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Geographische Zeitschrift, Band 101 · 2013 · Heft 1 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart ESCHER, ANTON und PETERMANN, SANDRA: Tau- sendundein Fremder im Paradies? Ausländer in der Medina von Marrakech. Würzburg: Ergon Verlag, 2009, 276 S., (Muslimische Welten. Empirische Studien zu Gesellschaft, Politik und Religion 1), ISBN: 978-3-89913-487-2, € 48,00 Eine der wesentlichen intellektuellen Quellen der Neuen Kulturgeographie ist sicherlich die postkolo- niale Theoriebildung und hier vor allem die Arbeit von Edward Said zum Orientalismus. Die verschie- denen Sichtweisen des Westens auf den „Orient“ sowie das ambivalente Spiel mit Identitäten und Alterität, das sich mit den Vorstellungen zum Orient verbindet, weisen seit langem eine ungebrochene Faszination für die Neue Kulturgeographie auf. Und diese Bezauberung für die intellektuellen Möglich- keiten einer kulturgeographischen Beschäftigung mit dem Orient merkt man der außergewöhnlichen Studie von Anton Escher und Sandra Petermann deutlich an. Die theoretisch wie empirisch angelegte Untersuchung der aufgrund des Zuzugs von west- lichen Ausländern induzierten physischen und sozi- alen Transformation in der Medina von Marrakech nimmt als ihren Ausgangspunkt die vielgestaltigen geographischen Imaginationen des Westens zum Orient, wie sie etwa Derek Gregory profund für die Kulturgeographie ausgearbeitet hat. Das Buch von Escher und Petermann schlägt mit dieser Ausrichtung eine Brücke zwischen empirischer geographischer Orientforschung und der Neuen Kulturgeographie. Die leitende These der Studie sieht in dem „west- lichen Diskurs über [die Stadt] Marrakech [...] eine Zuschreibung des imaginären Orients“ (16). Welche lebensweltlichen Konsequenzen diese diskursive Zuschreibung in der Altstadt von Marrakech zei- tigt, wird in den 273 Seiten der Untersuchung auf Basis von 192 geführten qualitativen Interviews sowie von eigenen Kartierungen und Sketch Maps der Interviewpartner/innen tiefgehend eruiert. Das Buch ergänzen 45 Farbtafeln im Anhang, die sich aus aktuellen und historischen Fotografien, histo- rischen und thematischen Karten, Grundrissen von Riads sowie Sketch-Maps einiger Interviewpartner zusammensetzen und durch kurze Erläuterungen der Autor/innen in den Kontext eingeordnet werden. Die Autor/innen erkennen eine Neugestaltung der Medina, die sich sowohl in baulichen Veränderungen, die die neu zuziehenden westlichen Ausländer vor- nehmen, als auch in dem weiteren Bevölkerungsaus- tausch in der Altstadt ausdrückt. Sie sehen in diesen Prozessen ein neues kulturelles Phänomen, dass sie mit dem Neologismus des „Orientmorphismus“ be- zeichnen. Das Zusammenspiel von westlichen geo- graphischen Imaginationen und einem basalen west- lichen Kosmopolitismus führt in Marrakech aufgrund der politisch-ökonomischen Globalisierung zu einer materiell-kulturellen Umgestaltung der Medina. Phänotypisch wird dabei die alte Medina scheinbar restauriert. Diese scheinbare Restaurierung schafft jedoch eine andere kulturelle Wirklichkeit als die Medina vorher abbildete. Es ist nunmehr der Nach- bau in Form einer Restaurierung nach westlichen Vorstellungen über den Orient. „Es handelt sich nicht um eine Erneuerung oder Restaurierung, sondern um eine neue Gestaltung des Ortes mit orientalischer Referenz und imaginärer Reflexion sowie der Nut- zung und der Erfindung eines Zwischenraumes mit weitgehender Setzung von selbst definierten Normen einer kosmopolitischen Klientel zwischen Kulturen und zwischen Gesellschaften“ (28). Diese sich in der Medina abzeichnende Orientmorphose als eine „individuelle und kollektive Produktion des irdischen Paradieses an einem mythisch aufgeladenen Ort so- wie die Veränderung seiner Bewohner bzw. Besitzer“ (187) ist letztlich die Umgestaltung einer Stadt nach den Gesetzen des Marktes. Die ökonomisch wohlha- benderen Ausländer passen den realen Raum einer nordafrikanischen Altstadt an ihre kulturellen Vor- stellungen von maghrebinischer Realität an. Escher und Petermann sehen in diesem Orientmorphismus eine evolutionäre nächste Stufe des Orientalismus von Edward Said, die im Kontext der Globalisierung zu physisch-materiellen und sozialen Veränderungen aufgrund der westlichen Imaginationen von Orient in der Medina von Marrakech führt. Diese Modifi- kationen stellen sich in der Realität als ein genuiner Gentrifizierungsprozess dar, wie die zwei Mainzer Geograph/innen eindrucksvoll aufzeigen. Die grundlegende Motivation des Prozesses sehen die Autor/innen in der Konstruktion der Medina von Marrakech als ein irdisches Paradies im westlichen Diskurs, wie schon im Titel des Buches angedeutet. Die geographischen Imaginationen sind zwar viel- schichtig und wechselhaft, es lässt sich aber dieses eine Hauptmotiv vom irdischen Paradies aus den unterschiedlichsten Geschichten und Vorstellungen Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

E NTON ETERMANN ANDRA Tau- sendundein Fremder im … · 56 Buchbesprechungen herausdestillieren. Die Zuschreibung des Paradieses ist ein aktiv hervorgebrachter Mythos, den Escher

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Geographische Zeitschrift, Band 101 · 2013 · Heft 1 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart

ESCHER, ANTON und PETERMANN, SANDRA: Tau-sendundein Fremder im Paradies? Ausländer in der Medina von Marrakech. Würzburg: Ergon Verlag, 2009, 276 S., (Muslimische Welten. Empirische Studien zu Gesellschaft, Politik und Religion 1), ISBN: 978-3-89913-487-2, € 48,00

