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dx, dy dx, dy

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dx, dy � aus Geschichte und Gegenwart

der In�nitesimalien

Thomas Bedürftig

Geschichtsschreibung ist rückwärtsgewandte Prophetie.1

frei nach Friedrich Schlegel

Zusammenfassung. Der Text beginnt mit einem knappen Blick auf die Anfänge der In�nite-

simalien im 17. Jahrhundert und der Frage, ob In�nitesimales bei Leibniz bloÿe Fiktion war.

Im zweiten Abschnitt verfolgen wir das Schicksal des unendlich Kleinen ins 19. Jahrhundert,

entdecken, wie der sich abzeichnende Grenzwertbegri� aus dem In�nitesimalen hervorgeht und

die Grenzwerte die In�nitesimalien schlieÿlich verdrängen. Die Rückkehr der In�nitesimalien im

20. Jahrhundert und ihre Wirkung auf grundlegende Vorstellungen in Mathematik, Didaktik und

Methodik sind Gegenstand eines längeren Abschnitts 3. Wir schildern, woher das In�nitesimale

mathematisch zurückkommt und wie das geschieht, entdecken unendlich Kleines in der Schule

und notieren Beispiele aus der ersten In�nitesimalrechnung � im Sinne des Wortes.

Einleitung

Da Zurückschauen in die Geschichte oft so heikel ist, wie die Zukunft vorherzusagen, habeich diesem Text ein Motto vorangestellt. Es erspart mir dort, wo ich aus der Geschichteder Mathematik berichte, umständlich im Konjunktiv zu sprechen. Es mahnt zugleich,gründlich zu forschen und gewissenhaft zu interpretieren.

In�nitesimalien tauchen in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf und stammen von Pascal,Newton und Leibniz. Ihr historischer Gebrauch geht vor allem auf Leibniz zurück. Anihn halten wir uns. Heute begegnen uns In�nitesimalien in der elementaren Analysisgewöhnlich nur noch als Schreib�guren wie dx, dy, die keine eigenständige Bedeutunghaben.

�In�nitesimal� bedeutet �unendlich klein�. Diese Auskunft über die alten In�nitesimalienaber reicht nicht. Ist das In�nitesimale �das Kleinste�? In der Geschichte der Mathematikund Philosophie ging es in der Tat, wenn es um unendlich Kleines ging, um �das Kleinste�,um Atomares � bis Leibniz und Newton kamen. Mit den In�nitesimalien trat etwas Neues,nie da Gewesenes auf:

In�nitesimalien sind unendlich klein, aber nicht atomar oder, wie es in der Scholastikhieÿ, indivisibel. Sie sind weder Atome noch Punkte.

In�nitesimalien sind Strecken wie gewöhnliche Strecken und Gröÿen wie gewöhnlicheGröÿen, also teilbar wie andere Kontinua, nur unendlich klein.

1�Der Historiker ist ein rückwärtsgekehrter Prophet.� Athenaeum I (1798)

1

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1 DER ANFANG: LEIBNIZ' INFINITESIMALIEN 2

Leibniz widerspricht Aristoteles, der unendlich Kleines und unendlich Groÿes nicht zulieÿ,und bestätigt seine Au�assung des Kontinuums. Er vertieft das geometrische Kontinu-um um das In�nitesimale und erweitert die alte aristotelische Anschauung (s. Bedürf-tig/Murawski (2017)).

1 Der Anfang: Leibniz' In�nitesimalien

�Man muÿ aber wissen, daÿ eine Linie nicht aus Punkten zusammengesetztist, auch eine Fläche nicht aus Linien, ein Körper nicht aus Flächen, sonderneine Linie aus Linienstückchen (ex lineolis), eine Fläche aus Flächenstückchen,ein Körper aus Körperchen, die unendlich klein sind (ex corpusculis inde�niteparvis). (Mathematische Schriften Bd. 7, S. 273)

Zuerst begründet dieses Zitat, was wir oben schon zur Klärung des Begri�s �in�nitesi-mal� bei Leibniz gesagt haben. Was aber sind diese �unendlich kleinen Strecken� und�in�nitesimalen Gröÿen�. Gibt es sie? Oder sind sie Einbildungen?

Sind In�nitesimalien Fiktionen?

Leibniz selbst hat von �Fiktionen� gesprochen (�quantitates �ctitiae�, s. Knobloch (2016),S. 36 u. S. 128). Die Bedeutung des lateinischen ��ctio� ist weit. Sie reicht von

�Vorstellung� und �gedankliche Gestalt� bis

�Phantasie� und �Unsinn�.

Heute interpretiert man �Fiktion� gern negativ und legt die In�nitesimalien als histo-rische Verirrung beiseite. In diesem negativen Sinne � von Fiktionen als Erdichtungenirrealer, unsinniger oder gar falscher (�ctae) Gebilde � darf und kann man bei Leibniznicht sprechen.

Leibniz dachte so:

�Man kann somit die unendlichen und die unendlich kleinen Linien � auchwenn man sie nicht in metaphysischer Strenge und als reelle Dinge zugibt �doch unbedenklich als ideale Begri�e2 brauchen, durch welche die Rechnungabgekürzt wird, ähnlich den imaginären Wurzeln in der gewöhnlichen Analy-sis.� (Zitiert nach Becker (1954), S. 165 �.)

In�nitesimalien bei Leibniz sind, so meine ich, neue Idealisierungen in der alten Weltder idealen geometrischen Kontinua. Sie bringen eine neue qualitative Dimension in dieAu�assung des Kontinuums, die die rein quantitative Erfassung durch endliche Gröÿenoder Zahlen erweitert.

Wir wollen diese Interpretation weiter stützen und blicken auf die �Ur-In�nitesimalien�im alten charakteristischen Dreieck.

2Hervorhebung durch mich

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1 DER ANFANG: LEIBNIZ' INFINITESIMALIEN 3

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�������

f

xu

t y

dx

dyds

dx

x+dx

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Abbildung: Charakteristisches Dreieck bei Leibniz

Das Dreieck in dieser Abbildung scheint zuerst wie eine Täuschung zu sein. Denn In�-nitesimalien kann man nicht sehen. Sie sind unendlich klein und keine wirklich �reellenDinge�. Wir nehmen eine Lupe mit unendlichfacher Vergröÿerung zur Hilfe:

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x+dx

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Abbildung: Charakteristisches Dreieck bei Leibniz

Ist nicht diese gedachte Lupe jetzt Fiktion, Phantasie oder Dichtung? Ja und nein. Inseinem Aufsatz �Über die Technik der in�niten Vergröÿerung und ihre mathematischeRechtfertigung� hat Karl Kuhlemann (Kuhlemann 2017) gezeigt, dass die �Unendlich-keitslupe� mehr ist. Er beweist, dass die in�nite Vergröÿerung für die Graphen stetigdi�erenzierbarer Funktionen, wie sie in der Schule vorkommen, eine mathematisch legiti-me Technik ist. Vielleicht kann man es so sagen: Man kann und darf das In�nitesimale,das Gedankliches und Ideales ist, veranschaulichen. Leibniz hat dies intuitiv getan.

