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Platon Das Gastmahl (Symposion)

(eBook - German) Platon - Das Gastmahl

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Platon

Das Gastmahl

(Symposion)

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2Platon: Das Gastmahl

Apollodoros und einige seiner Freunde

In der Erzählung des Apollodoros treten redend auf:Glaukon · Aristodemos · Sokrates · Agathon ·

Phaidros · Pausanias · Eryximachos · Aristophanes ·Diotima · Alkibiades

Apollodoros: Ich glaube, auf das, wonach ihr michfragt, nicht unvorbereitet zu sein. Ich befand michnämlich jüngst gerade auf dem Wege von Phaleron,meiner Heimat, nach der Stadt. Da rief einer meinerBekannten, der mich von hinten gewahr wurde,mich scherzend aus der Ferne folgendermaßen an:He, du da, Apollodoros aus Phaleron, warte doch!

Und ich blieb stehen und erwartete ihn.Er aber versicherte hierauf: Wahrhaftig, Apollo-

doros, auch schon vor kurzem suchte ich dich auf,um von dir etwas Näheres über die gesellige Zu-sammenkunft des Agathon, Sokrates, Alkibiadesund der übrigen zu erfahren, welche damals beimGastmahle zugegen waren, nämlich darüber, wiedie von ihnen gehaltenen Liebesreden lauteten.Denn ein anderer erzählte mir davon, der es vonPhoinix, dem Sohne des Philippos, gehört hatte; ersagte aber, du wissest es auch, und konnte mirüberdies selber nichts Genügendes mitteilen.

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Darum lege nun du es mir dar: denn dir steht esauch am ersten zu, die Reden deines Freundes zuberichten. Vorerst aber sage mir, fuhr er fort, warstdu selbst mit in dieser Gesellschaft oder nicht?

Und ich erwiderte: In der Tat, dein Berichterstat-ter scheint dir durchaus nichts Genügendes mitge-teilt zu haben, wenn du glaubst, daß diese Gesell-schaft, nach welcher du fragst, erst neuerdingsstattgefunden habe, so daß auch ich hätte zugegensein können.

Das glaubte ich freilich.Aber wie sollte sie doch, entgegnete ich, lieber

Glaukon! Weißt du denn nicht, daß Agathon schonseit einer Reihe von Jahren sich nicht mehr hieraufhält? Seitdem ich dagegen mit Sokrates zusam-menlebe und es mir zur Aufgabe gemacht habe, anjedem Tage zu erfahren, was er sagt oder tut, - dassind noch keine drei Jahre her. Vorher aber triebich mich mit dem herum, was mir gerade in denWurf kam, und vermeinte recht etwas zu beschaf-fen, war aber in Wahrheit unglücklicher als irgendeiner, ebenso wie du nun, der du glaubst, manmüsse eher alles andere tun als philosophieren.

Spotte nicht, antwortete er, sondern sage mir,wann denn diese Gesellschaft stattfand?

Und ich erwiderte: Noch während unserer Kin-derzeit, als Agathon mit seiner ersten Tragödie

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siegte, und zwar tags darauf, nachdem er mit denGenossen seines Chores schon das eigentliche Sie-gesopferfest gefeiert hatte.

Also schon vor gar langer Zeit, wie es scheint,meinte er. Wer hat es dir denn erzählt? Ohne Zwei-fel Sokrates selbst?

Keineswegs, entgegnete ich, sondern ebendersel-be, von welchem es Phoinix erfahren hat. Es wardas ein gewisser Aristodemos aus Kydathenai, einkleiner Mann, der stets barfuß ging; der war mit inder Gesellschaft gewesen und war überdies, wie ichglaube, unter seinen Zeitgenossen einer der eifrig-sten Verehrer des Sokrates. Indessen habe ich aberschon über einige Punkte von dem, was ich vonjenem hörte, auch bei Sokrates nachgefragt, unddieser bestätigte sie mir so, wie jener berichtethatte.

So erzähle es mir denn schnell wieder, versetzteer. Ist ja doch der Weg nach der Stadt so recht ge-eignet dazu, um während des Wanderns zu erzäh-len und zuzuhören.

So unterhielten wir uns denn im Gehen hierüber,und ich bin daher, wie ich schon im Anfang be-merkte, hierauf nicht unvorbereitet. Soll ich es alsoauch euch berichten, so muß ich es wohl tun. Dennauch ohnehin schon bereiten mir Reden über philo-sophische Gegenstände, mag ich sie nun selbst

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vortragen oder von anderen vortragen hören, - ab-gesehen von dem Nutzen, den sie mir, wie ich glau-be, gewähren, - die größte Freude; alle anderenaber, zumal wie ihr Reichen und Geldmänner sie zuführen pflegt, erregen mir für meine Person Über-druß und gegen euch, ihr Freunde, Mitleiden, weilihr etwas Rechtes zu schaffen glaubt und doch nuretwas ganz Nichtiges treibt. Vielleicht nun haltetihr hinwiederum dafür, daß ich zu beklagen sei,und ich glaube, daß ihr den rechten Glauben habt;von euch jedoch glaube ich dies meinerseits nicht,sondern weiß es gewiß.

Ein Freund: Du bleibst doch immer der Alte, Apollo-doros; denn immer klagst du dich selbst und anderean und scheinst mir geradezu alle Menschen, vondir selber angefangen, für bejammernswert zu hal-ten, mit Ausnahme des Sokrates. Und woher dudeinen Beinamen »der Schwärmer« erhieltest, weißich zwar nicht; in deinen Reden aber zeigst du dichwenigstens stets als einen solchen, daß du mit dirund allen Menschen haderst, den Sokrates ausge-nommen.

Apollodoros (ironisch): Ja, da freilich, bester Freund,bedarf es keines Beweises mehr, wenn ich so übermich selbst und über euch denke, daß ich schwär-me und von Sinnen bin.

Der Freund: Es verlohnt nicht, Apollodoros, darüber

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jetzt zu streiten. Gewähre uns vielmehr unsere Bitteund erzähle uns, wie die Reden lauteten!

Apollodoros:Wohlan, sie lauteten ungefähr folgen-dermaßen... Doch ich will lieber das Ganze vonvorne an, so wie jener es mir mitteilte, auch mei-nerseits euch wiederzugeben versuchen.

Er erzählte nämlich, daß ihm Sokrates begegnetsei, gebadet und mit untergebundenen Sohlen, waser selten zu tun pflegte, und da habe er ihn also ge-fragt, wohin er denn gehen wolle, da er sich soschön geschmückt habe.

Und Sokrates habe erwidert: Zum Gastmahle beiAgathon. Denn gestern bei seinem Siegesfeste ent-schlüpfte ich ihm aus Furcht vor dem Gewühle,habe ihm aber dafür zugesagt, heute zu kommen.Darum nun habe ich mich so schön herausgeputzt,um als Schöner vor einem Schönen zu erscheinen.Doch du, fuhr er fort, was meinst du dazu, willst duungeladen mit zum Gastmahle kommen?

Und ich, sagte Aristodemos, erwiderte: Ganz wiees dir gut dünkt.

Komm denn mit mir, entgegnete er, damit wirdas Sprichwort zuschanden machen, indem wir ihmdieWendung geben, daß auch zu wackerer MännerGastmählern wackere Männer ungeladen gehen.Denn Homeros scheint dies Sprichwort nicht bloßzuschanden gemacht, sondern auch verspottet zu

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haben. Während er nämlich den Agamemnon alseinen vorzüglich wackeren Kriegsmann darstellt,den Menelaos aber als einen weichlichen Kämpfer,so läßt er doch den Menelaos ungeladen beim fest-lichen Opferschmause des Agamemnon sich ein-stellen, den Schlechteren bei dem des Besseren.

Nachdem er dies vernommen, so erzählte Aristo-demos weiter, habe er eingeworfen: Vielleicht je-doch wird es mit mir nicht so herauskommen, wiedu meinst, lieber Sokrates; sondern ganz nach desHomeros Worten werde auch ich als ein schlechterMann ungeladen zu dem Gastmahle eines weisenMannes gehen. Wie willst du es also rechtfertigen,wenn du mich einführst; Denn ich werde es nichtzugestehen, daß ich ungeladen komme, sondernsagen, du habest mich eingeladen.

Nun, erwiderte Sokrates, wenn zwei wandernselband, da berate der eine von uns den andern,was wir sagen wollen. Und so laß uns gehen!

Nachdem sie so ungefähr mit einander verhan-delt hätten, fuhr Aristodemos fort, seien sie weiter-gegangen. Da sei nun aber Sokrates unterwegs überirgend einen Gegenstand nachdenkend in sichselbst versunken zurückgeblieben, und da er aufihn wartete, habe er ihn aufgefordert, nur vorwärtszu gehen. Als er nun aber beim Hause des Agathonangekommen sei, habe er die Türe geöffnet

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gefunden, und da, erzählte er, sei ihm etwas Lä-cherliches begegnet. Es sei ihm nämlich sofort einSklave von innen entgegengekommen und habe ihndahin geführt, wo die übrigen Gäste sich zu Tischeniedergelassen hatten, und er habe sie bereits imBegriffe gefunden, das Mahl zu beginnen. Sobaldihn nun Agathon bemerkt, habe dieser sofort zuihm gesagt: Sieh da, lieber Aristodemos, dukommst recht zur gelegenen Zeit, um an unseremMahle teilzunehmen. Solltest du aber zu irgendeinem anderen Zwecke gekommen sein, so ver-schiebe das auf ein andermal; denn auch gesternschon suchte ich dich, um dich einzuladen, konntedich aber nicht finden. Doch warum bringst du unsdenn den Sokrates nicht mit?

Und ich, so erzählte Aristodemos weiter, drehemich um und sehe nirgends den Sokrates mir fol-gen. Ich sagte daher, daß ich in der Tat mit Sokra-tes gekommen wäre, indem gerade er mich zu die-sem Gastmahle eingeladen habe.

Nun, das hast du recht gemacht, versetzte Aga-thon. Aber wo ist denn er selbst?

Eben trat er hinter mir herein. Darum wundereich mich selber, wo er sein mag.

Sieh doch nach, Sklave, habe hierauf Agathonbefohlen, und fahre den Sokrates zu uns herein! -Du aber, sagte er, Aristodemos, nimm dort neben

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Eryximachos Platz.Ihm selbst, erzählte dieser, habe darauf ein Skla-

ve die Füße gewaschen, damit er sich niederlassenkönnte; ein anderer von den Sklaven aber sei mitder Nachricht zurückgekehrt: Sokrates ist wiederzurückgegangen und steht in der Vordertüre einesNachbarhauses und will trotz meiner Einladungnicht hereinkommen.

Seltsamer Bericht! sprach Agathon. So lade ihnvon neuem ein und laß nicht nach!

Darauf aber habe Aristodemos, wie er berichtete,gesagt: Keineswegs, sondern laßt ihn gewähren!Denn das ist so eine Sitte, welche er an sich hat:zuweilen geht er abseits, wo es sich gerade trifft,und bleibt stehen. Er wird aber, wie ich denke,auch gleich kommen. Stört ihn also nicht, sondernlaßt ihn gewähren!

Nun, wenn du meinst, müssen wir es wohl somachen, habe Agathon erwidert. Aber auf! Uns an-dere bewirtet, ihr Sklaven; setzt uns vor, ganz waseuch gut dünkt, da ich euch ja keinen Aufseher be-stellt habe, was ich überhaupt nie zu tun pflege.Bildet euch nur ein, daß ich und alle diese andernvon euch zu Gaste geladen seien, und bedient unsso, daß wir euch loben können!

