10
ORIGINALIF, N Durchhaltestrategien- ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlfissigtes Ph/inomen?* M. Hasenbring Institut fiir Medizinische Psychologie, Universit/itsklinik Kiel Zusammenfassung. Im Rahmen einer prospektiven L/ingsschnittstudie, in der wir den Genesungsverlauf konservativ und operativ behandelter Bandscheibenpa- tienten erfagten, untersuchten wir die Bedeutung von Schmerzverarbeitungsformen, die in der psycholo- gischen Schmerzforschung bislang wenig Beachtung ge- funden haben: Durchhalteappelle auf der kognitiven Ebene und Durchhaltestrategien auf der Verhaltens- ebene. 111 Patienten mit akuten radikul/iren Schmerzen und einem lumbalen Bandscheibenbefund wurden vor Behandlungsbeginn einer ausffihrlichen psychologischen und neurologischen Diagnostik unterzogen. Ober das aus 3 Fragebogenverfahren bestehende Kieler Schmerz- Inventar (KSI) wurden die schmerzbezogenen emotiona- len Reaktionen Angst/Depressivitiit und Gehobene Stim- mung erfagt (ERSS), die kognitiven Reaktionen Hilf-/ Hoffnungslosigkeit, Katastrophisieren, Behinderung, Durchhalteappell, Bagatellisieren, Coping-Signal und psychische Kausalattribution (KRSS) sowie fiber den Fragebogen CRSS die Aspekte Vermeidungsverhalten, Nichtverbaler Ausdruck, Durchhaltestrategien, Ignorie- ren, Direkte Bitte um soziale Unterstiitzung erfagt. An- hand dieser Skalen wurden entsprechend unserer kli- nischen Erfahrung 3 Gruppen gebildet (A: Durchhalte- strategien und gehobene Stimmung, B: Durchhalteap- pell und depressive Stimmung, C: Ohne Risikofaktoren), denen 76 Patienten eindeutig zugeordnet werden konn- ten. Eine 4. Gruppe (Depressivit/it ohne Durchhaltesyn- drom) wird an anderer Stelle beschrieben. Lediglich 7% der Gesamtstichprobe konnte keiner Gruppe eindeutig zugeordnet werden. Kriterien waren Schmerzintensitiit bei Entlassung, 1 Woche und 6 Monate nach Behandlung sowie die Wiederherstellung der Arbeitsfiihigkeit und Friihberentung. Die Ergebnisse zeigten, dab beide Grup- pen A und B langfristig signifikant mehr Schmerzen auf- wiesen als Gruppe C. Die Gruppe der ,,fr6hlichen Durchhalter" erwies sich als besondere Risikogruppe, da sie kurzfristig bei Entlassung wie Gruppe C Schmerz- * Herrn ProfessorDr. M. Zimmermann zum 60. Geburtstaggewid- met. freiheit aufwies, langfristig jedoch deutlich chronifi- zierte. Neben dem Schmerzanstieg war bei diesen Patien- ten langfristig die Wiederherstellung der Arbeitsf/ihigkeit signifikant eingeschr/inkt und es wurden 8real mehr An- tr/ige auf Frfihberentung gestellt als in Gruppe C. Die Ergebnisse erm6glichen eine Reihe von Anregungen zur Modifikation der /irztlichen wie auch der psychol0- gischen Schmerztherapie. Schliisselw6rter: Chronischer Schmerz - Rfickenschmerz Kognitives und aktives Coping Endurance strategies- a neglected phenomenon in the research and therapy of chronic pain ? Abstract. Within a prospective longitudinal study of 111 patients with acute radicular pain and lumbar disc pr0- lapse who underwent conservative or surgical treatment, we examined the importance of specific pain coping stra- tegies, which have received little attention in psychologi- cal pain research: appeals to "stick it out" on the cogni- tive level and endurance strategies on the behavioural level. Prior to treatment we conducted a psychological and neurological examination. The psychological tests included the Kiel Pain Inventory (KPI) and the Beck Depression Inventory (BDI). Based on these scales we allocated patients to three groups: A (endurance strate- gies and positive mood; n= 16), B (appeals to stick it out and depressive mood; n = 20) and C (no psychologi- cal risk factors; n = 40). The outcome variable was the intensity of pain (8-point self-rating scale), which was assessed prior to treatment, at the time of discharge, 1 week later and 6 months later. Additionally, 6 months later we assessed the ability to work and the attitude to application for early retirement. Results showed that patients in groups A and B had significantly more pain at the 6-month follow up than the patients in group C, who were painfree. Patients in group A were a spe-

Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

ORIGINALIF, N

Durchhaltestrategien- ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlfissigtes Ph/inomen?* M. Hasenbring Institut fiir Medizinische Psychologie, Universit/itsklinik Kiel

Zusammenfassung. Im Rahmen einer prospektiven L/ingsschnittstudie, in der wir den Genesungsverlauf konservativ und operativ behandelter Bandscheibenpa- tienten erfagten, untersuchten wir die Bedeutung von Schmerzverarbeitungsformen, die in der psycholo- gischen Schmerzforschung bislang wenig Beachtung ge- funden haben: Durchhalteappelle auf der kognitiven Ebene und Durchhaltestrategien auf der Verhaltens- ebene. 111 Patienten mit akuten radikul/iren Schmerzen und einem lumbalen Bandscheibenbefund wurden vor Behandlungsbeginn einer ausffihrlichen psychologischen und neurologischen Diagnostik unterzogen. Ober das aus 3 Fragebogenverfahren bestehende Kieler Schmerz- Inventar (KSI) wurden die schmerzbezogenen emotiona- len Reaktionen Angst/Depressivitiit und Gehobene Stim- mung erfagt (ERSS), die kognitiven Reaktionen Hilf-/ Hoffnungslosigkeit, Katastrophisieren, Behinderung, Durchhalteappell, Bagatellisieren, Coping-Signal und psychische Kausalattribution (KRSS) sowie fiber den Fragebogen CRSS die Aspekte Vermeidungsverhalten, Nichtverbaler Ausdruck, Durchhaltestrategien, Ignorie- ren, Direkte Bitte um soziale Unterstiitzung erfagt. An- hand dieser Skalen wurden entsprechend unserer kli- nischen Erfahrung 3 Gruppen gebildet (A: Durchhalte- strategien und gehobene Stimmung, B: Durchhalteap- pell und depressive Stimmung, C: Ohne Risikofaktoren), denen 76 Patienten eindeutig zugeordnet werden konn- ten. Eine 4. Gruppe (Depressivit/it ohne Durchhaltesyn- drom) wird an anderer Stelle beschrieben. Lediglich 7% der Gesamtstichprobe konnte keiner Gruppe eindeutig zugeordnet werden. Kriterien waren Schmerzintensitiit bei Entlassung, 1 Woche und 6 Monate nach Behandlung sowie die Wiederherstellung der Arbeitsfiihigkeit und Friihberentung. Die Ergebnisse zeigten, dab beide Grup- pen A und B langfristig signifikant mehr Schmerzen auf- wiesen als Gruppe C. Die Gruppe der ,,fr6hlichen Durchhalter" erwies sich als besondere Risikogruppe, da sie kurzfristig bei Entlassung wie Gruppe C Schmerz-

* Herrn Professor Dr. M. Zimmermann zum 60. Geburtstag gewid- met.

freiheit aufwies, langfristig jedoch deutlich chronifi- zierte. Neben dem Schmerzanstieg war bei diesen Patien- ten langfristig die Wiederherstellung der Arbeitsf/ihigkeit signifikant eingeschr/inkt und es wurden 8real mehr An- tr/ige auf Frfihberentung gestellt als in Gruppe C. Die Ergebnisse erm6glichen eine Reihe von Anregungen zur Modifikation der /irztlichen wie auch der psychol0- gischen Schmerztherapie.