Die In�nitesimalien ds, dx sind, auch wenn man sie im eigentlichen Sinne nicht �als reelleDinge zugibt�, nicht nichts. Davon ist Leibniz überzeugt. Sie haben für Leibniz eine gewisseExistenz:

�Dennoch aber werden die ds und dx nicht im absoluten Sinne Nichts` sein,

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1 DER ANFANG: LEIBNIZ' INFINITESIMALIEN 4

da sie zueinander stets das Verhältnis von t : u bewahren, [. . . ].�3

In�nitesimalien stehen in Verhältnissen zueinander und werden Elemente des Rechnens.An anderer Stelle heiÿt es:

�Gegeben sind auch unbestimmbare Gröÿen, und zwar unendlich klein und in�-nitesimal (Dantur et quantitates inassignabiles . . . )�. (Leibniz, MathematischeSchriften Bd. 7, S. 68)

Leibniz spricht einmal vom �Licht�, das er in dem charakteristischen Dreieck sah. Erentdeckte In�nitesimalien während seines Paris-Aufenthalts in einem nachgelassenen Ma-nuskript Pascals, in dem es um den Viertelkreis ging. Es waren, so meine ich, zwei Lichter.Das eine ist die Idee der Verallgemeinerung des charakteristischen Dreiecks vom Viertel-kreis auf beliebige Kurven, so, wie sie schon oben in den Abbildungen angewendet ist.Das andere Licht ist das Licht der Existenz.

Wir können es so sehen:

Das charakteristische Dreieck ist zwar unendlich klein. Im Endlichen aber spiegelt essich wieder. Die Verhältnisse der unendlich kleinen Seiten zu den endlichen Seitenbilden eine Brücke zwischen der Realität der endlichen Gröÿen und den In�nitesi-malien.

Diese Brücke ist der Hinweis auf eine �Realität� der In�nitesimalien � nicht nur eineArt �formalistischer� Existenz, die aus ihrer �Konsistenz� im Rechnen kommt. Es ist eine�anschauliche Existenz�.

Den geometrischen Aspekt der In�nitesimalien �nden wir auch deutlich in den historischenPostulaten von Bernoulli 1691, die er in einem Entwurf eines Lehrbuches formuliert hat(s. Schafheitlin (1924), S. 11).

Postulat 1.Eine Gröÿe, die vermindert oder vermehrt wird um eine unendlich kleinereGröÿe, wird weder vermindert noch vermehrt.

Postulat 2.Jede krumme Linie besteht aus unendlich vielen Strecken, die selbst unendlichklein sind.

Postulat 3.Eine Figur, die durch zwei Ordinaten, der unendlich kleinen Di�erenz derAbszissen und dem unendlich kleinen Stück einer beliebigen Kurve begrenztist, wird als Parallelogramm betrachtet.

Etwas eigenartig für heutige Ohren ist das �unlogische� Postulat 1 � und war es auch fürmanche damaligen. Es war Anlass für heftige philosophische Kritik bis zur Verspottung,die zwei Jahrhunderte andauerte.

Gegen alle Kritik, gerade auch, denke ich, durch die Kraft ihrer anschaulich-arithmetischenExistenz, setzten die In�nitesimalien sich durch. Sie übten eine groÿe Faszination aufdie Mathematiker des 17. und 18. Jahrhunderts aus. Nicht zuletzt ihre anschaulich-geometrische Bedeutung spielte eine wesentliche Rolle beim Siegeszug der In�nitesimalien.Wir fassen zusammen:

3Bezeichnungen aus den Zeichnungen für die originalen Bezeichnungen eingesetzt, zitiert nach Becker(1964), S. 163).

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2 DAS ENDE DER INFINITESIMALIEN. 5

• Nicht nur das Funktionieren, auch die (nur verborgene) Anschauung und Existenzhatten Ein�uss auf die Erfolgsgeschichte der In�nitesimalien.

Diese Erfolgsgeschichte ging im Jahr 1872 zuende. In diesem Jahr, das Jahr der Konstruk-tion der reellen Zahlen, kam das Aus � gründlich. So gründlich, dass die In�nitesimalienals mathematische Elemente verschwanden. Sie wurden mathematisch gelöscht und geltenheute für viele als Zeugen einer mathematisch �nsteren Vergangenheit. In einem Lehrbuchder Analysis lesen wir:

�[. . . ] heute kann man kaum glauben, dass unendlich kleine Gröÿen bis in dieZeit von Cauchy und Weierstraÿ, also bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts,zum Handwerkszeug der Mathematiker gehörten. Sie sollten [. . . ] niemals (!)4

die Ausdrücke dy und dx als eigenständige Gröÿen verwenden.� (Behrends(2003), S. 237)

Wir kommentieren das nicht, sondern verfolgen die Spur der In�nitesimalien weiter. Wiekam es, dass die In�nitesimalien eines Tages verschwanden?

2 Das Ende der In�nitesimalien.

Wer oder was hat die In�nitesimalien entfernt? Es waren die Grenzwerte. Wo kommendie Grenzwerte her?

An vielen Stellen erläutert Leibniz die In�nitesimalien als variable, �beliebig klein� wer-dende Gröÿen. Das erinnert ein wenig an die Grenzwert-Propädeutik, die heute für denMathematikunterricht empfohlen wird. Genauer, erstaunlich genau, sagt es Leibniz 1701so:

�Denn anstelle des Unendlichen oder des unendlich Kleinen nimmt man sogroÿe oder so kleine Gröÿen wie nötig ist, damit der Fehler geringer sei als dergegebene Fehler, [. . . ] .� (Zitiert nach Jahnke (1999), S. 125)

Ist das nicht bereits die berühmte Finitisierung des 19. Jahrhundert, die das In�niteder In�nitesimalien �nit erübrigt? Was Leibniz hier sagt, ist in der Tat leicht in unsereε, δ-Grenzwerte zu übersetzen:

�Denn anstelle des Unendlichen oder des unendlich Kleinen nimmt man sogroÿe oder so kleine Gröÿen, wie nötig ist (< δ), damit der Fehler geringer sei,als der gegebene Fehler (< ε), [. . . ] .�

1676 schon hatte Leibniz in De Quadratura (Knobloch (2016)) ganz Ähnliches gesagt �150 Jahre vor Cauchy.

Die Finitisierung wird oft als eine Art Rettung gesehen, die die Analysis nach Jahrhunder-ten fehlender Strenge im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wieder auf feste Füÿe stellteund die philosophische Kritik verstummen lieÿ. Als Thomas Sonar die Formulierung inDe Quadratura las, geriet er ins Schwärmen:

�Man stelle sich vor, das Werk wäre damals publiziert worden. Dann wären den Ma-thematikern einige Jahrhunderte des Arbeitens auf unsicherem Untergrund erspartgeblieben.� (Sonar (2016), S. 65)

4(!) im Original

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2 DAS ENDE DER INFINITESIMALIEN. 6

Ist das wahr?