Eine der wesentlichen intellektuellen Quellen der Neuen Kulturgeographie ist sicherlich die postkolo-niale Theoriebildung und hier vor allem die Arbeit von Edward Said zum Orientalismus. Die verschie-denen Sichtweisen des Westens auf den „Orient“ sowie das ambivalente Spiel mit Identitäten und Alterität, das sich mit den Vorstellungen zum Orient verbindet, weisen seit langem eine ungebrochene Faszination für die Neue Kulturgeographie auf. Und diese Bezauberung für die intellektuellen Möglich-keiten einer kulturgeographischen Beschäftigung mit dem Orient merkt man der außergewöhnlichen Studie von Anton Escher und Sandra Petermann deutlich an. Die theoretisch wie empirisch angelegte Untersuchung der aufgrund des Zuzugs von west-lichen Ausländern induzierten physischen und sozi-alen Transformation in der Medina von Marrakech nimmt als ihren Ausgangspunkt die vielgestaltigen geographischen Imaginationen des Westens zum Orient, wie sie etwa Derek Gregory profund für die Kulturgeographie ausgearbeitet hat. Das Buch von Escher und Petermann schlägt mit dieser Ausrichtung eine Brücke zwischen empirischer geographischer Orientforschung und der Neuen Kulturgeographie. Die leitende These der Studie sieht in dem „west-lichen Diskurs über [die Stadt] Marrakech [...] eine Zuschreibung des imaginären Orients“ (16). Welche lebensweltlichen Konsequenzen diese diskursive Zuschreibung in der Altstadt von Marrakech zei-tigt, wird in den 273 Seiten der Untersuchung auf Basis von 192 geführten qualitativen Interviews sowie von eigenen Kartierungen und Sketch Maps der Interviewpartner/innen tiefgehend eruiert. Das Buch ergänzen 45 Farbtafeln im Anhang, die sich aus aktuellen und historischen Fotografien, histo-rischen und thematischen Karten, Grundrissen von Riads sowie Sketch-Maps einiger Interviewpartner zusammensetzen und durch kurze Erläuterungen der Autor/innen in den Kontext eingeordnet werden.

Die Autor/innen erkennen eine Neugestaltung der Medina, die sich sowohl in baulichen Veränderungen, die die neu zuziehenden westlichen Ausländer vor-nehmen, als auch in dem weiteren Bevölkerungsaus-tausch in der Altstadt ausdrückt. Sie sehen in diesen Prozessen ein neues kulturelles Phänomen, dass sie mit dem Neologismus des „Orientmorphismus“ be-zeichnen. Das Zusammenspiel von westlichen geo-graphischen Imaginationen und einem basalen west-lichen Kosmopolitismus führt in Marrakech aufgrund der politisch-ökonomischen Globalisierung zu einer materiell-kulturellen Umgestaltung der Medina. Phänotypisch wird dabei die alte Medina scheinbar restauriert. Diese scheinbare Restaurierung schafft jedoch eine andere kulturelle Wirklichkeit als die Medina vorher abbildete. Es ist nunmehr der Nach-bau in Form einer Restaurierung nach westlichen Vorstellungen über den Orient. „Es handelt sich nicht um eine Erneuerung oder Restaurierung, sondern um eine neue Gestaltung des Ortes mit orientalischer Referenz und imaginärer Reflexion sowie der Nut-zung und der Erfindung eines Zwischenraumes mit weitgehender Setzung von selbst definierten Normen einer kosmopolitischen Klientel zwischen Kulturen und zwischen Gesellschaften“ (28). Diese sich in der Medina abzeichnende Orientmorphose als eine „individuelle und kollektive Produktion des irdischen Paradieses an einem mythisch aufgeladenen Ort so-wie die Veränderung seiner Bewohner bzw. Besitzer“ (187) ist letztlich die Umgestaltung einer Stadt nach den Gesetzen des Marktes. Die ökonomisch wohlha-benderen Ausländer passen den realen Raum einer nordafrikanischen Altstadt an ihre kulturellen Vor-stellungen von maghrebinischer Realität an. Escher und Petermann sehen in diesem Orientmorphismus eine evolutionäre nächste Stufe des Orientalismus von Edward Said, die im Kontext der Globalisierung zu physisch-materiellen und sozialen Veränderungen aufgrund der westlichen Imaginationen von Orient in der Medina von Marrakech führt. Diese Modifi-kationen stellen sich in der Realität als ein genuiner Gentrifizierungsprozess dar, wie die zwei Mainzer Geograph/innen eindrucksvoll aufzeigen. Die grundlegende Motivation des Prozesses sehen die Autor/innen in der Konstruktion der Medina von Marrakech als ein irdisches Paradies im westlichen Diskurs, wie schon im Titel des Buches angedeutet. Die geographischen Imaginationen sind zwar viel-schichtig und wechselhaft, es lässt sich aber dieses eine Hauptmotiv vom irdischen Paradies aus den unterschiedlichsten Geschichten und Vorstellungen

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

56 Buchbesprechungen

herausdestillieren. Die Zuschreibung des Paradieses ist ein aktiv hervorgebrachter Mythos, den Escher und Petermann an drei Fixpunkten festmachen: an dem Maler Jacques Majorelle (1886-1962), der lange in der Stadt lebte und arbeitete, an dem Hotel La Mamounia als eine Mitte der 1920er Jahre errichtete Manifesta-tion kolonialer Vorstellungen des Orients für eine elitäre Jetset-Gemeinde und an der Hippie-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre mit ihrer Suche nach individueller Freiheit. Gerade in dieser letzten Gruppe der Hippies erkennen die Autor/innen die Vorberei-tung der folgenden Gentrifizierung der Medina durch westliche Ausländer, da diese als erste von außen kommende Gruppe Riads in der Medina anmieteten und im Zuge der Rucksackreisenden Berichte über die „Hippies“ in Marrakech in den westlichen Medien zirkulierten, die erstmals die Aufmerksamkeit von breiteren Schichten in der westlichen Bevölkerung auf die Medina von Marrakech richtete. Eine Stärke der Studie ist die genaue Nach-zeichnung des Wandels in den Darstellungen über die Medina von Marrakech in den Reiseberichten, Reiseführern und den späteren „instruktiven Reise-führern“ (90). Die Autor/innen zeigen die evidente Fokussierung dieser Medien auf das „Orientalische“ der Medina gründlich auf, wie etwa schnelle Wech-sel, aus Affekten und wechselseitigen körperlichen Reaktionen bestehende Atmosphären oder bauliche Spezifikationen, und plausibilisieren das Spüren nach dem Authentischen als Erleben der Medina von Marrakech. Mittelpunkt der in den Berichten und Reiseführern konstruierten Imaginationen ist das Riad, das Wohnhaus in der Medina. Escher und Petermann zufolge stellt das Riad die Reifikation des authentischen Orients dar und rückt daher in das Zentrum des Begehrens der westlichen Ausländer. Im Ergebnis steht eine Gentrifizierung der Medina, die mit einer Verdrängung der ursprünglichen Be-völkerung verbundenen ist. Die ärmere autochthone Bevölkerung wohnte in der Medina überwiegend zur Miete und musste nach Übernahme der Häuser durch westliche Ausländer fortziehen. Der Prozess ist in Marrakech vergleichbar mit der Gentrifizierung in westlichen Städten. Escher und Petermann gelingt es, diese urbane Veränderung in neutraler und ana-lytischer Weise darzustellen, ohne Partei für die eine oder andere Seite zu ergreifen. Sie stellen prägnant die Sonderrolle der westlichen Fremden heraus, die aufgrund ihrer ökonomischen Macht in der Lage sind, sich in die Stadt einzukaufen und das traditionelle soziale Gefüge in der Medina massiv zu verändern.