Schliisselw6rter: Chronischer Schmerz - Rfickenschmerz - Kognitives und aktives Coping

Endurance strategies- a neglected phenomenon in the research and therapy of chronic pain ?

Abstract. Within a prospective longitudinal study of 111 patients with acute radicular pain and lumbar disc pr0- lapse who underwent conservative or surgical treatment, we examined the importance of specific pain coping stra- tegies, which have received little attention in psychologi- cal pain research: appeals to "stick it out" on the cogni- tive level and endurance strategies on the behavioural level. Prior to treatment we conducted a psychological and neurological examination. The psychological tests included the Kiel Pain Inventory (KPI) and the Beck Depression Inventory (BDI). Based on these scales we allocated patients to three groups: A (endurance strate- gies and positive mood; n= 16), B (appeals to stick it out and depressive mood; n = 20) and C (no psychologi- cal risk factors; n = 40). The outcome variable was the intensity of pain (8-point self-rating scale), which was assessed prior to treatment, at the time of discharge, 1 week later and 6 months later. Additionally, 6 months later we assessed the ability to work and the attitude to application for early retirement. Results showed that patients in groups A and B had significantly more pain at the 6-month follow up than the patients in group C, who were painfree. Patients in group A were a spe-

Page 2: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

Originalien 305

cially high risk group: at the time o f discharge they had no pain, but from the first week after discharge up to the 6-month follow up they had increasing pain. Addi- tionally at the 6 month follow up they seemed less likely to return to work and 8 times more of them had applied for early retirement than in the groups of patients with- out psychological risk factors. The results suggested sev- eral suggestions for modification of medical and psycho- logical therapy for chronic pain patients.

Key words." Chronic pain - Low back pain - Cognitive and behavioral coping strategies

dert. Auff'fillig ist, dab eine Verringerung der Schmerzin- tensit/it in vielen F/illen zwar statistisch signifikant aber klinisch weniger bedeutsam ausf/illt [18, 19, 26].

Der /irztliche Schmerztherapeut, dem im Hinblick auf eine ,,psychische Oberlagerung" die depressive Stim- mung, das /ingstliche Vermeidungsverhalten, Passivit/it und Krankheitsgewinn auffallen, bem/iht sich ebenfalls um eine unmittelbare Aktivierung des Patienten. Bei einer groBen Zahl von Patienten st6Bt er hierbei jedoch immer wieder auf massive Schwierigkeiten. Dazu ein Beispiel:

Der Schmerz (1993) 7:304-313 �9 Springer-Verlag 1993

Die individuelle Art und Weise, wie Menschen im Alltag Schmerzen erleben und verarbeiten, fand in den vergan- genen 10 Jahren sowohl in der psychologischen als auch in der/irztlichen Schmerztherapie verst/irkt Beachtung. Im Vordergrund stand dabei die Untersuchung des be- reits chronischen Schmerzpatienten, der meist 1/inger als 6 Monate unter anhaltenden Schmerzen leidet, ohne dab er erfolgreich auf jeweils indizierte medizinische MaB- nahmen anspricht. Vor allem von Seiten der interdiszi- plin/ir ausgerichteten Verhaltensmedizin konnte dabei empirisch nachgewiesen werden, dab Prozesse der emo- ti0nalen und kognitiven Schmerzverarbeitung sowie des Schmerzverhaltens eine entscheidende Funktion in der Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen haben [8, 22]. Ein Effekt, der die Schmerzempfindung, Passivit/it und Immobilisierung verst/irkt, wurde dabei in erster Linie f/Jr solche Faktoren erkannt, die im Zeichen eines angst- get6nten oder depressiven Erlebens und Verhaltens ste- hen: auf kognitiver Ebene ffir Kognitionen des Kata- strophisierens und der Hilf-/Hoffnungslosigkeit [17, 21, 24], auf emotionaler Ebene ffir Angst und Depressivit/it [28] und auf Verhaltensebene ffir Schon- und Vermei- dungsverhalten [9, 14]. Die Arbeiten von Fordyce [5, 7] weisen darfiber hinaus auf die Bedeutung operanter Prozesse der Schmerzverstfirkung hin, die dann eintre- ten, wenn das nichtverbale Schmerzverhalten eines Pa- lienten (schmerzverzerrte Mimik oder Gestik) entla- stende Konsequenzen erf'~ihrt, d.h. wenn zum Beispiel der Partner Hilfe und Unterstfitzung anbietet oder das Umgehen unangenehmer Aktivit/iten erm6glicht. Ver- haltenstherapeutische Bemfihungen richten sich demzu- f01ge auf den Abbau ungfinstiger Kognitionen und den unmittelbaren Aufbau von Aktivit/it, teilweise in Erg/in- zung zu einem Training muskul/irer Entspannung. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Techniken der Ablen- kung und kognitiven Umbewertung der Schmerzerfah- rung, f/Jr die in laborexperimentellen Untersuchungen zum Akutschmerz nachgewiesen wurde, dal3 mit ihrer Mille Schmerztoleranz erh6ht werden kann [4, 21]. In der psychologischen Schmerztherapie werden mit diesen MaBnahmen, z.B. bei Patienten mit chronischen Rfik- kenschmerzen, erfolgreich Medikamenteneinnahme ge- senkt, die allgemeine Aktivit/it gesteigert und die ~hmerzbedingte psychische Beeintrfichtigung gemin-

Frau X, 46 Jahre alt, seit 2 Jahren chronisch wiederkehrende Lum- boischialgien, ist bereits seit 1 Jahr krank geschrieben. Sie bangt jetzt um ihre Beseh/iftigung als Friseuse. Sie klagt dariiber, dab sic mittlerweile keinen Sport mehr machen kann, kaum 1/inger als 10 min laufen kann und die meiste Zeit des Tages liegen muB. Sie kommt wiederholt zu ihrem Hausarzt und m6chte Massagen versehrieben haben, die ihre Sehmerzen jedesmal sehr wirkungsvoll, abet immer nur vor/ibergehend lindern. Dem Arzt fallen ihre Passi- vit/it und ihr etwas/ingstliches Vermeidungsverhalten auf. Er hat mitverfolgt, wie im Laufe der Zeit die ehemals racist fr6hlich wir- kende Patientin immer niedergeschlagener wird. Mit allen Mitteln versucht er, sie zur Aktivierung zu ermuntern. Mehrmals hat er bereits krankengymnastische Magnahmen verordnet, die sic jedoch regelm/iBig wegen einer sofortigen Schmerzverst/irkung abgebro- chen hat. Die von ihr erbetenen Massagen h/ilt er ffir zwecklos. Er spiirt, dab er immer ungeduldiger und grgerlicher wird, wenn sic wiederholt ihre Bitte nach passiven MaBnahmen fiuBert. All- m/ihlich sieht er sich gezwungen, eine vorzeitige Berentung in Erw~- gung zu ziehen.

Unsere eigenen klinischen Erfahrungen in der kognitiv- verhaltenstherapeutischen Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronischen Rfickenschmerzen machten uns darauf aufmerksam, dab neben den bereits themati- sierten Auff/illigkeiten der depressiven Stimmung und des mit Passivit/it einhergehenden/ingstlichen Schonver- haltens gegenteilige Schmerzverarbeitungsformen wirk- sam sind: Auf kognitiver Ebene fielen Gedanken auf, in denen sich der Patient permanent zum Durchhalten, zum ZusammenbeiBen der Z~ihne und zum ,,Nicht-ge- henlassen" aufruft, im Verhalten berichteten diese Pa- tienten zwar einerseits das von ihnen beklagte ,,Liegen mfissen" und nicht aktiv sein k6nnen, im Rahmen kon- kreter Situationsanalysen wurde jedoch deutlich, dab sie darunter litten, im Liegen nicht entspannen zu k6nnen, sondern sich getrieben zu ffihlen, von Minute zu Minute wieder aufstehen und irgendeiner Aktivit/it nachgehen zu mfissen, die dann jedoch meist schmerzbedingt wieder abgebrochen werden mul3te.