Hierauf, so fuhr Aristodemos fort zu berichten,hätten sie gespeist, Sokrates aber sei nicht

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erschienen. Agathon nun habe wiederholt geboten,nach Sokrates zu schicken, er aber habe es nichtzugelassen. So sei er denn von selbst gekommen,ohne lange gezögert zu haben, wie er sonst wohl zutun pflegte, sondern höchstens seien sie halb mitder Mahlzeit fertig gewesen. Agathon nun - denn eshabe sich gerade so getroffen, daß er am unternEnde allein lag. - habe, wie Aristodemos erzählte,ihm zugerufen: Hierher, o Sokrates, nimm hierneben mir Platz, damit auch ich von dem weisenGedanken einen Teil bekomme, welcher sich in derHaustüre bei dir eingestellt hat! Denn offenbar fan-dest du ihn und hältst ihn nun fest; denn eher wür-dest du gewiß nicht abgelassen haben.

Sokrates habe neben ihm sich gelagert und ihmerwidert: Das wäre eine schöne Sache, lieber Aga-thon, wenn es mit der Weisheit eine solche Be-wandtnis hätte, daß sie aus dem Volleren von unsin den Leereren hinüberflösse, wenn wir mit einan-der in Berührung kommen, gleichwie das Wasserdurch einen Wollenstreifen aus dem volleren Be-cher in den leereren hinüberfließt. Denn wenn essich so auch mit der Weisheit verhält, so kann iches gar nicht hoch genug anschlagen, neben dir zuliegen; denn ich glaube, daß ich dann von dir mitviel herrlicher Weisheit erfüllt werde. Die meinigenämlich möchte wohl nur gering und manchem

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Zweifel unterworfen sein, wie ein Traumbild; diedeine aber ist glänzend und noch stark im Wach-sen, da sie ja von dir, der du noch so jung bist,schon so herrlich hervorstrahlte und jüngst offenbarward unter den Hellenen vor mehr als dreißigtau-send Zeugen.

Du bist ein Spötter, Sokrates, antwortete Aga-thon. Doch wir wollen diesen unsern Streit über dieWeisheit gleich nachher ausmachen, und Dionysossoll unser Schiedsrichter sein; jetzt aber sprich vor-her der Tafel zu!

Nachdem hierauf, so fuhr Aristodemos in seinerDarstellung fort, Sokrates sich zum Essen gelagertund dann mit den übrigen gespeist hatte, hätten sieTrankopfer dargebracht, einen Lobgesang auf denGott angestimmt und die übrigen religiösen Bräu-che vollzogen; sodann aber hätten sie sich zumTrinkgelage angeschickt. Da, erzählte er, habe nunPausanias zuerst ungefähr in folgender Weise dasWort ergriffen: Wohlan, ihr Leute, in welcherWeise mögen wir wohl am behaglichsten trinken?Ich für meine Person kann euch gestehen, daß ichin der Tat noch sehr angegriffen bin von dem gest-rigen Zechgelage und einiger Erholung bedarf; ichglaube aber, daß es auch den meisten von euchebenso gehen wird, denn ihr wart ja gestern auchdabei. Überlegt also, auf welche Weise wir am

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behaglichsten trinken mögen.Und Aristophanes habe erwidert: Dein Vor-

schlag ist gut, Pausanias, daß wir es uns auf alleWeise bequem machen müssen beim Trinken; dennauch ich bin einer von denen, die sich gestern gehö-rig angefeuchtet haben.

Als nun Eryximachos, der Sohn des Akumenos,so erzählte Aristodemos weiter, sie so habe redenhören, da habe er gesagt: Vortrefflich gesprochen!Und ich möchte nur noch von einem unter euchhören, nämlich von Agathon, wie es mit seiner Fä-higkeit zum Trinken bestellt ist.

Auch ich, habe dieser entgegnet, fühle mich garnicht sonderlich dazu aufgelegt.

Das wäre ja, wie es scheint, ein rechter Fund füruns, habe der andere erwidert, ich meine nämlichfür mich und den Aristodemos und Phaidros unddie übrigen da, wenn ihr, die stärksten Trinker, esjetzt aufgebt: denn unsere starke Seite ist das über-haupt nicht. Den Sokrates nehme ich aus, denn derist auf beides eingerichtet, so daß es ihm gleichgül-tig sein wird, was von beidem wir tun. Da nun kei-ner von den Anwesenden Lust zu haben scheint,vielen Wein zu trinken, so werde ich hoffentlichauch mehr Anklang bei euch finden, wenn ich euchüber die wahre Beschaffenheit des Rausches beleh-re. Mir ist nämlich dies aus meiner Arzneikunst

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klar geworden, daß die Trunkenheit ein schädlichesDing für die Menschheit ist, und ich möchte dahermit meinem Willen weder selber zu viel trinken,noch auch es einem anderen raten, zumal wenn ernoch angegriffen ist vom Rausche des vorigenTages.

Gewißlich, so berichtete Aristodemos weiter, seidarauf Phaidros aus Myrrhinus eingefallen: ich fürmeinen Teil bin dir immer zu folgen geneigt, zumalwenn du etwas sagst, was in die Heilkunde ein-schlägt; jetzt aber werden es auch die übrigen tun,wenn sie gescheit sind.

Als sie nun dies vernommen, hätten auch alle an-dern beigestimmt, man müsse das gegenwärtigeGelage nicht bis zur Trunkenheit steigern, sondernnur so nach Behagen trinken.

Da nun also, habe Eryximachos fortgefahren,dies beschlossen ist, daß ein jeder trinke, sovielihm beliebt, und daß kein Zwang stattfinden soll,so schlage ich fernerhin vor, die eben eingetreteneFlötenspielerin zu entlassen, um für sich allein zuspielen, oder, wenn sie will, vor den Weibern drin-nen, uns aber für heute einander mit Reden zu un-terhalten. Auch den Gegenstand dieser Reden willich euch vorschlagen, wenn es euch recht ist.

Da hätten alle erklärt, es sei ihnen recht, und sieforderten ihn auf, seinen Vorschlag zu machen.

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Eryximachos habe daher fortgefahren: Ich beginnemeine Rede wie Melanippe bei Euripides: dennnicht von mir selber kommt das Wort, sondern vonunserm Phaidros da, welches ich vortragen will.Denn Phaidros hat mir schon wiederholt sein Leidgeklagt. Ist es nicht schrecklich, sagt er oft zu mir,lieber Eryximachos, daß auf alle andern GötterHymnen und Gesänge von den Dichtern verfaßtsind, während auf den Eros, der doch ein so wohl-tätiger und großer Gott ist, kein einziger von sovielen Dichtern ein Loblied gedichtet hat? Wenn duaber jene schätzbaren Männer, die Sophisten, inBetracht ziehen willst, daß diese zwar Lobredenauf den Herakles und andere in Prosa schreiben,wie zum Beispiel der vortreffliche Prodikos - dochdas ist freilich noch weniger zu verwundern, aberich stieß neulich auf ein Buch, in welchem der Nut-zen des Salzes wunder wie hoch gepriesen wurde,und noch viel anderes dergleichen kannst du hin-länglich verherrlicht finden, - auf solche Dinge alsoverwendet man großen Eifer, während den Erosnoch bis auf diesen Tag kein einziger Mensch sei-ner würdig zu preisen unternommen hat! So alsowird ein so erhabener Gott vernachlässigt! Darinscheint mir nun Phaidros ganz recht zu haben, undich möchte daher nicht bloß mich ihm gefällig er-zeigen, indem ich ihm eine Beisteuer hierzu liefere,

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sondern ich glaube, daß es auch gegenwärtig füruns, die wir hier zugegen sind, ganz angemessensein würde, den Gott zu verherrlichen. Wenn diesnun auch eure Ansicht ist, so werden wir hinlängli-chen Stoff für unsere Unterhaltung durch Redenhaben. Ich denke nämlich, es muß nach der rechtenHand in der Reihe herum ein jeder von uns eineLobrede auf den Eros halten, so schön er nur kann.Phaidros aber muß den Anfang machen, weil erobenan liegt und überdies der Urheber dieses gan-zen Vorschlages ist.

Niemand, lieber Eryximachos, habe darauf So-krates bemerkt, wird dir entgegenstimmen. Dennweder ich dürfte mich weigern, der ich zugebe, aufnichts anderes als auf die Liebesangelegenheitenmich zu verstehen, noch auch Agathon und Pausa-nias, noch Aristophanes, dessen ganzes Treibensich um den Dionysos und die Aphrodite dreht,noch überhaupt irgend einer von denen, die ich hiervor mir sehe. Freilich kommen wir, die wir zu un-terst liegen, am schlechtesten dabei weg; indessen,wenn nur unsere Vorgänger recht befriedigend undschön gesprochen haben, so soll uns das genügen.So fange denn Phaidros in Gottes Namen an undpreise den Eros!

Damit waren denn auch alle anderen einverstan-den und verlangten dasselbe wie Sokrates. An alles

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nun, was ein jeder redete, erinnerte sich schon Ari-stodemos nicht mehr genau, und ich wiederumnicht mehr an alles, was er mir erzählte; was aberund wessen Rede mir am meisten bemerkenswerterschien, diese Reden will ich euch einzeln berich-ten.

Zuerst also, wie gesagt, erzählte er, habe Phai-dros gesprochen und habe seine Rede ungefährdamit begonnen, daß Eros ein großer Gott sei undbewundernswert unter Menschen und Göttern so-wohl aus vielen andern Gründen, als auch nament-lich wegen seiner Herkunft. Denn daß er zu den äl-testen Göttern gehört, sprach Phaidros, gereichtihm zu einer besondern Ehre. Hierfür dient aberdies zum Beweise: Eltern des Eros gibt es weder,noch werden dergleichen bei irgend einem Schrift-steller in gebundener oder ungebundener Rede er-wähnt; sondern Hesiodos sagt, zuerst sei das Chaosgewesen,

... aber nach diesemWard die gebreitete Erd', ein dauernder Sitz den

gesamtenEwigen...Eros zugleich...

