

die zum ersten Mal 1942 in einem hektographierten Sonderheft der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen. – Benjamin hatte geschrieben: „Die sozialdemokratische Theorie, und mehr noch die Praxis, wurde von einem Fortschrittsbegriff bestimmt, der sich nicht an die Wirklichkeit hielt, son-dern einen dogmatischen Anspruch hatte. […] Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschenge-schlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufen-den Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden.“ (W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Th. W. Adorno u. G. Scholem hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, Bd. I·2, 700 f.) – Dass Adorno gerade diese These Benjamins schon früh genau rezipierte, geht aus einem Brief hervor, den jener am 12. Juni 1941 an Max Horkheimer schrieb (vgl. BB 4·II, 145). – Das Motto zu dieser These Benjamins wird Adorno auch in der Theorie der Halbbildung zitieren: „‚Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.‘“ (GS 8, 111)

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gesagt haben, dem Fortschritt im formellen Verstand entspräche ein Rückschritt im materiel-len. Vorläufig sei festzustellen, daß die Produkte der Kulturindustrie im Sinne einer fortschrei-tenden Verdunklung wirkten. So sei der Bauer, dem man seine Kirmes genommen [habe] und dafür den Heidefilm biete, nicht durch die derart vermittelte Kenntnis einer ihm fremden Landschaft aufgeklärter geworden. Beim Radiohören könne – das sei nachgewiesen – ernste und schwierige Musik wie Unterhaltungsmusik konsumiert werden14, und der Taschenbuch-Plato, gelesen ohne gleichzeitige Reflexion auf die Gesellschaft, werde zum unverbindlichen Kulturgut.15 Überhaupt werde die Neutralisierung der Kultur durch den wahllosen Konsum aller Dinge gefördert, hinzu käme, daß die in den Taschenbüchern vorgenommene „Auswahl“ aus den Gesamtwerken der Philosophen häufig einen bedenklichen Zensurmechanismus dar-stelle. Für die Sozialforschung wäre es eine interessante Aufgabe, einmal festzustellen, was aus dem Plato im Taschenbuch werde, wie er das Bewußtsein und das Handeln der Leser beeinflusse. Von zwei anderen Seminarteilnehmern wurde von einer möglichen Weiterentwicklung der Kunst durch die Technik gesprochen, womit sich der Begriff der Kunst ändern müsse. Sei es doch schon möglich, mit Elektronen-Rechenmaschinen Schlager oder auch einfache Fugen zu komponieren. Prof. Adorno erwiderte, daß bei solchen Spekulationen der Begriff Technik zu absolut gesetzt werde, eine Tendenz, die auch bei den Russen – dort aus der Situation des Mangels heraus – anzutreffen sei. Es gebe aber Dinge, von denen wir annehmen müßten, daß sie gleichsam über der Tech-nik stünden. Die mit der Rechenmaschine ermöglichte Schlagerkomposition nenne nur das Verfahren beim Namen. Eine Analyse der Schlagermusik zeige, daß hier die Möglichkeit schematischer Komposition theoretisch schon immer bestanden hätte, womit gleichsam die Rückständigkeit in der bisherigen Produktionsweise von Schlagern erwiesen sei. Die tech-nische Produktion von Fugen sei nur eine Verfeinerung des Verfahrens, dessen sich einige Zeitgenossen Bachs bedient hätten, wenn sie Fugen komponierten, die deutlich erkennbare Elemente des Schematischen enthielten und darum keine Kunstwerke wären. Kunst beginne jenseits dieser Grenze, sie sei im Sinne der Hegelschen Definition Ausdruck für das Leiden der Menschen in der Welt.16 Heute aber davon zu spekulieren, daß jene Voraussetzung entfal-le, sei zumindest etwas voreilig.

14 Adorno denkt hier an die Untersuchungen, die er selbst, gemeinsam mit Paul F. Lazarsfeld, von 1938 bis 1941 in New York im Rahmen des ‚Princeton Radio Research Project‘ durchgeführt hat und deren Ergebnisse jetzt vorliegen in: NaS I·3.

15 Zwei Jahre nach dieser Seminarsitzung, in der Theorie der Halbbildung, wird Adorno sagen: „Zwei-fel an dem unbedingt aufklärenden Wert der Popularisierung von Bildung unter den gegenwärtigen Bedingungen setzen dem Verdacht des Reaktionären sich aus. Man könne nicht etwa der Publikation bedeutender philosophischer Texte der Vergangenheit in Taschenbüchern mit dem Hinweis darauf opponieren, daß durch deren Form und Funktion die Sache beschädigt werde; sonst mache man sich zum lächerlichen Festredner einer geschichtlich verurteilten Bildungsidee, die nur noch dazu diene, einigen Dinosauriern ihre Größe und Herrlichkeit zu bestätigen.“ (GS 8, 111)

16 In seiner Schrift über Engagement schreibt Adorno: „Aber jenes Leiden, nach Hegels Wort das Bewußtsein von Nöten, erheischt auch die Fortdauer von Kunst, die es verbietet; kaum wo anders findet das Leiden noch seine eigene Stimme, den Trost, der es nicht sogleich verriete.“ (GS 11, 423) Auf das Missverständnis, das Adorno zu dieser irrigen Interpretation Hegels verführt, macht Jürgen Trabant aufmerksam (vgl. J. Trabant, ‚Bewußtseyn von Nöthen‘. Philologische Notiz zum Fortleben der Kunst in Adornos ästhetischer Theorie, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderheft „Theodor W. Adorno“, 2. Aufl., 1983, 130–135).