Diese Prozesse, die wir auf der kognitiven Ebene als , ,Durchhalteappell" und auf der Verhaltensebene als , ,Durchhaltestrategien" bezeichnen, k6nnten daffir ver- antwortlich sein, dab Patienten wie Frau X sich in erster Linie MaBnahmen wie z.B. Massagen ersehnen, die ih- hen wenigstens von aul3en einwirkend und kurzfristig eine Entspannung erm6glichen. Die Aufforderungen des Arztes zur Aktivit/it mobilisiert die eigenen, als ~iuBerst belastend erlebten Durchhalteappelle, die wahrschein- lich fiber eine erh6hte Anspannung der Muskulatur mit einer Schmerzverst/irkung einhergehen.

Page 3: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

306 . O r i g i n a l i e n

In der Literatur wurde ein solcher Verhaltensaspekt bis- lang ausschlieBlich von tiefenpsychologisch ausgerichte- ten Autoren beschrieben, die hierin Anzeichen fiir ein schmerzrelevantes Pers6nlichkeitsmerkmal sehen. Kiite- meyer [16] beschrieb anhand klinischer Beobachtungen von Patienten mit Lumbago-Ischias-Syndrom das sog. Durchhalte-Syndrom, das einerseits durch stiindigen Ta- tendrang bis hin zur ,,Arbeitswut", andererseits durch verleugnete passive Bediirfnisse nach einem Sich-Fallen- lassen und gepflegt werden gekennzeichnet ist. Blumer und Heilbronn [2], die eine bislang empirisch nicht best~i- tigte These der von Depressivitiit gekennzeichneten ei- genstiindigen Schmerzkrankheit vertreten, beschrieben in diesem Zusammenhang den priimorbiden Status der , ,Ergomania", der erst mit Beginn des Schmerzproblems in Passivit~it und Depressivitiit umschlfigt.

Bei der Konzeption des Fragebogen-Inventars Kieler Schmerz-Inventar (KSI) zur Erfassung schmerzrelevan- ter Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen [11, 12], dessen Items aus vorangegangenen verhaltensdia- gnostischen Interviews rekrutiert wurden, konnte dieser Aspekt des Durchhaltesyndroms erstmals empirisch be- stiitigt werden. Ober eine faktorenanalytische Auswer- tung kamen wir auf kognitiver Ebene zu der Skala ,,Durchhalteappell", auf der Verhaltensebene zur Skala ,,Durchhaltestrategien". In ersten statistischen Analysen einer prospektiven L~ingsschnittstudie an Patienten mit radikul~iren Schmerzen und nachgewiesenem lumbalen Bandscheibenvorfall erwies sich der Verhaltensaspekt der Durchhaltestrategien neben den bekannten Faktoren Depressivitiit, Vermeidungsverhalten und nichtverbales Schmerzverhalten als wichtigster Risikofaktor ffir die spiitere Chronifizierung der Schmerzen [10, 11]. In dieser Studie konnten dariiber hinaus Aspekte der Schmerzbe- witltigung identifiziert werden, die im Hinblick auf den Genesungsverlauf als gesundheitsf6rdernde Verhaltens- weisen bezeichnet wurden (entspannungsf6rdernde Akti- vitfiten, direkte Bitte um soziale Unterstfitzung).

Unsere jiingsten klinischen Eindriicke unter Verwen- dung dieser Fragebogenskalen legen nun weitergehende Hypothesen einer Untergruppenbildung nahe, die wir in der vorliegenden Studie iiberpriifen: 1. im Hinblick auf das Durchhaltesyndrom lassen sich 2 Patientengrup- pen unterscheiden: Gruppe A (,,fr6hliche Durchhalter") mit ausgepriigten Durchhaltestrategien auf der Verhal- tensebene, einer ausgeprfigt positiven, heiteren Stim- mungslage und Fehlen jeglicher Zeichen von Depressivi- tat und Gruppe B (,,depressive Durchhalter") mit erh6h- ter depressiver Stimmung, Kognitionen der Hilf-/Hoff- nungslosigkeit und ausgepr~igtem Durchhalteappell auf kognitiver Ebene. Auf der Verhaltensebene finden wir in dieser Gruppe bereits Zeichen von Vermeidungsver- halten. 2. Beide Gruppen verhalten sich unterschiedlich im Hinblick auf die Chronifizierung bandscheibenbe- dingter Schmerzen: Gruppe A steht eher am Beginn einer Chronifizierungskarriere, d.h. kurzfristig profitie- ren sie von einer medizinischen Behandlung (z.B. Band- scheibenoperation), langfristig sind sie in erh6htem MaB gefiihrdet, chronische Beschwerden zu entwickeln. Gruppe B profitiert bereits kurzfristig nicht in dem MaB

von einer medizinischen Behandlung wie Patienten, die keinerlei psychologische Risikofaktoren aufweisen.

Fragestellungen

1. Wie hitufig tritt der Aspekt des Durchhalteappells einerseits im Vergleich zu Kognitionen des Katastrophi- sierens und der Hilf-/Hoffnungslosigkeit, andererseits im Vergleich zu Kognitionen des Coping-Signals in einer Stichprobe von Patienten mit akuten bandscheibenbe- dingten Schmerzen auf?

2. Wie hiiufig zeigt sich der Aspekt der Durchhaltestrate- gien im Vergleich zu anderen maladaptiven Formen des Schmerzverhaltens (Vermeidungsverhalten, nichtverba- les Ausdrucksverhalten) und im Vergleich zu gesund- heitsf6rdernden Formen des Schmerzverhaltens (direkte Bitte um soziale Unterstfitzung, entspannungsf6rdernde Ablenkung) in dieser Stichprobe?

3. Lassen sich anhand psychologischer Fragebogenska- len Grenzwerte definieren, die zu einer Einteilung in die Gruppen A (Durchhaltestrategien und gehobene Stim- mung), B (Durchhalteappell und depressive Stimmung) und C (keine psychologischen Risikofaktoren) fiihren?

4. Zeigen sich im Rahmen einer prospektiven Liings- schnittstudie ffir die Gruppen A, B, und C unterschiedli- che Genesungsverl~iufe im Hinblick auf die Intensit~t verbleibender Schmerzen, die Wiederherstellung der Ar- beitsfiihigkeit und die Frage der Frfihberentung?

5. Unterscheiden sich die Gruppen A, B, und C im Hin- blick auf die Dauer der Schmerzanamnese und im Hin- blick auf andere somatische Parameter?

Methodik

Untersuchungsdesign

Zur Untersuchung der oben genannten Fragestellungen fiihrten wir eine prospektive L~ingsschnittstudie an konservativ und opera- tiv behandelten Patienten mit akuten radikuliiren Schmerzen bei einem lumbalen Bandscheibenvorfall durch. Der erste MeBzeit- punkt zur Erhebung der psychologischen Befunde lag vor Behand- lungsbeginn (TO). Die weiteren Erhebungszeitpunkte zur Erhebung der Kriteriumsvariablen waren bei Entlassung aus der Klinik (T1), 1 Woche nach Entlassung zu Hause (T2) und 6 Monate nach Ent- lassung (T3). Die Untersuchung erfolgte in Zusammenarbeit der Abteilungen Medizinische Psychologie, Neurologie und Neur0chir. urgie der Universitiitsklinik Kiel.

Stichprobe

Wir untersuchten 120 Patienten, die innerhalb eines definierten Zeitraumes in der Abteilung Neurologie des Zentrums ffir Nerven- heilkunde der Universitfit Kiel und in der Neurochirurgischen Uni- versit~itsklinik Kiel mit der Diagnose des lumbalen Bandscheiben- vorfalles aufgenommen worden waren. In die statistische Auswer- tung gingen insgesarnt 111 Patienten ein. 3 Patienten haben eine weitere Teilnahme an der Studie abgelehnt, bei 4 Patienten stellten sich wiihrend der konservativen Behandlung Hinweise auf ander.