Wir schauen uns zwei späte Stationen der Grenzwerte in den nicht ersparten Jahrhunder-ten an: Formulierungen von Cauchy und Weierstraÿ. Cauchy gilt in der Regel als Vaterder sogenannten Finitisierung des In�nitesimalen durch den Grenzwert. Bei ihm entdecktman die ε, δ-Formulierung der Stetigkeit. Cauchy 1821:

�Unter dieser Voraussetzung ist die Funktion f(x) zwischen den festgesetztenbeiden Grenzen der Veränderlichen x eine stetige Funktion dieser Veränderli-chen, wenn für jeden zwischen diesen Grenzen gelegenen Wert x der numeri-sche Wert der Di�erenz f(x + α) − f(x) mit α zugleich so abnimmt, dass erkleiner wird als jede endliche Zahl. Mit anderen Worten: Die Funktion f(x)wird zwischen den gegebenen Grenzen stetig in Bezug auf x sein, wenn zwi-schen diesen Grenzen ein unendlich kleiner Zuwachs der Veränderlichen stetseinen unendlich kleinen Zuwachs der Funktion bewirkt.�5 (Zitiert nach Jahnke(1999), S. 196)

Was sehen wir deutlich? Grenzwert und In�nitesimales in trauter Eintracht. Die Grenz-wertvorstellung erläutert das unendlich Kleine. Das unendlich Kleine verkörpert denGrenzwert. Das eine ist das andere, nur in �anderen Worten�.

40 Jahre später, 1861, 11 Jahre vor den reellen Zahlen, formuliert Weierstraÿ so:

�Ist f(x) eine Funktion von x und x ein bestimmter Wert, so wird sich dieFunktion, wenn x in x+h übergeht, in f(x+h) verändern; die Di�erenz f(x)−f(x + h) nennt man die Veränderung, welche die Funktion dadurch erfährt,dass das Argument von x in x + h übergeht. Ist es nun möglich, für h eineGrenze δ zu bestimmen, so daÿ für alle Werte von h, welche ihrem absolutenBetrag nach kleiner als δ sind, f(x+h)−f(x) kleiner werde als irgendeine nochso kleine Gröÿe ε, so sagt man, dass dieselbe eine continuierliche Funktion seivom Argument [. . . ] .�

Das ist perfekt und entspricht unserer gewohnten ε, δ-Formulierung ganz.

Aber Achtung ! Ich habe etwas unterschlagen. Das Zitat eben ist nur ein Torso des Origi-nals. Was sagte Weierstraÿ 1861 wirklich? Ich zitiere erneut und vollständig � nach dem1. Satz oben beginnend:

�[. . . ] Ist es nun möglich, für h eine Grenze δ zu bestimmen, so daÿ für alle Wer-te von h, welche ihrem absoluten Betrag nach kleiner als δ sind, f(x+h)−f(x)kleiner werde als irgendeine noch so kleine Gröÿe ε, so sagt man,

es entsprechen unendlich kleinen Änderungen des Arguments unendlich kleineÄnderungen der Funktion. Denn man sagt, wenn der absolute Betrag einerGröÿe kleiner werden kann als irgendeine beliebig angenommene noch so kleineGröÿe, sie kann unendlich klein werden. Wenn nun eine Funktion so bescha�enist, daÿ unendlich kleine Änderungen des Arguments unendlich kleine Ände-rungen der Funktion entsprechen, so sagt man,

dass dieselbe eine continuierliche Funktion sei [. . . ] .�6 (Zitiert nach Jahnke(1999), S. 236)

Diese Formulierung gewinnt gegenüber Cauchy an Formalität. Aber es ist 1861 gedanklich

5Hervorhebungen durch mich6Hervorhebungen und Strukturierung durch mich

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und sprachlich wie zuvor � wie bei Leibniz 1701 und bei Cauchy 1821: Die ε, δ-Vorstellungbeschreibt das unendlich Kleine � und umgekehrt. Man sagte Grenzwert und dachte In-�nitesimalien � und vice versa. Vorstellungen, die wir heute klar unterscheiden, gehörtenzusammen.

Die Zitate lassen, wenn wir genauer hinschauen, folgendes vermuten:

• Man sagte

� �kleiner als irgendeine noch so kleine Gröÿe ε� (Weierstraÿ), oder

� �kleiner als jede endliche Zahl ε� (Cauchy)

• und dachte

� �kleiner als alle ε�.

Wenn wir von heute, aktualisierend, darauf blicken, erkennen wir in der letzten Formu-lierung die De�nition von �in�nitesimal�:

� α ist unendlich klein, wenn ∀ε (α < ε).

Was war damals o�enbar noch ganz anders als heute? Die mathematische Sprache war�nur� eine präzisere Umgangssprache. Man dachte dialogisch, nicht logisch. Die mathe-matische Logik, deren Elemente erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen, die ma-thematischen Formulierungen zu strukturieren, gab es nicht. Heute sind sie Alltag. Kurz:Die logische Struktur in den Formulierungen war damals weniger di�erenziert. In unseremBeispiel: Die Vorstellung des Vorgebens von Elementen war nicht klar unterschieden vonder Vorstellung des Vorgegebenseins �der Elemente�. Aus heutiger Sicht: Formulierungenüber In�nitesimalien und Formulierungen über Grenzwerte gingen notwendig ineinanderüber.

Formalisiert, nach heutigem Standard, sieht Weierstraÿ' Stetigkeit so aus:

∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀h (|h| < δ ⇒ |f(x+ h)− f(x)| < ε).

Wenn wir hier wieder genau hinsehen, wird deutlich, dass neben der klaren logischenStruktur in den alten Formulierungen noch weiteres, Entscheidendes fehlte.

Betrachten wir die Quantoren ∀ε, ∀h. Was kann �∀ε� bedeuten, woher kommen �alle� h?Worüber erstreckt sich der Quantor ∀, würden wir heute sagen. Dies ist die Frage nachklar umrissenen De�nitions- und Wertebereichen. Das Problem war, sie waren unendlich �und damals gerade dadurch nicht klar bestimmt. Unendlichkeit war potentiell und o�en,unendliche Bereiche von Gröÿen waren nicht abgegrenzt. Sie waren unbegrenzt und stetigwie die geometrische Gerade. Das musste sich ändern:

• Die Finitisierung wartete auf die in�niten Mengen.

Die lieÿen nicht lange auf sich warten.

Wir skizzieren die jetzt folgenden Etappen in knappen Sätzen:

• Cantor führte die unendlichen Mengen ein.

• Die reellen Zahlen wurden 1872 konstruiert.

� Die reellen Zahlen wurden in die geometrische Gerade projiziert.

� Die reellen Punkte auf der Geraden wurden zu den Punkten der Geraden erklärt.

• Die Zahlengerade war erfunden.

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2 DAS ENDE DER INFINITESIMALIEN. 8

Das war das Ende der In�nitesimalien. Denn neben den reellen Zahlen war auf der Zah-lengeraden kein Platz.