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Die wiederholt auftauchende Frage, ob Gesellschaftskritik sinnvoll sein könne, ohne gleichzeitig auf das Positive hinzudeuten, das auch in den kritisierten Gegenständen stecke oder das sich vielleicht einmal aus diesen entwickeln werde, beantwortete Prof. Adorno mit dem Hinweis, er habe manchmal den Eindruck, daß in solchen Fragen die Angst mitschwinge, es könne einem bei der Durchleuchtung der ideologischen Verhältnisse etwas weggenommen werden. Viele erlägen darum der Versuchung, zu rasch nach dem Positiven zu greifen, eine Tendenz, die zu einem gewissen Grade selbst in der Dialektik bei Hegel und Marx anzutref-fen sei. Wir seien aber dazu da, den ideologischen Mechanismus zu stören. Sinn der Kritik sei, daß man sich vermöge der Reflexion über die sture Notwendigkeit erhebe, und er warne davor, sich auf den Standpunkt dessen zu stellen, was man einmal als negativ erkannt habe. Wenn nur ein Teil des Scharfsinns, der aufgebracht werde, die Notwendigkeit der Kulturindu-strie zu beweisen, auf die Entlarvung der in ihr steckenden Infamie verwendet worden wäre, sähe die Gesellschaft heute schon anders aus. Schließlich sei ja Ideologie nicht nur notwen-diger Schein sondern auch Schein. Was das Positive, das es angeblich zu retten gelte, angehe, so könne man an dessen Rettung erst gehen, wenn das Ganze, das es fessele, untergegangen sei – vorläufig segle aber die Fregatte noch mit voller Kraft dahin. Auf die Bemerkung einer Seminarteilnehmerin, daß die hier betriebene Kritik die Men-schen gleichsam in eine Leere führe, weil wir nicht fähig seien, ihnen etwas Positives zu bieten, gab Prof. Adorno zu bedenken, ob man nicht in einem kritischen Bewußtsein gebor-gener sei als in der falschen Welt. Man könne sich nicht das Denken verbieten, nur weil man das Positive nicht gleich parat habe, oder gar mangels der Wahrheit die Lüge zur Wahrheit stempeln. Das ständige „ja, aber“, mit dem man sich verbiete, über die Dinge zu reflektieren, sei ein Hemmschuh des Fortschritts.17 Das schwierige Leben zu antizipieren, sei aber nicht Aufgabe der Wissenschaft. Zur dritten Kategorie von Diskussionsbeiträgen: welche Konsequenzen aus einer Total-schau des gesellschaftlichen Seins zu ziehen wären, wurde zunächst die Frage gestellt, wie sich eine „Aufhebung der Herrschaft“ mit den Vorstellungen von Demokratie vereinen lasse, in welcher Herrschaft institutionalisiert und kontrolliert werde. In der Kulturindustrie, beim Radio, Film, Fernsehen, gäbe es heute bereits eine – wenn freilich auch unvollkommene – Selbstkontrolle. Hieße Aufhebung von Herrschaft, über diese Kontrolle hinausgehen? Dr. Habermas erwiderte, die These des Buches beinhalte: nicht Einzelmaßnahmen im Bereich der Kulturindustrie selbst vermögen eine entscheidende Veränderung herbeizufüh-ren, sondern die materielle Welt der Produktion, die die Kulturindustrie erst bedinge, müsse verändert werden. Diese These stütze sich auf eine Analyse des Komplementärverhältnisses der Kulturindustrie zu den Versagungen, die die Menschen in der heutigen Arbeitswelt erfah-ren. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen werde Kultur verdinglicht, weil sie unter Marktbedingungen zur Verteilung gelange. Nicht Gebrauchswerte werden von der Kul-turindustrie produziert, sondern Tauschwerte, deren Konsumzweck abstrakt unterstellt werde und die der Nachfrager unkritisch als Konsumgüter abnehme.

17 In der Vorlesung zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“ charakterisiert Adorno das ‚Ja aber‘, das über die Dinge hinweggeht, die es zu erkennen gelte, als infantil: „Denn es ist ja genau die Fragewei-se des Kindes, das auf jede Erklärung, die man ihm überhaupt gibt, mit ‚Ja aber‘ antwortet, und das es gewissermaßen nicht vermag, irgendwo innezuhalten, weil es eigentlich die Beziehung auf die Sache gar nicht sich zugeeignet hat, sondern statt dessen nur gewissermaßen den Fragemechanismus als solchen leerlaufen läßt: fragen, um zu fragen, ohne daß in die Frage der Widerstand der Sache, der Widerstand dessen, worauf sie eigentlich sich bezieht, überhaupt hineingenommen wäre.“ (NaS IV·4, 31) – In der Vorlesung über Philosophie und Soziologie bemerkt Adorno: „‚ja, aber‘ ist ja geradezu das Dogma auch des heutigen sozialwissenschaftlichen Positivismus.“ (NaS IV·6, 39)

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Zum Abschluß bemerkte ein Seminarteilnehmer, daß das Motiv der Diskussionsbeiträ-ge weniger apologetisch als vielmehr die Frage nach der Konsequenz der Kulturkritik sei. Den kulturkritischen Bemerkungen läge ein Totalitätsbegriff von der Gesellschaft zugrunde, demzufolge in unserer Gesellschaft Herrschaft im entwickelten Tauschprinzip begründet lie-ge. Dadurch werde tendenziell jedes Kunstwerk zum Konsumgut, alles Leben verdinglicht. Partielle Phänomene, wie die Psychoanalyse, würden dem allgemeinen Trend nur scheinbar entgegenwirken, ja, sie verpflanzten die Herrschaft im Grunde nur noch tiefer ins Bestehen-de. Eine Gesellschaft verändere sich nicht kontinuierlich zu einer gerechteren und mensch-licheren, indem sich einzelne positive Phänomene ins Bewußtsein der Menschen übertrügen, sondern die entscheidenden Veränderungen vollzögen sich nur in großen Brüchen. Prof. Adorno schloß die Diskussion mit der Bemerkung, daß wir hier versucht hätten, angeblich harmlose Randgebiete des gesellschaftlichen Seins in ihren eigentlichen Zusam-menhang zu rücken. Wenn so betriebene Soziologie eine Bewußtseinsänderung bei den Men-schen bewirke, müsse dies als ein Positivum angesehen werden. Hier lägen die konkreten Möglichkeiten aber auch die Grenzen des Seminars.

Ffm.31. 718. 57Werner Sörgel

18 Korrigiert aus: „3“.

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Helmut Dahmer2. Juli 1963

Helmut Dahmer.

Protokoll der Seminarsitzung vom 2. Juli 1963:

Die in Herrn Herdings Referat („Theorie der Gesellschaft und Verhältnis von Theorie und Praxis bei Helmut Schelsky“)1 gegebenen Ansätze einer Schelsky-Kritik wurden in der Dis-kussion weiter ausgeführt, – die Differenzen zwischen Schelskys „transzendentaler Theorie der Gesellschaft“2 und Horkheimer/Adornos „kritischer Theorie“ deutlich herausgearbeitet und schließlich die Möglichkeiten der kritischen Theorie (in bezug auf Politik und ökono-mische Theorie) debattiert.