Er sagt also, diese beiden seien zuerst nach dem

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Chaos entstanden, die Erde und Eros: Parmenidesaber schreibt von der zeugenden Urkraft:

Unter allen den Göttern zuerst ersann sie den Eros

Dem Hesiodos stimmt aber auch Akusilaos bei.Von so vielen Seiten her stimmt man darin überein,daß Eros einer der ältesten Götter sei. Als einer derältesten ist er uns aber zugleich Urheber der höch-sten Güter. Denn ich wüßte kein größeres Gut fürden Menschen gleich in seiner Jugend zu nennen,als einen edelgesinnten Liebhaber, und wiederumfür den Liebhaber seinen Geliebten. Denn was denMenschen, welcher sein Leben schön und würdigzubringen will, durch sein ganzes Leben leitenmuß, das vermögen ihm weder Verwandtschaft,noch Ehrenstellen, noch Reichtum, noch irgendetwas anderes in dem Maße zu gewähren wie dieLiebe. Was meine ich aber damit? Die Scham vordem Schimpflichen und das wetteifernde Strebennach dem Würdigen und Schönen; denn ohne diesevermag weder ein Staat noch ein Einzelner Großesund Schönes zu vollbringen. Ich behaupte nunnämlich, daß ein Mann, welcher liebt, wenn erdabei betroffen würde, daß er etwas Schimpflichestäte oder von jemandem erlitte, indem er sich ausFeigheit nicht dagegen verteidigte, keinen so

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großen Schmerz darüber empfinden würde, vonseinem Vater oder seinen Freunden oder von sonstjemandem dabei erblickt zu werden, als von seinemGeliebten. Eben dasselbe sehen wir aber auch beidem Geliebten, daß er vor allem sich vor seinenLiebhabern schämt, wenn er bei etwas Schimpfli-chem erblickt wird. Ließe es sich daher ins Werksetzen, einen Staat oder ein Heer aus lauter Liebha-bern und Geliebten zu bilden, so ist gar nicht zudenken, wie ein Staat im Innern besser verwaltetwerden könnte, als wenn alle seine Bürger sichalles Schimpflichen enthalten und im Wetteiferzum Guten einander überbieten; aber auch im ge-meinsamen Kampfe würden die so Verbundenen,selbst in geringer Zahl, ich möchte sagen, alleMenschen besiegen. Denn ein liebender Mannwürde es gewißlich höher aufnehmen, von seinemGeliebten erblickt zu werden, wie er aus den Rei-hen wiche oder die Waffen wegwürfe, als von allenübrigen Menschen, und würde einen vielfachenTod dieser Schande vorziehen. Oder gar den Lieb-ling zu verlassen und ihm nicht beizustehen in derGefahr, - so feige ist kein Mensch, den Eros selbstnicht begeistern sollte zur Tapferkeit, so daß erdem gleichkommt, der der Mutigste von Natur ist;kurz, was Homeros sagt, daß ein Gott diesem oderjenem Helden Mut eingehaucht habe, das gewährt

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Eros den Liebenden allen.Ja, sogar für einander zu sterben sind die Lie-

benden, und nur sie, bereit, und zwar nicht bloßMänner, sondern auch Frauen. Hiervon gibt auchdie Tochter des Pelias, Alkestis, ein hinreichendesZeugnis vor allen Hellenen zugunsten meiner Be-hauptung, indem sie allein für ihren Mann sterbenwollte, da er doch Vater und Mutter hatte, welchesie vermöge ihrer Liebe so sehr an Zärtlichkeitüberbot, daß sie dadurch jene ihrem Sohne fremdund nur dem Namen nach angehörig erschienenließ. Und in der Tat schien sie denn auch hiermitnicht bloß den Menschen, sondern auch den Göt-tern ein so schönes Werk vollbracht zu haben, daßdiese, obwohl sie unter den vielen, welche vielerühmliche Taten ausführten, doch nur einer gerin-gen Anzahl die Ehre gewährten, ihre Seele wiederaus dem Hades zu entlassen, trotzdem die ihrigeentließen aus Bewunderung ihrer Tat. So ehrenauch die Götter den Eifer und die Tüchtigkeit imDienste der Liebe vor allem. Den Orpheus aber,den Sohn des Oiagros, schickten sie unverrichteterSachen aus dem Hades zurück, indem sie ihm einTrugbild seines Weibes zeigten, um deretwillen erkam, sie selbst ihm aber nicht gaben, weil esschien, als habe er sich weichlich gezeigt - denn erwar ja ein Zitherspieler - und nicht den Mut gehabt,

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für seine Liebe zu sterben wie Alkestis, sondern esnur zu veranstalten gesucht, lebend in den Hadeszu kommen. Dafür bestraften sie ihn denn auch undließen ihn den Tod durch Weiberhand finden; wo-gegen sie wiederum den Achilleus, den Sohn derThetis, hoch ehrten und ihn auf die Inseln der Seli-gen versetzten, weil er trotz der Belehrung seinerMutter, daß er sterben müsse, wenn er den Hektortötete, während er nach der Heimat zurückkehrenund ein hohes Alter erreichen würde, wenn er ihnnicht tötete, dennoch es kühnlich vorzog, als Helferund Rächer seines Liebhabers Patroklos nicht etwabloß für ihn zu sterben, sondern sogar dem Totenin den Tod zu folgen. Deshalb bewunderten dieGötter ihn ganz besonders und ehrten ihn vor allen,weil er seinen Liebhaber so hoch achtete. Aischylosaber faselt, wenn er den Achilleus zum Liebhaberdes Patroklos macht, da doch der erstere viel schö-ner war nicht allein als Patroklos, sondern auch alsalle anderen Helden, auch noch bartlos, dazu auchviel jünger, wie Homeros bezeugt. In der Tat näm-lich ehren die Götter zwar überhaupt eine solcheTugend im Dienste der Liebe aufs höchste; nochhöher jedoch bewundern und erheben und belohnensie es, wenn der Geliebte dem Liebenden, als wennder Liebende dem Geliebten sich anhänglich er-weist. Denn der Liebhaber ist göttlicherer Art als

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der Liebling, denn er ist der Gottbegeisterte.Darum ehrten sie auch den Achilleus höher als dieAlkestis, indem sie ihn auf die Inseln der Seligenversetzten. So behaupte ich denn also, daß Erosunter den Göttern der älteste und ehrwürdigste undam meisten imstande sei, den Menschen zur Erwer-bung der Tugend und Glückseligkeit zu verhelfenim Leben und im Tode.

So ungefähr, erzählte Aristodemos, habe dieRede des Phaidros gelautet; nach Phaidros aberseien einige andere Reden gefolgt, deren er sichnicht mehr genau erinnerte; mit Übergehung vonihnen teilte er mir daher die des Pausanias mit.Dieser habe nämlich folgendermaßen gesprochen:

Nicht richtig ist uns, wie mich dünkt, lieberPhaidros, so schlechthin die Aufgabe gestellt wor-den, den Eros zu preisen. Denn wenn es nur einenEros gäbe, dann wäre dies freilich ganz in der Ord-nung; nun aber gibt es doch nicht bloß einen.Wenn dies aber der Fall ist, dann ist es richtiger,zuvor zu bestimmen, welchen man loben soll. Die-sem Mangel werde ich daher abzuhelfen suchen;ich werde zuerst sagen, welchen man loben muß,und ihn sodann auf eine Weise loben, wie sie desGottes würdig ist. Wir alle nämlich wissen, daß esohne Eros keine Aphrodite gibt. Gäbe es daher nureine Aphrodite, so würde auch Eros nur einer sein;

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nun gibt es aber deren ja zwei: folglich muß es not-wendig auch zwei Eros geben. Wie sollte es näm-lich nicht zwei solcher Göttinnen geben? Die eineist ja die ältere und mutterlose, die Tochter desUranos, welche wir deshalb bekanntlich auch die»himmlische« nennen; die jüngere aber ist dieTochter des Zeus und der Dione, welche wir ja alsdie »irdische« bezeichnen. Notwendigerweise mußnun danach der Eros, welcher der Gehilfe der letz-teren ist, auch der »irdische« heißen, der andereaber der »himmlische«. Freilich sind nun wohl alleGötter zu preisen. Welche Aufgabe aber jedem vonbeiden zuteil geworden ist, will ich auszusprechenversuchen.

Mit jeder Handlung verhält es sich folgenderma-ßen: keine ist an sich selbst schön oder verwerflich.So zum Beispiel was wir jetzt tun, trinken oder sin-gen oder uns unterhalten, - nichts von dem allen ist,an sich betrachtet, etwas Gutes und Schönes, son-dern es wird dazu erst durch die Art der Ausfüh-rung; auf schöne und richtige Weise ausgeführt,wird es zu etwas Schönem, im Gegenteil aber zuetwas Verwerflichem. So ist es denn auch mit demLieben, und nicht jeder Eros ist edel und einer Lob-rede würdig, sondern nur der, welcher uns antreibt,auf eine schöne Weise zu lieben.

Der Sohn der irdischen Aphrodite nun ist auch in

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Wahrheit irdisch, und es kommt ihm nicht daraufan, was er wirkt, und er ist es, in dessen Sinne dieniedrigdenkenden Menschen lieben. Es lieben näm-lich solche zunächst ebenso gut Weiber als Kna-ben; sodann aber an denen, welche sie gerade lie-ben, mehr den Körper als die Seele; ferner liebensie die möglichst Unverständigen, indem sie nurdarauf sehen, zu ihrem Ziele zu gelangen, unbe-kümmert darum, ob auf eine edle Weise oder nicht.Daher begegnet es ihnen denn auch, hierin zu han-deln, wie es sich gerade trifft, bald gut und baldumgekehrt. Es stammt ja dieser Eros auch von derGöttin her, welche viel jünger ist als die andere undin ihrer Abkunft sowohl am Weiblichen als amMännlichen teilhat. Der andere aber stammt vonder himmlischen, die erstens nicht teil hat amWeiblichen, sondern nur am Männlichen ( - undvon ihm stammt daher auch die Knabenliebe - ),sodann auch die ältere und jeder Ausgelassenheitfremde ist. Deshalb wenden sich denn auch die vondiesem Eros Beseelten dem männlichen Geschlech-te zu, indem sie das von Natur Kräftigere und Ver-ständigere lieben. Und man kann auch bei der Kna-benliebe selbst leicht die rein von diesem Eros Ge-triebenen unterscheiden; denn sie lieben nicht Kin-der, sondern erst die, welche schon zu Verstandekommen; dies fällt aber ungefähr mit der Zeit des

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ersten Bartwuchses zusammen. Es sind nämlichdiejenigen, welche von diesem Zeitpunkte ab zulieben beginnen, wie ich meine, dazu entschlossen,mit ihrem Geliebten für das ganze Leben vereinigtzu bleiben und dasselbe gemeinsam mit ihm zuverbringen und nicht trügerisch seine unverständigeJugend zu überrumpeln und ihn dann hinterher zuverlachen und in die Arme eines andern zu entflie-hen. Es müßte daher auch Gesetz sein, keine unrei-fen Knaben zu lieben, damit nicht so viel Müheaufs Ungewisse hin vergeudet würde; denn bei denKindern ist es noch ungewiß, wohin ihre weitereEntwicklung an Seele und Körper im Guten oderSchlimmen zuletzt ausschlagen wird. Die Edelgear-teten nun legen sich zwar selber freiwillig diesesGesetz auf; man müßte aber auch den sinnlichenLiebhabern dasselbe aufzwingen, so wie wir sie jaauch nach Kräften zwingen, sich mit ihrer Liebevon freigeborenen Frauen ferne zu halten. Denndiese sind es auch, welche jene Schande über dieKnabenliebe gebracht haben, daß man es hatwagen können, zu behaupten, es sei schimpflich,seinen Liebhabern zu Willen zu sein. Man behaup-tet dies nämlich nur im Hinblick auf diese und ihrungehöriges und unredliches Verfahren, da dochwohl keine Handlung, wenn sie auf eine anständigeund rechtliche Weise ausgeführt wird, mit Recht

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einen Tadel verdienen dürfte.So ist auch die in bezug auf die Liebe herr-

schende Sitte in andern Staaten leicht zu begreifen;denn ihre Bestimmungen sind nur einfach; hier aberund in Lakedaimon sind sie verwickelt. In Elisnämlich und bei den Boiotern und überhaupt da,wo die Leute nicht gewandt im Reden sind, da hates die Sitte einfach festgestellt, es sei schön, seinenLiebhabern zu Willen zu sein, und keiner, wederjung noch alt, dürfte es dort für schimpflich erklä-ren, damit sie, denke ich, bei ihrem Unvermögenzum Reden sich nicht erst die Mühe zu machenbrauchen, die Jünglinge zu überreden. In Ionien da-gegen und an vielen anderen Orten, soweit dieHerrschaft der Barbaren reicht, gilt es für schimpf-lich. Denn die Barbaren halten dies infolge der un-umschränkten Gewalt, mit der sie beherrscht wer-den, für schimpflich, und ebenso das Streben nachAusbildung des Geistes und Körpers. Denn denHerrschern, sollte ich denken, gereicht es nicht zumNutzen, wenn höhere Einsicht und feste Freund-schaften und Verbindungen unter den Beherrschtenentstehen, was vor allen andern Dingen die Liebehervorzurufen pflegt. Das haben durch die Tat auchunsere einheimischen Gewaltherrscher erfahren;denn die Liebe des Aristogeiton und die zur festenFreundschaft gewordene Gegenliebe des

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Harmodios stürzten ihre Herrschaft. Wo es daherdie Satzung als schimpflich festgestellt hat, demLiebhaber zu Willen zu sein, da liegt dies an derniedrigen Gesinnung derer, bei denen sie es festge-stellt hat, nämlich an dem Eigennutz der Herrscherund der Feigheit der Beherrschten: wo es aber ganzeinfach für löblich erklärt wird, da liegt es an ihrerGeistesträgheit. Unsere hiesige Sitte ist dagegenviel schöner, nur, wie gesagt, nicht leicht zu verste-hen.