Geschickt ist die Darstellung dieses komplexen und vielschichtigen Prozesses einer „internationalen Gentrifizierung“ anhand eines Interviews mit einem Schlüsselakteur, einem belgischen Architekten, der die Aufwertung der Bausubstanz in der Medina für den internationalen Immobilienmarkt detailliert schildert. Escher und Petermann können so die Gen-trifizierung plausibel nachzeichnen und gewinnen gleichzeitig Raum für die weitere Darlegung ihres Schlüsselbegriffs, der Orientmorphose als Reifikation westlicher geographischer Imaginationen. Die mit 192 qualitativen Interviews und verschie-densten Kartierungen und Sketch Maps außerge-wöhnlich ausführliche Empirie, die die Ergebnisse von eigenen Forschungsprojekten und studentischen Arbeiten zusammenträgt, welche die Autor/innen in dem Zeitraum von 1999 bis 2006 durchgeführt bzw. angeleitet haben, stellt anhand der Ausarbeitung von sieben Sozialfiguren die Ergebnisse der Arbeiten dar. Die konstruierten Sozialfiguren des Künstlers, Jetsetters, Kulturunternehmers, Gewerbetreibenden, Touristen, Rentners und Eingeheirateten werden nicht als einfache biographische Portraits von Indi-viduen angelegt, sondern als eine Generalisierung des jeweiligen Sozialtyps. Dieses Vorgehen und die konzeptionelle Breite der verschiedenen Figuren erlaubt es auf der einen Seite, viele der erzielten Be-funde aufeinander aufbauend darzustellen. Dies lässt ein lebendiges Bild des Soziotops Medina von Mar-rakech entstehen. Auf der anderen Seite kreisen die verschiedenen Sozialfiguren häufig um die gleichen Themen wie die Überschreitung von normativen Grenzen, der Zusammenhalt der zuziehenden Eu-ropäer, das Finden des persönlichen Paradieses, die Einladungen innerhalb eines westlich-europäischen Sozialkreises, die Wärme, das Licht und Klima von Marrakech, der Hauskauf und Zukauf von Nachbar-häusern oder die Probleme mit den marokkanischen Nachbarn. Obwohl die Figuren so konstruiert sind, dass sie unterschiedlichsten Sozialtypen angehören, kommen doch alle auf mehr oder weniger ähnliche Themen bzw. sind die Sichtweisen auf bestimmte Themen wie der augenscheinliche Neokolonialismus der zuziehenden Franzosen oder die um sich greifen-de Prostitution ähnlich. Als ein Leser, der nicht die weitreichenden Kenntnisse über den „Orient“ wie die Autor/innen besitzt, hätte man sich an dieser Stelle eine etwas stärkere Einordnung der Interpretationen in den soziologisch-kulturtheoretischen Kontext ge-wünscht. Dies hätte zum Beispiel über eine stärkere Generalisierung der Sozialtypen geschehen können,

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

Book Reviews 57

über stärkere Rückbezüge zur kulturgeographischen Literatur oder über Vergleiche mit anderen Städten des Maghrebs oder westlicher Großstädte. Am Ende der Lektüre der sehr empfehlenswerten Studie steht die Erkenntnis eines klaren Pfades, der zu der von den Autor/innen so genannten Orient-morphose in der Medina von Marrakech führt. Die kulturellen Differenzen zwischen Marokko und spe-ziell Marrakech und Europa/Nordamerika erfahren in einem medialen Diskurs eine Übertreibung. Die Autor/innen führen hier als wesentliche Kanäle der Kommunikation Reiseführer, Kataloge oder Fern-sehbeiträge an. Einmal medial übertrieben kommu-niziert fördert dies die Entstehung von bestimmten paradiesischen geographischen Imaginationen, die wiederum in einem soziologischen Sinne als Handlungsmotive fungieren. Diese nun intrinsische Motivation zu einer Aufspürung und Umsetzung der geographischen Imaginationen in der Medina von Marrakech durch die westlichen Akteure führt zu deren Reifikation, die mitunter konfliktbehaftet ist. Diese Konflikte äußern sich in Verdrängungspro-zessen, dem Ausbau der Riads nach europäischen Vorstellungen, die Umstellung der Infrastruktur auf die Bedürfnisse der Zuziehenden usw. Der Detail-reichtum, mit denen die Autor/innen ihr Konzept der Orientmorphose belegen, ist beeindruckend. Die Farbtafeln am Ende des Buches geben dabei noch-mals einen visuellen Einblick in die Medina, der die Interviewinterpretationen abrundet. Das Buch von Anton Escher und Sandra Petermann ist für Stadtge-ograph/innen empfehlenswert, weil hier Gentrifica-tion mithilfe postkolonialer Theorieansätze äußerst plausibel erklärt wird. Die faktische Umsetzung der westlichen geographischen Imaginationen des Le-bens im Orient führt in erster Linie zu Gentrification in Marrakech, wie die Autor/innen eindrucksvoll aufzeigen. Die Arbeit ist für Kulturwissenschaftler/innen und Orientalist/innen genauso empfehlenswert, gerade weil die Studie Stadtforschung im Orient auf der Grundlage von postkolonialen Theorieangeboten betreibt. Die Untersuchung verbindet so unterschied-liche Forschungstraditionen und führt diese in der Medina von Marrakech zusammen. Gentrification in Marrakech wird im Kontext der evolutionären Weiterentwicklung des Saidschen Orientalismus interpretiert. Das Ergebnis einer Orientmorphose ist überaus überzeugend dargestellt.

Autor: Dr. Peter Dirksmeier, Humboldt-Universität zu Berlin, Geographisches Institut, Abteilung Kulturgeogra-phie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, E-Mail: [email protected]

ILLOUZ, EVA: Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism. Cambridge: Polity Press, 2007, 134 S., ISBN: 978-0-745-63904-8, $ 64.95

In ihren Frankfurter Adorno-Vorlesungen aus dem Jahr 2004 versucht die israelische Soziologin Eva Illouz eine Weiterführung der Kritischen Theorie im Hinblick auf die konflikthaften Tendenzen der Mo-derne. Die drei Vorlesungen des Bandes entstanden während eines Forschungsaufenthaltes der Autorin an der Universität Princeton und reflektieren ihre intellektuelle Auseinandersetzung mit einer zeitge-mäßen Kapitalismuskritik. Eva Illouz steigt in ihre Argumentation mit dem Postulat ein, dass in den bisherigen Betrachtungen und Diskussionen über die Errungenschaften der Moderne die menschlichen Emotionen bisher keine Rolle gespielt hätten. Emo-tionen blieben im Verhältnis zu häufig diskutierten modernen Ideen wie Demokratie, Moral, Indivi-dualismus oder Arbeitsteilung seltsam unsichtbar. Der Soziologie und Philosophie fehle daher ihrer Meinung nach eine Beschreibung der Moderne in Begriffen von Emotion und Gefühl. Der israelischen Soziologin zufolge finden sich Emotionen an zentraler Stelle in den Werken der Klassiker ihres Fachs, wie etwa in der protestan-tischen Ethik von Max Weber, in der Blasiertheit des modernen Großstädters, die immer in der Ge-fahr schwebe, in reinen Hass umzuschlagen, wie Georg Simmel dies ausführt oder in dem Begriff der Solidarität von Emile Durkheim, der letztlich ein Bündel an Emotionen bezeichnet, die ein In-dividuum an die Gesellschaft und deren Symbole binden. Illouz extrahiert in ihren Vorlesungen aus der Kultur des Kapitalismus eine emotionale Kom-ponente, die soziale Beziehungen als Ganzes betrifft. Sie beschreibt eine bedeutende und genuin moderne Entwicklung dezidiert als die Emotionalisierung ökonomisch-rationaler Beziehungen genauso wie die Ökonomisierung emotionaler zwischenmenschlicher Beziehungen, etwa wenn sie Partnerschaftsbörsen im Internet analysiert. Mit dieser theoretischen Stoßrich-tung sind die Ausführungen von Eva Illouz hochgra-dig anschlussfähig an die Diskurse um Emotionen und Affekte in der gegenwärtigen Humangeographie, die ebenfalls nach den emotionalen und affektiven Grundlagen ethisch-moralischen Handelns fragen und z. B. als geographies of affect Einzug in die jüngsten Handbücher des Faches gefunden haben.