• Die In�nitesimalien �elen buchstäblich aus dem Kontinuum heraus.

Sie waren plötzlich Fremdkörper, die weg mussten. Cantor schreibt im Jahr 1893 an GiulioVivanti über die In�nitesimalien als

�[. . . ] papierne Gröÿen, die gar keine andere Existenz haben als auf dem Pa-piere ihrer Entdecker und Anhänger�

und vom In�nitesimalen als dem

�in�nitären Cholera-Bazillus der Mathematik�. (Zitiert nach Meschkowski (1966),S. 506)

Der letzte Angri� spricht für sich. Wenn man an den mathematischen Platonisten Cantordenkt, ist die erste Formulierung nicht weniger vernichtend. Seine unendlichen Mengenwaren nicht papiern, für ihn waren sie Elemente einer realen Welt realer Ideen. Leibniz,Newton und alle ihre Schüler werden zu Nominalisten gestempelt. Man realisiere dieSituation: Was Cantor seinen unendlichen Mengen, die man keineswegs als �reelle Dingezugeben� muss, platonistisch zuschrieb, spricht er den In�nitesimalien ab.

Cantors Haltung gewann die mathematische Oberhand: Heute sind dx, dy aus dem Fun-dament der Analysis verschwunden und stehen als reine Schreib�guren nur noch auf demPapier.

Was musste nicht alles passieren auf dem Weg von Leibniz' In�nitesimalien bis zu denGrenzwerten. Es geschahen Dinge, die 1701 und noch lange danach undenkbar waren.Wir geben wieder nur Stichworte:

� Die mathematische Sprache musste mathematisch-logisch werden.

� Mengen mussten unendlich und

Funktionen in�nite Wertetabellen werden.

� Der Zählprozess 1, 2, 3, 4, 5 . . . musste stillstehen. Er �kristallisierte� zur statischenMenge N = {1, 2, 3, 4, 5 . . .}.

� Rationale Zahlen wurden Mengen von Paaren natürlicher Zahlen.

Die Wirkung war:

� Folgen wurden Mengen.

� Die reellen Zahlen R wurde als Menge von Mengen (Klassen) von Mengen (Folgen)von Mengen (von Paaren natürlicher Zahlen) konstruiert.

� Sie wurden die lang gesuchten Zahlen, gegen die � als �Grenzwerte� � unendlicheFolgen konvergierten.

� Die Gerade wurde zur Punktmenge.

� Die anschaulich-geometrische Vollständigkeit wurde mengentheoretisiert.

Es war ein langer Weg � und eine Revolution im mathematischen Denken.

Wir betonen: Die Grenzwerte haben ihren �sicheren Untergrund� erst in den reellen Zah-len gefunden. Bis dahin hatte es zwei volle, mathematisch turbulente, Jahrhunderte ge-

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3 DIE RÜCKKEHR DER INFINITESIMALIEN 9

braucht.

Was hatte Thomas Sonar oben über Leibniz' grenzwertartige Formulierung gesagt?

�Man stelle sich vor, das Werk wäre damals publiziert worden. Dann wären denMathematikern einige Jahrhunderte des Arbeitens auf unsicherem Untergrunderspart geblieben.�

Eine solche Aussage kann man nur machen, wenn man eine komplette Revolution über-geht. Sie ist ein klassisches Beispiel �rückwärtsgewandter Prophetie�, die auch und beson-ders in einem populärwissenschaftlichen Artikel nicht erlaubt ist. Einen anderen Kommen-tar dazu lesen wir bereits im Jahr 2009. Herbert Breger hat ihn freundlich so geschrieben(Breger (2009), S. 134):

�Was seine [Leibniz'] Di�erential- und Integralrechnung anlangt, so kann manihr nicht gerecht werden, wenn man sie mit der Brille der Mathematik derzweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachtet.�

3 Die Rückkehr der In�nitesimalien

Die In�nitesimalien waren mathematisch verschollen. Im �mathematischen Untergrund�aber � unter Laien, in Medien, bei Schülern, in der Physik und bei Physikern � waren sieweiter präsent. Wir werfen einen Blick in die Schule.

3.1 In�nitesimales in der Schule

In der Schule scheinen die Grenzwerte nur geringe Chancen zu haben, wie die folgendenZahlen aus einer Studie aus dem Jahr 2011 (Bauer (2011)) belegen. Es geht darin umden wohl einfachsten Grenzwert 1 und die nach der Nullfolge ( 1

n) vielleicht berühmte-

ste Folge 0, 999 . . .. Die Frage an 256 Gymnasiasten aus den Klassen 7 bis 12 und 50Mathematikstudierende (nach dem 3. Semester) war, ob

a) 0, 999 . . . < 1 oder b) 0, 999 . . . = 1

ist. So �el die Abstimmung an bayerischen Gymnasien aus:

72,2% 31,6 % 3,1 % 4,3 %a) 0, 999 . . . < 1 b) 0, 999 . . . = 1 Enthaltung ungültig

1− 0, 999 . . . unendlich klein 1− 0, 999 . . . = 0

Die erste Spalte zeigt bei Schülerinnen und Schülern, tendentiell In�nitesimales zu denken,die zweite weist auf die Grenzwertvorstellung hin.

Sieht man sich die Begründungen für b) an, so sind die 31, 6% zu hoch gegri�en. Dennes handelt sich in sehr vielen Fällen um keine wirkliche Entscheidung: �Haben wir malgelernt� ist der Kommentar, der keine Begründung ist. Andere Argumente für die Ent-scheidung für b) sind zum Beispiel

� �Weil es fast schon 1 ist.�

� �0, 999 . . . = 1 weil die Zahl, die fehlt, so unendlich klein ist.�

und begründen eigentlich a). Wir bemerken die �unendlich kleine Zahl� 1 − 0, 999 . . . inder letzten Begründung.

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3 DIE RÜCKKEHR DER INFINITESIMALIEN 10

Andere Argumentationen, z.B. gelernte Beweise über 13= 0, 333 . . ., sind Scheinargumen-

tationen. Denn sie setzen voraus, was genauso wenig geklärt ist. Die Gegenfrage nämlichwäre, warum nicht 0, 333 . . . < 1

3ist (s. Bedürftig/Murawski (2015), A 2).

Schlagend für a) 0, 999 . . . < 1 ist das Argument

� 0, 999 . . . ist kein Ganzes,

das abgewandelt oft auftritt. Da ist jede mathematische Gegenargumentation über Grenz-werte sinn- und machtlos. Grenzwerte werden von Folgen schlicht nicht erreicht, selbst indiesem einfachsten Fall, wo der Grenzwert 1 vor den Füÿen liegt. Unendliche Folgen sind� nicht nur für Schüler � �kein Ganzes�, sondern potentiell unendlich.

Ebenso oft tritt die Vorstellung des In�nitesimalen für die Begründung von a) auf � hierexplizit:

� �Weil es fehlt der Zahl 0, 99999999 . . . die Zahl 0, 00000000000..1 um genau 1 zusein.�

Man beachte die in�nitesimale Zahl 0, 00000000000..1.