Denn man erwäge nur, daß es für schöner gehal-ten wird, öffentlich zu lieben als heimlich, undzwar vorzüglich die Edelsten und Besten, wenn sieauch viel häßlicher sind als die anderen, und daßferner dem Liebhaber eine ganz ungemeine Auf-munterung von allen zuteil wird, gar nicht als ob eretwas Schändliches tue, und daß es für schön gilt,den Geliebten für sich zu gewinnen, und fürschimpflich, ihn nicht zu gewinnen, und daß dieSitte dem Liebhaber verstattet hat, zur Erreichungdieses Zweckes unter allgemeiner Billigung wun-derliche Dinge zu begehen, die, wenn jemand siebei der Verfolgung und Ausführung irgend einesanderen Zweckes in Anwendung bringen wollte,die größten Vorwürfe einernten würden; denn wenner, um Geld von jemandem zu erlangen oder Ehren-stellen oder sonstigen Einfluß, dergleichen tun

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wollte wie die Liebhaber gegen ihre Geliebten, de-mütige und flehentliche Bitten an sie zu richten,ihnen Eide zu schwören, des Nachts vor ihrenTüren zu liegen und zu jedem sklavischen Dienste,wie kein wirklicher Sklave, bereit zu sein: sowürde er von Freunden und Feinden hiervon zu-rückgehalten werden, indem diese ihm Kriechereiund knechtische Gesinnung vorwerfen, jene aberihn zurechtweisen und sich in seine Seele hineinschämen würden; dem Liebenden aber steht diesalles wohl an, und es wird ihm von der Sitte zuge-standen, dies ohne Schande zu tun, wegen der Herr-lichkeit des Zieles, welches er dadurch zu erreichensucht; was aber das Stärkste ist, so sind, wie manwenigstens insgemein behauptet, seine Eidschwüredie einzigen, deren Übertretung sogar von den Göt-tern verziehen wird: denn ein Liebesschwur, sagtman, sei gar keiner; so haben die Götter und Men-schen dem Liebenden alle mögliche Freiheit gestat-tet, wie unsere hiesige Sitte besagt. Nach dieserSeite hin möchte man demnach glauben, daß es fürschön in unserer Stadt gelte, zu lieben und denLiebhabern sich zu befreunden. Sofern aber dieVäter durch die Erzieher, welche sie Ihren Knabengeben, es verhindern, daß ihre Liebhaber mit ihnenein Gespräch anknüpfen, indem es dem Erzieherzur Pflicht gemacht ist, hierauf zu sehen, sofern

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überdies ihre Altersgenossen und Freunde sieschmähen, wenn sie sehen, daß dennoch so etwasvorkommt, und die Älteren diese hieran nicht hin-dern noch ihnen vorhalten, daß sie mit Unrecht ta-delten, - wenn jemand dies andererseits ins Augefaßt, dann möchte er wiederum glauben, daß der-gleichen hier für das Allerschändlichste gälte.

Es verhält sich nun aber, denke ich, hiermit so:Auch dies ist, wie ich schon anfänglich bemerkte,einfach, an sich betrachtet, durchaus weder schönnoch schändlich, sondern auf eine schöne Weiseausgeführt, ist es schön, im Gegenteil aber schänd-lich. Auf eine schimpfliche Weise geschieht diesnun aber, wenn man einem Schlechten und auf eineschlechte Art zu Willen ist, auf eine schöne Weisedagegen, wenn einem Edelgesinnten und auf schö-ne Art. Schlecht aber ist jener sinnliche Liebhaber,welcher den Körper mehr als die Seele liebt. Dennein solcher ist auch nicht beständig, da er ja auchnicht etwas Beständiges liebt; denn zugleich mitdem Hinschwinden der Blüte des Leibes, welche erliebte, eilt auch er von dannen und macht alleseine Reden und Verheißungen zuschanden. DerLiebhaber eines edelgearteten Gemütes aber ver-harrt zeitlebens, da er sich ja mit dem Bleibendenverschmolzen hat. Unsere Sitte nun will, daß manhiernach die Liebhaber wohl und reiflich prüfe und

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nur denen der ersteren Art zu Willen ist, die derletzteren aber meide. Darum ermuntert sie die Lieb-haber zum Verfolgen, die Geliebten aber zum Flie-hen, indem sie so im Kampfe richtet und erprobt,zu welcher von beiden Gattungen der Liebendesowie der Geliebte gehören. So wird es denn ausdiesem Grund zuvörderst für schimpflich gehalten,sich schnell zu ergeben, damit es nicht an Zeitfehle, welche ja am besten das meiste erprobensoll. Ferner gilt es für schimpflich, sich für Geldoder aus Rücksicht auf den Einfluß im Staate zu er-geben, gleichviel ob man nun dabei aus Furcht vorGewalttätigkeiten sich beugen und mutigen Wider-stand aufgeben oder aber im Hinblick auf Wohlta-ten an Geld oder in der Unterstützung seiner politi-schen Absichten nicht widerstreben möge. Dennnichts von diesem allem kann als sicher und blei-bend angesehen werden, abgesehen davon, daßhieraus nicht einmal eine hochherzige Freundschaftentstehen kann. So bleibt denn nach unserer Sittenur ein Weg, wenn der Liebling auf eine schöneWeise dem Liebhaber zu Willen zu sein gedenkt.Wie es nämlich bei den Liebhabern nicht für Krie-cherei und Schmach galt, den Lieblingen jeglichenSklavendienst freiwillig zu erweisen, so bleibt nachunserer Sitte nur noch eine einzige andere Sklavereiübrig, welche keine Schande bringt, und dies ist die

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um der Tugend willen.Es herrscht nämlich bei uns die Ansicht, wenn

jemand einem andern dienen will, weil er durch ihnin der Weisheit oder irgend einem andern Stückeder Tugend fortschreiten zu können glaubt, daßdiese freiwillige Dienstbarkeit nicht schimpflichund keine Kriecherei ist. Diese beiden in der Sittebegründeten Ansichten, die über die Knabenliebeund die über die Philosophie und sonstige Tüchtig-keit, muß man daher in eins zusammenbringen,wenn die Willfährigkeit des Geliebten gegen seinenLiebhaber als etwas Löbliches erscheinen soll.Wenn nämlich Liebhaber und Liebling beide ein-ander mit der gleichen Ansicht entgegenkommen:jener, man leiste den Lieblingen, die einem zu Wil-len sind, jeglichen Dienst, den man ihnen gewähre,mit Recht, und dieser, daß man dem, welcher unsweise und tugendhaft macht, zu jeder möglichenWillfährigkeit verpflichtet sei, und zwar so, daßdabei jener wirklich vermag, zur Weisheit und son-stigen Tugend beizutragen, dieser aber auch wirk-lich in Beziehung auf Bildung und Weisheit zu ge-winnen begehrt; wenn also dergestalt diese beidenSeiten der Sitte in eins zusammentreffen. - dann al-lein tritt der Fall ein, in welchem es löblich für denGeliebten ist, seinem Liebhaber zu Willen zu sein,sonst aber nimmer. Bei einer solchen Absicht ist es

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auch nicht einmal etwas Schimpfliches, getäuschtzu werden; bei jeder andern aber hat man Schandedavon, mag man nun getäuscht werden oder nicht.Wenn zum Beispiel jemand seinem Liebhaber, weiler ihn für reich hält, des Reichtums wegen zu Wil-len ist und sich dann hinterher getäuscht sieht undkein Geld bekommt, weil der Liebhaber sich alsarm erweist, so mindert diese Täuschung dieSchande nicht; denn ein solcher scheint, soviel anihm selbst liegt, zu erkennen zu geben, daß er fürGeld dem ersten besten sich zu jedem beliebigenDienste hergeben würde; dies aber ist nicht schön.Aus demselben Grunde ist dagegen, wenn jemandseinem Liebhaber zu Willen ist, weil er ihn für guthält und selber durch die Freundschaft mit ihm bes-ser zu werden hofft, und sich dann dabei getäuschtsieht, indem sich zeigt, daß jener schlecht ist undkeine Tugend besitzt, dennoch diese Täuschung eh-renvoll; denn es scheint wiederum auch dieser fürseinen Teil offenbart zu haben, daß er der Tugendwegen und um besser zu werden einem jeden zujedem bereit wäre; dies ist aber wiederum dasSchönste von allem. So ist es denn in jedem Falleschön, der Tugend wegen sich zu ergeben. Dies istdie Liebe, welche von der himmlischen Göttinstammt und selbst himmlisch und von hohemWerte für den Staat wie für den Einzelnen ist,

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indem sie den Liebenden zwingt, viel Sorgfalt aufseine eigene Tugend zu verwenden, und ebenso denGeliebten; alle andern Arten der Liebe aber ent-springen von der anderen Göttin, der irdischen.Dies, lieber Phaidros, ist es, was ich dir aus demStegreife über den Eros zu bieten habe.

Als nun Pausanias Pause machte - denn so leh-ren mich die hochweisen Leute die Gleichklängeaufzusuchen -, fuhr Aristodemos fort, hätte eigent-lich Aristophanes sprechen müssen; er sei aber ge-rade von einem Schlucken befallen gewesen, sei esweil er sich überladen oder aus irgend einer andernUrsache, und habe daher nicht reden können, son-dern hätte sich mit diesen Worten zu dem ArzteEryximachos gewandt - dieser hätte nämlich unmit-telbar neben ihm gelegen -: »Lieber Eryximachos,du bist dazu verpflichtet, entweder mir denSchlucken zu vertreiben oder für mich zu reden, biser weggegangen ist.« Und Eryximachos habe erwi-dert; Nein, ich will vielmehr beides tun. Ich willnämlich an deiner Stelle reden und du hernach,wenn er vorübergegangen ist, an der meinigen;während ich aber rede, siehe du zu, ob derSchlucken aufhören will, wenn du längere Zeit denAtem anhältst; wenn aber nicht, so schlucke Was-ser hinunter! Wenn er jedoch ganz hartnäckig ist,dann nimm etwas, womit du die Nase zum Niesen

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reizest, und wenn du ein - bis zweimal geniest hast,dann wird er aufhören, wenn er auch noch so hart-näckig ist.