Page 4: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

Originalien 307

weitige Diagnosen ein, bei 2 Patienten konnte der Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall intraoperativ nicht bestiitigt werden. V0n den 111 Patienten, die an der Datenerhebung teilgenommen hben, kamen 90 (89%) zur Nachuntersuchung nach 6 Monaten.

Die Diagnose eines lumbalen Bandscheibenvorfalles wurde anhand des klinisch neurologischen Befundes sowie durch bildgebenden Verfahren (CT, Myelographie, teilweise NMR) gestellt. Die Ergeb- nisse dieser Untersuchung sind im Detail an anderer Stelle publi- ziert [11].

Das Alter der Patienten betrug im Mittel 42 Jahre, die jfingste Patientin war 17 Jahre, der iilteste 72 Jahre. 43 Patienten (39%) waren Frauen, 68 (61%) Mhnner. Von den insgesamt 111 Patienten wurden 73 einer Operation unterzogen, 38 einer konservativen Be- handlung. Von diesen 38 Patienten wurde keiner bis zum Zeitpunkt ]'3 operiert.

Bezfiglich der Dauer der Schmerzanamnese wurden 3 Aspekte un- terschieden. Die mittlere Dauer der akuten Ischialgie oder Lumbo- ischialgie betrug 15 Wochen bei mindestens 2 und h6chstens 44 W0chen. Die mittlere Dauer chronischer, persistierender oder rezi- divierender Ischialgien betrug im Mittel 3,8 Jahre mit einem Ma- ximum von 33 Jahren. Die mittlere Dauer rezidivierender lokaler hmbaler Beschwerden betrug 9,7 Jahre mit einem Minimum yon weniger als 1 Jahr und einem Maximum von 60 Jahren.

Messung der Schrnerzintensitiit

Zu allen 4 Zeitpunkten wurde die Schmerzintensitiit auf einer 8stu- figen numerischen Selbstbeurteilungsskala erfaBt.

Messung des depressiven Zustandsbildes

Zur Erfassung des allgemeinen, nicht schmerzbezogenen, depressi- yen Zustandsbildes wurde das Beck-Depressions-Inventar (BDI) 11] eingesetzt. Wir verwendeten eine deutsche Obersetzung des BDI v0n Kammer [13] mit 21 Items. In die Untersuchung ging der Summenscore fiber alle Items (Gesamtwert) ein.

~1essung der emotionalen Schmerzverarbeitung

~ur Erfassung schmerzbezogener emotionaler Reaktionen wurde let Fragebogen ERSS des Kieler Schmerzinventar KSI [12] einge- ~etzt. Das Instrument enthiilt 15 Items zu verschiedenen emotiona- en Reaktionen, ffir die jeweils einzeln auf einer 6stufigen nume- 5schen Selbstbeurteilungsskala die Auftretenshhufigkeit zwischen l(,,nie") und 6 (,,jedesmal wenn ich Schmerzen habe") angegeben ~ird. Eine faktorenanalytische Untersuchung ffihrte zu den 3 Ska- en Angst/Depressivitht, gereizte Stimmung und Trotz Schmerz ge- ~nbene Stimmung. Die Reliabilitiiten der Skalen (Cronbach's Al- pha) ]iegen zwischen 0,85 und 0,91.

Messung yon Schrnerzverhalten und Schmerzbewiiltigung

Zur Erfassung des Schmerzverhaltens wurde der Fragebogen CRSS des KSI vorgegeben. Hier werden anhand yon 64 Items verschie- denste Aspekte des individuellen Schmerzverhaltens oder gezielt zur Schmerzlinderung eingesetzter Formen der Schmerzbew/ilti- gung erfaBt. Die Patienten werden gebeten, die Auftretensh/iufig- keit eines jeden Verhaltens auf 2 Antwortskalen getrennt ffir leich- tere und ffir starke Schmerzen anzugeben. Es resultieren die fakto- renanalytisch gewonnenen Skalen Vermeiden sozialer Aktivithten, Vermeiden k6rperlicher Aktivitiiten, Durchhaltestrategien, nicht- verbales Ausdrucksverhalten, direkte Bitte urn soziale Unterstfit- zung, Ablenkung fiber positive Phantasien, Ablenkung fiber Lesen, Musikh6ren, Ignorieren, aktive MaBnahmen (u.a. Krankengymna- stik), passive MaBnahmen (u.a. MasSagen, Salben). Die Reliabilit/i- ten der in die vorliegende Untersuchung eingehenden Skalen liegen zwischen 0,73 und 0,91.

Ergebnisse

Auftretenshiiufigkeit des kognitiven Durchhalteappells

Abbildung 1 gibt die mittlere subjektiv angegebene Auf- tretenshhufigkeit der kognitiven Schmerzverarbeitungs- form Durchhalteappell im Vergleich zu anderen schmerzbezogenen Kognitionen fiir die Gesamtstich- probe wieder.

Es zeigt sich, dab Kognitionen des Durchhalteappells insgesamt die hhufigste gedankliche Reaktion auf die gerade empfundenen Schmerzen darstellen. Es folgen Gedanken der Hilf-/Hoffnungslosigkeit oder der Behin- derung (hier wird der Schmerz als Einschriinkung im Alltag erlebt) bzw. des Coping-Signal (hier wird der Schmerz als Signal wahrgenommen, eine entspannungs- f6rdernde Aktivitiit einzuleiten). So gut wie gar nicht vertreten sind Kognitionen, in denen der Schmerz auf psychische Ursachen (StreB, Arger) zuriickgefiihrt wird.

~essung der kognitiven Schmerzverarbeitung

Zur Erfassung schmerzbezogener Kognitionen wurde der Fragebo- gen KRSS aus dem Kieler Schmerz-Inventar KSI [12] verwendet. Hit 34 Items werden typische automatische Gedanken vorgegeben, ~ie Menschen in Momenten durch den Sinn gehen, wenn Sie ihre Schmerzen bewuBt spfiren. Eine faktorenanalytische Auswertung der Daten fiihrte zu 7 Skalen: Hilf-/Hoffnungslosigkeit, Behinde- rung, Katastrophisieren, Durchhalteappell, Bagatellisieren, Co- ping-Signal und psychische Kausalattribution. Die Reliabilitiiten ~egen hier zwischen 0,76 und 0,91.

Abb. 1. Mittelwerte der individuellen Auftretenshhufigkeit (Skala 0-6) schmerzbezogener Kognitionen, gemessen fiber den KRSS des KSI, in der Gesamtstichprobe

Page 5: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

308 Originalien

Abb. 2. Mittelwerte der individuellen Auftretenshfiufigkeit (Skala 0-6) schmerzbezogener Verhaltensweisen und Coping-Strategien, gemessen fiber den CRSS des KSI, in der Gesamtstichprobe

Auftretenshdufigkeit yon Durchhaltestrategien

Abbildung 2 gibt die individuellen Auftretensh~iufigkei- ten einzelner Formen des Schmerzverhaltens und der Schmerzbewfiltigung wieder, jeweils getrennt ffir den Umgang mit leichteren und mit starken Schmerzen.

In der Gesamtgruppe dominieren eindeutig Durchhalte- strategien im Umgang mit leichteren Schmerzen, gefolgt von dem Aspekt Ignorieren des Schmerzes. Im Umgang mit starken Schmerzen kehrt sich das Bild dann urn; es dominieren nun eindeutig das Vermeiden sozialer und k6rperlicher Aktivit~iten sowie das nichtverbal/motori- sche Ausdrucksverhalten. Die Aspekte entspannungsf6r- dernde Aktivitfiten und direkte Bitte um soziale Unter- stfitzung, die sich im Rahmen regressionsanalytischer Auswertungsschritte der Studie als prinzipiell gesund- heitsf6rdernde Verhaltensweisen erwiesen hatten [11], sind in der Gesamtgruppe relativ gering ausgeprfigt.