Geographische Zeitschrift, Band 101 · 2013 · Heft 1 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

58 Buchbesprechungen

Emotionen versteht Illouz als die energetische Seite des sozialen Handelns, wobei diese Energie simultan auf die Kognition, Affekte, Motive und die Körper der handelnden Individuen selbst ein-wirkt. In der ersten Vorlesung vertritt die israelische Soziologien die These, dass sich unter Einbezug dieser emotionalisierten Perspektive auf Modernität tradierte Vorstellungen von Identität, die Unterschei-dung von öffentlich/privat und Gender-Vorstellungen ändern. Die Humangeographie diskutiert Emotionen in diesem Sinne, z. B. im Kontext der politischen Geographie und geographischen Entwicklungsfor-schung, die die Fähigkeit und die moralische Ver-pflichtung zu einer Fern-Emphatie mit notleidenden Fremden diskutieren. Mitleid mit entfernten Frem-den ist demnach ein emotionalisiertes Ritual in der Gegenwartsgesellschaft, ein Ritual der politischen Anwandlung. Fern-Emphatie ist letztlich ein unmit-telbares Gefühl, eine Emotion oder ein Affekt und damit ambivalent, unkalkulierbar und sprunghaft, auch wenn Illouz emotionales Reagieren stärker auf die soziale Beziehung zum Impulsgeber zurückführt und damit als kalkulierbar beschreibt. Interessant für geographisches Nachdenken über Affekte und Emo-tionen ist an Illouz Ausführungen hingegen die Nähe zur Kritischen Theorie und die in ihren Vorlesungen gelungene Symbiose von Kultur und individuellem Bewusstsein. Die zentrale Idee der ersten Vorlesung knüpft an diese Verbindung an. Illouz konzipiert den Begriff eines emotionalen Kapitalismus als einer Kultur der Interpenetration von individuellen emotionalen sowie ökonomischen Diskursen und Praktiken, die als Ergebnis Affekte als einen wichtigen Aspekt ökonomischen Handelns mitführen und umgekehrt, in der das emotionale Leben dem Primat der ökono-mischen Reziprozitätsformen folgt. Die Ökonomie wird demnach über Affekte (mit)strukturiert, die dem Imperativ der Kooperation nachkommen. Gemäß der israelischen Soziologin ist das Dogma dieses neuen emotionalen Kapitalismus ein Zwang zur kommu-nikativen Kooperation und der Kanalisierung von Affekten in diese Richtung. Die Herausbildung des Kapitalismus in der Moderne geht folglich Hand in Hand mit der Herausbildung einer speziellen, an-gepassten und emotionalen Kultur. Emotionen sind demnach ein wesentlicher Bestandteil der Moderne und des Kapitalismus selbst. Illouz bietet mit der Herausarbeitung dieses Kapitalismusbegriffes einen spannenden Ansatz für eine Kapitalismuskritik in der Geographie, gerade weil der Humangeographie ein

Nachdenken über Emotionen, Affekte und Kapita-lismus alles andere als fremd ist. Die Habermassche Konsensorientierung in der Kommunikation führte nach Illouz zu einer zwangsläufigen Thematisierung von Emotionalität. Emotionen würden in der emoti-onalisierten Moderne sowohl in Organisationen als auch in Familien und Haushalten verhandelt und ausgedrückt, was sich z. B. in der großen Akzeptanz von Therapieangeboten für den privaten Bereich oder in der veränderten und emotionalisierten Sprache der Ökonomie zeige. Das von Illouz für ihre These einer Ökonomisie-rung sozialer Beziehungen vorgebrachte Beispiel ist die internetbasierte Partnerschaftsvermittlung. Diese profitorientierten Institutionen im Netz trans-formieren das private Selbst über von Psychologen entworfene Fragebögen in eine öffentliche Per-formanz. Die Vermittlungsplattformen im Internet machen auf diese Weise das Selbst für die abstrakte, autonome und ökonomisierte Teil-Öffentlichkeit der anderen Nutzer/innen sichtbar. Die Partnerschafts-vermittlungen im Internet sind keine Öffentlichkeit im Sinne von Jürgen Habermas, wie Illouz zu Recht betont, sondern teil-öffentliche Performanzen von bestimmten Identitäten. Ihr wesentliches Argument ist das der Emotion: Diese Vermittlungsangebote sind nur in dem Sinne teil-öffentliche Performanzen, in dem die Benutzer/innen ein von psychologischer Professionalisierung optimiertes Selbst im Internet „anbieten“. Emotionen und Affekte treten jedoch im Moment des physischen „Erstkontaktes“ unwei-gerlich hinzu. Erving Goffman hat wie kein anderer herausgearbeitet, dass in körperlichen Begegnungen eine Kluft zwischen dem, was man sagt und wie man sich verhält und dem Gesamteindruck der Person besteht. Nach Goffman ist es gerade nicht möglich, den Gesamteindruck der Person in der direkten kör-perlichen Begegnung vollständig zu kontrollieren und zu manipulieren. Es bleibt immer ein Rest, der sich der Eindrucksmanipulation entzieht, aber aus-gesprochen wirksam ist. Hierin erkennt Illouz einen Grund der geringen Erfolgsquoten der von ihr ange-führten Plattformen. Die Humangeographie könnte ihre Arbeiten zum Internet um die ausgesprochen anregende dritte Vorlesung über Emotionalität und der „Romantisierung des Internets“ erweitern. Eine Verbindung von Kapitalismuskritik, Geographien der Emotion und Affekte sowie der Ökonomisierung sozialer Kontakte könnte fruchtbar sein, um tradierte Themen der Humangeographie in eine neue Richtung zu lenken.

