4
Aktuelle KONTAKTOLOGIE AKTKONTAKTOL September 2011 · 6. Jahrgang · 18. Heft 26 Dynamisches Sehen im Sport Für den sportlichen Erfolg spielt das Bewegungssehen zweifellos eine bedeu- tende Rolle, insbesondere in den schnellen Ball- und Rückschlagspielen [9, 23]. So be- ansprucht zum Beispiel die visumotorische Leistung beim Tennis eine zielgerichtete vi- suelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, die durch die Flugkurve des Balles gesteuert wird, und ihrerseits eine gezielte motorische Innervation des Arms und des ganzen Körpers steuert. Das Ziel des Balltreffens – im richtigen Moment an der richtigen Stelle im Raum – wird mit dem weiteren Ziel des angestrebten Auftreffpunkts im gegnerischen Feld und dem dabei als Hindernis zu überwindenden Netz in einem multisensorisch organisier- ten, räumlichen Umweltmodell [1, 6, 13, 17] extrapoliert. Dynamisches Sehen beschreibt dabei zum einen die Leistungsfähigkeit des Sehens bei konjugierten Augenbewegungen. Damit bewegte Objekte deutlich abgebildet werden können, müssen sie durch koordinier- te Augen- und Kopfbewegungen ständig im Netzhautbereich des schärfsten Sehens, der Fovea centralis, gehalten werden (efferentes Bewegungssehen). Auslösender Reiz für das blickmotorische „Einfangen“ und „Verfolgen“ des sich bewegenden Objektes ist dagegen die retinale Bildwanderung, die das sich bewe- gende Objekt auf der Netzhaut erzeugt. Das über retinale Bildwanderung vermittelte af- ferente Bewegungssehen ist eine weitere, zur blickmotorischen Sehleistung hinzukommen- de Form des dynamischen Sehens [3, 9, 29]. Während das durch die Blickmotorik gestütz- te Bewegungssehen, die „dynamische Seh- schärfe“, bereits verschiedentlich im Kontext sportlicher Leistungen untersucht wurde, gilt dies weit weniger für die von der Blickmotorik unabhängige dynamische Sehleistung. Sehen ist nicht gleich Sehen Lange ist man davon ausgegangen, dass Aussagen über das statische Sehen auch für das dynamische Sehen gelten. Neurowissen- schaftliche Untersuchungen belegen jedoch inzwischen, dass Sehen keine einheitliche Funktion ist, sondern durch zwei relativ unabhängige Teilsysteme vermittelt wird: Das vornehmlich dem Sehen von statischen Details dienende kleinzellige oder parvozel- luläre (P-)System und das der Raumorien- tierung und dem Bewegungssehen dienende großzellige oder magnozelluläre (M-)System (Abb. 1). Die parallele Verarbeitung verschiedener Seh- informationen durch unterschiedlich spezia- lisierte Neuronensysteme beginnt bereits in der Netzhaut und ist in der gesamten Seh- bahn (bei zunehmender Spezifität der Zellei- genschaften) wirksam. Die M-Neurone haben ein geringes räumliches, jedoch gutes zeit- liches Auflösungsvermögen, die P-Neurone erreichen umgekehrt eine hohe räumliche, aber nur geringe zeitliche Auflösung. Beide Systeme verzweigen sich von der primären Sehrinde (Hinterhauptsbereich) ausgehend in eine temporale (Schläfenbereich) und eine pa- rietale (Scheitelbereich) Verarbeitung (Abb. 1). Afferentes Bewegungssehen Dynamisch-antizipative Sehleistungen sind für die Vorbereitung und den rechtzeitigen Einsatz von (Bewegungs-)Handlung – spezi- ell bei der Bewältigung von Situationen unter Zeitdruck – entscheidend [3]. Betrachten wir dazu ein Beispiel aus dem Handballsport [20]: Wenn der Ball beim „Siebenmeter“ aus dem Stand auf das Tor geworfen wird, erreicht er eine Ballgeschwindigkeit von zirka 110 km/h bei den Männern und zirka 90 km/h bei den Frauen. Bei einem Abstand von vier Metern zwischen Werfer und Tor- wart, wenn dieser drei Meter vor dem Tor steht (um dem Werfer die Wurfwinkel zu verkleinern) beträgt die Flugzeit eines mit nur 60 km/h geworfenen Balles bis zum Tor im Mittel gerade einmal 0,24 Sekunden. Die durchschnittliche Reaktionszeit eines Torwarts (bestehend aus La- tenz- bzw. Wahrnehmungszeit und Aktionszeit) beträgt hingegen zirka 0,39 Sekunden. Das heißt, dass der- jenige Torhüter, der versucht, erst nach erfolgtem Wurf auf den Ballflug zu rea- gieren, seine Abwehraktion nicht mehr recht- zeitig abschließen kann, um den Ball gezielt zu halten. Ein erfolgreicher Torhüter muss ler- nen, seine Wahrnehmung frühzeitig auf die Arm- und/oder Handhaltung des Werfers zu richten, beispielsweise wenn sich der Ball et- wa auf Kopfhöhe des Werfers befindet. Unter Berücksichtigung vorheriger (im Training im- mer wieder geübter) Würfe muss der Torhüter Wurfbilder schematisch einordnen, Bewegun- gen/Bewegungsrichtungen (extrapolierend) „voraussehen“ und letztendlich die mögliche Wurfseite und Wurfhöhe „vorwegnehmen“, das heißt antizipieren lernen [10, 20, 27]. Vogt (2001) [25; vgl. auch 10] konnte zei- gen, dass sich das Antizipationsverhalten von „hoch geübten“ Leistungssportlern (Tennis- spieler; fünf weiblich, fünf männlich; 18-55 Jahre) von dem „gering geübter“ Nicht- be- ziehungsweise Freizeitsportler (fünf weiblich, fünf männlich; 24-49 Jahre) unterscheidet (Abb. 2). Die Aufgabe der Testpersonen bestand darin, eine Reizbewegung (nach deren Verschwin- den) unverändert imaginativ fortzusetzen, zu „extrapolieren“, und den Zeitpunkt anzuge- ben, an dem die Bewegung – bei kontinuierli- cher Reizgeschwindigkeit – eine vorgegebene Zielposition erreicht. Die Antwort- oder An- tizipationszeit wurde dann mit der (realen) Abb. 1: Duale Auswertung dynamischer und statischer Sehinformationen über parietale (magnozelluläre) und temporale (parvozelluläre) Verarbei- tung (modifiziert nach [24]). Abb. 2: Antizipationszeit als Funktion der Ein- treffzeit: Leistungssportler (Tennis) im Vergleich zu Nicht- bzw. Freizeitsportlern (mod. nach Vogt, 2001 [25]; Jendrusch & Ehrenstein, 2008 [10]). (1) Dieser Beitrag ist Dr. Walter H. Ehrenstein†, meinem langjährigen Forschungspartner, in Dankbarkeit und Freundschaft gewidmet. Walter H. Ehrenstein verdanken wir wegweisende Arbeiten zum „Dynamischen Sehen“, unter anderem in Coautorenschaft mit Prof. em. Eugene R. Wist (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf), dem Urheber des hier verwendeten Sehtests („Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“).