Bildung yon Untergruppen

Zur Bildung der Untergruppe A (Durchhaltestrategien und gehobene Stimmung), B (Depressivitfit und Durch- halteappell) und C (keine der Risikofaktoren) wurden die Fragebogenskalen gehobene Stimmung und Angst/ Depressivitiit des ERSS, Hilf-/Hoffnungslosigkeit, Kata- strophisieren und Durchhalteappell des KRSS, die Ska- len Durchhaltestrategien des CRSS sowie der BDI her- angezogen. Basierend auf unseren klinischen Erfahrun- gen wurden Grenzwerte gebildet, die eine eindeutige Zuordnung zu einer von 3 Gruppen erm6glichen. Die Voraussetzungen ffir eine Klassifizierung in Gruppe A waren folgende: Skala Durchhaltestrategien des CRSS > 3,5, Skala gehobene Stimmung des ERSS > 3,5, BDI < 10, alle anderen Skalen <3,5. Voraussetzung ffir

Gruppe B waren: Skala Durchhalteappell > 4, BDI > l0 oder Skala Angst/Depressivitiit des ERSS > 3,5, aile an- deren Skalen < 3,5. Patienten wurden Gruppe C zuge- wiesen, wenn BDI<10 und alle anderen Skalen <3,5 waren. Ausgenommen war hier die Skala gehobene Stim. mung des ERSS, hier wiesen einige Patienten Werte > 3,5 auf. Entsprechend dieser Kriterien wurden 16 Pa- tienten Gruppe A, 20 Patienten Gruppe B und 40 Patien- ten Gruppe C zugewiesen. Weitere 16 Patienten entfielen auf eine Gruppe, die sich durch Depressivitfit, Vermei- dungsverhalten ohne jegliche Zeichen von Durchhal. teappell auszeichnete. Diese Gruppe wird an anderer Stelle eingehender beschrieben. 19 Patienten konnten nicht klassifiziert werden, davon 11 Patienten wegen feb- lender Werte in einzelnen Skalen, 8 Patienten, weil sie die Ein- bzw. AusschluBgrenzen nicht erfiillten.

Die Abb. 3 und 4 geben die z-transformierten Werte in den relevanten Skalen sowie zusiitzlich ffir den Aspekt chronisch anhaltender Alltagsbelastungen (BELRES) ffir die Gruppen B und C wieder. In der Gegeniiberstel- lung der Gruppen A und C zeigte sich, dab die Gruppe der sog. ,,fr6hlichen Durchhalter" signifikant h6here Werte lediglich in den Skalen Durchhaltestrategien und gehobene Stimmung, die zur Klassifizierung gefiihrt ha- ben, aufweisen. Sie zeigen darfiber hinaus gegenfiber der Gruppe C signifikant geringere Werte im BDI sowie in den Skalen Vermeiden sozialer und k6rperlicher Aktivi- tiiten, nichtverbaler Ausdruck und Katastrophisieren.

In Abb. 4 sind die Unterschiede zwischen Gruppe B (de- pressive Durchhalter) und C (ohne Risikofaktoren) dar- gestellt. Die Gruppe B zeigt neben signifikant h6heren Werten in den Klassifizierungsvariablen ebenfalls h6here Werte in den Skalen nichtverbaler Ausdruck, Hilf-/H0ff- nungslosigkeit und Behinderung (KRSS) sowie im Aus- mar3 subjektiv empfundener Alltagsbelastungen.

Prospektive Bedeutung der 3 Gruppen ffir den Genesungsverlauf

In Abb. 5 ist die mittlere Schmerzintensitiit der 3 Grup. pen zu den Zeitpunkten TO (vor Behandlung), T1 (Ent- lassung, T2 (1 Woche nach der Entlassung) und T3 (6 Monate nach Entlassung) dargestellt. Intraindividuelle Unterschiede fiber die Zeit wurden fiber t-Test fiir ab- h~ingige Stichproben berechnet. Zum Zeitpunkt der Ent- lassung wiesen alle 3 Gruppen eine signifikante Schmerz. reduktion auf. Wfihrend die Schmerzintensitfit in den Gruppen A (,,fr6hliche Durchhalter" und C (ohne Risi- kofaktoren) zum Zeitpunkt der Entlassung jedoch nahe bei 0 lag, war bei den Patienten der Gruppe B (depressive Durchhalter) noch eine mittlere Schmerzintensitfit v0n 2,8 zu verzeichnen. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dab es in der ersten Woche nach der Entlassung in allen 3 Gruppen wieder zu einem signifikanten Schmerzan. stieg kam, der sich bis zum letzten Erhebungszeitpunkt 6 Monate post lediglich in der Gruppe C wieder signifi. kant gegen 0 zurfickbildete. In Gruppe A blieb der Schmerzanstieg, der sich bereits in der ersten W0che nach Entlassung gezeigt hatte, auch 6 Monate spfiter

Page 6: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

Originalien 309

Abb. 3. Unterschied zwischen den Gruppen A (Durchhaltestrategien und gehobene Stim- mung) und C (ohne Risikofaktoren) in den psychologischen Variablen. *p<0,05; **p<0,01; ***p<0,001

Abb. 4. Unterschied zwischen den Gruppen B (Durchhalteappell und depressive Stim- mung) und C (ohne Risikofaktoren) in den psychologischen Variablen. *p<O,05; **p<O,01; ***p<O,O01

n0ch erhalten, in Gruppe B fiel er langfristig zwar wieder ab; die mittlere Schmerzintensit/it sank jedoch nicht unter den Entlassungswert von 2,8.

0ber eine Varianzanalyse ffir unabh/ingige Stichproben prfiften wir, ob zwischen den 3 Gruppen ein signifikanter Unterschied hinsichtlich des Ausgangsniveaus bestand. Es zeigte sich hier im Sinne einer Tendenz, dab Gruppe B leicht h6here Ausgangswerte hatte. Der Effekt war jedoch auf dem 5%-Niveau nicht signifikant (F-Ratio 2,46, p-- 0,067).

Uber Chi-Quadrat-Verfahren pr/iften wir die Frage, ob die Patienten der 3 Gruppen sich zum Zeitpunkt T3 (6 Monate nach Entlassung) hinsichtlich ihrer Arbeitsf/i- higkeit bzw. der Frage eines Antrags auf Friihberentung voneinander unterschieden. Bezfiglich der Wiederher- stellung der Arbeitsf/ihigkeit unterschieden wir die Aspekte ,,voll arbeitsf/ihig", ,,eingeschr/inkt arbeitsf'~i- hig" und ,,noch nicht wieder arbeitsf/ihig". Die Signifi- kanzprfifung fiber Chi-Quadrat ergab einen hochsignifi- kanten Gruppenunterschied (Chi: 14,06, p = 0,007). W/ihrend in der Gruppe C (ohne Risikofaktoren) ledig-

Page 7: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

310 Originalien

Abb. 7. Relative H/iufigkeit von Antragstellungen auf Friihberen. tung in den Gruppen A, B und C zum Zeitpunkt T3 (6 Monate nach Entlassung)

Abb. 5. Mittlere Schmerzintensit/it (8stufige Selbstbeurteilungs- skala) der Gruppen A, B und C zu den Zeitpunkten TO (vor Be- handlung), T1 (Entlassung), T2 (1 Woche post) und T3 (6 Monate post). * p<0,05; ** p<0,01 ; *** p<0,001

Abb. 8. Mittlerer Gesamtwert im BDI in den Gruppen A, B und C zu den Zeitpunkten TO (vor Behandlung) und T3 (6 Monatr post). * p<0,05

Abb. 6. Wiederherstellung der Arbeitsf/ihigkeit in den Gruppen A, B und C zum Zeitpunkt T3 (6 Monate nach Entlassung)

auf vorzeitige Berentung gestellt wurde, unterscheiden sich die Gruppen signifikant voneinander (Chi: 7,51, p= 0,01). In beiden Risikogruppen wurde deutlich h/iufiger ein vorzeitiger Rentenantrag gestellt (25 % und 31%)als in Gruppe C mit 3 % (s. Abb. 7).

lich nur 6% noch nicht wieder arbeitsf~hig waren, waren es in der Gruppe A (fr6hliche Durchhalter) 18% und in der Gruppe B (depressive Durchhalter) 53%. Auffal- lend ist dabei, dab eine eingeschr/inkte Arbeitsf'~ihigkeit, die h/iufig zur beruflichen Wiedereingliederung vorge- nommen wird, in der Gruppe B deutlich seltener zu be- obachten ist (6%) als in den Gruppen A mit 27% und C mit 23% (s. Abb. 6).