Nun, so beginne nur deine Rede, antwortete Ari-stophanes; ich aber will deinen Rat befolgen.

Eryximachos nun habe folgendermaßen gespro-chen: Demnach scheint es mir nötig zu sein, daPausanias zwar einen vortrefflichen Anlauf in sei-ner Rede genommen, aber sie nicht befriedigend zuEnde geführt hat, daß ich derselben den fehlendenSchluß hinzufüge. Denn daß es einen zweifachenEros gebe, scheint er mir mit richtiger Unterschei-dung hingestellt zu haben; daß derselbe aber nichtbloß in den Seelen der Menschen die Liebe zuschönen Menschen bewirkt, sondern auch die zuvielem andern in vielem andern, in den Körpernaller Tiere und in den Gewächsen der Erde, ja miteinem Worte in allen Dingen, - das glaube ich ausunserer Kunst, der Arzneikunde, ersehen zu habenund aus ihr gelernt, wie groß und bewundernswür-dig der Gott ist und über alles seine Wirkungenausdehnt in den Angelegenheiten menschlichersowie göttlicher Alt. Ich mache meiner eignenKunst zu Ehren mit ihr den Anfang. Denn dieNatur der Leiber zunächst hat diesen doppeltenEros an sich. Denn das Kranke und das Gesundeam Körper ist zugestandenermaßen verschieden

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und unähnlich. Das Unähnliche aber begehrt nachUnähnlichem und liebt Unähnliches. Ein anderer istdaher der Eros, der in dem Gesunden, ein andererder, welcher in dem Kranken sich regt. Und da istes nun, wie eben Pausanias sagte, daß es schön undrecht sei, den guten, verwerflich aber, den zügello-sen Menschen zu willfahren, ebenso auch innerhalbder Körper selber Recht und Pflicht, den guten undgesunden Teilen jedes Leibes zu willfahren - undhierin eben besteht das, was man Heilkunde nennt -; denn schlimmen und kranken Teilen aber zu will-fahren, wäre verderblich, und man muß ihnen viel-mehr entgegenarbeiten, wenn man ein rechter Heil-künstler sein will. Denn die Arzneikunst ist, um esmit einem Worte zu sagen, die Kenntnis der Lie-besregungen des Körpers in bezug auf Anfüllungund Ausleerung, und wer in diesen Dingen dierechte und die falsche Liebe zu unterschieden weiß,das ist der beste Arzneikundige; und der, welchereine Veränderung darin hervorzubringen weiß, sodaß statt der einen Liebe die andere erworben wird,und welcher versteht, da, wo keine Liebe vorhan-den ist, aber vorhanden sein müßte, sie hervorzuru-fen, und ebenso im entgegengesetzten Falle die vor-handene zu vertreiben, das dürfte der rechte Heil-künstler sein. Er muß nämlich imstande sein, das,was Im Körper das Feindseligste ist, einander

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befreundet zu machen und in gegenseitige Liebe zuversetzen. Das Feindseligste aber ist das Entgegen-gesetzte: das Kalte dem Warmen, das Bittere demSüßen, das Trockene dem Feuchten, und alles übri-ge von dieser Art. Indem diesem allen unser Ahn-herr Asklepios, wie unsere Dichter da sagen undich es glaube, Liebe und Eintracht einzuflößenwußte, gründete er unsere Kunst. So wird dennalso, wie gesagt, die gesamte Heilkunde von die-sem Gotte gelenkt; ebenso aber auch die Gymna-stik und der Landbau. Von der Musik aber ist essogar jedem klar, der auch nur im geringsten daraufmerkt, daß es sich ebenso mit ihr verhält, wie viel-leicht auch Herakleitos sagen will, denn den Wor-ten nach drückt er es nicht richtig aus. Das Eine(das Grundwesen) nämlich, sagt er, gehe, ebenindem es auseinandergehe, mit sich selber zusam-men, wie die Fügung eines Bogens und einer Leier.Es ist aber sehr unsinnig zu sagen, daß die harmo-nische Fügung selbst auseinandergehe und schonim Widerstreite vorhanden sei oder aus noch Aus-einandergehendem und noch Widerstreitendem be-stehe. Vielleicht jedoch wollte er dies sagen, daßsie durch die Tonkunst aus dem Hohen und Tiefen,welches zu vor widerstreitend auseinanderging,nunmehr aber in Übereinstimmung gebracht wurde,entstehe. Denn nimmer kann doch wohl aus dem

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Hohen und Tiefen, solange es sich noch widerstrei-tet, eine Harmonie hervorgehen. Denn Harmonie istEinklang, Einklang aber eine Art der Eintracht;Eintracht aber kann unter Widerstreitendem, solan-ge es sich noch widerstreitet, unmöglich stattfin-den; wiederum aber, was sich widerstreitet undnicht in Eintracht ist, kann sich demnach auch nichtharmonisch fügen. Ebenso wie auch der Takt(Rhythmus) aus dem vorher sich widerstreitenden,nachher aber in Übereinstimmung gebrachtenSchnellen und Langsamen entsteht. Jene Überein-stimmung aber ruft, wie dort die Arzneikunde, sohier die Tonkunst hervor, indem sie gegenseitigeLiebe und Eintracht einflößt, und es ist so die Ton-kunst wiederum die Kenntnis der Liebesregungenin bezug auf Takt und Harmonie. Und zwar ist esin der Anordnung der Harmonie und des Zeitmaßesan sich nicht schwer, die Liebesregungen zu erken-nen, und hierin waltet der zwiefache Eros nicht.Aber wenn es gilt, durch Harmonie und Zeitmaßauf die Menschen einzuwirken, sei es daß man sel-ber schafft, was man das Tonsetzen nennt, oder daßman die bereits geschaffenen Tonstücke richtig vor-trägt, was man Spielen heißt, dann ist es schwerund bedarf eines tüchtigen Künstlers. Denn dannkommt wieder derselbe Satz in Anwendung, daßman den wohlgesitteten Menschen, und zwar so,

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daß die, welche noch nicht wohlgesittet sind, eseben hierdurch werden, willfahren und ihre Liebes-neigungen wohl in acht nehmen muß, und dies istdie edle, himmlische Liebe, welche von der (himm-lischen) Muse Urania stammt, die andere aber, dieder Bunttönerin Polyhymnia, ist die irdische; unddiese muß man da, wo man sie anwendet, mit Vor-sicht anwenden, damit der Hörer die Lust von ihrgenieße, ohne daß sie Zügellosigkeit in ihm hervor-bringt; ebenso wie es in unserer Kunst schwierigist, den Begierden, welche sich auf die Kochkunstbeziehen, die rechte Lenkung zu geben, so daß mandie Lust ohne Krankheit einernte. Und so muß manin der Musik und in der Heilkunst und in allen an-dern Künsten, die sich auf menschliche und aufgöttliche Dinge beziehen, soweit es angeht, denzwiefachen Eros ins Auge fassen; denn sie sindbeide in ihnen vorhanden.

Ist doch auch die Einrichtung der Jahreszeitenvoll von ihnen beiden, und wenn das, was ichschon vorhin erwähnte, das Warme und das Kalteund Trockene und Feuchte, der sittigen Liebe zu-einander teilhaftig wird und dadurch Einklang undrichtige Mischung gewinnt, dann bringt es ein ge-segnetes Jahr zuwege und Gesundheit für die Men-schen und die übrigen Geschöpfe, für Tiere undPflanzen, und richtet nirgends Schaden an. Wenn

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aber der frevelhafte Eros in den Jahreszeiten dieOberhand gewinnt, dann verdirbt er vieles undrichtet großen Schaden an. Denn Hungersnot pflegthieraus zu entstehen und wiederum andere vieledem ähnliche Gebrechen bei Tieren und Pflanzen;denn auch Reif und Hagel und Meltau entsteht ausder Maßlosigkeit und Unordnung, welche in sol-chen gegenseitigen Neigungen liegt, deren Kennt-nis in bezug auf den Lauf der Gestirne und die Jah-reszeiten Sternkunde genannt wird. Ferner drehensich nach dem Obigen auch alle Opfer und alles,was unter der Obhut der Seherkunst steht - diesaber ist alles dasjenige, was sich auf die gegenseiti-ge Gemeinschaft der Götter und Menschen be-zieht - , um nichts anderes als um die Pflege undHeilung der Liebe. Denn jede Art von Frevelhaftig-keit pflegt zu entstehen, wenn man nicht dem sitti-gen Eros willfährt und ihn ehrt und ihm den Vor-rang einräumt in allem Tun, sondern dem anderen,sowohl gegen die Eltern, im Leben wie nach ihremTode, als gegen die Götter. Über dies alles ist derSeherkunst die Hut und die Heilung davon anver-traut, und so ist denn die Seherkunst wieder dieVermittlerin zwischen Menschen und Göttern, weilsie sich auf die Liebesregungen versteht, welcheauf die Bewahrung wie auf die Verletzung des gött-lichen Rechtes gerichtet sind. So vielfache und

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große - oder richtiger, alle und jegliche Macht be-sitzen, mit einem Worte gesagt, beiderlei Eros; der-jenige aber von beiden, der sie zum Guten mitWeisheit und Gerechtigkeit an uns wie an den Göt-tern ausübt, dieser besitzt die größte Macht undverschafft uns jegliche Glückseligkeit, indem wirdurch ihn sowohl mit einander zu verkehren unduns zu befreunden vermögen, als auch mit denen,welche größer sind als wir, mit den Göttern.

Vielleicht nun übergehe auch ich bei meinemLobe des Eros noch vieles; doch geschieht es we-nigstens nicht mit Absicht. Drum, wenn ich etwasübergangen habe, so ist es deine Aufgabe, lieberAristophanes, dies zu ergänzen. Oder, wenn duetwa in anderer Weise den Gott zu preisen imSinne hast, so tue auch dies, da du ja nun von dei-nem Schlucken auch befreit bist!

Darauf nahm, so erzählte Aristodemos, Aristo-phanes das Wort und erwiderte: Ja freilich, aufge-hört hat er, aber nicht eher, als bis ich das Niesengegen ihn anwandte, so daß ich mich wundere, wiedoch das Wohlgeordnete des Körpers einen solchenLärm und Kitzel verlangt, wie ja das Niesen ist;denn da hörte er gleich auf, als ich das Niesengegen ihn anwandte.

Und Eryximachos habe erwidert: Mein guterAristophanes, siehe dich vor, was du tust! Du

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suchst mich lächerlich zu machen, während du ge-rade im Begriffe bist zu reden, und zwingst michdadurch, bei deiner eigenen Rede den Aufpasser zuspielen, ob du nicht auch etwas Lächerliches in ihrsagst, während du sonst hättest in Frieden sprechenkönnen.

Du hast recht, Eryximachos, erwiderte Aristo-phanes lachend, und ich nehme mein Wort zurück.Darum passe mir nun auch nicht auf; denn ichfürchte für meine kommende Rede, nicht etwa daßsie Lächerliches enthalten möge - denn das wäremir ein Gewinn und meiner Muse eigen -, sondernvielmehr Verlachenswertes.