1. „Der Dualismus von ‚soziologischer Theorie‘ und ‚Theorie der Gesellschaft ist von (René) König nicht ernstgemeint: Er wird so dargestellt, daß die ‚Theorie der Gesellschaft‘ im Sinne der Soziologie untragbar ist …“3 (Schelsky). König sucht mit der Kritik am Monopolanspruch der „empirischen Sozialforschung“, wie sie von Horkheimer/Adorno vorgetragen wurde, fertig zu werden, indem er die unbequeme Kontroverse in das Nebeneinander zweier Richtungen umwandelt. Die beiden von ihm vorgeschlagenen Bezeichnungen klingen tautologisch, ein Zeichen dafür, daß hier Sachen getrennt wurden, die im lebendigen Sprachgebrauch zusammengehören. In Wahrheit wendet

1 Das Referat von Richard Herding hat sich erhalten (Universitätsarchiv Frankfurt/M., „A10“).2 Schelsky hatte in seiner Ortsbestimmung der deutschen Soziologie geschrieben: „Allerdings ist der

Begriff der ‚kritischen‘ Theorie heute vieldeutig und durch die Zeitkritik, Kulturkritik, Sozialkritik usw. in einem Maße inflationiert oder sogar mit ihr verschmolzen, daß uns zweckmäßig erscheint, um die hier gemeinte Aufgabe klarer herauszustellen, einen anderen Begriff dafür zu wählen. Ich möchte daher hier die Formel einer ‚transzendentalen Theorie der Gesellschaft‘ wagen […]. Es darf dabei an die Definition Kants erinnert werden: ‚Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese apriori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt‘, wie es in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (B 25) heißt, oder vielleicht besser noch an den Satz im Anhang der ‚Prolegomena‘: ‚Das Wort bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern was vor ihr zwar vorhergeht, aber doch zu nichts mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Wenn diese Begriffe die Erfahrung überschreiten, dann heißt ihr Gebrauch transzendent‘.“ (H. Schelsky, Ortsbe-stimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959, 95)

3 „Der Dualismus von ‚soziologischer Theorie‘ und ‚Theorie der Gesellschaft‘ ist von König nicht ernst gemeint: Er wird so dargestellt, daß die ‚Theorie der Gesellschaft‘ im Sinne der Soziologie untragbar ist und allenfalls bei einer scharfen Trennung von Soziologie und Philosophie dieser als eine uns Soziologen nicht interessierende unwissenschaftliche Liebhaberei überlassen werden kann.“ (Ebd., 94) Schelsky bezog sich hier auf René Königs Einleitung in das von diesem herausgegebene „Fischer Lexikon“: Soziologie. Darin hatte König bemerkt, „daß die sorgsame Trennung von Theorie und Praxis keineswegs das Gefühl für die wirklichen Nöte des Lebens verkümmern lassen muß. […] Man kann das vorliegende Problem nicht besser charakterisieren, als indem man zwischen einer so-ziologischen Theorie einerseits und einer Theorie der Gesellschaft andererseits unterscheidet. Wäh-rend sich die soziologische Theorie in einzelnen, deutlich gegeneinander abgrenzbaren Problemen bewegt, die auf bestehender Erkenntnis weiterbauen oder diese auch widerlegen, bemüht sich die Theore der Gesellschaft um die Deutung der Totalität des sozialen Daseins.“ (R. König, Einleitung, in: Soziologie, Das Fischer Lexikon, hg. v. R. König, Bd. 10, Frankfurt/M. 1958, 7–14, hier: 10)

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sich König mit seinem Vorschlag gegen die Theorie in den Sozialwissenschaften. Wird die Theorie aber von der empirischen Forschung getrennt, so bleiben der letzteren überhaupt nur noch reine Klassifikationskategorien und die Verifizierung/Falsifizierung dieser Kategorien. Die Sterilität, die sich in wachsendem Maße in der empirischen Sozialforschung beobachten läßt, hängt damit zusammen, daß sie sich eine selbständige Theorie abschneidet. Damit wird dem Positivismus heute schon seine eigene Rechnung präsentiert. Die herrschende Begriffs-losigkeit wird perpetuiert, indem als Begriff nur das zugelassen wird, was schon selbst aus den empirischen Untersuchungen stammt.

2. Schelskys Forderung nach Selbstbesinnung gegenüber den klassifikatorischen Begriffen der empirischen Sozialforschung4 ist höchst legitim. Wo sie fehlt, wird die Konfrontation von Theorie und Gesellschaft von vornherein eingeengt zugunsten eines Corpus von Sätzen, deren Angemessenheit überhaupt nicht geprüft worden ist. Das Verhältnis von Theorie und Gesellschaft wird aber auch bei Schelsky dekretorisch vorentschieden. Seine „transzendentale Theorie der Gesellschaft“ (oder: „kritische Theorie des Sozialen“, „Philosophie der Soziologie“) soll „Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens … bestimmen“.5 „Transzendental“ hieß bei Kant die Erkenntnis, die sich nicht mit Gegenständen, sondern mit der „Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori mög-lich sein soll, überhaupt beschäftigt“.6

Man wird hier an Simmels „soziologische Aprioritäten“ erinnert, formale Konstituentien, die sich auf Beziehungen zwischen Menschen beziehen.7 Schelsky rekurriert darum nicht auf Simmel, weil heute die Reduktion von Gesellschaft auf formal-psychologische Bezie-hungen nicht mehr möglich scheint. Konfrontiert mit den übermächtigen Institutionen und der entfesselten Dynamik der Gesellschaft sucht die Theorie ihre Fundamente außerhalb von Gesellschaft: in – biologischen – Invarianten und in dogmatisch gesetzter, an sich seiender Moralität und Religiosität. Durch den Begriff des „Transzendentalen“ wird die Vorstellung fixiert, die Begründung der Wissenschaft müsse außerhalb dieser und unabhängig von den Objekten geschehen. Freiheit von Vergesellschaftung meint Schelsky in „reflektierender Sub-jektivität“, „moralischem Gewissen“ und „religiösem Glauben“ zu finden.8 Das theoretische

4 Vgl. das dritte Kapitel („Die empirische Sozialforschung“) in: H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, a. a. O., 49–85.

5 Schelsky hatte geschrieben, seine „‚transzendentale Theorie‘“ überschreite die „Einzelforschung“ sowie das „System der allgemeinen Soziologie“, setze „aber beide insofern voraus, als sie die ‚Be-dingungen‘ dieses soziologischen Denkens und des in ihm Gedachten zu erörtern hat. Ihre formale und ihre materielle Aufgabe – auch diese Theorie hat diese zwei Seiten – bestehen also darin, Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens zu bestimmen.“ (Ebd., 95 f.)

6 Vgl. Anm. 2.7 Georg Simmel hatte es sich in seinem Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?

(G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, 27–45) in Anlehnung an Kants Transzendentalphilosophie zur Aufgabe gemacht, „die Frage nach den apriorischen Bedingungen, auf Grund deren Gesellschaft möglich ist, in analoger Weise zu behandeln“ (ebd., 28). Er nannte drei ‚soziologische Apriori‘ als Möglichkeitsbedingung von Ge-sellschaft: „Wir stellen jeden Menschen, mit besondrer Folge für unser praktisches Verhalten zu ihm, als den Typus Mensch vor, zu dem seine Individualität ihn gehören läßt“ (ebd., 33); „daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist“ (ebd., 35), und: „Daß jedes Individuum durch seine Qualität von sich aus auf eine bestimmte Stelle innerhalb seines sozialen Milieus hingewiesen ist“ (ebd., 43).