Selbst bei Studierenden der Mathematik nach dem 3. Semester, die befragt wurden, istdas Ergebnis ernüchternd:

a) 0, 999 . . . < 1 b) 0, 999 . . . = 1 Enthaltung ungültig50% 50% 0% 0%

Die Grenzwerte in den Vorlesungen Analysis I und II scheinen wenig eindrücklich gewesenzu sein. Die Begründungen der Studenten für ihre Entscheidungen für a) und b) ähnelndenen der Schüler.

Das unendlich Kleine ist den Schülerinnen und Schülern anschaulich und arithmetischnicht fremd. Erfahrungen im Unterricht mit In�nitesimalien bestätigen das (Dörr (2017),Baumann/Kirski (2016)). Dagegen haben 90 Jahre Grenzwerte und Analysis in der Schuleund ebenso viele Jahre Didaktik der Analysis o�enbar wenig voran gebracht. Das Unend-liche der Folgen, das Stetige des Strebens von Werten scheint für Schüler ein o�enerProzess zu bleiben, die Kluft zum Grenzwert tief. Man denke an den langen Weg von derursprünglichen Intuition der In�nitesimalien zu den formalen Grenzwerten. Grenzwertesind der Intuition o�enbar so fern, dass selbst ihr Mathematikstudium sie kaum näherbringt. Die o�zielle Rückkehr der In�nitesimalien in Lehre und Schule, so meine ich, istein Versuch wert. Praktische Beispiele folgen gleich.

3.2 Wo kommt das In�nitesimale mathematisch wieder her?

Wir kehren in die mathematische Oberwelt zurück. Woher kommen die untergegangenenIn�nitesimalien zurück in die Mathematik? Wir müssen etwas ausholen.

Was war eigentlich passiert? Manches Detail der Revolution haben wir angedeutet. Wirschauen jetzt von ganz oben auf die Mathematik und machen uns ein grobes Bild.

Die Grundlage der alten Mathematik waren Anschauung und Wirklichkeit � und Philoso-phie, die die Begri�e lieferte. Arithmetik und Zahlentheorie auf der einen Seite, Geometrieund Gröÿenlehre auf der anderen bildeten sich aus. Algebra und Analysis kamen in derfrühen Neuzeit hinzu. Im 19. Jahrhundert geschah die schon viel besagte Revolution.

Das Bild der Mathematik änderte sich gravierend. Die Mathematik schuf sich ihre eigenen

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3 DIE RÜCKKEHR DER INFINITESIMALIEN 11

Grundlagen, die Mathematischen Grundlagen: Mengenlehre und Logik. Sie begründetendie Arithmetik. Diese sagte, was Folgen und das Kontinuum ist. Die Arithmetisierung,die reine Mathematik, war gelungen. Eine unglaubliche Entfaltung mathematischer Ein-zeldisziplinen setzte ein. Axiomatik, exemplarisch in den Grundlagen der Geometrie imJahr 1899 von Hilbert vorgegeben, bildet seitdem den Rahmen der Disziplinen, zu denendie Mathematischen Grundlagen, Mengenlehre und Logik, gehören. Von weit, weit obensieht die Mathematik heute so aus:

Wirklichkeit

Anschauung Philosophie

Arithmetik

� i 1 -Algebra Geometrie Analysis Zahlenth.

Mengenlehre Logik

> IFolge-Kontinuum �

InformatikTopologie

Numerik

Diskr. Mathematik

Stochastik

Di�.gleichungenFunktionalanalysis .....

........

Die Grundlagen der Mathematik sind Mathematik geworden. Die reine Mathematik er-hebt sich über die unreine Wirklichkeit und Anschauung � und ist von der Philosophiegeschieden. Mathematik, früher ontologisch gebunden, ist höhere Mathematik, ist Theoriegeworden: ein theoretischer, in sich geschlossener Corpus theoretischer Disziplinen. In denAnwendungen üben sie eine nie da gewesene Wirkung auf die zurückgelassene Wirklichkeitaus. Die verlassene Philosophie steht dem Phänomen �Mathematik� fasziniert gegenüber.

Ausgangspunkt der groÿen Entwicklung, das dürfen wir hier nicht vergessen, waren dieIn�nitesimalien gewesen. Sie führten die Analysis im 18. und 19. Jahrhundert in groÿeHöhen. Wir haben ihre allmähliche Mutation, so kann man es ausdrücken, zu den forma-len Grenzwerten gesehen, die schlieÿlich ihre in�nitesimalen Vorfahren verdrängten. DieGrenzwerte und ihre begri�ich strenge Klärung führten notwendig in die neuen Mathe-matischen Grundlagen und in eine theoretische Mathematik. Die Finitisierung mündetein eine phantastische In�nitisierung.

Jetzt können wir klarer sagen, warum wir diesen Einschub gemacht haben: Die neuenFundamente der Mathematik, Mengenlehre und Logik, die erfunden wurden, um die un-klaren In�nitesimalien zu entfernen, sie haben eben diese wieder hervorgebracht. Wie, dassagen wir gleich. Wir beginnen mit einem Beispiel aus der elementaren Praxis, um einenersten Einblick in die neue Mathematik der In�nitesimalien zu bekommen.

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3 DIE RÜCKKEHR DER INFINITESIMALIEN 12

3.3 Beispiel: Integral

Zuerst die übliche Ansicht aus der Praxis der Einführung des Riemann-Integrals.

1

1 ppp

p

p

baq qxx+∆x

Dies ist eine Momentaufnahme, so denken wir heute, beim Verschwinden der ∆x, verbun-den mit der Vorstellung, dass sich verschwindende Rechteck�ächen in ihrer Summe einerFläche nähern, deren Inhalt das bestimmte Integral ist.

Wir versuchen jetzt, anders zu denken � so wie Leibniz sich die Situation vorstellte. DerUnterschied ist äuÿerlich minimal: Aus ∆x wird dx. Wir sind aber nicht in einem Prozess,in dem ∆x gegen 0 strebt, sondern sind in einem festen Zustand: dx ist unendlich klein.Wir nehmen uns wieder eine Unendlichkeitslupe und sehen unendlich schmale Streifender Breite dx:

1

1 ppp

p

p

ba &%'$"!#

XXXXXXXX

XXXXXXXXq qxx+ dx

Die Summe der in�nit vielen, sagen wir µ, Rechteck�ächen ist (bis auf einen unendlichkleinen, reell vernachlässigbaren Unterschied) der gesuchte Flächeninhalt, das bestimmte

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Integral. Geht das? Ja, wenn man mit in�nitesimalen und in�niten Zahlen rechnen lernt(und es sich um �gutartige� Funktionen handelt).

Im Verein mit den reellen Zahlen bilden die neuen Zahlen den Bereich der hyperreellenZahlen. Einige tabellarische Notizen dazu:

• Begri�e und Bezeichnungen:

� dx heiÿt unendlich klein, wenn ∀r ∈ R (dx < r). Wir schreiben dx ≈ 0.