Nachdem du mir eins versetzt hast, Freund Ari-stophanes, denkst du mir nun zu entwischen. Nein,sei auf deiner Hut und rede so, daß du Rechen-schaft geben kannst: vielleicht werde ich dann,wenn es mir ansteht, dich durchschlüpfen lassen.

Allerdings, lieber Eryximachos, habe nun Ari-stophanes begönnen, gedenke ich auf eine andereWeise als du und Pausanias zu reden. Mir nämlichscheinen die Menschen die Macht des Eros durch-aus nicht erkannt zu haben; denn hätten sie das, sowürden sie ihm wohl die größten Tempel und Altä-re errichten und ihm die reichlichsten Opfer dar-bringen, während jetzt nichts von dem allen ihmwiderfährt, was doch vor allem andern geschehen

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sollte. Denn er ist der menschenfreundlichste vonden Göttern, indem er den Menschen ein Helferund ein Arzt für diejenigen Übel ist, deren Heilungdem Menschengeschlechte die größte Glückselig-keit gewähren dürfte. Ich will daher euch seineMacht zu enthüllen versuchen, und ihr mögt wie-derum andere hierüber belehren. Zuvörderst nunmuß ich euch über die menschliche Natur und dieSchicksale unterrichten, die sie erlitt.

Unsere ehemalige Naturbeschaffenheit nämlichwar nicht dieselbe wie jetzt, sondern von ganz an-derer Art. Denn zunächst gab es damals drei Ge-schlechter unter den Menschen, während jetzt nurzwei, das männliche und das weibliche; damalskam nämlich als ein drittes noch ein aus diesen bei-den zusammengesetztes hinzu, von welchem jetztnur noch der Name übrig ist, während es selberverschwunden ist. DennMannweib war damalsnicht bloß ein Name, aus beidem, Mann und Weib,zusammengesetzt, sondern auch ein wirklichesebenso gestaltetes Geschlecht; jetzt aber ist es nurnoch ein Schimpfname geblieben. Ferner war da-mals die ganze Gestalt jedes Menschen rund,indem Rücken und Seiten im Kreise herumliefen,und ein jeder hatte vier Hände und ebenso vieleFüße und zwei einander durchaus ähnliche Gesich-ter auf einem rings herumgehenden Nacken, zu den

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beiden nach der entgegengesetzten Seite von einan-der stehenden Gesichtern aber einen gemeinschaft-lichen Kopf, ferner vier Ohren und zwei Schamtei-le, und so alles übrige, wie man es sich hiernachwohl vorstellen kann. Man ging aber nicht nur auf-recht wie jetzt, nach welcher Seite man wollte: son-dern, wenn man recht schnell fortzukommen beab-sichtigte, dann bewegte man sich, wie die Rad-schlagenden die Beine aufwärtsgestreckt sich über-schlagen, so, auf seine damaligen acht Glieder ge-stützt, schnell im Kreise fort. Es waren aber des-halb der Geschlechter drei und von solcher Be-schaffenheit, weil das männliche ursprünglich vonder Sonne stammte, das weibliche von der Erde,das aus beiden gemischte vom Monde, da ja auchder Mond an der Beschaffenheit der beiden anderenWeltkörper teil hat; eben deshalb waren sie selberund ihr Gang kreisförmig, um so ihren Erzeugernzu gleichen. Sie waren daher auch von gewaltigerKraft und Stärke und gingen mit hohen Gedankenum, so daß sie selbst an die Götter sich wagten;denn was Homeros von Ephialtes und Otos erzählt,das gilt von ihnen, daß sie sich einen Zugang zumHimmel bahnen wollten, um die Götter anzugrei-fen.

Zeus nun und die übrigen Götter hielten Rat,was sie mit ihnen anfangen sollten, und sie wußten

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sich nicht zu helfen; denn sie wünschten nicht, siezu töten und ihre ganze Gattung zugrunde zu rich-ten, gleichwie sie einst die Giganten mit dem Blitzezerschmettert halten - denn damit wären ihnen auchdie Ehrenbezeugungen und Opfer von den Men-schen gleichzeitig zugrunde gegangen -, noch auchdurften sie sie ungestraft weiter freveln lassen.Endlich nach langer Überlegung sprach Zeus: »Ichglaube ein Mittel gefunden zu haben, wie die Men-schen erhalten bleiben können und doch ihremÜbermut Einhalt geschieht, indem sie schwächergeworden. Ich will nämlich jetzt jeden von ihnen inzwei Hälften zerschneiden, und so werden sie zu-gleich schwächer und uns nützlicher werden, weildadurch ihre Zahl vergrößert wird, und sie sollennunmehr aufrecht auf zwei Beinen gehen. Wenn sieuns aber dann auch noch fernerhin fortzufrevelnscheinen und keine Ruhe halten wollen, dann werdeich sie von neuem in zwei Hälften zerschneiden, sodaß sie auf einem Beine hüpfen müssen wie dieSchlauchtänzer.« Nachdem er das gesagt, schnitt erdie Menschen entzwei, wie wenn man Beeren zer-schneidet, um sie einzumachen, oder Eier mit Pfer-dehaaren. Wen er aber jedesmal zerschnitten hatte,dem ließ er durch Apollon das Gesicht und dieHälfte des Nackens umkehren nach der Seite desSchnittes zu, damit der Mensch durch den Anblick

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seiner Zerschnittenheit gesitteter würde, und befahlihm dann, das übrige zu heilen. Apollon kehrtealso das Gesicht um, zog die Haut von allen Seitennach dem, was jetzt Bauch heißt, hin und band siedann, indem er eine Öffnung ließ, welche man jetztbekanntlich Nabel nennt, wie einen Schnürbeutelmitten auf demselben zusammen. Und die meistenübrigen Runzeln glättete er und fügte so die Brustzusammen, indem er sich dabei eines ähnlichenWerkzeuges bediente, wie der Holzfuß der Schuh-macher, auf welchem sie die falten des Leders aus-glätten: einige wenige aber ließ er zurück, nämlicheben die um den Bauch und den Nabel, zum Denk-zeichen der einst erlittenen Strafe.

Als nun so ihr Körper in zwei Teile zerschnittenwar, da trat jede Hälfte mit sehnsüchtigem Verlan-gen an ihre andere Hälfte heran, und sie schlangendie Arme um einander und hielten sich umfaßt, vol-ler Begierde, wieder zusammenzuwachsen, und sostarben sie vor Hunger und Vernachlässigung ihrersonstigen Bedürfnisse, da sie nichts getrennt voneinander tun mochten. Und wenn etwa die eine vonbeiden Hälften starb und die andere noch übrigblieb, dann suchte diese sich eine andere und um-faßte sie, mochte sie dabei nun auf die Hälfte einesganzen Weibes, also das, was wir jetzt Weib nen-nen, oder eines ganzen Mannes treffen, und so

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gingen sie zugrunde.Da erbarmte sich Zeus und erfand einen andern

Ausweg, indem er ihnen die Geschlechtsgliedernach vorne versetzte; denn bisher trugen sie auchdiese nach außen und erzeugten und gebaren nichtin einander, sondern in die Erde wie die Zikaden.So verlegte er sie also nach vorne und bewirkte da-durch die Erzeugung in einander, nämlich in demWeiblichen durch das Männliche, zu dem Zwecke,daß, wenn dabei ein Mann auf ein Weib träfe, siein der Umarmung zugleich erzeugten und so dieGattung fortgepflanzt würde; wenn dagegen einMann auf einen Mann träfe, sie wenigstens vonihrem Zusammensein eine Befriedigung hätten undso, von dieser gesättigt, inzwischen ihren Geschäf-ten nachgingen und für ihre übrigen Lebensverhält-nisse Sorge trügen. Seit so langer Zeit ist demnachdie Liebe zu einander den Menschen eingeborenund sucht die alte Natur zurückzuführen und auszweien eins zu machen und die menschlicheSchwäche zu heilen.

Jeder von uns ist demnach nur eine Halbmarkevon einem Menschen, weil wir zerschnitten, wiedie Schollen, zwei aus einem geworden sind. Dahersucht denn jeder beständig seine andere Hälfte. So-viele nun unter den Männern ein Schnittstück vonjener gemischten Gattung sind, welche damals

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mannweiblich hieß, die richten ihre Liebe auf dieWeiber, und die meisten Ehebrecher sind von die-ser Art, und ebenso wiederum die Weiber, welchemannsüchtig und zum Ehebruch geneigt sind. So-viele aber von den Weibern ein Schnittstück voneinem Weibe sind, die richten ihren Sinn nur wenigauf die Männer, sondern wenden sich weit mehrden Frauen zu, und die mit Weibern buhlendenWeiber stammen von dieser Art. Die Männer end-lich, welche ein Stück von einem Mann sind, diegehen dem Männlichen nach, und solange sie nochKnaben sind, lieben sie, als Schnittlinge der männ-lichen Gattung, die Männer und haben ihre Freudedaran, neben den Männern zu ruhen und von Män-nern umschlungen zu werden, und es sind dies ge-rade die trefflichsten von den Knaben und Jünglin-gen, weil sie die mannhaftesten von Natur sind.Manche nennen sie freilich schamlos, aber mit Un-recht: denn nicht aus Schamlosigkeit tun sie dies,sondern aus mutigem, kühnem und mannhaftemGeistestriebe, mit welchem sie dem ihnen Ähnli-chen in Liebe entgegenkommen. Ein Hauptbeweishierfür ist der, daß solche allein, wenn sie herange-wachsen sind, Männer werden, die sich den Staats-geschäften widmen. Sind sie aber Männer gewor-den, dann pflegen sie die Knaben zu lieben; aufEhe und Kindererzeugung dagegen ist ihr Sinn von

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Natur nicht gerichtet, sondern sie werden nur vomGesetze dazu gezwungen; vielmehr würde es ihnengenügen, ehelos mit einander das Leben zuzubrin-gen. Kurz, ein solcher wird jedenfalls ein Knaben-liebhaber, sowie ein Freund seines Liebhabers,indem er immer dem ihm Verwandten anhängt.

Wenn nun dabei einmal der liebende Teil, derKnabenliebhaber sowie alle andern, auf seine wirk-liche andere Hälfte trifft, dann werden sie von wun-derbarer Freundschaft, Vertraulichkeit und Liebeergriffen und wollen, um es kurz zu sagen, auchkeinen Augenblick von einander lassen. Und diese,welche ihr ganzes Leben mit einander zubringen,sind es, welche doch auch nicht einmal zu sagenwüßten, was sie von einander wollen. Denn dieskann doch wohl nicht die Gemeinschaft des Liebes-genusses sein, um dessen willen der eine mit demandern so eifrig zusammenzusein wünscht: sondernnach etwas anderem trachtet offenbar die Seele vonbeiden, was sie nicht zu sagen vermag, sondern nurahnend zu empfinden und in Rätseln anzudeuten.Und - wenn zu ihnen, - während sie dasselbe Lagerteilten, Hephaistos mit seinen Werkzeugen hinan-träte und sie fragte: »Was wollt ihr Leute denn ei-gentlich von einander?« und, wenn sie es ihm dannnicht zu sagen vermöchten, sie von neuem fragte:»Ist es das etwa, was ihr wünscht, möglichst an

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demselben Orte mit einander zu sein und euch Tagund Nacht nicht von einander zu trennen? Dennwenn es euch hiernach verlangt, so will ich euch ineins verschmelzen und zusammenschweißen, sodaß ihr aus zweien einer werdet und euer ganzesLeben als wie ein Einziger gemeinsam verlebt, und,wenn ihr sterbt, auch euer Tod ein gemeinschaftli-cher sei, und ihr dann wiederum auch dort imHades einer statt zweier seid. Darum seht zu, obdies euer Begehr ist, und ob dies euch befriedigenwürde, wenn ihr es erlangtet«; - wenn sie, sage ich,dies hörten, dann würde gewißlich kein Einziger esablehnen oder zu erkennen geben, es sei etwas an-deres, was er wünschte; sondern jeder würde gera-de das gehört zu haben glauben, wonach er schonlange Begehr trug: vereinigt und verschmolzen mitseinem Geliebten aus zweien eins zu werden.