8 „Zu fragen wäre: Welches ist der allgemeine Standpunkt des Menschen in unserer Gesellschaft, der ihn jenseits des sozialen Zwanges und damit der Gesellschaft gegenüber stellt? Zu antworten wäre

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Moment soll gerettet (und zugleich entschärft) werden durch Absehen von der sozialen Rea-lität. „Archaisierende Sozialethik kommt zum Braten der Empirie, woran man nicht satt wird, als Garnierung hinzu“ (Adorno). Schelskys scheinbar neutraler wissenschaftstheoretischer Ansatz drängt seine Theorie in eine ganz bestimmte Richtung: im Gesellschaftlichen wird Gewicht gelegt auf das, was nicht gesellschaftlich ist (Schelsky: „Soziales durch nicht Sozia-les erklären“)9, den sog[enannte]n „Invarianten“10 zu besonderer Bedeutung verholfen und dabei völlig verkannt, daß die biologischen Eigenschaften der Gattung immer nur in histo-risch­sozialer Modifikation gesellschaftlich relevant werden.

3. Die Schelskysche Verabsolutierung des Subjekts gegenüber der Gesellschaft ist selbst ein Stück Ideologie, – Repristination des Idealismus (der den Geist verabsolutiert und durch diese „Invarianz“ die gesellschaftliche Realität vor der Kritik sicherstellt), der längst gültig kritisiert wurde. Natürlich gibt es ein subjektives Moment, das in Gesellschaft nicht aufgeht, das sich in der Vergesellschaftung über sie erhebt. Gäbe es das nicht, so erstarrte die Gesellschaft in tödlicher Konformität à la „1984“ oder „Brave New World“.11 Dies subjektive Moment besteht jedoch selber nur als ein Vermitteltes; wird es isoliert und verabsolutiert, wird es falsch. Das Moment des Nicht-in-Vergesellschaftung-Aufgehens ist weder durchzustreichen noch zu verabsolutie-ren, – es fällt in die Dialektik. (Dies ist die Stelle, an der es mit Philosophie in Soziologie ernst wird!) Der Antagonismus von Individuum und Gesellschaft drückt sich darin aus, daß weder die Reduktion von Psychologie auf Gesellschaft, noch auch die umgekehrte, wie sie von den Neo-Freudianern versucht wird12, durchführbar ist. Das Auseinanderweisen von Psychologie und Soziologie, das sich in der arbeitsteiligen Wissenschaft spiegelt, ist nicht ein letztes, sondern fällt selber in die Theorie. (Vgl. Adorno, „Zum Verhältnis von Soziologie und Psy-chologie“, Sociologica I, S. 11 ff.)13

Schelsky versucht, das nicht unmittelbar gesellschaftlich zu Erklärende zu jenseits des Sozialen gelegenen Invarianten zu hypostasieren.

darauf: die reflektierende Subjektivität, die sich in keine soziale Erfüllung endgültig entäußert oder von keiner sozialen Kraft endgültig determinieren läßt; das moralische Gewissen, das in der sozialen Wirklichkeit kein endgültiges Kriterium seiner Bestätigung oder Widerlegung findet; der religiöse Glaube, der sich an keine soziale Wirklichkeit, auch nicht seine eigene, letzthin gebunden fühlt. Die Konfrontation, um die es dabei jeweils geht, könnte in der Thematik ‚die subjektive Reflexion und der Zwang des Sozialen‘ oder pointierter ‚die Subjektivität und die Institutionen‘ zusammengefaßt wer-den. Sie als das formale und materielle, begriffliche und praktische Schema der Auseinandersetzung des Menschen mit unserer Gesellschaft nachzuweisen, wäre zunächst die Aufgabe einer so angeleg-ten Theorie der Gesellschaft. Von ihr aus ist der Teil der Soziologie zu entwickeln, der Soziales durch Nichtsoziales erklärt.“ (H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, a. a. O., 105)

9 Vgl. die vorige Anm.10 Kein Zitat, sondern die Deutung des in Anm. 8 Zitierten.11 Die beiden dystopischen Romane Nineteen Eighty-Four (London 1949) von George Orwell und Bra-

ve New World von Aldous Huxley (London 1932) erschienen auf Deutsch zuerst unter den Titeln 1984 (Frankfurt/M. 1976) und Welt – wohin? (Leipzig 1932). – Zu Adornos Behandlung des Romans Huxleys vgl. ders., Aldous Huxley und die Utopie, GS 10·1, 97–122.

12 Bereits 1952 wirft Adorno den ‚Neo-Freudianern‘ vor, sie strebten „etwas wie eine Soziologisierung der Psychoanalyse“ an (ders., Die revidierte Psychoanalyse, GS 8, 20–41, hier: 20).

13 Vgl. Th. W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet (Frankfurter Beiträge zur Soziologie, im Auftrag des Instituts für Sozialforschung hg. v. Th. W. Adorno u. W. Dirks, Bd. 1), Frankfurt/M. 1955, 11–45; jetzt in: GS 8, 42–85.

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4. Als materielles Thema seiner „transzendentalen Theorie“ bezeichnet Schelsky – im Gegensatz zur Vorstellung einer befreiten Gesellschaft – „die Bestimmung der Freiheit des Menschen von der Gesellschaft“.14 Der Wunsch nach Freiheit von der Gesellschaft erscheint, einer Gesellschaft gegenüber, deren Wahrzeichen die Atombombe ist, völlig verständlich. Die Freiheit des Menschen von der Gesellschaft ist aber nur möglich als Befreiung der Gesell-schaft. Die Emanzipation des Individuums ist nicht zu leisten durch Einrichtung irgendwel-cher Sondersphären (Freizeit-Diskussion!)15, sondern allein durch Herstellung einer Gesell-schaft freier Menschen. Die kritische Theorie postuliert keinen extra-sozialen Standpunkt; ihr schwebt die Mög-lichkeit einer richtig eingerichteten Gesellschaft nicht als extra-sozialer Wertbezug, sondern als reale Aufhebung der Antagonismen vor; sie befördert Kritik der Gesellschaft durch die reale Tendenz der Gesellschaft selber. Die Behauptung aber, es gäbe eine objektive (automatisch wirkende) Entwicklungsten-denz der Gesellschaft, die zu einer höheren Form führe, ist heute nicht (mehr) möglich. Die einzig mögliche Beziehung auf objektive Interessen ist heute die negative: wird die Gesell-schaft nicht rational verfaßt, so geht sie unter. Auf die Bemerkung, dann dürfe die kritische Theorie also nur noch sagen: „So … nicht!“, erwiderte Adorno, dies eben sei das Deckbild der Vorstellung freier Menschen in freier Gesell-schaft.