Dynamisches Sehen im Sport - sportwissenschaft.rub.de · Lange ist man davon ausgegangen, ... („Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“). ... (z. B. Tennis, Handball oder Volley-Abb

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Dynamisches Sehen im Sport - sportwissenschaft.rub.de · Lange ist man davon ausgegangen, ... („Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“). ... (z. B. Tennis, Handball oder Volley-Abb

Aktuelle KontAKtologie AktkontAktol September 2011 · 6. Jahrgang · 18. Heft26

Dynamisches Sehen im Sport• Für den sportlichen Erfolg spielt das Bewegungssehen zweifellos eine bedeu-tende Rolle, insbesondere in den schnellen Ball- und Rückschlagspielen [9, 23]. So be-ansprucht zum Beispiel die visumotorische Leistung beim Tennis eine zielgerichtete vi-suelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, die durch die Flugkurve des Balles gesteuert wird, und ihrerseits eine gezielte motorische Innervation des Arms und des ganzen Körpers steuert. Das Ziel des Balltreffens – im richtigen Moment an der richtigen Stelle im Raum – wird mit dem weiteren Ziel des angestrebten Auftreffpunkts im gegnerischen Feld und dem dabei als Hindernis zu überwindenden Netz in einem multisensorisch organisier-ten, räumlichen Umweltmodell [1, 6, 13, 17] extrapoliert.Dynamisches Sehen beschreibt dabei zum einen die Leistungsfähigkeit des Sehens bei konjugierten Augenbewegungen. Damit bewegte Objekte deutlich abgebildet werden können, müssen sie durch koordinier-te Augen- und Kopfbewegungen ständig im Netzhautbereich des schärfsten Sehens, der Fovea centralis, gehalten werden (efferentes Bewegungssehen). Auslösender Reiz für das blickmotorische „Einfangen“ und „Verfolgen“ des sich bewegenden Objektes ist dagegen die retinale Bildwanderung, die das sich bewe-gende Objekt auf der Netzhaut erzeugt. Das über retinale Bildwanderung vermittelte af-ferente Bewegungssehen ist eine weitere, zur blickmotorischen Sehleistung hinzukommen-de Form des dynamischen Sehens [3, 9, 29]. Während das durch die Blickmotorik gestütz-te Bewegungssehen, die „dynamische Seh-schärfe“, bereits verschiedentlich im Kontext sportlicher Leistungen untersucht wurde, gilt dies weit weniger für die von der Blickmotorik unabhängige dynamische Sehleistung.