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Book Reviews 59

Der Leitgedanke der drei Vorlesungen liegt in der postulierten Herausbildung einer emotionalen Kompetenz in der modernen westlichen Gesellschaft, die wiederum auf bestimmten emotionalen Feldern sowie auf einen korrespondierenden emotionalen Habitus als inkorporiertes kulturelles Kapital ba-siert. Dieses inkorporierte emotionale Kapital dient wiederum auf anderen Feldern des sozialen Raums als Mittel der Durchsetzung eigener Interessen. Die Anleihen bei der ebenfalls in der Humangeographie weitverbreiteten Theorie der Praxis nach Pierre Bour-dieu sind hier offensichtlich. Illouz führt als Beispiel für die von ihr konzipierte emotionale Kompetenz die Ebene der Reflexion von eigenem und anderem Denken, Verhalten und Handeln an. Leider wird aber in den Ausführungen der israelischen Soziologin nicht deutlich, worin der Mehrwert des emotio-nalen Kapitals für ein soziologisches Nachdenken über Gesellschaft denn liegen sollte. Die Betonung der Reflexionsfähigkeit findet sich ebenfalls in den Arbeiten von Pierre Bourdieu. Der Begriff der Disposition deckt hier die Schemata des Denkens und Handelns ab, die jeder Akteur im Laufe seiner Sozialisation inkorporiert. Illouz gelingt es dagegen nicht, überzeugend darzulegen, ob sie eine Alterna-tive oder eine Ergänzung von Strukturierungs- bzw. Praxistheorien anbietet. So richtig und wichtig die Herausarbeitung einer emotionalen Komponente der westlichen Moderne ist, ihre Verortung in einer funktional-differenzierten Gesellschaftstheorie, wie Pierre Bourdieus Theorie der Praxis eine solche darstellt, bleibt oberflächlich. Diese mangelnde theoretische Verortung dürfte aus Sicht der Human-geographie einer empirischen Operationalisierung des emotionalen Kapitalismus im Wege stehen. Als Fazit der drei Vorlesungen bleibt festzuhalten, dass das Buch eine wichtige Schnittstelle der Kultur- und Wirtschaftsgeographie thematisiert, indem die Bedeutung von Emotionen für das ökonomische wie soziale Handeln intellektuell herausfordernd behan-delt wird. In der Humangeographie haben z. B. Linda McDowell oder Liz Bondi an ähnlichen Themen ge-arbeitet, wenn auch mit anderen Fragestellungen und theoretischen Zugriffen. Das Buch könnte für eine breitere geographische Leserschaft interessant sein, denn der Ausgangspunkt der Darlegungen ist eine konsequente Verortung in der Kritischen Theorie, die in der Geographie momentan wenig Verwendung findet. Ob sich Emotionen dagegen eine ähnliche herausgehobene Stellung im Nachdenken über die westliche Moderne erobern können, wie dies den

Ideen von Individualismus, Demokratie oder Arbeits-teilung gelang, bleibt fraglich. Eva Illouz liefert mit ihren Vorlesungen eine Einladung, diese Frage zu beantworten. Zumindest in der Humangeographie dürfte sie damit offene Türen einrennen.

Autor: Dr. Peter Dirksmeier, Humboldt-Universität zu Berlin, Geographisches Institut, Abteilung Kulturgeogra-phie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, E-Mail: [email protected]

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

60 Buchbesprechungen

Geographische Zeitschrift, Band 101 · 2013 · Heft 1 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart

MÜLLER-MAHN, DETLEF (Hrsg.): The Spatial Dimension of Risk. How Geography Shapes the Emergence of Riskscapes. London: Routledge, 2013, 243 S., ISBN: 978-1-84971-085-5, £ 85.00

Die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit Risiken ist offensichtlich. Zum einen haben sich die von menschlichem Handeln beeinflussten Gefahren-quellen potenziert und neue Dimensionen erreicht, bis hin zum globalen Klima- und Wettergeschehen. Zum anderen ist das Risikomanagement zu einer universalen Strategie gesellschaftlicher Steuerung geworden. Aufgaben der Forschung können sowohl die präzise Bestimmung von Einflussfaktoren und Eintrittswahrscheinlichkeiten solcher vielfältiger Gefahrenquellen sein, aber auch das Offenlegen der Machtwirkungen politischer Strategien, die sich über den Verweis auf Risiken zu legitimieren versuchen. Diese beiden Pole spannen das breite Feld der Risi-koforschung auf. Die Bedeutung räumlicher Kategorien für die Risikoforschung ist allerdings bisher überraschend wenig thematisiert (für eine Ausnahme siehe Pott 2010). Der von Detlef Müller-Mahn herausgegebene Band antwortet somit auf ein Forschungsdesiderat. „Space matters!“ auch in der Auseinandersetzung mit Risiken, das ist die gemeinsame Botschaft der Beiträge des Bandes. „[A]ny meaningful and rele-vant risk research, communication and management practice needs to take the diversity and multiplicity of risk, space, and riskscapes into account“ (202), so bestimmt der Herausgeber zusammen mit Jonathan Everts und Martin Doevenspeck abschließend selbst das Kondensat. Die Stärke des Bandes liegt in der versammelten Bandbreite. Vor allem wird demons-triert, wie unterschiedlich sich der Konnex der beiden Metakonzepte Raum und Risiko auffassen lässt. So wird thematisiert, inwiefern es einem Risikoma-nagement zuträglich sein kann, Gefahrenszenarien räumlich differenziert wahrzunehmen (Renn/Klinke, Fuchs/Keiler), inwiefern Individuen Gefahren unter-schiedlich antizipieren und in der Folge auch anders verorten (Müller-Mahn/Everts, Korf, Doevenspeck), wie die Semantik von Risiko und Unsicherheit die polizeiliche Kontrolle von Räumen legitimiert (Be-lina/Miggelbrink), oder wie der Einfluss kolonialer Mächte durch die Beschaffenheit der Landschaft

erschwert wird und inwiefern dies eine Strategie der Risikominimierung sein kann (Kreutzmann). Die Vielfalt wird mit mangelnder begrifflicher Konsistenz bezahlt. Über die Beiträge hinweg und teils innerhalb einzelner Beiträge changiert der Bedeutungsgehalt des Risikobegriffs. Risiko und Gefahr werden oftmals synonym verwendet. Wie Peter Weichhart und Karl-Michael Höferl in dem Band überzeugend argumentieren, hat aber Risiko im Unterschied zu Gefahr sinnvollerweise eine re-lationale Dimension. Erst durch bestimmte Bezüge wird aus einer Gefahr ein Risiko, „Risiken an und für sich“ unterschlägt das eigentliche Potential des Begriffs. Das Spezifische an „Risiken“ ist es gerade, dass es in bestimmter Weise gesellschaftlich aufge-ladene Gefahren sind. Die Verabredung zumindest auf diesen relativ übergreifenden Aspekt hätte den Band konzeptionell schärfer gemacht. Die Stärke des Bandes ist - wie bereits hervorge-hoben - das breite thematische Feld und die unter-schiedlichen konzeptionelle Zugriffsweisen auf das Schnittfeld Risiko / Raum. Entsprechend erfolgt die Auseinandersetzung im Folgenden auf der Ebene der Einzelbeiträge. Ortwin Renn und Andreas Klinke präsentieren reflektierte Thesen, wie sich der gesellschaftliche Umgang mit Risiken als ein geordneter Prozess ausgestalten lässt (Risk Governance Framework) und ergänzen diese bereits etablierte und bewährte Handreichung um die Reflexion der Rolle von Raum und Zeit. Allerdings ändert sich durch eine räumliche Sensibilität nichts grundlegend an dem Risk Gove-nance Framework. Jonathan Everts und Detlef Müller-Mahn schla-gen den Begriff Riskscape vor, um auf die notwen-dige Realisierung von Risikowahrnehmungen auf der Ebene der Praxis zu betonen. Individuen und Gruppen handeln entsprechend einer spezifischen Gefahrenwahrnehmung und projizieren dabei unter-schiedliche Riskscapes. Diese sind etwa bei Experten und Bewohnern unterschiedlich für das identische Gebiet. Riskscapes „overlap, interact and often pro-duce conflict“ (35). Peter Weichhart und Karl-Michael Höferl legen noch einmal anschaulich die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen der komplexen Signifi-kanten Raum einerseits bzw. Risiko andererseits auseinander. Die anschließend skizzierte Fallstudie zum Wandel des österreichischen Diskurses über den Hochwasserschutz führt an einem Beispiel vor, wie einige der zuvor unterschiedenen Dimensionen