� x und x+ dx liegen �unendlich nah� beieinander. Wir scheiben: x+ dx ≈ x.

� Wir rechnen: b = a+ µ · dx.

� µ ist unendlich groÿ, wenn ∀r ∈ R (µ > r). Wir schreiben µ ≫ 1.

� Beschränkte Zahlen sind Zahlen γ mit γ < n für ein n ∈ N.

Der Schlüssel für den Übergang vom Hyperreellen zum Reellen ist der

• Standardteil.

Jede beschränkte hyperreelle Zahl γ liegt unendlich nah zu genau einer reellen Zahl r:γ ≈ r. r heiÿt der Standardteil von γ.

Damit kann man schon alles machen. Das Rechnen mit den Schülerinnen und Schülerngemeinsam theoretisch zu entwickeln, ist gut möglich. Praktische Erfahrungen zeigen dies(s. Dörr (2017).

Wir betrachten ein Beispiel : Der Graph oben stamme von f(x) = x2. Wir setzen a = 0.

� Dann ist xk = k · dx und b = µ · dx.

� Der Flächeninhalt eines Rechteckstreifens von xk bis xk + dx ist

dx · f(xk) = dx · (xk)2 = dx · (k · dx)2.

� Die Fläche unter der Kurve ist∑µk=1(k · dx)2 · dx = dx3 ·

∑µk=1 k

2.

� Die Formel für den letzten Term ist:∑µk=1 k

2 = µ(µ+1)(2µ+1)6

.

• Rechnung:µ∑

k=1

(k · dx)2 · dx = dx3 ·µ∑

k=1

k2 =

= dx3 µ(µ+ 1)(2µ+ 1)

6=

dxµ · dx(µ+ 1) · dx(2µ+ 1)

6=

=dxµ · (dxµ+ dx) · (2dxµ+ dx)

6=

b · (b+ dx) · (2b+ dx)

6=

=b · (2b2 + 3b dx+ dx2)

6=

1

3b3 +

1

2b2 dx+

1

6b dx2 ≈ 1

3b3 .

Man kann so rechnen. Das ist mathematisch korrekt und heiÿt �Nonstandard�. Es gibtkeinen Kon�ikt mit der übrigen, alten Mathematik, die �Standard� heiÿt. Was hat sichdenn geändert? Statt mit Di�erenzen ∆x rechnet man mit Di�erentialen dx. An die Stelledes fremden, unarithmetischen Grenzwertprozesses tritt der arithmetische Übergang zumStandardteil.

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Im Kern � mit den Bezeichnungen in den obigen Abbildungen � verläuft für nicht-pathologische Funktionen die De�nition des Riemannschen Integrals grob so:

dx sei unendlich klein, µ, die Zahl der Intervalle, sei unendlich groÿ.

Dann ist a+ µ · dx = b, xk = a+ k · dx.

Der Flächeninhalt der Streifen ist dx · f(xk).

Die Fläche unter der Kurve ist∑µ

k=0 f(a+ k · dx) · dx.

Das Integral∫ b

af(x)dx ist der Standardteil dieser unendlichen Summe.

Wir bemerken: Das Integral ist, so wie es historisch war, wieder eine Summe � bis auf diein�nitesimale Abweichung. Die Summe ist unendlich und dennoch arithmetisch berechnet.Das macht manches durchsichtiger, wie wir unten bei der Betrachtung des Hauptsatzessehen werden.

Wir kommen gleich zu weiteren Beispielen aus dem Einstieg in die Di�erential- und Inte-gralrechnung � und nur um den Einstieg geht es. Hat man das Handwerk grenzwertfrei, inarithmetischer und zugleich anschaulicher Weise gelernt, geht alles so weiter wie gehabt.

3.4 Wie kommen die In�nitesimalien zurück?

Jetzt klären wir das Prinzip der arithmetischen Rückkehr der In�nitesimalien. Es bestehtin einer Zahlbereichserweiterung, einer Fortsetzung also der Zahlbereichserweiterungen,die den Mathematikunterricht von Beginn an prägen:

• R wird erweitert zum angeordneten, nichtarchimedischen Körper ∗R der hyperreellenZahlen.

Diese hyperreellen Zahlen können wie oben quasi-axiomatisch eingeführt werden. IhreHerkunft kann man in der Schule so wenig thematisieren wie die Konstruktion der reellenZahlen. Wir schildern die Herkunft exemplarisch und auf die wesentlichen Ideen reduziert.

Wie erhält man die hyperreellen Zahlen ∗R? Eigentlich sehr einfach, nämlich logisch, nachRobinson (1961):

• Man nehme ein Nichtstandardmodell von R, der reellen Arithmetik.

Damit kann man Nichtstandard-Mathematik machen, so, wie oben angedeutet.

Ich skizziere der Vollständigkeit halber die logische Rezeptur, die das Nichtstandardmodellhervorbringt. Für die arithmetische Praxis ist die Rezeptur irrelevant.

Dies sind die Schritte zum Nichtstandardmodell:

� Man nehme den angeordneten Körper R.

� Man nehme Th(R), das sind alle arithmetischen Sätze über R.

� Man nehme Ψ = Th(R) ∪ {0 < x, 1 < x, 2 < x . . .}.

� Jede endliche Teilmenge von Sätzen in Ψ ist gemäÿ einer Interpretation β mit einemausreichend groÿen β(x) erfüllt.

� Man nehme den Endlichkeitssatz. Der sagt:

� Es gibt ein Modell B von Ψ = Th(R) ∪ {0 < x, 1 < x, 2 < x . . .}.

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� Es gilt B |= Th(R) und β(x) > n für alle n.

� Man nehme B. B ist nichtarchimedisch. Den Grundbereich nenne man ∗R.

• Es gibt unendlich groÿe und unendlich kleine Zahlen.

Die mengentheoretische Rezeptur (Schmieden/Laugwitz 1958, Laugwitz 1986) sieht kurz-gefasst so aus:

� Man nehme R.

� Man nehme RN, die Menge aller Folgen (an).

� Man de�niere eine geeignete Äquivalenzrelation.

� Man de�niere ∗R als die Menge aller Klassen.

Also man wiederhole im Prinzip das, was man bei der Konstruktion von R aus Q gemachthat. Die Schritte der Konstruktion, die für die Praxis der hyperreellen Zahlen wieder nichtrelevant sind, sind diese:

� Man nehme Cof , die Menge aller co�niten Teilmengen von N, das sind die Teilmen-gen, deren Komplement endlich ist.

� Cof ist ein freier Filter.

� Sei (an) ∼ (bn) ⇔ {n | an = bn} ∈ Cof .

� Man nehme das Ideal V = {(cn) | {n | cn = 0} ∈ Cof}.

� Man nehme das Zorn'sche Lemma.

� Man nehme in der geordneten Menge aller feineren Filter als Cof einen maximalenFilter U .

� Man nehme das maximale Ideal VU .

� Man nehme ∗R = RN/VU .

� ∗R = RN/VU ist ein angeordneter, nichtarchimedischer Körper.