Sehen ist nicht gleich SehenLange ist man davon ausgegangen, dass Aussagen über das statische Sehen auch für das dynamische Sehen gelten. Neurowissen-schaftliche Untersuchungen belegen jedoch inzwischen, dass Sehen keine einheitliche Funktion ist, sondern durch zwei relativ unabhängige Teilsysteme vermittelt wird: Das vornehmlich dem Sehen von statischen

Details dienende kleinzellige oder parvozel-luläre (P-)System und das der Raumorien-tierung und dem Bewegungssehen dienende großzellige oder magnozelluläre (M-)System (Abb. 1). Die parallele Verarbeitung verschiedener Seh-informationen durch unterschiedlich spezia-lisierte Neuronensysteme beginnt bereits in

der Netzhaut und ist in der gesamten Seh-bahn (bei zunehmender Spezifität der Zellei-genschaften) wirksam. Die M-Neurone haben ein geringes räumliches, jedoch gutes zeit-liches Auflösungsvermögen, die P-Neurone erreichen umgekehrt eine hohe räumliche, aber nur geringe zeitliche Auflösung. Beide Systeme verzweigen sich von der primären Sehrinde (Hinterhauptsbereich) ausgehend in eine temporale (Schläfenbereich) und eine pa-rietale (Scheitelbereich) Verarbeitung (Abb. 1).

Afferentes BewegungssehenDynamisch-antizipative Sehleistungen sind für die Vorbereitung und den rechtzeitigen

Einsatz von (Bewegungs-)Handlung – spezi-ell bei der Bewältigung von Situationen unter Zeitdruck – entscheidend [3]. Betrachten wir dazu ein Beispiel aus dem Handballsport [20]: Wenn der Ball beim „Siebenmeter“ aus dem Stand auf das Tor geworfen wird, erreicht er eine Ballgeschwindigkeit von zirka 110 km/h bei den Männern und zirka 90 km/h bei den

Frauen. Bei einem Abstand von vier Metern zwischen Werfer und Tor-wart, wenn dieser drei Meter vor dem Tor steht (um dem Werfer die Wurfwinkel zu verkleinern) beträgt die Flugzeit eines mit nur 60 km/h geworfenen Balles bis zum Tor im Mittel gerade einmal 0,24 Sekunden. Die durchschnittliche Reaktionszeit eines Torwarts (bestehend aus La-tenz- bzw. Wahrnehmungszeit und Aktionszeit) beträgt hingegen zirka 0,39 Sekunden. Das heißt, dass der-jenige Torhüter, der versucht, erst

nach erfolgtem Wurf auf den Ballflug zu rea-gieren, seine Abwehraktion nicht mehr recht-zeitig abschließen kann, um den Ball gezielt zu halten. Ein erfolgreicher Torhüter muss ler-nen, seine Wahrnehmung frühzeitig auf die Arm- und/oder Handhaltung des Werfers zu richten, beispielsweise wenn sich der Ball et-wa auf Kopfhöhe des Werfers befindet. Unter Berücksichtigung vorheriger (im Training im-mer wieder geübter) Würfe muss der Torhüter Wurfbilder schematisch einordnen, Bewegun-gen/Bewegungsrichtungen (extrapolierend) „voraussehen“ und letztendlich die mögliche Wurfseite und Wurfhöhe „vorwegnehmen“, das heißt antizipieren lernen [10, 20, 27].Vogt (2001) [25; vgl. auch 10] konnte zei-gen, dass sich das Antizipationsverhalten von „hoch geübten“ Leistungssportlern (Tennis-spieler; fünf weiblich, fünf männlich; 18-55 Jahre) von dem „gering geübter“ Nicht- be-ziehungsweise Freizeitsportler (fünf weiblich, fünf männlich; 24-49 Jahre) unterscheidet (Abb. 2).Die Aufgabe der Testpersonen bestand darin, eine Reizbewegung (nach deren Verschwin-den) unverändert imaginativ fortzusetzen, zu „extrapolieren“, und den Zeitpunkt anzuge-ben, an dem die Bewegung – bei kontinuierli-cher Reizgeschwindigkeit – eine vorgegebene Zielposition erreicht. Die Antwort- oder An-tizipationszeit wurde dann mit der (realen)

Abb. 1: Duale Auswertung dynamischer und statischer Sehinformationen über parietale (magnozelluläre) und temporale (parvozelluläre) Verarbei-tung (modifiziert nach [24]).