Auch in der Frage, wie hiiufig bis zum Zeitpunkt von 6 Monaten nach Entlassung aus der Klinik ein Antrag

Depress&iti i t im zeitlichen Verlauf

Das AusmaB der Depressivit/it im BDI war zu den Zeit- punkten TO (vor Behandlung) und T3 (6 Monate post) erfaBt worden. Unterschiede zwischen den Gruppen und zwischen den Zeitpunkten wurden tiber eine multifakt0- rielle Varianzanalyse mit MeBwiederholung auf einem Faktor (Manova) gepriift. Es zeigte sich ein signifikanter Haupteffekt ffir den Faktor Gruppe (F=35,32, p= 0,000) und eine signifikante Wechselwirkung zwischen Gruppe und Zeit (F=6,01 , p=0,004) . Systematische

Page 8: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

Originalien 311

Einzelvergleiche ergaben, dab es in den Gruppen B und C zu einem signifikanten Riickgang der Depressivit/it kam (t-Test Pairs: Gruppe C: t = 2,58, p = 0,015; Gruppe B: t-- 2,39, p = 0,030). In Gruppe A (fr6hliche Durchhal- ter) zeigt sich dagegen tendenzieU ein Anstieg der De- pressivit/it, die jedoch knapp das Signifikanzniveau ver- fehlt (s. Abb. 8).

Unterschiede in der Dauer der Schmerzanamnese

Die Gruppen unterschieden sich nicht signifikant in den beiden Mal3en der Schmerzanamnese: Die mittlere Dauer der akuten radikul/iren Schmerzen lag in den Gruppen A und C bei 14 Wochen, in der Gruppe B bei 10 Wochen. Die mittlere Anzahl an Jahren, in denen es in gr613eren Zeitabst/inden zu rezidivierenden Ischial- gien gekommen ist, lag bei 2,2 Jahren in Gruppe C, bei 2,8 Jahren in Gruppe A und bei 3,3 Jahren in Gruppe B.

Diskussion

Die psychologische Schmerzforschung konzentrierte sich in den vergangenen Jahren bei der Untersuchung von schmerzbezogenen Kognitionen und Verhaltensweisen ~iberwiegend auf Prozesse, die mit Angst/Depressivit/it im Erleben und Vermeidung/Passivitiit im Verhalten ein- hergehen [9, 14, 17, 22, 24]. Es wurden durchweg positive ZusammenMnge zwischen den Kognitionen Katastro- phisieren und Hilf-/Hoffnungslosigkeit, den Emotionen Angst und Depressivit/it sowie Vermeidungsverhalten als Pr/idiktoren und Mal3en der Schmerzintensitht, der em0tionalen Beeintr/ichtigung sowie Inaktivit/it nachge- wiesen. Darfiber hinaus hatte sich gezeigt, dab kogniti- yea Bewiiltigunsstrategien der Ablenkung und kogniti- yen Umstrukturierung zumindest bei experimentellem Sckmerz eine positive Wirkung zugeschrieben werden kann, da die individuelle Schmerztoleranz angehoben wurde. Therapeutische Bemfihungen bei klinischen Schmerzen zielten demzufolge in erster Linie auf eine unmittelbare Aktivitiitserh6hung, die fiber kognitive Strategien der Ablenkung und der kognitiven Umbewer- tung der Schmerzerfahrung sowie fiber eine Unterbre- chung operanter Verst/irkungsprozesse erreicht wird. Auffallend ist in den vorliegenden Evaluationsstudien, dab mit diesem Ansatz zwar die Medikamentenein- nahme verringert, die emotionale Stimmung verbessert und die Aktivitfit erh6ht werden, die Schmerzintensitfit wird jedoch nur marginal gesenkt [15, 18, 26, 27]. Die v0rliegenden Arbeiten beziehen fiberwiegend Patienten mit bereits langanhaltenden, schwer chronifizierten Schmerzen ein. Dies kann einerseits ein Grund ffir die Richtung der gefundenen Aufffilligkeiten sein, anderer- seits ffihrte es dazu, dab das Therapieziel sensu Fordyce [6] darauf beschr/inkt wurde, zu lernen, besser mit dem Sclunerz zu leben. Erste empirische Hinweise darauf, dab Kognitionen der Ablenkung und Aufmerksamkeits- umlenkung bei klinischen Schmerzproblemen im Gegen-

satz zum Laborschmerz/iugerst ungfinstig sein k6nnen, lieferte die Studie yon Rosenstiel und Keefe [20]. Die Autoren, die fiber den selbst entwickelten Coping-Stra- tegy-Questionnaire kognitive Strategien der Aufmerk- samkeitsumlenkung und kognitiven Umstrukturierung bei Patienten mit chronischen Rfickenschmerzen erfaB- ten, fanden, dab diese Formen der Schmerzbewiiltigung entgegen ihrer Erwartungen mit einer h6heren Schmerz- intensit/it sowie mit einer st/irkeren funktionellen Be- eintrfichtigung einhergingen. Eine Skala Aktivit/itserh6- hung muBte wegen zu geringer Reliabilit/it aus der Ana- lyse eliminiert werden. Die Autoren vermuteten, dab der positive Effekt kognitiver Ablenkung und Aktivithtser- h6hung auf akute Schmerzen, die in medizinischen Untersuchungs- und Behandlungssituationen auftreten (z.B. Zahnbehandlung, Schmerz w/ihrend der Opera- tion), begrenzt ist und im Umgang mit klinischem Schmerz ins Gegenteil umkehrt.

Aus der firztlichen Praxis wird h/iufig berichtet, dab Pa- tienten, die nach auBen eine depressive Stimmungslage, ein/ingstliches Vermeidungsverhalten sowie eine ausge- pr/igte Passivit/it erkennen lassen, auf MaBnahmen der Aktivit/itserh6hung mit Ablehnung oder fehlendem The- rapieerfolg reagieren. Es ist denkbar, dab in vielen F/illen sowohl /irztliche als auch psychotherapeutische Bemii- hungen das Vorhandensein von Prozessen auBer Acht lassen, die einen Therapieerfolg torpedieren. Zum einen k6nnte dies auf kognitiver Ebene das Vorhandensein sog. Durchhalteappelle sein, die bei den nach augen de- pressiv und passiv wirkenden Patienten unerkannt blei- ben. Zum anderen k6nnten Patienten, die zu ausgepr/ig- ten Durchhaltestrategien und dem Bemfihen um eine po- sitive Stimmung neigen, vom Arzt als psychisch un- aufffillig eingesch/itzt werden.