• Es gibt unendlich groÿe und unendlich kleine Zahlen.

Das ist der Hintergrund, den man für die Praxis so wenig herstellen muss wie den Hinter-grund hinter den reellen Zahlen. Die ersten vier Schritte sind interessant, wenn man eineVerbindung zu den Grenzwerten herstellen will.

3.5 Beispiel: Di�erentialquotient, Ableitung, Stetigkeit

Wir wenden uns wieder dem ersten, sehr überschaubaren in�nitesimalen Handwerkszeugzu, das man für die elementare Analysis braucht. Den Zugang zum Riemann-Integralhaben wir schon dargestellt.

Wie sieht es mit der Ableitung und dem Di�erentialquotienten aus. Wir schauen wiederauf das charakteristische Dreieck.

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������������

�������

f

xo

yo

f(xo) dx

dyds

dxxo+dx

"!# ����

ee

ee

eee

ee

ee

eee

Den Bezeichnungen entnehmen wir dy = f(xo+dx)−f(x). Da wir mit den in�nitesimalenDi�erentialen rechnen können, erhalten wir den

• Di�erentialquotientendydx .

Davon unterscheiden wir die

• Ableitung f ′(xo) ≈ dydx:

Die Ableitung ist der Standardteil des Di�erentialquotienten.

f ist di�erenzierbar in x0, wenn es diesen Standardteil gibt.

Am Standardbeispiel f(x) = x2 machen wir das Prinzip deutlich:

dydx

= f(xo+dx)−f(xo)dx

= (xo+dx)2−x2o

dx= x2

o+2xodx+dx2−x2o

dx= 2xo + dx.

Also

f ′(xo) = 2xo ≈ dydx.

Man rechnet, wie man es in der Vorbereitung der Grenzwertbildung mit den Di�erenzen∆x und ∆y tut, erspart sich den unarithmetischen Grenzwertprozess und macht denarithmetischen Übergang vom Di�erentialquotienten dy

dxzum Standardteil f ′(xo).

Die Stetigkeit schlieÿlich bekommt durch die In�nitesimalien eine überzeugend einfacheanschauliche Fassung:

f heiÿt stetig in xo, wenn f(xo) ≈ f(xo + dx) für in�nitesimale dx.

3.6 Rechenbeispiele

Dort, wo der Grenzwertformalismus verwickelt ist, wird der Vorteil des Rechnens mitIn�nitesimalien besonders sichtbar. Wir führen die Einfachheit des Rechnens an der Ket-tenregel vor. Seien

y = f(x), z = g(y) di�erenzierbar,

z = φ(x) = g(f(x)),

dy = f(x+ dx)− f(x) , dz = g(y + dy)− g(y) .

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Dann ist für dx, dy ̸= 0

dzdy

≈ g′(y), dydx

≈ f ′(x).

Aus dzdx

= dzdy

· dydx

folgt

• φ′(x) = g′(y) · f ′(x) = g′(f(x)) · f ′(x).

Eine wesentliche Rolle für alles weitere spielt der Hauptsatz, dessen Kern im in�nitesimalenZugang elementar sichtbar wird:

F

f

x x+ dx

dF

f(x)

Wir sehen

dF = F (x+ dx)− F (x).

Da f im Intervall [x, x+ dx] bis auf einen in�nitesimalen Fehler konstant ist, ist

dF ≈ f(x) · dx,

also

• F ′(x) ≈ dFdx

≈ f(x) .

Als besonderes Beispiel der E�ektivität des In�nitesimalen, das man mit der Unendlich-keitslupe sichtbar machen kann, betrachten wir � im Sinne des Wortes � die Ableitung derSinusfunktion. Dieses Beispiel samt Begründung �nden wir im Buch (Wunderling (2007),S. 281), die allgemeine mathematische Legitimation in Kuhlemann (2017).

x

0 1

x

Pux-Achse

y = sinx

-in�nite Vergröÿerung

=0

qPx

dy dx

x

Da in der in�niten Vergröÿerung der Kreis lokal gerade wird,

• sehen wir: sin′(x) ≈ dydx

= cos(x).7

7vgl. Kuhlemann (2017), S. 3

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4 SCHLUSS 18

4 Schluss

Was bringt Nichtstandard? Warum soll man die Seiten wechseln?

Warum Nonstandard?

Es geht nicht darum, die Seite zu wechseln. Es geht darum, Nonstandard einzubeziehen,Standard um Nonstandard zu erweitern. Wir haben im Elementaren gesehen, wie e�ektivdas sein kann. Der Einstieg in die Analysis kann anders werden. Er muss nicht durchdie o�enbaren Schwierigkeiten mit den Grenzwerten belastet sein. Grenzwerte, die manaus Gründen der Vorbereitung auf das Studium und der in Grenzwerten geschriebenenAnalysis nicht erübrigen kann, bekommen in den In�nitesimalien ein Gegenüber � etwaso, wie wir die Nachbarschaft, ja Verwandtschaft von beiden historisch beobachtet haben.

In der Einführung des Integrals ist das im Wechsel vom verschwindenden ∆x zum un-endlich kleinen dx sehr deutlich. Der Di�erentialquotient hält den Grenzwertprozess derDi�erenzenquotienten quasi an. Steigungen können nicht mehr nur als Grenzwerte �in derFerne � erahnt werden, sie sind wieder Verhältnisse von � unendlich kleinen � Seiten. DasIntegral kann wieder als Summe begri�en werden. Der Hauptsatz liegt �auf der Hand�.Die Anschaulichkeit ist wieder da, das Verständnis, das oft in Grenzwertprozessen ver-schwindet, bekommt eine neue Chance. Der abstrakte Grenzwertformalismus erhält einenarithmetischen und anschaulichen Nachbarn. Di�erentiationsregeln müssen nicht mehrkünstlich über die Hürde der Grenzwertsätze springen. Sie werden arithmetisch ausge-rechnet.

Nicht übersehen werden darf, dass es natürlich gilt, die Anschauung und die Arithme-tik der in�nitesimalen und in�niten Zahlen, der hyperreellen Zahlen aufzubauen. DieserAufbau darf nicht einfach axiomatisch gesetzt, sondern muss gemeinsam im Unterrichtgefunden, besser: theoretisch erfunden werden. Das richtig zu tun und methodisch zu ent-wickeln, ist eine Aufgabe für die Mathematik-Didaktik. Hier in diesem Text konnten undsollten nur arithmetische Details sichtbar werden.

Die mathematischen Vorzüge von Nonstandard liegen auf der Hand. Denn Nonstandardist eine echte Erweiterung von Standard. Über der reellen Arithmetik erhebt sich nichtnur die Struktur R, sondern auch ∗R. Das Angebot ∗R kann man mathematisch nichtausschlagen. Hyperreelle Zahlen ergänzen die Standardinstrumente und ö�nen die Tür zueinem neuen mathematischen Raum.