Abb. 2: Antizipationszeit als Funktion der Ein-treffzeit: Leistungssportler (Tennis) im Vergleich zu Nicht- bzw. Freizeitsportlern (mod. nach Vogt, 2001 [25]; Jendrusch & Ehrenstein, 2008 [10]).

(1) Dieser Beitrag ist Dr. Walter H. Ehrenstein†, meinem langjährigen Forschungspartner, in Dankbarkeit und Freundschaft gewidmet. Walter H. Ehrenstein verdanken wir wegweisende Arbeiten zum „Dynamischen Sehen“, unter anderem in Coautorenschaft mit Prof. em. Eugene R. Wist (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf), dem Urheber des hier verwendeten Sehtests („Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“).

Page 2: Dynamisches Sehen im Sport - sportwissenschaft.rub.de · Lange ist man davon ausgegangen, ... („Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“). ... (z. B. Tennis, Handball oder Volley-Abb

Aktuelle KontAKtologieAktkontAktol September 2011 · 6. Jahrgang · 18. Heft 27

Fortsetzung auf Seite 26 .

Eintreffzeit verglichen (Abb. 2) [4, 10, 25].Ein Vergleich der Antizipationszeiten zeigt (besonders im Bereich von 2-12 s; vgl. Abb. 2) für die Leistungssportler (schwarze Regressi-onsgrade) eine genauere Schätzung der Ein-treffzeit (Anpassungsgüte: R2 = 0,99) als für die Nicht- bzw. Freizeitsportler (Anpassungs-güte: R2 = 0,94; Abb. 2, graue Regressionsgra-de; die gestrichelte Linie bezieht sich hier auf den Fall fehlerfreier Leistung). Die Leistungs-sportler weisen jedoch eine deutlich geringere Streubreite auf. Sie fluktuieren folglich weni-ger in ihrem Extrapolationsverhalten und sind in ihrer Vorhersage verlässlicher, was ihnen, so ist zu vermuten, auch eine bessere zeitliche Koordination (z. B. beim Treffen des Balles im richtigen Moment an der richtigen Stelle im Raum) ermöglicht [10].

Ein rechnergestützter Test des afferenten BewegungssehensDas afferente dynamische Sehen lässt sich inzwischen relativ einfach durch ein rechner-gestütztes Testverfahren – den sogenannten „Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“ nach WIST [5, 28] – messen. Es gestattet mit relativ geringem technischen und zeit-lichen Aufwand eine Routinediagnostik. Das Sehzeichen, ein Landolt-Ring, wird dabei PC-gestützt auf einem Bildschirm in einem Zufallspunktemuster für kurze Zeit dadurch sichtbar, dass sich die Bildpunkte innerhalb des Sehzeichens durch Bewegung kurzfristig vom ruhenden Umfeld abheben (Abb. 3a). Durch diese dynamische Figur-Grund-Abhe-

bung entsteht eine kinetische Figur (“form from motion“), vergleichbar einer Enttarnung durch Bewegung (Beispiel „Hase im Feld“). Wie beim herkömmlichen Landolt-Test besteht die Aufgabe darin, die jeweilige Öffnungsrichtung (links, rechts, oben, unten) des allerdings nur durch kontrastive Bewegung sichtbar wer-denden Ringes anzugeben. Dabei werden die Sehanforderungen durch die Anzahl der be-wegten Bildpunkte von 100 Prozent (leich-teste) über 50 Prozent und 30 Prozent bis 20 Prozent (schwierigste) Sehbedingung variiert.

Bewegungswahrnehmung und Sport In einer ersten Untersuchung konnte gezeigt werden, dass eine zur Wahrnehmung eher unspezifische körperliche Tätigkeit im Sinne einer fahrradergometrischen Beanspruchung (im Unterschied zur Beanspruchung von ko-gnitiven Funktionen) bereits positive Aus-wirkungen auf die dynamische Sehleistung haben kann [19]. In einer weiteren Studie [3] beschäftigte uns die Frage, ob die dynamische Sehleistung in einem spezifischen Zusam-menhang zur jeweiligen Sportanforderung steht. Bei insgesamt 152 männlichen Hochlei-stungssportlern (29 Baseballspieler, 56 Fuß-ballspieler und 67 Hockeyspieler; Mitglieder der deutschen Nationalmannschaft bzw. der 1. und 2. Bundesliga) wurde die dynamische Sehleistung mit WISTs Sehtest bestimmt und mit altersentsprechenden Referenzwerten von Nicht- beziehungsweise Freizeitsport-lern verglichen. Dabei zeigte sich eine bessere