In ersten prospektiven Lfingsschnittstudien an Patienten mit akuten radikul/iren Schmerzen, in denen der ProzeB der Chronifizierung, das heigt, der Obergang vom aku- ten zum chronischen Schmerz untersucht wurde, hatte sich gezeigt, dab neben den bekannten Aspekten Angst/ Depressivitfit, Kognitionen der Hilf-/Hoffnungslosigkeit und Vermeidungsverhalten einem gegenl/iufigen Aspekt eine besondere Bedeutung ffir diesen Chronifizierungs- prozeg zukommt: Kognitionen des Durchhalteappells und Durchhaltestrategien auf der Verhaltensebene [10, 11]. Mit dem Kieler Schmerzinventar KSI [12] liegt ein Instrument vor, mit dem diese Aspekte auf kognitiver und auf Verhaltensebene im Selbsturteil zuverlfissig er- fal3t werden k6nnen.

In der vorliegenden Studie an einer Stichprobe von 111 Patienten mit akuten radikul/iren Schmerzen und Vorlie- gen eines lumbalen Bandscheibenbefundes zeigte sich nun zum einen die zahlenm/il3ige Bedeutung dieser bis- lang kaum beachteten Formen der Schmerzverarbei- tung, darfiber hinaus wurde die prospektiv ungfinstige Bedeutung ffir den Genesungsverlauf deutlich. Kognitio- nen des Durchhalteappells dominierten in ihrer indivi- duellen Auftretensh/iufigkeit eindeutig gegenfiber ande- ren schmerzbezogenen Kognitionen. Auf der Verhaltens- ebene ist ein Umkehreffekt zwischen leichten und star-

Page 9: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

312 Originalien

ken Schmerzen zu beobachten. W/ihrend im Umgang mit leichteren Schmerzen ebenfalls Durchhaltestrategien und Versuche, den Schmerz zu ignorieren, eindeutig fiberwiegen, dominieren im Umgang mit starken Schmerzen Vermeidungsverhalten und nichtverbales Ausdrucksverhalten.

Bei dem Versuch, entsprechend dem klinischen Ein- druck, Untergruppen von Patienten zu bilden, die entwe- tier keine psychologischen Risikofaktoren (Gruppe C), Depressivit/it und kognitiven Durchhalteappell als Risi- kofaktoren aufweisen (Gruppe B) oder die sich durch ausgepr/igte Durchhaltestrategien auf der Verhaltens- ebene und eine positive Stimmungslage auszeichnen (Gruppe A), zeigte sick dab anhand der vorliegenden Fragebogenverfahren Grenzwerte definiert werden konnten, anhand derer lediglich 7% der Stichprobe nicht eindeutig zuzordnen war.

Die so vor Behandlungsbeginn gebildeten Gruppen zeig- ten zu den Katamnesezeitpunkten signifikant unter- schiedliche Verl/iufe. Bei einem gleichen Ausgangsniveau in der Schmerzintensit/it (der Mittelwert lag in allen 3 Gruppen auf der 8stufigen Selbstratingsskala nahe dem Wert 5) zeigte einzig die Gruppe von Patienten ohne Risikofaktoren kurz- und langfristig eine Schmerzreduk- tion, die nahe dem Wert 0 lag. Beide Gruppen, die sich durch ein Durchhaltesyndrom auf kognitiver oder Ver- haltensebene auszeichneten, batten langfristig eine mitt- lere Schmerzintensit~it von 3. Interessant ist der Unter- schied zwischen diesen beiden Gruppen zum Zeitpunkt der Entlassung: W/ihrend die Gruppe der ,,depressiven Durchhalter" schon bei Entlassung nur eine mittlere Schmerzreduktion auf den Wert 3 zeigten, die langfristig konstant blieb, erreichte die Gruppe der ,,fr6hlichen Durchhalter" bei Entlassung, wie die Gruppe ohne Risi- kofaktoren, nahezu Schmerzfreiheit.

Dieser Befund spiegelt sehr treffend die h/iufig ge~iugerte Beobachtung des Neurochirurgen oder Orthop~iden wi- der, wonach Patienten, die sehr fr6hlich und frei von Depressivit/it wirken und eine kaum zu bremsende Akti- vit/it erkennen lassen, kurzfristig von einer Operation sehr gut profitieren, langfristig jedoch geh~iuft wieder Schmerzen /iuBern oder gar ein Rezidiv erleiden. Die vorliegende Studie zeigt sehr deutlich, dab bereits in der ersten Woche nach Entlassung, d.h. bei ersten Belastun- gen zu Hause, eine deutliche Schmerzzunahme eintritt.

Der langfristig ungfinstige Verlauf in beiden Gruppen, in denen das Durchhaltesyndrom auftritt, spiegelt sich ebenfalls in den objektiven Angaben zur Wieder- aufnahme der Arbeitsfiihigkeit und zur Friihberentung wider. In beiden Gruppen waren zum Zeitpunkt eines halben Jahres nach Entlassung signifikant weniger Pa- tienten wieder voll arbeitsf~ihig als in der Gruppe ohne psychologische Risikofaktoren, darfiber hinaus hatten zu diesem Zeitpunkt unter den ,,fr6hlichen Durchhal- tern" 8mal mehr einen Antrag auf Frfihberentung ge- stellt, in der Gruppe der ,,depressiven Durchhalter" wa- ren es 10mal mehr Patienten als unter den risikofreien Patienten.

Die Entwicklung der Depressivit~t in diesem Zeitraum zeigt, dab auch unter diesem Aspekt die ,,fr6hlichen Durchhalter" eine Risikogruppe sind. W/ihrend in den beiden anderen Gruppen langfristig das Ausmag an de- pressiver Stimmung signifikant abnahm, fand hier ten- denziell ein Anstieg start. Wichtig erscheint es somit, die Entwicklung dieser Patienten langfristig weiterzuver- folgen. M6glicherweise bestfitigt sich die These von Bh- mer und Heilbronn [2], dab Patienten, die pr/imorbid noch ausgesprochene Arbeitswut und positive Stimmung zeigen, mit den anhaltenden Schmerzen allmfihlich eine depressive Stimmung und zunehmendes Vermeidungs- verhalten entwickeln, Prozesse, die sie langfristig in die Passivit~t und Immobilitfit hineinffihren.

Bislang empirisch noch nicht fiberprfift sind Hypothesen fiber schmerzverst/irkende psychophysiologische Pro- zesse. Die Patienten der Gruppe A (Durchhaltestrategien auf der Verhaltensebene bei positiver Stimmung) zeigten in keiner der anderen psychologischen Merkmale posi- tive aufffillige Abweichungen von der risikofreien Gruppe. Signifikante Abweichungen waren ausschlieB- lich in negativer Richtung zu finden: Gruppe A wies einen signifikant geringeren Depressivit~ts-Score im BDI auf, signifikant weniger Vermeidungsverhalten, nicht- verbales Ausdrucksverhalten sowie weniger Kognitionen der Hilf-/Hoffnungslosigkeit als Gruppe C. Somit ver. muten wit, dab es in dieser Gruppe in erster Linie fiber biomechanische Belastungen (z.B. ungfinstige, einseitige K6rperhaltungen), die aufgrund der ausgeprfigten Nei- gung zu Durchhaltestrategien zu langanhaltend einge- nommen werden, fiber eine damit einhergehende musku- l fire Anspannung sowie einseitige Belastung der Band. scheiben zur Schmerzverstfirkung kommt.