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014

Book Reviews 61

von Raum jeweils von unterschiedlichen Akteuren (und zwar nicht immer deckungsgleich) zum Zweck des Hochwassermanagement gestaltet werden. Der Beitrag leistet ein plausibles Plädoyer für die unter-nommene Differenzierung des Raumbegriffs in der Risikoforschung. Jürgen Pohl, Swen Zehetmair und Julia Mayer versuchen, die Systemtheorie für den Zusammen-hang von Risiko und Raum fruchtbar zu machen. Das Kapitel trägt entsprechendes Material zusam-men. So wird eingangs auf den für das politische Risikomanagement problematischen spatial (mis)fit hingewiesen, d. h. die meist fehlende Deckung zwischen dem von einem Naturereignis betroffenen Areal und dem Gebiet einer zuständigen politischen Institution. Knapp werden Grundaussagen Luhmanns Systemtheorie und Raumbegriffe der Geographie re-feriert. Am Ende unterbleibt jedoch die Engführung. Der behauptete Gewinn einer systemtheoretischen Perspektive auf den Zusammenhang von Raum und Risiko wird zu wenig deutlich, vielleicht auch, weil der Risikobegriff über den Beitrag hinweg mehrfach Unterschiedliches bezeichnet. Benedikt Korf zeigt in einer empirisch dichten Beschreibung des Konfliktes in Sri Lanka, inwiefern Risiken und Unsicherheit im Alltag der Bewoh-ner_innen nicht zuletzt räumlich differenziert wer-den. So wie Krieg nicht als eine Situation permanent andauernden Terrors vorzustellen ist, so ist auch die Einschätzung der Orte besonderer Risiken und Unsicherheiten für die Menschen in Sri Lanka unter-schiedlich. An einzelnen Beispielen verweist Korf auf solche unterschiedlichen Landschaften der Angst. Jonathan Everts diskutiert die Figur (gesell-schaftlicher) Angst am Beispiel der Schweinegrippe. Gesellschaftliche Ängste funktionieren in weiten Teilen parallel zu Risiken und teilen eine gemein-same Schnittmenge. Das Konzept der Emotive, in etwa die symbolische Währung kollektiver Ängste, ist geeignet, um dieses dem Risiko benachbarte Phänomen besser zu fassen. Conrad Schetter ruft in Erinnerung, wie im Zuge zunehmend asymmetrischer Kriege eine bestimmte Strategie der Verräumlichung um sich greift, um militärische Interventionen zu legitimieren. Ein vom US-Militär beauftragter Think Tank hat die Vorstel-lung „Unregierter Territorien“ geläufig gemacht und dieses Konzept dient derzeit dazu, einen Ausnah-mezustand zuzuweisen und zu legitimieren und den Krieg gegen den Terror in die gewohnte territoriale Strategie der Kriegsführung zu übertragen.

Fred Krüger zeigt am Beispiel der landesweiten HIV/AIDS-Therapie in Botswana, inwiefern der individuelle Umgang mit Risiken entscheidend gesellschaftlich vermittelt ist. Ein gelingender Um-gang mit dem Risiko HIV/AIDS erfordere von den Infizierten unter anderem die stetige Medikation. Die Bereitschaft zur unbeirrten Verfolgung des Therapieprogramms basiert aber zentral auf Ge-wohnheiten, sozialen Normen und ist nicht zuletzt von dem jeweiligen sozialen Setting (beispielweise zu Hause oder am Arbeitsplatz) bestimmt. Diese ge-sellschaftlich vermittelte Bereitschaft und Fähigkeit zum Umgang mit Risiken - hier gefasst als Resilienz - ist also auch räumlich zu differenzieren, wie der Beitrag plausibel macht. Der Beitrag von Bernd Belina und Judith Mig-gelbrink richtet das Augenmerk auf ein brisantes Beispiel für den Nexus von Sicherheitsinteressen einerseits und Strategien der Territorialisierung und Verräumlichung andererseits und zwar an den Außengrenzen der EU. Der Beitrag legt offen, in-wiefern das Grenz- und Migrationsregime der EU zunehmend in Begriffen von Sicherheit und Risiko artikuliert und dabei quasi entpolitisiert werden. Die 2004 eingerichtete Koordinierungsstelle FRONTEX verkörpert diese Strategie der Versicherheitlichung in besonderer Weise wie Belina und Miggelbrink anschaulich argumentieren. Martin Doevenspeck zeichnet den Umgang mit Gefahren nah an der Lebenswirklichkeit von Bewohner_innen der Stadt Goma in der Demokra-tischen Republik Kongo nach. Trotz der von Exper-ten permanent thematisierten Risiken, Lavaströme des nahen Vulkans, im angrenzenden See gelöste Gase, wird im städtischen Alltag stärker die Gefahr nächtlicher Raubüberfälle handlungsrelevant und somit als Risiko begriffen. Doevenspeck plädiert damit für eine Ergänzung der oft technokratischen Risikoanalysen im globalen Süden. Hermann Kreutzmann präsentiert eine detaillierte Aufarbeitung der Genese von Staatlichkeit im süd-östlichen Asien in Form einer Auseinandersetzung mit den kolonialen Prozessen von Grenzziehung und Nation Building. Die Verbindung zum Konnex Raum - Risiko ist dabei etwas bemüht, charmant hingegen die Umkehr der gewohnten Sichtweise auf Staatlichkeit. Im Kontext des Hochlandes von Süd-ostasien (das von Willem Schendel so bezeichnete Zomia) ist die Reduktion von Gefahren oft mit der Vermeidung des Zugriffes der kolonialen Mächte verbunden gewesen. Der Staat war hier gerade nicht

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Geographische Zeitschrift, Band 101 · 2013 · Heft 1 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart

Garant von Sicherheit, sondern Quelle von Risiken, und die unzugängliche Morphologie half bei der Risikoreduktion. Barbara Zahnen spürt dem Moment nach, in dem sich einer Forscher_in ein zuvor verborgener Zusammenhang enthüllt. Am Beispiel so genannter „schleichender Risiken“, allmähliche Zustandsän-derungen, die sich zu systemverändernden Kräften aufbauen können, lässt sich dieser „kairos“ ver-deutlichen, in dem bloße Datenreihen o. ä. einen neuen Sinn ergeben. Für Zahnen ist eine holistisch verstandene Geographie besonders geeignet, um solche Erkenntnisse zu generieren, die eine Integra-tion und Neubewertungen von Einzelbeobachtungen erfordern. Sven Fuchs und Margreth Keiler weisen auf die zeitliche und räumliche Variabilität von Gefah-renszenarien hin. Im Alpenraum hat sich etwa mit steigender Besiedelung und schrumpfenden Aus-weichflächen das Gebiet beständig vergrößert, in dem Schneelawinen Schaden anrichten können. Zu-dem variiert die Zahl der anwesenden und potentiell gefährdeten Personen massiv über das Jahr. Solche Erkenntnisse sind sinnvollerweise in Bemühungen des Risikomanagements zu übernehmen. Zusammen genommen liefert der Band vielfältige Beispiele für eine räumliche Sensibilität in der Ri-sikoforschung und reklamiert dadurch überzeugend Terrain für die Geographie in dem interdisziplinären und weiter an Bedeutung gewinnenden Feld. Gleich-wohl vergibt der Band die Chance, einen systema-tischen (und dann sicherlich streitbaren) Vorschlag für den Zugriff auf die „räumliche Dimension von Risiken“ zu unterbreiten. In jedem Fall eine lohnende Zusammenstellung aktueller Arbeiten. Literatur

Pott, A. und Egner, H. (2010): Geographische Risi-koforschung. Stuttgart: Steiner.

Autor: Dr. Henning Füller, FAU Erlangen-Nürnberg, Institut für Geographie, Kochstr. 4/4, 91054 Erlangen, E-Mail: [email protected]

MEUSBURGER, PETER, HEFFERNAN, MICHAEL und WUNDER, EDGAR (Hrsg.): Cultural Memories: The Geographical Point of View. Dordrecht: Springer, 2011, 383 S., (Knowledge and Space 4), ISBN: 978-90-481-8944-1, £ 90.00

Der von den beiden Heidelberger Geographen Peter Meusburger und Edgar Wunder sowie dem Notting-hamer Geographen Michael Heffernan herausgege-bene Sammelband beinhaltet eine Auswahl interna-tionaler und interdisziplinärer Aufsätze, die sich mit dem Begriff und der Konstruktion des „kulturellen Gedächtnisses“ aus geographischer Perspektive, d. h. mit explizitem Bezug auf Raum, Ort oder (Kultur-)Landschaft, beschäftigen. Nachdem in den 1980er Jahren Maurice Halbwachs‘ Werk zum „kollektiven Gedächtnis“ durch englischsprachige Ausgaben seines Werkes wiederentdeckt wurde, und in den 1990er Jahren Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses dem Phänomen kulturimmanenter Erinnerungskonstruktionen zu verstärktem Inter-esse verholfen hat, haben sich die cultural memory studies in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem internationalen und interdisziplinärem Forschungs-gebiet entwickelt, das sich im Schnittfeld zwischen Erinnerung und Kultur sowohl mit individuell-ko-gnitiven als auch kollektiven Erinnerungskonstruk-tionen beschäftigt. Die Herausgeber weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass bereits Halbwachs die Beziehung zwischen räumlichen Strukturen und Kollektivgedächtnis sowie den Einfluss der gebau-ten Umwelt auf die Konstruktion persönlicher und kollektiver Erinnerungen thematisiert, und damit die Diskussion um den Zusammenhang kultureller und sozialer Praktiken, kollektiver Erinnerung und emotionaler Bezüge zwischen sozialen Gemein-schaften und physischen Orten angeregt habe. Orte ermöglichen den Kontakt zur und die Reflexion über Vergangenheit; die gebaute Umwelt wird zum Träger von Erinnerung; die Konstruktion von Erinnerung steht in Verbindung zu raumorientierten Identitäts-konstruktionen. Dies hänge nach Ansicht der Her-ausgeber damit zusammen, dass die Konstruktion von Erinnerung stärker durch visuelle und räumliche Eindrücke als durch das geschriebene Wort stimuliert werde. Im Gegensatz zu textbasierten seien bildba-sierte Erinnerungskonstruktionen allerdings auch anfälliger für Manipulationen und Propaganda und

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würden dadurch verstärkt Gegenstand politischer Interessen. Der gebauten Umwelt komme als Erinne-rungsträger auch eine politische Aufgabe zu, die von den jeweiligen Machthabern - vor allem totalitären Regimen - instrumentalisiert würde. Der Sammelband ist in fünf Teile gegliedert. Teil eins beschäftigt sich mit theoretischen Grundlagen des kulturellen Gedächtnisses. Jan Assmann setzt sich mit den Begriffen des kommunikativen bzw. kulturellen Gedächtnisses auseinander, wobei er Vergangenheit als sozial konstruierte Synthese aus Zeit, Identität und Erinnerung, die auf individueller, sozialer und kultureller Ebene operiert, konzeptu-alisiert. Er identifiziert kulturelles Gedächtnis und kommunikatives Gedächtnis als Subkategorien des Halbwachseschen kollektiven Gedächtnisses. Während das kulturelle Gedächtnis institutionalisiert und relativ langfristig existiere, z. B. in Form von Objekten oder Symbolen, sei das kommunikative Gedächtnis nicht institutionalisiert, kurzlebiger und würde sich durch tagtägliche Interaktionen und Kommunikation konstituieren. David Middleton und Steven D. Brown untersuchen den Raumbezug in Halbwachs‘ Konzept und schlussfolgern, dass erst durch das kollektives Gedächtnis einer sozi-alen Gruppe Raum zu „Territorium“ würde, bzw. dass umgekehrt kollektives Gedächtnis erst durch die Beziehung einer Gruppe zu „ihrem“ Ort und dessen materiellen Konstituenten entstehe. Das ent-standene kollektive Gedächtnis könne dabei u. U. so stark sein, dass es die physische Zerstörung des Ortes überdauere. Im letzten Beitrag des ersten Teils beschäftigt sich Peter Meusburger mit dem Zusam-menhang zwischen Wissen, kulturellem Gedächtnis und Politik. Orte und Objekte hätten nur dann eine Bedeutung für den Betrachter, wenn dieser auch etwas über sie wisse. Dieses Wissen aus der Vergan-genheit sei jedoch anfällig für Manipulationen, z. B. zur Verfolgung politischer Interessen. Meusburger stellt zur Diskussion, ob im 21. Jahrhundert moderne Kommunikationstechnologien, globale Netzwerke sowie eine, im Vergleich zu den letzten beiden Jahr-hunderten allgemein verbesserte Bildungssituation dazu führen könne, bewusste Manipulationen des kulturellen Gedächtnisses zu erschweren und kons-truktive Vergangenheitsbewältigung zu stimulieren. Teil zwei des Sammelbandes stellt drei aktuel-le Fallstudien vor, die aus jeweils verschiedenen Perspektiven das Verhältnis zwischen Orten, ihren Bewohnern und kulturellem Gedächtnis beleuchten. Georg Kreis diskutiert die Entstehung des Rütlis, ei-