Sehleistung bei Baseball- und Hockeyspielern (mit 87,3 und 83,3 % richtigen Antworten), während die Fußballspieler sich in ihrer Seh-leistung nicht von der Bezugsgruppe (Refe-renz) unterschieden (81,7 bzw. 81,9 %; vgl. Abb. 4a). In Bezug auf die Referenzgruppe wie auch zu den Fußballern ergab sich für die Baseballspieler eine signifikant höhere affe-rente dynamische Sehleistung um 6,6 Prozent (p < 0,05), während sich keine Unterschiede hinsichtlich der statischen Sehschärfe erga-ben (Visuswerte im Mittel zwischen 2,03 und 2,11; p > 0,70).Die Baseballspieler erzielten (im Vergleich zu den Fußballspielern) über alle Sehanforderun-gen eine signifikant höhere afferente dynami-sche Sehleistung (Abb. 4b). Dieses Ergebnis belegt also einen Zusam-menhang zwischen (afferenter) dynamischer Sehleistung und der Sportartzugehörigkeit und gibt somit einen ersten Anhaltspunkt für weitere spezifische Anwendungen und diffe-renzierte Erhebungen dynamischer Sehfunk-tionen.

Efferentes BewegungssehenDas Bewegungssehen dient wesentlich der Handlungssteuerung und benötigt, wie oben erwähnt, neben Perzeption (afferentes Sehen) auch die aktive Exploration und das Verfolgen sich bewegender Objekte durch Augen- und Kopf- wie auch Körperbewegungen (efferen-tes Bewegungssehen), vor allem dann, wenn Details des sich bewegenden Objektes identi-fiziert werden sollen. Die Blickmotorik ermög-licht, sich bewegende Objekte im Gesichtsfeld foveal zu erfassen und bei geringeren Objekt-geschwindigkeiten bis rund 50-100°/s konti-nuierlich mit den Augen zu verfolgen (glei-tende Augenfolgebewegungen). Die bei hö-heren Objektgeschwindigkeiten resultierende retinale Bildwanderung ist Grundlage für den Einsatz von Sakkaden, das heißt ruckartigen Blicksprüngen. Über den (blickamplituden-abhängig) bis zu zirka 600-700°/s schnellen Blicksprung erfolgt wiederum eine möglichst präzise Annäherung an das sich bewegende Sehobjekt. Während der sakkadischen Augen-bewegung selbst ist die Informationsaufnah-me beeinträchtigt (sakkadische Suppression). Informationen zur Detailwahrnehmung gehen erst wieder ein, wenn ein neuer Fixations-punkt anvisiert wird oder das sich bewegende Objekt mit Hilfe einer „überleitenden“ Au-genfolgebewegung „eingefangen“, foveanah

Abb. 3a: Maße des Sehzei-chens beim rechnergestütz-ten Testverfahren nach WIST. Das ruhende Umfeld (7,2 x 5,4°) ist hier weggelassen, da sonst das Sehzeichen un-sichtbar würde (nach [28]); die Bildpunktdichte beträgt jeweils 50 % (schwarz/weiß).

Abb. 3b: Rechner-gestütztes Testver-fahren nach WIST [28] – Testaufbau

„Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“

(mit Kopfstütze).

Page 3: Dynamisches Sehen im Sport - sportwissenschaft.rub.de · Lange ist man davon ausgegangen, ... („Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“). ... (z. B. Tennis, Handball oder Volley-Abb

Aktuelle KontAKtologie AktkontAktol September 2011 · 6. Jahrgang · 18. Heft28

abgebildet und (zumindest zeit-weise) „begleitet“ werden kann. Daher ist es wenig Erfolg verspre-chend, bei der Beurteilung eines schnellen Bewegungsablaufes durch den Trainer möglichst viele Sakkaden einzusetzen, um alle re-levanten Beobachtungsmerkmale abzutasten. Zur Minimierung der Sakkaden sind vielmehr antizipa-torisch (also „vorausschauend“) festzulegende Blickstrategien hilfreich [23, S. 261], das heißt der Beobachter legt im Vorfeld der Bewegungsbeobachtung fest, welche Fixationsorte (und folglich Beobachtungsschwerpunkte) er in den einzelnen Phasen der Bewe-gung „visuell abtasten“ und im Anschluss beurteilen will. Ähnlich vorgehend fällt der Spieler seine Situationsentscheidung aufgrund der Identifikation von relevanten Diagnosemerkmalen zu „Wenn - Dann“-Beziehungen [26]. Dabei ist es unerheblich, ob er seine Blickstrategie regelsuchend ent-wickelt hat oder instruiert ein-setzt [21].