In der Gruppe B (Patienten mit erh6hter depressiver Stimmungslage und ausgepr/igtem Durchhalteappell auf der kognitiven Ebene) waren auger diesen Klassifizie- rungsvariablen die bisher bei chronischen Schmerzpa- tienten bekannten Faktoren Vermeidungsverhalten, nichtverbales Schmerzverhalten, Kognitionen der Hill-/ Hoffnungslosigkeit sowie chronisch anhaltende Bela- stungen im Alltag ebenfalls sehr ausgeprfigt vorhanden. Wir vermuten, dab in dieser Gruppe Gedanken im Sinne des Durchhalteappells auf rein kognitivem Weg zu einer verst/irkten muskul/iren Anspannung ffihren, die selbst dann eine Entspannung unm6glich machen, wenn der Patient sich zur Ruhe legt und damit eine biomechanisch entlastende K6rperhaltung einnimmt. Dieser ProzeB wird m6glicherweise durch andere psychophysiologische Prozesse (u.a. Streg-Muskelspannung-Schmerz-Kreis- lauf) sowie operante Verst/irkungsmechanismen ergiinzt, die bereits an anderer Stelle ausffihrlich beschrieben wur- den [11].

Die Ergebnisse zeigen einige Implikationen sowohl fiir die psychologische als auch ffir die iirztliche Therapie von Patienten mit chronischen Rfickenschmerzen auf. Ffir die in der kognitiven Schmerztherapie fiberwiegend angewandten Verfahren der Ablenkung und kognitiven Umstrukturierung besteht zumindest bei Patienten, die in erh6htem MaB zu Durchhalteappellen bzw. zu Durcb

Page 10: Durchhaltestrategien—ein in Schmerzforschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?

Or ig ina l i en 313

haltestrategien im Verhalten neigen, die Wahrschein- lichkeit, dab diese in ihren individuellen ungiinstigen Formen der Schmerzverarbeitung noch verst/irkt wer- den. Unter der Vermutung, dab diese Verfahren prim/ir bei bereits chronifizierten Patienten zur Anwendung k0mmen, die eine depressive Stimmungslage, Vermei- dungsverhalten aber dennoch kognitive Appelle zum Zfihne zusammenbeil3en und Durchhalten aufweisen, ist durchaus zu erwarten, dab auf diesem Weg die emotio- nale Stimmung gebessert sowie die Aktivit/it in MaSen gesteigert werden kann. Solange diese kognitiven Funk- ti0nen jedoch nicht wirksam ver/indert werden, ist nicht zu erwarten, dab muskul/ire Spannung und Schmerzin- tensit/it spiirbar gesenkt werden bzw. dab ein Training muskul/irer Entspannung vom Patienten im Alltag wir- kungsvoll umgesetzt werden kann. Dies gilt in gleichem MaB f/Jr die/irztliche Schmerztherapie, wenn sie auf eine unmittelbare Erh6hung der Aktivit/it der Patienten ab- zielt. Patienten, die sich mit zusammengebissenen Z/ih- nen und innerem Appell zum Durchhalten zur physika- lischen Therapie zwingen, werden m6glicherweise ge- h~uft eine massive Schmerzverst/irkung erleben. Ihr wiederholt ge/iuBerter Wunsch nach Massagen spiegelt das ungestillte Bedfirfnis nach Entspannung wider, was ihnen erst dann m6glich wird, wenn sic lernen, ihre kog- nitiven Barrieren abzubauen. Nicht gekl/irt ist bislang, 0b die in der vorliegenden Studie beschriebenen Formen der Schmerzverarbeitung spezifisch fiir Patienten mit wirbels/iulenbedingten Riickenschmerzen sind oder ob sie sich auch bei Patienten mit anderen Schmerzlokalisa- tionen finden lassen.

Literatur

1. Beck AT, Ward CH, Mendelson M, Mock J, Erbaugh J (1961) An inventory for measuring depression. Arch Gen Psychiatry 4:561

2. Blumer D, Heilbronn M (1982) Chronic pain as a variant of depressive disease. J Nerv Ment Dis 170:381

3. DeGood DE, Shutty MS (1992) Assessment of pain beliefs, coping and self-efficacy. In: Turk DC, Melzack R (eds) Hand- book of pain assessment. The Guilford Press, New York, p 214

4. Fernandez E, Turk DC (1989) The utility of cognitive coping strategies for altering pain perception: a meta-analysis. Pain 38:123

5. Fordyce WE (1976) Behavioral methods for chronic pain and illness. Mosby, St. Louis

6. Fordyce WE (1985) The behavioral management of chronic pain: a response to critics. Pain 22:113

7. Fordyce WE, Fowler E, Lehmann J, DeLateur B, Sand P, Treischmann R (1973) Operant conditioning in the treatment 0fchronic pain. Arch Phys Med Rehab 54:399

8. Geissner E, Jungnitsch G (1992) Psychologic des Schmerzes. Psychologie Verlags Union, Weinheim

9. Gentry WD, Bernal G (1977) Chronic pain. In: Williams R, Gentry WD (eds) Behavioral approaches to medical treatment. Ballinger, Cambridge/Mass, p 173

10. Hasenbring M (1988) Psychological predictors of therapy out- come in chronic low back pain patients. In: Bischoff C, Traue H, Zenz H (eds) Clinical perspectives on headache and low back pain. Hogrefe & Huber Publishers, Toronto, p 135

11. Hasenbring M (1992) Chronifizierung bandscheibenbedingter Schmerzen. Schattauer, Stuttgart

12. Hasenbring M (1993) Das Kieler Schmerz-Inventar KSI. Huber Verlag, Bern (im Druck)

13. Kammer D (1983) Eine Untersuchung der psychometrischen Eigenschaften des deutschen Depressionsinventars (BDI). Dia- gnostika 29: 48

14. Keefe FJ, Gil KM (1986) Behavioral concepts in the analysis of chronic pain syndromes. J Consult Clin Psychol 54: 776

15. Kerns RD, Turk DC, Holzman AD, Rudy TE (1986) Compari- sion of cognitive-behavioral and behavioral approaches to the outpatient treatment of chronic pain. Clin J Pain 1:195

16. K/itemeyer M (1979) Psychosomatische Aspekte bei Patienten mit Lumbago-Ischias-Syndrom. Verh Dtsch Ges Inn Med 85 : 1384

17. Lefrebvre MF (1981) Cognitive distortion and cognitive errors in depressed psychiatric and low back pain patients. J Consult Clin Psychol 49:517

18. Nicholas MK, Wilson PH, Goyen J (1992) Comparision of cognitive-behavioral group treatment and an alternative non- psychological treatment for chronic low back pain. Pain 48 : 339

19. Puder RS (1988) Age analysis of cognitive-behavioral group therapy for chronic pain outpatients. Psychol Aging 3 : 204

20. Rosenstiel AK, Keefe FJ (1983) The use of coping strategies in chronic low back pain patients: relationship to patient cha- racteristics and current adjustment. Pain 17:33

21. Turk DC, Meichenbaum D, Genest M (1983) Pain and beha- vioral medicine. The Guilford Press, New York

22. Turk DC, Flor H (1984) Etiological theories and treatment for chronic back pain. II. Psychological models and interven- tions. Pain 19:209

23. Turk DC, Rudy ThE (1986) Assessment of cognitive factors in chronic pain: a worthwile enterprise? J Consult Clin Psychol 54: 760

24. Turner JA, Clancy S (1986) Strategies for coping with chronic low back pain: relationship to pain and disability. Pain 24:355

25. Turner JA, Clancy (1988) Comparision of operant behavioral and cognitive-behavioral group treatment for chronic low back pain. J Consult Clin Psychol 56:261

26. Turner JA, Jensen MP (1993) Efficacy of cognitive therapy for chronic low back pain. Pain 52:169

27. Turner JA, Clancy S, McQuade KJ, Cardenas DD (1990) The effectiveness of behavioral therapy for chronic low back pain: a component analysis. J Consult Clin Psychol 58 : 573

28. Weickgenant AL, Slater MA, Patterson TL, Hampton Atkin- son J, Grant I, Garfin SR (1993) Coping activities in chronic low back pain: relationsship with depression. Pain 53 : 95

Priv.-Doz. Dr. M. Hasenbring Institut fiir Medizinische Psychologie Universit/itsklinik Kiel Niemannsweg 147 D-24105 Kiel