In�nitesimalien und in�nite Zahlen vertiefen und erweitern die mathematische Anschau-ung. Historisch haben wir vermutet, dass der Aspekt der Anschauung eine wesentlicheKraft in der Entwicklung der Analysis im 18. Jahrhundert war. Auch heute ist dieserAspekt nicht zu unterschätzen. Er war und ist eine wesentliche Quelle mathematischerInspiration.

Nonstandard erweitert und vertieft das mathematische Denken. Das unendlich Kleine, eintraditionelles, e�ektives Element des mathematischen Denkens entsteht neu. Nonstandardhebt mathematische Festlegungen auf, die uns manchmal nicht bewusst sind. Die Zahlen-gerade ist ein Beispiel dafür. Sie ist die Identi�kation von Zahlen und Punkten, von R und

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4 SCHLUSS 19

Gerade, von Arithmetik und Geometrie. Nonstandard befreit das lineare Kontinuum vonder �Besetzung� durch Zahlen. Die Zahlengerade wird wieder zum o�enen Medium derVeranschaulichung von Zahlen, auch der hyperreellen Zahlen, als Punkte. Das Kontinuumist �real� keine Punktmenge mehr. Setzt man R oder ∗R als Modell der Geraden, so istsie nur theoretisch � und vorübergehend � eine Zahlen- und Punktmenge.

Widerstände

Wieso, wenn alles so überzeugend ist, macht man Nichtstandard nicht schon längst? Manmuss unterscheiden: In der mathematischen Forschung wird schon lange nonstandardgearbeitet � von Spezialisten. Von �allgemeinen� Mathematikern, Dozenten und Lehrernjedoch wird Nonstandard kaum wahrgenommen oder nicht ernstgenommen. Es scheintvielmehr Widerstand zu geben. Ich vermute knapp einige Gründe � erinnere aber an die�Prophetie� im Motto dieses Aufsatzes, die wie für die Geschichtsschreibung auch eineEigenschaft jeder, also auch der folgenden Gegenwartsbeschreibung ist.

Nonstandard wird oft als nur logische Erscheinung wahrgenommen, da sie in logisch auf-gefundenen Nichtstandardmodellen statt�ndet. Logik genieÿt unter Mathematikern eineeher distanzierte Anerkennung. Ergebnisse aus der Logik über Unvollständigkeit, Wider-spruchsfreiheit, Axiomatisierbarkeit, Entscheidbarkeit usw. sind berühmt, aber irrelevantfür die mathematische Praxis. Unabhängigkeitsresultate wie für das Auswahlaxiom unddie Kontinuumshypothese sind unangenehm � verunsichern aber nur vorübergehend einwenig. Hierher, in die Unabhängigkeit von den Grundlagen und damit von der Mathe-matik, gehört auch die Entscheidung für Nonstandard, die man vielleicht fälschlich alsEntscheidung gegen Standard au�asst. Nonstandard und Standard scheint paradox zusein. Also bleibt man, wo man ist: bei Standard.

Aus der Mengenlehre kommen quasi �Glaubenssätze�, die ins mathematische Fleisch undBlut übergegangen zu sein scheinen. Wir haben es oben als Fortschritt dargestellt, dasKontinuum nicht mehr prinzipiell als Punktmenge aufzufassen. Die Punktmengenau�as-sung aber scheint tief im Unbewussten zu sitzen. Die Zahlengerade, Indiz dafür, ist all-tägliches, scheinbar unverzichtbares Instrument. Unsere Grenzwertmathematik überzeugtuns, dass 0, 999 . . . = 1 ist und Achilles die Schildkröte überholt. Punkte sind objektivund ausdehnungslos. All das müsste man in Frage stellen. � Über solche und verwandteProbleme wird in Bedürftig (2015), und Bedürftig/Murawski (2017) berichtet.

Kurz: Die Erweiterung durch Nonstandard untergräbt Grundvorstellungen, die oft nichtbewusst sind. Entsprechend �allergisch� fällt ebenso oft die Abwehr aus.

Weitere Anmerkungen

Ist die Wiederkehr der In�nitesimalien wirklich ein Zurück, zurück ins 17. und 18. Jahr-hundert?

• Gedanklich, anschaulich: Ja!

• Mathematisch: Nein!

In�nitesimalien, die einst Gröÿen waren, sind heute Zahlen. Ihre Grundlage sind die heu-tigen Mathematischen Grundlagen, Mengenlehre und Logik. Mit modernen Methodenführen sie über die reellen Zahlen hinaus in ein neues mathematisches Denken hinein.

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�Nichtstandard� bedeutet längst nicht mehr �nicht Standard�.

Ich merke an, dass das, was ich aus der Praxis der wirklichen In�nitesimalrechnung vor-gestellt habe, keine Prognose potentiellen Unterrichts ist. Diese Dinge gibt es seit langemreal, auch in Deutschland. Die Autoren Wunderling, Baumann und Kirski verö�entlichenseit 20 Jahren über diesen Ansatz, den sie im Unterricht erprobten und erproben. ImJahr 2007 publizierten sie ein Schulbuch �Analysis als In�nitesimalrechnung� (Wunderling2007), ein umfassendes Buch für engagierte Lehrer, das nicht in den Rahmen der Richtli-nien passte und daher keine Verbreitung fand. Im Frühjahr 2018 wird eine überarbeiteteFassung bei Springer erscheinen.

Jochen Dörr (Speyer), Christian Kauferstein (Linz am Rhein), Karl Kuhlemann (Han-nover) und ich arbeiten seit 2014 in Lehrerfortbildungen an diesem Thema. In den dreiletzten Jahren ist diese Arbeit, die philosophisch begann, praktisch geworden. Jochen Dörrhat seinen Einstieg in die Analysis aus dem Jahr 2015 dokumentiert (Dörr (2017)). Auseiner Fortbildung im Juni 2017 ist eine Mind Map entstanden (Ludes (2017)), die Ste-fanie Ludes vom Institut für Lehrerfortbildung in Mainz erstellt hat. Unser Konzept ist,In�nitesimalien und Grenzwerte parallel zu thematisieren. Auch wenn eine grenzwertfreieAnalysis möglich ist, die Analysis ist seit 150 Jahren in Grenzwerten geschrieben.

Ich spreche ein �vorwärtsgewandtes�

Schlusswort.

Die reellen Zahlen R sind fast 150 Jahre alt. Es geht nicht um die Ablösung durch diehyperreellen Zahlen ∗R. R ist der Ausgangs- und Bezugspunkt.

• Es geht mathematisch um die überfällige Erweiterung der reellen Arithmetik undum die Erweiterung der mathematischen Instrumente.

• Es geht didaktisch um eine Alternative und Ergänzung im Mathematikunterricht,die die Probleme der Grenzwerte arithmetisch vermeiden kann.

Was hier aufgeschrieben ist, ist ein weiter, vielfältiger Überblick. Didaktische und metho-dische Ideen und Argumente waren nur angedeutet. Ich habe die Herkunft, die Umgebungund den Kern eines mathematischen �Sto�es� vorgestellt, der nach intensiver Sto�didaktikruft.

Standard braucht Nonstandard.

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