5. Die Debatte um die „kritische Theorie“ entzündete sich an folgenden Fragen: Früher stand kritische Theorie im Zusammenhang mit der sozialen Bewegung der Arbeiterschaft. Sie soll als Kriterium ihrer Wahrheit so etwas wie Praxis haben. Wird nicht die Theorie, die sich nicht mehr auf ein gesellschaftliches Subjekt beziehen kann, irrelevant, zum bloßen „Spiel für Intellektuelle“? Kann der Gedanke nicht „zur materiellen Gewalt werden“16, so muß die Theorie über ihren Wahrheitsgehalt reflektieren. – Das Fehlen einer breiten sozialen Resonanz besagt nichts gegen die Möglichkeit von kri-tischer Theorie. Auch wenn sie sich nur in ein paar Köpfen konstituiert, sind diese Schnitt-punkte sozialer Tendenzen. Theorien, die irgendwo gedacht werden, sind nicht „Privateigen-tum“17, – in ihnen lebt die Dynamik der Epoche. Unter diesem Aspekt sind Theorien, die nur

14 „Diese Art Kritik oder Sinngebung des Sozialen, die wir der transzendentalen Theorie der Gesell-schaft ausdrücklich als ihre materielle Aufgabe zuschreiben, besteht also in der Explikation der Bestimmungen der Freiheit des Menschen von der Gesellschaft und in einer von dort aus vorzuneh-menden sinnkritischen und das heißt auch wertenden Reflexion des sozialen Gesamttatbestandes, wie er von der empirischen und analytischen Soziologie erkannt und gedacht ist.“ (H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, a. a. O., 99)

15 Vgl. den Vortrag Freizeit, den Adorno für das Radio schrieb und der 1969 im Band Stichworte er-schien; jetzt in: GS 10·2, 645–655.

16 „Nicht nur die Theorie, sondern ebenso deren Absenz wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ (Th. W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, GS 8, 214.) – Adorno wandelt hier einen Satz von Marx ab, aus dessen Text Zur Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie. Einleitung. Dort heißt es: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ (K. Marx u. F. Engels, Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1956 ff., Bd. 1: 1839 bis 1844, 378–391, hier: 385)

17 Entsprechend äußert sich Adorno am 21. Februar 1964 in einem Brief an Claus Behncke: „Die Entrüstung über meine Nachahmer ist nachgerade so sozialisiert, daß ich anfange, jenen besonders zu mißtrauen, die sozusagen päpstlicher sind als ich und aus meinen Sachen das machen wollen,

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von einigen Menschen gedacht werden, nicht durch einen Abgrund von solchen getrennt, die unmittelbar die gesellschaftliche Tendenz aussprechen. Wird jedem Gedanken der Paß abverlangt, was man denn damit anfangen könne, so dif-famiert man eben jene Gedanken, die nicht unmittelbar die Welt verändern, weil sie die ein-zigen sind, die nicht ins Getriebe passen.18 Da die Theorie gegenwärtig nicht unmittelbar eingreifen kann, soll sie auch nicht so tun, als könnte sie es. Festzuhalten ist: „Die avancierten Gedanken sind niemals so esoterisch, wie ihre Feinde es sich vorstellen“ (Adorno).

6. Schelsky hat recht mit seinem Vorwurf, die kritische Theorie sei bis heute unausgeführt geblieben.19 Was vor allem fehlt, ist eine umfassende Theorie der politischen Ökonomie, die den neuen Entwicklungen gerecht wird. Die klassische ökonomische Theorie (Smith – Ricardo) hatte es mit einer rational funkti-onierenden Gesellschaft zu tun, hatte das Modell einer freien Marktwirtschaft in der Realität vor Augen.20 Heute ist Ökonomie ein blinder Zusammenhang, der Rudimente der Tauschge-sellschaft und staatliche Interventionen nebeneinander enthält. Der Anspruch ihrer eigenen Totalität wird von der Gesellschaft nicht mehr erhoben. Das macht die objektive Schwierigkeit der ökonomischen Theorie aus. Damit entfällt nicht die Möglichkeit immanenter Kritik. Die Übermacht der Institutionen ist nicht mit Unverstehbarkeit zu verwechseln. Unverstehbarkeit besteht nur dann, wenn die Menschen sich von solcher Übermacht das Denken verschlagen lassen. Die sozialen Momente der ökonomisch-politischen Entwicklungen sind verstehbar, die Ohnmacht der Individuen aus der Konzentration des Kapitals und der Verfügungsgewalt ableitbar. Zur Erkenntnis der Gefahr der Atombombe bedarf es nur des bon sens, – die imma-nente Kritik ist hier etwas sehr Einfaches! Die Kritik der politischen Ökonomie hätte heute zu zeigen, daß die Gesellschaft in ihrer eingestandenen Irrationalität zu den Interessen aller Menschen im Widerspruch steht. Diese Gedanken sind verbreitbar und könnten weitreichende politische Konsequenzen haben.

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was sie ihrem eigenen Sinn nach am wenigsten sein können: Eigentum.“ (Zitiert nach: D. Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt/M. 2003, 428)

18 Vgl. hierzu die 13. der Marginalien zu Theorie und Praxis, die zu Adornos Lebzeiten unveröffent-licht blieben: GS 10·2, 779 f.

19 „Ehe wir auf die näheren Kennzeichen und Bestimmungen der so von uns geforderten ‚transzenden-talen Theorie der Gesellschaft‘ eingehen, sei klar gesagt, daß wir sie heute nirgends haben, weder bei uns noch anderswo. Ein Anspruch in dieser Richtung ist jedoch im letzten Jahrzehnt von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno immer vertreten worden. Noch ist sie aber Desiderat.“ (H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, a. a. O., 96)

20 Nicht nur die englischen Nationalökonomen Adam Smith (1723–1790) und David Ricardo (1772–1823) hatten, sondern auch Marx habe es, wie Adorno 1969 in seinem Vortrag Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? bemerkt, noch mit einer strikt liberalen Gesellschaft zu tun gehabt: „Denkbar, daß die gegenwärtige Gesellschaft einer in sich kohärenten Theorie sich entwindet. Marx hatte es insofern leichter, als ihm in der Wissenschaft das durchgebildete System des Liberalismus vorlag. Er brauchte nur zu fragen, ob der Kapitalismus in seinen eigenen dynamischen Kategorien diesem Modell entspricht, um in bestimmter Negation des ihm vorgegebenen theoretischen Systems eine ihrerseits systemähnliche Theorie hervorzubringen. Unterdessen ist die Marktökonomie so durchlöchert, daß sie jeglicher solchen Konfrontation spottet. Die Irrationalität der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur verhindert ihre rationale Entfaltung in der Theorie.“ (GS 8, 359)

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452 Sitzungsprotokolle aus den Frankfurter Seminaren Theodor W. Adornos

Hans-Jürgen Krahl3. Februar 1966

Protokoll der Sitzung des Philosophischen Hauptseminars (Prof. Adorno) vom 3. Febr[uar] 1966