Messung des (efferenten) BewegungssehensZur Quantifizierung speziell der koordinativen Leistungsfähigkeit der Blick-motorik gibt es bis heute kein einheitliches und schon gar kein Routineverfahren. Die Sportwissenschaft nutzt zur Bestimmung der sogenannten sakkadischen Ortungsge-

schwindigkeit ein in Anlehnung an LUDVIGH & MILLER (1953; [16]) weiterentwickeltes Testverfahren: Bei fixiertem Kopf und Pro-jektion der Sehzeichen von links nach rechts werden Landolt-Ringe mit schrittweise ge-

steigerter (Winkel)-Geschwin-digkeit über eine bogenförmige Leinwand bewegt (Abb. 5). Unter standardisierten Beleuchtungsbe-dingungen (helladaptiert, nur ge-ring nahakkommodiert, Kontrast-werte zwischen Sehzeichen und Hintergrund von ≈ 0,35) und bei einer relativ geringen Sehschärfe- anforderung (Visus 0,1) gilt die-jenige Winkelgeschwindigkeit als Schwellenwert, bei der min- destens 80 Prozent der Sehzei-chen noch richtig erkannt werden [9, 23].

Blickmotorik und SportEigene Untersuchungen [9, 11] an Spitzensportler(inne)n zei-gen, dass Rückschlagspieler (z. B. Tennisspieler) eine deutlich höhere sakkadische Ortungsge-schwindigkeit als Sportler aus den Mannschafts-Sportspielen (z. B. Handball), den Individualsport-arten (z. B. Alpin-Ski) oder „Nicht-Sportler“ (Referenz) erzielen (vgl. Abb. 6). Dieser Befund wird durch zahlreiche Studien [7, 18, 22] gestützt, wonach Volleyball-, Baseball-, Tennis- und Badmin-tonspieler – jeweils im Vergleich zu „Nicht-Sportlern“ – bessere

dynamische Sehschärfewerte (Ortungsge-schwindigkeiten) erreichen.Die geschlechtsspezifische Differenzierung er-gibt für männliche Sportler in den schnelleren Sportarten (z. B. Tennis, Handball oder Volley-

Abb. 4a: Dynamische (afferente) Sehleistung im spezifischen Zusam-menhang zur jeweiligen Sportanforderung.

Baseball- und Fußballspielen (im Vergleich) als Funktion des Bewegungskontrastes: Die Sehanforderungen wer-den durch die Anzahl der bewegten Bildpunkte von 100 % (1,0=leichteste) über 50 % und 30 % bis 20 % (0,2=schwierigste) Sehbedin-gung variiert.

Abb. 5: Dynamische Sehleistung (efferente Bewegungswahrnehmung) – Messmethodik.

Abb. 6: Dynamische Sehleistung als Sakkadische Ortungsgeschwindigkeit (efferente Bewegungswahrnehmung) im spezifischen Zusammenhang zur je-weiligen Sportanforderung.

Page 4: Dynamisches Sehen im Sport - sportwissenschaft.rub.de · Lange ist man davon ausgegangen, ... („Düsseldorfer Test für Dynamisches Sehen“). ... (z. B. Tennis, Handball oder Volley-Abb

Aktuelle KontAKtologieAktkontAktol September 2011 · 6. Jahrgang · 18. Heft 29

ball) deutlich höhere Ortungsgeschwindigkei-ten als für weibliche, während bei „Nicht-Sport-lern“ – aber auch bei Individualsportler(inne)n wie z. B. Wurfscheibenschütz(inn)en oder Skifahrer(inne)n [9] – kaum Unterschiede auf-treten. Diese Geschlechtsspezifik beruht ver-mutlich darauf, dass verglichen mit den Da-men die Ball- und Aktionsgeschwindigkeiten der genannten Sportarten im Herrenbereich deutlich höher sind und somit möglicherweise als adäquater Trainingsreiz für adaptive Pro-zesse im Bereich der Blickmotorik fungieren.Interessant – und die oben genannten Ergeb-nisse untermauernd – sind auch hier Ergeb-nisse zur blickmotorischen Leistungsfähigkeit von Fußballspielern: So ist spielpositionsbe-zogen die Sakkadische Ortungsgeschwindig-keit von Bundesliga-Torhütern mit im Mit-tel 297,5°/s (± 60,2°/s) signifikant höher als die von Bundesliga-Feldspielern (235,8°/s ± 39,4°/s; 2p = 0,011; Profifußballer insgesamt: 244,0°/s ± 46,5°/s). Bei Freizeitspielern konn-ten diese spielpositionsbezogenen Leistungs-differenzen nicht festgestellt werden (Torhü-ter: 226,7°/s ± 16,1°/s; Feldspieler: 248,7°/s ± 40,0°/s; 2p = 0,360). Die bessere blickmo-torische Leistungsfähigkeit der Profi-Torhüter ist vermutlich ebenfalls beanspruchungs- induziert [11].(Längsschnitt)Studien bestätigen ferner eine entwicklungs- und anforderungsinduzierte Verbesserung der blickmotorischen Leistung von der Vorpubertät bis zur Adoleszenz [8, 12]. Als Konsequenz vor allem für Sportarten mit hohen visuell-dynamischen Anforderungen gilt es, vorhandene Adaptationsreserven im Bereich der Blickmotorik durch gezieltes (sportartspezifisches) Training zu erschließen [9]. Die durch zahlreiche Studien belegte Trai-nierbarkeit der blickmotorischen Leistungsfä-higkeit [2, 14, 15, 23] wird ursächlich weniger auf muskuläre als vielmehr auf zentral-koor-dinative Effekte zurückgeführt, das heißt auf verbesserte oder schneller abrufbare Moto-rikprogramme aus den Zentren für die hori-zontale Blickmotorik in der pontinen Formatio reticularis.