Der Grund hiervon nämlich liegt darin, daß diesunsere ursprüngliche Naturbeschaffenheit ist, unddaß wir einst ungeteilte Ganze waren. Und so führtdie Begierde und das Streben nach dem Ganzenden Namen Liebe. Und vor Zeiten, wie gesagt,waren wir eins; nun aber sind wir um unserer Un-gerechtigkeit willen getrennt worden von dem Gott,wie die Arkader von den Lakedaimoniern. Und essteht daher zu fürchten, wenn wir uns nicht gesittetbetragen gegen die Götter, daß wir dann von neuem

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zerspaltet werden und so von Ansehen herumlaufenmüssen wie die auf den Grabsteinen ausgehauenenReliefs: mitten durch die Nase durchgesägt wie hal-bierte Marken.

Deswegen muß man jedermann antreiben, ehr-fürchtig gegen die Götter zu sein, damit wir diesemGeschicke entgehen und dagegen dasjenige erlan-gen, zu welchem uns Eros Führer und Hort ist.Dem handle niemand entgegen; es handelt demaber entgegen, wer sich den Göttern verhaßt macht.Denn wenn wir mit der Gottheit uns befreundenund versöhnen, so werden wir den uns eigentlichangehörigen Liebling finden und erlangen, wasjetzt nur von wenigen erreicht wird. Und Eryxima-chos möge mir dies nicht, um meine Rede ins Lä-cherliche zu ziehen, so aufnehmen, als ob ich damitauf den Pausanias und Agathon anspiele - dennvielleicht gehören auch diese in der Tat zu den we-nigen und sind ihrem Ursprunge nach die HälfteneinesMannes -; ich habe vielmehr alle, Männerund Frauen, im Sinn, wenn ich sage, daß so unserGeschlecht glückselig sein würde, wenn wir dasZiel der Liebe erreichten und jeder den ihm eigen-tümlichen Liebling erlangte und mit ihm in die alteNatur zurückkehrte. Wenn aber dies das Höchsteist, so muß notwendig in unsern jetzigen Zuständendas diesem Zunächstliegende das Beste sein; dies

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aber ist, einen Liebling zu finden, der nach unse-rem Sinne geartet ist; und dem Gott, der uns diesgewährt, müssen wir mit Fug und Recht lobsingen,dem Eros, welcher uns für die Gegenwart die größ-te Hilfe bereitet, indem er uns zu dem uns Ver-wandten hinleitet, für die Zukunft aber die größtenHoffnungen in uns erregt, er werde, wenn wir dieEhrfurcht gegen die Götter bewahren, zu dieser ur-sprünglichen Natur uns zurückführen und durchHeilung unserer Schwäche uns glücklich und seligmachen.

Dies, sprach er, lieber Eryximachos, ist meineRede über den Eros, sehr verschieden von der dei-nigen. Wie ich dich nun schon bat, so ziehe sienicht ins Lächerliche, damit wir auch von den übri-gen hören, was ein jeder sagen wird, nämlich jedervon beiden, denn nur Agathon und Sokrates sindnoch übrig.

Wohl, ich will dir Gehör geben - so, erzählteAristodemos, habe Eryximachos geantwortet -;denn auch mir ist deine Rede zu Dank gesprochen.Und wenn ich nicht wüßte, daß Sokrates und Aga-thon stark sind in Sachen der Liebe, so würde ichgar sehr fürchten, daß es ihnen an Stoffgebrechenmöge, da schon so viel und mancherlei vorgetragenworden ist; nun aber bin ich trotzdem guten Mutes.Sokrates aber habe ihm eingeworfen: Du hast eben

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deine Sache gut gemacht, mein Eryximachos; wenndu aber da ständest, wo ich jetzt, oder vielmehrwohl, wohin ich werde zu stehen kommen, wennauch Agathon erst gesprochen hat, dann würdest dugar sehr fürchten und in der größten Not sein,ebensogut wie jetzt ich selber.

Du willst es mir antun, lieber Sokrates, habeAgathon erwidert, und mich durch den Gedanken inVerwirrung bringen, als ob die Zuhörerschaft großeErwartungen von der Vortrefflichkeit meiner Redehegte.

Ich müßte sehr vergeßlich sein, Freund Agathon,nachdem ich deinen Mut und deine Zuversicht ge-sehen habe, womit du die Bühne mit deinen Schau-spielern betratest und einer so großen Zuschauer -und Zuhörerschar ins Auge blicktest, um ihr deineReden zur Schau zu stellen, und nicht im mindestenaußer Fassung warst, - wenn ich nun dennoch hin-terher glauben sollte, du werdest in Verwirrung ge-raten vor uns wenigen Leuten.

Aber wie, lieber Sokrates? habe Agathon entgeg-net, hältst du mich für so erfüllt von meinem Thea-tersiege, daß ich nicht wissen sollte, daß für einenVerständigen wenige Einsichtige mehr zu fürchtensind als viele Einsichtslose?

Ich würde nicht recht daran tun, habe Sokrateserwidert, lieber Agathon, wenn ich von dir etwas so

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Ungeschicktes glaubte; vielmehr weiß ich rechtwohl, daß, wenn du auf einige träfest, die du fürKundige hieltest, du diesen größere Beachtungschenken würdest als der großen Menge. Ich weißnur nicht, ob wir solche sind; denn auch wir warenja damals zugegen und gehörten mit zur großenMenge; wenn du aber auf andere, wirkliche Kundi-ge träfest, dann würdest du dich gewiß vor ihnenschämen, wenn du etwa glaubtest, etwas Tadelns-wertes zu tun. Oder meinst du nicht?

Du hast ganz recht, erwiderte Agathon.Aber vor der großen Menge würdest du dich

etwa nicht scheuen, wenn du glaubtest, etwas Ta-delnswertes zu tun?

Da sei aber Phaidros eingefallen und habe ge-sagt: Mein lieber Agathon, wenn du dem SokratesRede stehst, so wird ihm nichts mehr daran liegen,ob etwas von dem, was wir uns jetzt hier vorge-nommen haben, wirklich zur Ausführung kommt,wenn er nur einen hat, mit dem er ein Gesprächführen kann, zumal wenn es ein so schöner Mannist. Ich höre nun zwar den Sokrates auch gern sichunterreden: jetzt aber habe ich die Verpflichtung,für die Lobreden auf den Eros Sorge zu tragen undvon einem jeden unter euch eine solche entgegenzu-nehmen; wenn ihr so eurer Pflicht gegen den Gottgenügt habt, dann möget ihr beide immerhin

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Gespräche mit einander führen! Gut gesagt, Phai-dros, habe Agathon erwidert, und mich soll nichtsmehr abhalten zu reden; denn zu einem Wechselge-spräche mit Sokrates wird auch späterhin öfternoch Zeit sein.

Ich will nun zuerst bemerken, wie ich glaubereden zu müssen, und dann erst wirklich reden. Esscheinen mir nämlich alle voraufgehenden Rednernicht sowohl den Gott verherrlicht, als die Men-schen um der Güter willen glücklich gepriesen zuhaben, von denen ihnen der Gott der Urheber ist;wie aber seine eigene Beschaffenheit ist, kraft derer ihnen diese Geschenke gewährte, hat keiner ge-sagt. Es gibt aber nur ein einziges richtiges Verfah-ren bei jeglicher Lobrede, wovon immer sie han-deln mag, daß man nämlich darlegt, wie der inRede stehende Gegenstand, und sodann, wie seineWirkungen beschaffen sind. So gebührt es dennauch uns, zuerst den Eros, wie er an sich beschaf-fen ist, und sodann seine Gaben zu preisen.

So behaupte ich denn, daß zwar alle Götterglückselig sind, aber doch Eros, wenn es ohne Fre-vel und ungestraft zu sagen vergönnt ist, der glück-seligste von allen, weil er der schönste und besteist.

Der schönste ist er aber aus folgenden Gründen:Zuerst ist er der jüngste von den Göttern, o

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Phaidros. Den besten Beweis hierfür liefert erselbst, indem er in flüchtiger Eile das Alter flieht,welches doch offenbar schnell ist; wenigstens ereiltes uns schneller, als es sollte. Das haßt nun Erosseiner Natur nach und nähert sich ihm auch nichteinmal von weitem. Mit der Jugend aber ist erimmer verbunden und gehört selber zu ihr; dennder alte Spruch hat recht, daß gleich und gleich sichgern gesellt. Wenn ich nun dem Phaidros auch vielanderes zugestehe, so doch dies nicht, daß Erosälter als Kronos und Iapetos sei; sondern ich sage,daß er der jüngste von den Göttern ist und ewigjung, und daß jene alten Begebnisse unter den Göt-tern, von denen Hesiodos und Parmenides erzählen,unter der Herrschaft der Notwendigkeit geschehensind und nicht unter der des Eros, wenn anders sieüberhaupt die Wahrheit erzählen. Denn Verstüm-melungen und Fesselungen und so viele andere Ge-walttaten wären nicht unter ihnen vorgekommen,wäre Eros schon unter ihnen gewesen; sondernFreundschaft und Frieden hätten geherrscht, so wienun, seitdem Eros unter den Göttern das Szepterführt.

Jung ist er also, neben seiner Jugend aber auchzart. Ja, es bedarf eines Dichters wie Homer, umseine Zartheit zu zeichnen. Denn Homer sagt, daßdie Ate eine Göttin sei und zart, wenigstens ihre

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Füße seien zart, indem er singt:

Leicht schweben die Füß' ihr; nimmer demGrund auch

Nahet sie: nein, hoch wandelt sie her auf denHäuptern der Männer.

So scheint er mir ihre Zartheit an einem herrli-chen Belege klarzumachen, nämlich, daß sie nichtauf dem Harten wandelt, sondern auf dem Wei-chen. Eben desselben Beleges wollen auch wir unsnun beim Eros bedienen für seine Zartheit. Dennnicht auf der Erde wandelt er, noch auf den Schä-deln, die auch nicht so weich sind, sondern in demWeichsten von allem wandelt und wohnt er. Dennin den Gemütern und Seelen der Götter und derMenschen hat er seine Wohnung gegründet, undferner auch wiederum nicht in allen Seelen derReihe nach; sondern wo er eine trifft, die ein hartesGemüt hat, die flieht er, wo er aber eine trifft, dieein weiches hat, die bewohnt er. Da er nun aber mitseinen Füßen wie mit seinem ganzen Sein nur dasWeichste von dem Weichsten berührt, so muß ernotwendig zart sein.