Protokollant: Hans-Jürgen Krahl

Interpretation und Diskussion einer Textstelle der Wesenslogik (Wiss[enschaft] d[er] Log[ik], Bd. 2, ed. G. Lasson1, S. 72)

Das Wesen einer Sache bestimmt sich durch seinen Gegensatz zu ihrem unmittelbaren Sein. Mit dieser klassischen Definition der ‚essentia rei‘ durch die überlieferte Metaphysik anhe-bend, daß nämlich „hinter diesem Sein noch etwas anderes ist als das Sein selbst, daß dieser Hintergrund die Wahrheit des Seins ausmacht“ (p. 3)3, argumentiert die hegelsche Wesenslo-gik auch gegen jene Bestimmung. Denn im Widerspruch zu dem, das sich empirisch unmittel-bar als wirklich ausgibt, erweist sich das Wesen als zunächst unwirklich, ebenso als Schein. Die wesentliche Beziehung auf eine Sache ist, da sie vom Bereich der sinnlichen Erfahrung absieht, gleichgültig gegen ihre empirischen Momente. Indem aber das Wesen, „die Wahrheit des Seins“, dessen raum-zeitliche Bestimmungen zu bloßem Schein herabsetzt, negiert sie diese. Der Begriff der Negation ist insofern zentral für den des Wesens, als mit der Unter-scheidung von Wirklichkeit und Wesen, Schein und Wirklichkeit keine bloß gleichgültige, sondern eine explizit negative Beziehung vorliegt, „das durch die Negativität seiner selbst sich mit sich vermittelnde Seyn“ (Enzykl[opädie] § 64).4

1 Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, 2. Aufl., hg. v. G. Lasson (Philosophi-sche Bibliothek, Bd. 57), Leipzig 1934 (i. e. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke, hg. v. G. Lasson, Leipzig 1905 ff., Bd. IV).

2 Die Textstelle lautet: „Das Wesen kommt aus dem Sein her; es ist insofern nicht unmittelbar an und für sich, sondern ein Resultat jener Bewegung. Oder das Wesen zunächst als ein unmittelbares ge-nommen, so ist es ein bestimmtes Dasein, dem ein anderes gegenüber steht; es ist nur wesentliches Dasein gegen unwesentliches. Das Wesen ist aber das an und für sich aufgehobene Sein; es ist nur Schein, was ihm gegenübersteht. Allein der Schein ist das eigene Setzen des Wesens. [Absatz.] Das Wesen ist erstens Reflexion. Die Reflexion bestimmt sich; ihre Bestimmungen sind ein Gesetztsein, das zugleich Reflexion in sich ist; es sind [Absatz] zweitens diese Reflexions-Bestimmungen oder die Wesenheiten zu betrachten. [Absatz.] Drittens macht sich das Wesen, als die Reflexion des Be-stimmens in sich selbst, zum Grunde und geht in die Existenz und Erscheinung über.“ (Ebd., 7; vgl. G. W. F. Hegel, Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redakti-on E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt/M. 1969 ff., Bd. 6: Wissenschaft der Logik II. Erster Teil. Die objektive Logik. Zweites Buch. Zweiter Teil. Die Subjektive Logik, 17)

3 Die entsprechende Stelle aus der Wissenschaft der Logik, an dem die Seinslogik in die Wesenslogik übergeht, lautet: „Die Wahrheit des Seins ist das Wesen. [Absatz.] Das Sein ist das Unmittelbare. Indem das Wissen das Wahre erkennen will, was das Sein an und für sich ist, so bleibt es nicht beim Unmittelbaren und dessen Bestimmungen stehen, sondern dringt durch dasselbe hindurch, mit der Voraussetzung, daß hinter diesem Sein noch etwas anderes ist als das Sein selbst, daß dieser Hin-tergrund die Wahrheit des Seins ausmacht.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, a. a. O., 7; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 13)

4 Nicht in § 64, sondern in § 112 der Enzyklopädie Hegels findet sich der Satz: „Das Wesen, als das durch die Negativität seiner selbst sich mit sich vermittelnde Sein, ist die Beziehung auf sich selbst, nur indem sie Beziehung auf Anderes ist, das aber unmittelbar nicht als Seiendes, sondern als ein

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Das Wesen weiß sich gegenüber der Unmittelbarkeit des Seins als ein vermitteltes. „Erst indem das Wissen sich aus dem unmittelbaren Sein erinnert, durch diese Vermittlung findet es das Wesen.“ (p. 3)5 Zwar hat auch die Seinslogik nicht die Unmittelbarkeit zum Gegen-stand, sondern handelt von Begriffen mit immer auch wesenslogischen Implikaten, doch im Unterschied zur Wesenslogik zielt die des Seins in ‚intentione recta‘6 auf die Kategorien und arbeitet ihre Begriffe direkt aus dem Sein heraus. Negation ist in ihr vor allem Distinktion. Die Wesenslogik hingegen begreift die so erhaltenen Seinsbestimmungen als Abstraktions-produkte und zeigt den kategorialen Objektbereich als einen Zusammenhang von Reflexions­bestimmungen auf, die in einem anderen Stadium des Erkenntnisprozesses sich wieder zu solchen des Seins vergegenständlichen. Hegel skizziert die Differenz der Wesenslogik zu der des Seins: „Dieses Bestimmen ist denn anderer Natur als das Bestimmen in der Sphäre des Seins, und die Bestimmungen haben einen andern Charakter als die Bestimmtheiten des Seins … Die Negativität des Wesens ist die Reflexion und die Bestimmungen sind reflektierte, durch das Wesen selbst gesetzte und in ihm aufgehobene Bleibende.“ (p. 5)7 Die Wesenslogik als Selbstreflexion der in der Seinslogik entwickelten Kategorien entspricht der kantischen Vernunftkritik, aber ohne Konstitutionslehre, die einseitig subjektive Begründung von Objek-tivität zu sein. Das vermittelte Wesen ist dem Sein, dem es sich entgegensetzt, nicht schlechthin transzen-dent, sondern resultiert aus dessen Selbstreflexion. „Das Wesen kommt aus dem Sein her; es ist insofern nicht unmittelbar an und für sich, sondern ein Resultat jener Bewegung.“ (p. 7)8 Die Erkenntnis des Wesens als der Transzendenz des Seins ist dessen immanentes Hinausge-hen; sie geht „den Weg des Hinausgehens über das Sein oder vielmehr des Hineingehens in dasselbe“ (p. 3)9, in dessen Verlauf das Sein zu sich selbst kommt. Das Wesen, Reflexionsprodukt des Seins, „ist aber das an und für sich aufgehobene Sein; es ist nur Schein, was ihm gegenübersteht“ (p. 7).10 Im engeren systematischen Kontext gewinnt die Lesart, das Sein sei als Schein vom Wesen abgesetzt, grammatisch an Plausi-bilität. In einem zentraleren Sinn erweist sich jedoch die Wesenslogik als eine Logik des Scheins, welche der „negativen Natur des Wesens“ gerecht wird. Jedoch nur „der Schein ist das eigene Setzen des Wesens“ (p. 7).11 Damit aber bestimmt sich das sich von der unmit-telbaren Wirklichkeit auf ein ihm zunächst Scheinbares entfernende Wesentliche Erkennen als Reflexion, die vom unmittelbaren Schein sich dadurch unterscheidet, daß sie der „in sich