FazitZweifellos überwiegen die Anforderungen an das dynamische Sehen bei den meisten Tä-tigkeiten (im Straßenverkehr, Sport etc.). Mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf statische Sehfunktionen bleibt die herkömmliche Seh-diagnostik insbesondere für die Sportpraxis

ziemlich unbefriedigend. Die Erfassung dy-namischer (afferenter und efferenter) Seh-funktionen hat ein eigenes Gewicht für die Sehdiagnostik mit beträchtlichen Konsequen-zen auch für ein gezieltes (allgemeines oder sportartspezifisches) Training entsprechender Sehfunktionen.

Autor:Dr. G. JendruschLehrstuhl für Sportmedizin und Sport- ernährungRuhr-Universität BochumOverbergstr. 1944780 BochumE-Mail: [email protected]

Literatur[1] ABERnEtHY, B. (1999). the 1997 Coleman Ro-berts Griffith Address: Movement Expertise: A junc-ture between psychology theory and practice. Journal of Applied Sport Psychology, 11 (1), 126-141.[2] BAnkS, P.M., MooRE, l.A., lIU, C. & WU, B. (2004). Dynamic visual acuity: a review. the South African optometrist, 63 (2), 58-64.[3] EHREnStEIn, H. & JEnDRUSCH, G. (2008). Dyna-misches Sehen im Sport. DoZ optometrie & Fashion, 63 (5), 42-45.[4] EHREnStEIn, W.H., SCHUlZ, S.n. & DAUBMAnn, U. (2000). Antizipation dynamischer Sehinformation: Vergleich verschiedener Messanordnungen und ein quantitatives Modell. In H.H. BÜltHoFF, M. FAHlE, k.R. GEGEnFURtnER & H.A. MAllot (Eds.), tWk 2000. Beiträge zur 3. tübinger Wahrnehmungskonferenz (S. 108). kirchentellinsfurt: knirsch-Verlag.[5] EHREnStEIn, W.H. & WISt, E.R. (2003). Anforde-rungen an das Sehvermögen des kraftfahrers: Dyna-misches Sehen vermisst. Deutsches Ärzteblatt, 100 (34-35), A-2239 http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=38189.[6] ERnSt, M.o. & BÜltHoFF, H.H. (2004). Merging the senses into a robust percept. tICS 8, 162-169.[7] ISHIGAkI, H. & MIYAo, M. (1993). Differences in dynamic visual acuity between athletes and nonath-letes. Perceptual and Motor Skills, 77 (2), 835-839.[8] ISHIGAkI, H. & MIYAo, M. (1994). Implications for dynamic visual acuity with changes in age and sex. Perceptual and Motor Skills, 78 (2), 363-369.[9] JEnDRUSCH, G. (2006). Sportbezogene leistun-gen des visuellen Systems. In: BARtMUS, U., JEn-DRUSCH, G., HEnkE, t. & PlAtEn, P. (Hrsg), In memo-riam Horst de Marées anlässlich seines 70. Geburtsta-ges (S. 55-74). köln: Sportverlag Strauß.[10] JEnDRUSCH, G. & EHREnStEIn, W.H. (2008). An-tizipatives Sehverhalten: Experimentelle Zugänge und sportwissenschaftliche Perspektiven. Zeitschrift für praktische Augenheilkunde & Augenärztliche Fortbil-dung (ZPA), 29 (10), 419-426.[11] JEnDRUSCH, G., kACZMAREk, l., lAnGE, P., lIn-GElBACH, B. & PlAtEn, P. (2006). Visual requirements and visual performance profile in soccer. Medicine & Science in Sports & Exercise, 38 (5) (Supplement), 446.[12] JEnDRUSCH, G., WEnZEl, V. & HECk, H. (1999). Geschlechts- und altersspezifische Unterschiede in der blickmotorischen leistungsfähigkeit. In: kRUG, J. & HARtMAnn, C. (Hrsg.), Praxisorientierte Bewe-