nes nationalen Erinnerungsortes in der Schweiz. Als geographischer Mittelpunkt des Landes mit langer Historie ist er Teil des kulturellen Gedächtnisses ver-schiedener gesellschaftlicher Gruppierungen. Deren unterschiedliche Ansprüche auf den Ort führten in der Vergangenheit zu politischen Spannungen und Gewalt. Brian Graham analysiert in seinem Beitrag die schwierige Situation in Nordirland, in der das Mit-, bzw. Gegeneinander parallel existierender (Kollektiv-)Gedächtnisse und damit einhergehender Gruppenidentitäten in direkter Verbindung mit Pla-ce-Narrativen und daraus abgeleiteten territorialen Ansprüchen stehe. Im letzten Beitrag des zweiten Teils diskutiert Christina West am Beispiel einer eth-nischen Minderheit in Spanien, der Calé (Gitanos), den Zusammenhang zwischen Kollektivgedächtnis, Kultur und Identität sowie die Rolle, die orale Kom-munikation bei der Konstruktion von Gruppeniden-tität spielt. Der dritte Teil des Sammelbandes fokussiert auf den zweiten Weltkrieg und seine Rolle in der Konst-ruktion kultureller Gedächtnisse in Europa. Im ersten Beitrag beschreibt Claus Leggewie das länderüber-greifende kulturelle Gedächtnis Europas mit Hilfe von sieben konzentrischen Kreisen, die, konstituiert durch historische Daten und Erinnerungsorte, für die sich zum Teil überschneidenden Themenfelder Holocaust, sowjetische Verbrechen, Vertreibung, Diktatur und Genozid, Kolonialismus, Migration und Entwicklung nach 1945 stehen. Stefan Troebst diskutiert die vom Wiener Historiker Halecki in den 20er Jahren aufgestellte Hypothese historischer Mesoregionen vor dem Hintergrund verschiedener europäischer Erinnerungskulturen. Rainer Eckert untersucht die materielle Dimension von Erinnerung in Form von Gedenkstätten zu Krieg, Holocaust und Widerstand für verschiedene westeuropäische Länder. Harald Welzer kommt anhand europäischer Vergleichsstudien von Familienerinnerungen des zweiten Weltkriegs zu dem Ergebnis, dass gerade bei jüngeren Untersuchungsteilnehmern sowohl spezifisch nationale als auch global mediale Zugänge Einfluss auf kollektive Gedächtniskonstruktionen hätten. Die Gleichzeitigkeit von Vernichtung und Konservierung jüdischer Kultur während des Natio-nalsozialismus ist Thema von Dirk Rupnows Beitrag. Er vermutet, dass es für die Nationalsozialisten von Vorteil gewesen wäre, die Erinnerung an die von ihnen ermordeten Juden nicht auszulöschen, sondern in Form eines „arisierten“ kulturellen Gedächtnisses, z. B. mit Hilfe des geplanten „Jüdischen Zentral-

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museums“ in Prag, neu zu konstruieren und für eigene Zwecke zu missbrauchen. Michael Heffernan untersucht die Geschichte des US Naval Memorial, einer Gedenkstätte des ersten Weltkrieges im fran-zösischen Brest, die, bedingt durch ihre ungeklärte Zerstörung während des zweiten Weltkriegs, Gegen-stand einer kontrovers und konfliktreich geführten Debatte über das kulturelle Gedächtnis geworden sei. Die Rolle von Ritualen in der Konstituierung von Erinnerungsorten wird von Sandra Petermann anhand der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 untersucht. Sie kommt zu der Schlussfol-gerung, dass die Erinnerung an D-Day nicht nur mit dem Ende des zweiten Weltkrieges, sondern auch mit der Gründung der Europäischen Union in Verbindung gebracht würde. Im letzten Beitrag des dritten Teils des Sammelbandes setzt Derek Gregory sich mit dem Luftkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte, damit verbundenen individuellen und kollektiven Erinne-rungen und den Auswirkungen dieser Erinnerungen auseinander. Teil vier des Sammelbandes umfasst zwei Bei-träge, die sich mit postkolonialen Aspekten des kulturellen Gedächtnisses beschäftigen. Stephen Legg untersucht Erinnerungen an gewalttätige Ereig-nisse, die zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft in Indien und Pakistan sowie in der Zeit danach das kollektive Gedächtnis von Kolonialnation und kolonialisierten Ländern unterschiedlich beeinflusst hätten. Im zweiten Beitrag diskutieren Denis Linehan und João Sarmento anhand eines UNESCO Weltkul-turerbes, Fort Jesus in Mombasa, Kenia, kontroverse und manipulative Erinnerungskonstruktionen von Kolonialherren und Kolonialisierten. Im letzten Teil geht es um vormoderne Formen des kulturellen Gedächtnisses. Robert Tonkinson untersucht die komplexe Beziehung eines Aborigines Stammes, der Mardu in der Western Desert Austra-liens, zu ihrem Territorium. Er schlussfolgert, dass bestimmte Landschaftsmerkmale der Produktion kollektiver Erinnerung und Identität dienten und damit eine ähnliche Rolle spielten wie die gebaute Umwelt in der westlichen Kultur. Die Bedeutung der Symbolik räumlicher Strukturen sei allerdings durch-aus dynamisch und langfristigen Veränderungen unterworfen. Im letzten Beitrag des Sammelbandes diskutiert Jürg Wassmann die komplexen Zusam-menhänge zwischen Namen, Orten, Erinnerung und Identität beim Iatmul Volk in Papua-Neuguinea, verbunden mit der Schlussfolgerung, dass die Ge-

dächtnisforschung auch in der Anthropologie eine nicht zu unterschätzende Rolle spiele. Der vorliegende Band bereichert durch seine Vielzahl theoretischer und fallstudienorientierter Thematiken die Diskussion um das kulturelle Gedächtnis aus geografischer Perspektive. Einen kleinen Anlass zur Kritik liefert der quantitative Überhang an Themen die sich mit dem europäischen kulturellen Gedächtnis in Verbindung zum Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Dies führt zu einer gewissen thematischen Unausgewogenheit, und man hätte sich eine noch größere Bandweite an Beiträgen gewünscht, z. B. in Bezug zu „alltäglichen“ Orten, urbanem Palimpsest oder dem Zusammenhang zwischen städtischer Materialität und Gedächtnis-konstruktion. Zusammengefasst lässt sich jedoch sagen, dass der Sammelband einen vielseitigen und wissenschaftlich hochkarätigen Überblick über die – leider viel zu selten thematisierte Beziehung – zwischen kulturellem Gedächtnis und Ort bietet.

Autor: Dipl.-Ing. (FH) M.Sc. Architekt AKNW Andreas Wesener, Lincoln University, Christchurch, Neuseeland, E-Mail: [email protected]

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