Gesetztes und Vermitteltes ist.“ (G. W. F. Hegel, Werke, a. a. O., Bd. 8: Enzyklopädie der philoso-phischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit münd-lichen Zusätzen, 231)

5 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke, a. a. O., Bd. 6, 13. 6 Hier im Sinne von ‚unmittelbar‘, ‚ohne Reflexion auf das Vorgehen selbst‘. 7 Der zweite Satz des Zitats lautet im Original: „Die Negativität des Wesens ist die Reflexion, und

die Bestimmungen [sind] reflektierte, durch das Wesen selbst gesetzte und in ihm als aufgehoben bleibende.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, a. a. O., 5; eckige Klammern im Original; vgl. G. W. F. Hegel, Werke, a. a. O., Bd. 6, 15)

8 S. Anm. 2. 9 Der Satz lautet bei Hegel: „Diese Erkenntnis ist ein vermitteltes Wissen, denn sie befindet sich nicht

unmittelbar beim und im Wesen, sondern beginnt von einem Andern, dem Sein, und hat einen vor-läufigen Weg, den Weg des Hinausgehens über das Sein oder vielmehr des Hineingehens in dasselbe zu machen.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, a. a. O., 3; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 13)

10 S. Anm. 2.11 S. Anm. 2.

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gegangene, hiemit seiner Unmittelbarkeit entfremdete Schein ist“ (p. 13).12 Der so verwen-dete Reflexionsbegriff ist nicht der pejorativ von der Spekulation unterschiedene des bloßen Verstandesgebrauchs, sondern metaphorisch aus dem Bereich der Optik übertragen13, deutet er auf die Widerspiegelung einer Entität in sich selbst. Nicht erst durch ein von außen hinzu-tretendes Bewußtsein reflektiert sich das Sein zum Wesen, sondern es scheint in sich selbst, was freilich nur gelingen kann im Rahmen der Sein vorweg zu Geist auflösenden Generalthe-sis des absoluten Idealismus. Die Reflexionsbestimmungen sind sowohl subjektiv gesetzt als objektiv begründet. „Die Reflexion bestimmt sich; ihre Bestimmungen sind ein Gesetztsein, das zugleich Reflexion in sich ist.“ (p. 7)14 Darin ist enthalten, daß die Sache von sich aus die Unterscheidung dessen fordert, was ihr wesentlich und was ihr unwesentlich sei. Die subjek-tive Reflexion des Wesens ist von der Sache selber stimuliert. Im systematischen Gang der immanenten Selbstreflexion des Wesens vergegenständlicht es sich zu den Kategorien, deren Analyse die Ableitung der ontischen Bestimmungen aus denen der Reflexion zum Thema hat, und soll es sich schließlich wieder raumzeitlich objekti-vieren; „das Wesen muß erscheinen“ (p. 101).15

Diese Dialektik von Wesen und Schein bezeichnet Hegels Kritik der philosophischen Tradition. Insofern er das Wesen gegenüber der sinnlichen Mannigfaltigkeit immer auch als Schein begreift, nimmt er die nominalistische und transzendentalphilosophische Metaphysik-kritik auf und sucht sie zugleich metakritisch zu überbieten, da der Schein nicht nur subjektive ‚thesis‘ ist, sondern ein ‚fundamentum in re‘ hat; doch fällt die Rehabilitation des metaphy-sischen Wesensbegriffs nicht naiv hinter jene Ontologiekritik zurück; sie geht in dem Maße über sie hinaus, als die Objektivität der Reflexionsbestimmungen selber noch reflexiv ans begreifende Subjekt gebunden ist: immanente Selbstreflexion des Gesetztseins. Damit sucht die Wesenslogik in Korrespondenz zum Anfang der ‚Phänomenologie des Geistes‘ deren kri-tisches Programm der Erkenntnistheorie, das eigentlich im Nachweis ihrer Unmöglichkeit als einer reinen, also inhaltsleeren Methodologie besteht, auszuführen. Solange das Sein bloß ein „unwesentliches Dasein“ gegenüber einem „wesentlichen“ ist, fällt das Wesen, auf dieser Stufe „bestimmte Negation“ (p. 8)16 in die Akzidentalität zurück.

12 „Der Schein ist dasselbe, was die Reflexion ist; aber er ist die Reflexion als unmittelbare; für den in sich gegangenen, hiemit seiner Unmittelbarkeit entfremdeten Schein haben wir das Wort der frem-den Sprache, die Reflexion.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, a. a. O., 13; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 24)

13 Ähnlich hatte sich bereits Schopenhauer in seiner Schrift Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde geäußert: „Ueberhaupt ist es die Beschäftigung des Intellekts mit Begriffen, also die Gegenwart der jetzt von uns in Betrachtung genommenen Klasse von Vorstellungen im Bewußtsein, welche eigentlich und im engern Sinne Denken heißt. Sie auch wird durch das Wort Re-flexion bezeichnet, welches, als ein optischer Tropus, zugleich das Abgeleitete und Sekundäre dieser Erkenntnißart ausdrückt.“ (A. Schopenhauer, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Redaktion v. C. Schölders, F. Senn u. G. Haffmanns, Zürich 1977, Bd. 5: Kleinere Schriften, 117)

14 S. Anm. 2.15 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke, a. a. O., Bd. 6, 124.16 „Das Wesen ist das aufgehobene Sein. Es ist einfache Gleichheit mit sich selbst, aber insofern es die

Negation der Sphäre des Seins überhaupt ist. So hat das Wesen die Unmittelbarkeit sich gegenüber als eine solche, aus der es geworden ist und die sich in diesem Aufheben aufbewahrt und erhalten hat. Das Wesen selbst ist in dieser Bestimmung seiendes, unmittelbares Wesen, und das Sein nur ein Negatives in Beziehung auf das Wesen, nicht an und für sich selbst, das Wesen also eine bestimm-te Negation. […] Der Unterschied von Wesentlichem und Unwesentlichem hat das Wesen in die Sphäre des Daseins zurückfallen lassen, indem das Wesen, wie es zunächst ist, als unmittelbares