gungslehre als angewandte Sportmotorik (S. 100-105). Sankt Augustin: Academia.[13] lEWAlD, J., EHREnStEIn, W.H. & GUSkI, R. (2001). Spatio-temporal constraints for auditory-vi-sual integration. Behavioural Brain Research, 121 (1/2), 69-79.[14] lonG, G.M. & RIGGS, C.A. (1991). training effects on dynamic visual acuity with freehead viewing. Per-ception, 20 (3), 363-371.[15] lonG, G.M. & RoURkE, D.A. (1989). training ef-fects on the resolution of moving targets – dynamic visual acuity. Human Factors, 31 (4), 443-451.[16] lUDVIGH, E.J. & MIllER, J.W. (1953). A study of dynamic visual acuity (Joint Project nM 001.075.01.01). kresge Eye Institute and United States School of Aviation Medicine, Pensacola 1953.[17] MARAVItA, A. (2006). From body in the brain, to body in space: sensory and intentional aspects of bo-dy representation. In G. knoBlICH, M. SHIFFRAR & M. GRoSJEAn (Eds.), the human body: perception from the inside out (pp. 65-88). oxford: University Press.[18] MElCHER, M.H. & lUnD, D.R. (1992). Sports visi-on and the high school student athlete. Journal of the American optometric Association, 63 (7), 467-474.[19] MEWES, n., kEllMAnn, M., EHREnStEIn, W.H. & JEnDRUSCH, G. (2008). Veränderungen der dynami-schen Sehleistung bei körperlicher und psychischer Beanspruchung. Deutsche Zeitschrift für Sportmedi-zin, 59 (6), 141-145.[20] MoSCHnY, A. & WIlkE, G. (2008). Handball: An-tizipieren und parieren. http://www.peking.ard.de/pe-king2008/sportarten/handball/handball298.html[21] RotH, k. & RAAB, M. (1999). taktische Regelbil-dungen: „mühsam, konzentriert, intentional oder mühelos, nebensächlich, inzidentell?“ In M. WEGnER, A. WIlHElM & J.P. JAnSSEn (Eds.), Empirische For-schung im Sportspiel. kiel, 1999 (S. 73-84). Hamburg: Feldhaus.[22] RoUSE, M.W., DElAnD, P., CHRIStIAn, R. & HAW-lEY, J. (1988). A comparison study of dynamic visual acuity between athletes and nonathletes. Journal of the American optometric Association, 59 (12), 946-950.[23] tIDoW, G. (1996). Zur optimierung des Bewe-gungssehens im Sport. In: BARtMUS, U., HECk, H., MEStER, J., SCHUMAnn, H. & tIDoW, G. (Hrsg.), As-pekte der Sinnes- und neurophysiologie im Sport – In memoriam Horst de Marées (S. 241-286). köln: Sport und Buch Strauß.[24] UnGERlEIDER, l.G. & PAStERnAk, t. (2004). Ven-tral and dorsal cortical processing streams. In: CHA-lUPA, l.M. & WERnER, J.S. (eds), the Visual neurosci-ences (p 541-562). Cambridge, Mass.: MIt Press.[25] VoGt, S. (2001). Antizipation und Antizipations-fähigkeit – testverfahren zur Diagnose am Beispiel tennis. In M. lAMES (Hrsg.), Vermittlungskonzepte von tennis in Hochschulen, Schulen und Sportverei-nen (S. 89-97). Hamburg: Czwalina.[26] WEStPHAl, G., GASSE, M. & RICHtERInG, G. (1987). Entscheiden und Handeln im Sportspiel. Münster: Philippka.[27] WIlkE, G. & UHRMEIStER, J. (2009). koordina-tions-training – teil 2: Abwehr und torwart. köln: Sportverlag Strauß.[28] WISt, E.R., EHREnStEIn, W.H. & SCHRAUF, M. (1998). A computer-assisted test for the electrophy-siological and psychophysical measurement of dyna-mic visual function based on motion contrast. Jour-nal of neuroscience Methods, 80, 41-47.[29] WISt, E.R. & EHREnStEIn, W.H. (2001). Sport und dynamische Sehschärfe. Ein neuer Ansatz zur Prü-fung des dynamischen Sehens. Zeitschrift für prakti-sche Augenheilkunde & Augenärztliche Fortbildung (ZPA), 22, 433-436.