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„Das Wesen aber ist die absolute Negativität des Seins“ (p. 9)17, das sich vom noch unwe-sentlichen Dasein zum „wesenlosen Sein“ negiert. Diese Selbstaufhebung des Seins, seine immanente Nichtigkeitserklärung, versucht freilich im Rahmen der Dialektik von Wesen und Schein eine Kritik der tradierten ontologischen Diskreditierung des Seins. Gerade als nich-tiger Schein sei es mehr als ein „bloß unwesentliches Dasein“ (p. 9)18, nicht einfach dem Wesen gegenüber zu vernachlässigen, in dessen Licht es erst als das erscheint, was es ist. Der Schein selber ist wesentlich; „außer seiner Nichtigkeit, außer dem Wesen ist er nicht“ (p. 9).19 Das ist freilich eine schon wieder identitätsphilosophische Bestimmung, der unter der Hand die kritische Intention, das in der europäischen Philosophie Nichtige als auch wesentlich zu erweisen, idealistisch in den Versuch umschlägt, das Andere als nur scheinbar Anderes zu ins System zu integrieren. Andererseits verweist Hegels Identifikation des Wesens mit seiner Negativität, dem Schein, der „nicht ein Äußerliches, dem Wesen anderes, sondern sein eigener Schein“ (p. 720)21 ist, auf die Selbstunterscheidung des Wesens, die selber die Differenz zwi-schen Wesentlichem und Unwesentlichem ist. Die Unterscheidung von Wesen und Schein ist keine formallogische, sie reflektiert sich kritisch aus der traditionellen Logik als eine wesent-lich negative: Distinktionen, die voneinander als getrennt vorgestellt werden, sind sowohl durch Gegensatz wie Identität vermittelt – Motiv der Vermittlung durch den Widerspruch, das konstitutiv für die dialektische Logik ist. So fällt der Schein als eine selber noch wesentliche Unterscheidung in die Logik des Wesens. Doch ist nach dieser Seite die wesentliche Differenz auch wieder eine unwesentliche; denn das Sein, das sich zum wesenlosen Schein reflektiert, läßt das Wesen aus sich hervorgehen, was es nur vermöge der Bestimmungen, die ihm im ersten Teil der Logik prädiziert wurden und seiner Reflexion auf sie zu leisten vermag. Aber die Unwesentlichkeit der durchs Sein bedingten wesentlichen Unterscheidung ist selbst noch eines ihrer Momente. Die Differenz von Wesentlichem und Unwesentlichem, die Fähigkeit zu geistiger Erfahrung, ist konstitutiv für eine Lehre von der Erkenntnis überhaupt, und zwar um so relevanter, je mehr der Positivismus im Rekurs auf das, was ihm in historisch wechselnden

seiendes, und damit nur als Anderes bestimmt ist gegen das Sein.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, 7 f.; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 18)

17 Der Satz lautet vollständig: „Das Wesen aber ist die absolute Negativität des Seins; es ist das Sein selbst, aber nicht nur als ein Anderes bestimmt, sondern das Sein, das sich sowohl als unmittelbares Sein wie auch als unmittelbare Negation, als Negation, die mit einem Anderssein behaftet ist, auf-gehoben hat.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, 9; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 19)

18 Der Satz folgt auf den zuvor zitierten und lautet vollständig: „Das Sein oder Dasein hat sich somit nicht als Anderes, denn das Wesen ist, erhalten, und das noch vom Wesen unterschiedene Unmittel-bare ist nicht bloß ein unwesentliches Dasein, sondern das an und für sich nichtige Unmittelbare; es ist nur ein Unwesen, der Schein.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, 9; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 19)

19 Die entsprechende Stelle lautet: „Das Sein ist Schein. Das Sein des Scheins besteht allein in dem Aufgehobensein des Seins, in seiner Nichtigkeit; diese Nichtigkeit hat es im Wesen, und außer sei-ner Nichtigkeit, außer dem Wesen ist er nicht. Er ist das Negative gesetzt als Negatives.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, 9; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 19)

20 Korrigiert aus: „9“.21 „Das Wesen aus dem Sein herkommend scheint demselben gegenüber zu stehen; dies unmittelbare

Sein ist zunächst das Unwesentliche. [Absatz.] Allein es ist zweitens mehr als nur unwesentliches, es ist wesenloses sein, es ist Schein. [Absatz.] Drittens, dieser Schein ist nicht ein Äußerliches, dem Wesen Anderes, sondern er ist sein eigener Schein. Das Scheinen des Wesens in ihm selbst ist die Reflexion.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, 7; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 17)

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Manifestationen als das jeweils unmittelbar Gewisse galt, diese als der sinnlosen Metaphysik verdächtig einzuebnen trachtet. Die Annahme eines deutlichen methodischen Bruchs zwischen der Seins- und der Wesens-logik, etwa derart, daß im prozessualen Erkenntnisvollzug dort ein „Übergehen“, hier nur ein „Setzen“ erfolge, wird hinfällig, wenn damit die Wesenslogik in eine bloß subjektive ‚thesis‘ zurückfiele – eine Vermutung, die vergäße, daß die Logik des Seins von sich aus verbindlich das Wesen verlangt. Allerdings reflektiert sich die Sache nur dadurch, daß alle Bestimmungen in ihrer Abstraktheit genommen, sich in sich reflektieren. Das subjektive Moment kann nur deshalb aus allen herausgeholt werden, weil es ihnen vorweg inhäriert. Die Wesenslogik bringt die subjektive Abstraktion zum Bewußtsein Ihrer selbst, wobei aber die Reflexions-bestimmungen nur aus der Objektivität der Seinskategorien begründet werden können. Die Seinslogik bestimmt sich wesentlich als Kritik der diskursiven Logik, die Logik des Wesens beinhaltet zentral die genetische Kritik und enthält im engeren Sinn die „genetische Exposi-tion des Begriffs“ (vgl. p. 21322).23 Die immanente Entfaltung dieser negativen, also wesent-lichen Bewegung vermag pointiert zu werden: Je eindringlicher sich das Erkennen in die Analyse des Objekts vertieft, desto mehr zeigt sich das Objekt qua Objekt als Subjekt.

(Anm.: Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich, wenn nicht anders ver-merkt, auf G. W. F. Hegel, Wiss[enschaft] d[er] Log[ik], Bd. II, ed. Lasson, Leipz[ig] 1934)

Abstract

From 1949 to 1969, Theodor W. Adorno habitually let students take minutes of his Frankfurt seminars in philosophy und sociology. More than 470 of these minutes have been retained, and three of them shall now for the first time be rendered unabridged.

22 Korrigiert aus: „214“.23 Im Abschnitt „Vom Begriff im allgemeinen“ heißt es: „Die objektive Logik, welche das Sein und

Wesen betrachtet, macht daher eigentlich die genetische Exposition des Begriffes aus.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, 213; vgl. ders., Werke, a. a. O., Bd. 6, 245)

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