So ist er denn der Jüngste und der Zarteste, dazuaber auch geschmeidig in seinem Äußern. Denn erwürde nicht imstande sein, sich so, wie er tut,

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überall anzuschmiegen und sich heimlich in jedeSeele hineinzuschleichen und wieder herauszu-schleichen, wenn er ungelenk wäre. Ein gewichti-ges Zeugnis für seine ebenmäßige und geschmeidi-ge Körperbildung legt aber auch sein edler Anstandab, der eingestandenermaßen dem Eros vorzugs-weise vor allen zukommt; denn nur mit der Anmutverträgt sich die Liebe.

Die Schönheit seiner Farbe ferner erhellt ausdem Verweilen des Gottes unter Blüten; denn ineinem blütenarmen oder verblühten Leibe oderGeiste, oder was es sonst sein mag, da verweiltEros nicht; wo aber ein blütenreicher und duftigerOrt ist, da weilt er und ruht er.

Für die Schönheit des Gottes zeugt nun diesalles schon hinlänglich, und noch vieles andereließe sich sagen; über die Tugend des Eros aberhaben wir nunmehr zu reden. Das Größte ist, daßEros weder Unrecht tut noch Unrecht erleidet,weder an einem Gott, noch von einem Gott, wederan einem Menschen, noch von einem Menschen.Denn gewaltsam leidet er weder selbst, wenn eretwas leidet - denn Gewalt berührt den Eros nicht -,noch tut er anderen, was er tut; denn freiwillig dientjeder in jedem dem Eros. Was man aber freiwilligdem zugesteht, dem Annehmen und Ablehnen frei-steht, das erklären die Könige der Staaten, die

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Gesetze, für gerecht.Neben seiner Gerechtigkeit ist er aber auch der

höchsten Besonnenheit voll. Denn darin stimmenalle überein, Besonnenheit heiße: die Lüste undBegierden beherrschen; und über den Eros siegekeine andere Lust; unterliegen sie ihm aber, so sindsie ja die Beherrschten, und er ist ihr Herrscher;wenn er aber über die Lüste und Begierdenherrscht, dann sollte er danach doch wohl ganz vor-wiegend besonnen sein.

Doch auch an Tapferkeit kann sich mit dem ErosAres selber nicht messen. Denn nicht der Kriegs-gott hält den Liebesgott gefangen, sondern der Gottder Liebe den Gott des Krieges, nämlich der Liebezu Aphrodite, wie erzählt wird. Wer aber gefangenhält, ist überlegen dem, der gefangen gehalten wird.Wer aber dem Tapfersten unter allen übrigen über-legen ist, der muß doch wohl der Allertapferstesein.

Über die Gerechtigkeit und Besonnenheit undTapferkeit des Gottes haben wir nun also gespro-chen; dagegen fehlt noch die Weisheit; soweit esmöglich ist, müssen wir daher auch hier nicht zu-rückzubleiben versuchen. Und zuvörderst nun,damit auch ich meine Kunst zu Ehren bringe, wieEryximachos die seinige, ist der Gott ein so fertigerDichter, daß er auch andere dazu macht; denn wohl

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jeder wird zum Dichter, den die Liebe berührt,wenn er auch zuvor den Musen fremd war. Dieskönnen wir wohl zum Beweise dafür gebrauchen,daß Eros selber ein schaffender Geist ist überhauptin allen Künsten der Musen. Denn was einer selbernicht hat, das kann er auch keinem andern geben,und was einer selber nicht weiß, das kann er auchkeinen anderen lehren. Aber auch die schöpferischeZeugung aller lebendigen Wesen, - wer wollteleugnen, daß sie der Weisheit des Eros entspringt,daß diese es ist, durch welche dies Lebende erzeugtund geboren wird? Ferner in der Ausübung alleranderen Künste, wissen wir da nicht, daß, wer denGott zum Lehrmeister hatte, zu Ruhm und Glanzgelangte, während der, den Eros nicht berührte, imDunkel blieb? So erfand ja Apollon die Kunst desBogenschießens und des Heilens und des Weissa-gens, aus Eifer und Liebe zur Sache getrieben, sodaß also auch er hierin ein Schüler des Eros war,und die Musen die der Musik, und Hephaistos diedes Schmiedens, und Athene die des Webens, undZeus die der Leitung der Götter und Menschen.Deshalb wurden auch die Angelegenheiten der Göt-ter geordnet, seitdem die Liebe unter ihnen er-wuchs, nämlich die Liebe zum Schönen; denn imHäßlichen waltet Eros nicht; zuvor aber geschahen,wie ich schon im Anfang bemerkte, viele

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Gewalttaten unter den Göttern, wie man sagt, weildie Gewalt der Notwendigkeit unter ihnen herrsch-te; seitdem dagegen dieser Gott geboren war, da er-wuchs aus der Liebe zum Schönen alles Gute fürGötter und Menschen.

So scheint mir denn Eros erstlich selbst derschönste und Beste zu sein, sodann auch allen an-deren ähnliche Vorzüge zu verleihen, mein Phai-dros. Und ich fühle mich getrieben, auch in Versendies auszusprechen, daß er der ist, welcher gewährt

Süßen Frieden den Menschen und spiegelnde Glätteder Meerflut,

Ruhe von brausenden Stürmen, und friedlichenSchlummer dem Lager.

Er befreit uns von der Entfremdung und erfülltuns mit Vertraulichkeit; denn er ist es, welcher alleZusammenkünfte solcher Natur unter uns veran-staltet, indem er bei den Festen, Reigentänzen undOpfern unser Führer ist, Mildheit uns gewährend,von der Wildheit uns entleerend, freigebig mitWohlwollen, unergiebig an Übelwollen, huldvollden Guten, gern gesehen den Weisen, bewunderns-würdig den Göttern, erstrebenswert den Nichtbesit-zenden, behaltenswert den Besitzern, des Wohlle-bens, der Pracht, der Kostbarkeit, der Anmut, des

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Reizes, des Verlangens Vater, achtsam für Gute,achtlos für Schlechte, im Wanken, im Bangen, imVerlangen, in Gedanken der beste Vorstand, Bei-stand, Helfer und Retter, aller Götter und Men-schen Zier, der schönste und beste Führer, dem je-dermann folgen muß, schön lobsingend und ein-stimmend in den schönen Gesang, mit welchem eraller Götter und Menschen Sinne bezaubert.

Dies ist meine Rede, lieber Phaidros, die ichdem Gotte weihe, in welcher sich der Scherz mitdem nötigen Ernste, soweit meine Kräfte reichen,vereinigt.

Als Agathon geendet, sagte Aristodemos, sei einallgemeiner Beifallsjubel unter den Anwesendendarüber ausgebrochen, wie würdig der junge Mannseiner selbst und des Gottes gesprochen. Da habedenn Sokrates den Eryximachos angesehen und ihngefragt: Scheint dir nun, Sohn des Akumenos,meine vorher gehegte Furcht grundlos gewesen zusein? Oder habe ich nicht vielmehr soeben ganzrecht prophezeit, daß Agathon wundervoll spre-chen, ich aber in Verlegenheit kommen würde?

Das eine, habe Eryximachos erwidert, scheinstdu richtig vorausgesagt zu haben, daß Agathon gutreden werde; das andere aber, daß du in Verlegen-heit geraten werdest, glaube ich noch nicht.

Und Sokrates habe ihm eingeworfen: Du

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Glücklicher, wie sollte ich denn wohl nicht in Ver-legenheit sein und jeder andere an meiner Stelle,wenn ich nach einem so schönen und so reichhalti-gen Vortrage noch einen neuen halten soll? Dasübrige ist freilich nicht alles gleich sehr bewun-dernswert - aber am Schlüsse die Schönheit derAusdrücke und Wendungen, welchen Zuhörer hättedie wohl nicht in Staunen versetzt? Ich wenigstens,wenn ich bedachte, daß ich selber auch nichts an-nähernd so Schönes zu bieten imstande sein werde,wäre vor Scham beinahe weggelaufen, wenn ichnur gekonnt hätte. Denn an den Gorgias erinnertemich die Rede, und so ging es mir ganz nach denWorten des Homeros: ich fürchtete, es möge Aga-thon am Schluß das Haupt des gewaltigen RednersGorgias (wie ein Gorgonenhaupt) gegen meineRede wenden und mich stumm wie einen Stein ma-chen. Und da bemerkte ich erst, wie lächerlich meinVersprechen gewesen war, auch meinerseits ineurer Reihe dem Eros eine Lobrede zu halten, undmeine Behauptung, in Sachen der Liebe stark zusein, da ich doch nichts davon wußte, wie man esbei einer Lobrede auf jeden lebendigen Gegenstandanzufangen hat. Denn ich glaubte in meiner Einfalt,man brauche nur die Wahrheit zu sagen, über das-jenige, was man gerade loben will, und dies müssedie Grundlage bilden; hieraus aber müsse man das

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Schönste auswählen und es möglichst angemessenordnen. Und ich dachte mir wunder was Großesdamit, wie schön ich sprechen würde, da ich ja diewahre Aufgabe jeder Lobrede zu kennen meinte.Nun aber ist nicht dies, wie es scheint, die richtigeWeise; sondern man muß vielmehr dem Gegenstan-de das Größte und Schönste zuschreiben, mag essich nun damit wirklich so verhalten oder nicht.Geschieht es auch mit Unrecht, so kommt doch dar-auf gar nichts an. Wir sind nämlich, wie es scheint,vorher dahin übereingekommen, daß jeder von unssich nur den Anschein geben soll, den Eros zu prei-sen, nicht aber ihn wirklich zu preisen. Deshalb,denke ich, sucht ihr daher alle mögliche Beredsam-keit hervor und häuft sie auf den Eros und behaup-tet, er sei so oder so beschaffen und so großerGüter Urheber, um ihn als den Schönsten und Be-sten erscheinen zu lassen, nämlich den Unkundi-gen, denn den Kundigen doch wohl schwerlich.Und so klingt denn euer Lob recht schön und erha-ben! Ich dagegen kannte hiernach die Art, wie manloben muß, nicht, und ohne sie zu kennen, ver-sprach ich euch, selber gleichfalls den Eros zuloben, wenn die Reihe an mir wäre. So gab euchalso nur die Zunge das Versprechen und nicht derGeist. So fahre es denn hin! Denn nicht werde ichin dieser Weise weiter loben, denn ich vermöchte

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es nicht, gewiß nicht. Aber die Wahrheit will icheuch vortragen, wenn ihr wollt, in meiner Weise,und nicht in der eurer Reden, damit ich nicht La-chen errege. Siehe nun zu, lieber Phaidros, ob dirauch mit einer solchen Rede gedient ist, die dirüber den Eros die Wahrheit anzuhören gibt, aber ineiner solchen Wahl der Ausdrücke und Stellung derRedewendungen, wie sie sich ihr gerade darbietenwollen!

Aristodemos erzählte nun, daß Phaidros und dieübrigen ihn hierauf aufgefordert hätten, so zureden, wie er selber es für gut fände.

So erlaube denn, habe er fortgefahren, lieberPhaidros, daß ich erst den Agathon nach einer Klei-nigkeit frage, um in Übereinstimmung mit ihm so-dann meine Rede beginnen zu können!

Wohl, ich erlaube es dir, habe Phaidros erwidert:frage ihn nur!

Hierauf habe denn Sokrates ungefähr folgender-maßen begonnen:

Allerdings, mein lieber Agathon, scheinst du mirdeine Rede vortrefflich angelegt zu haben mit dei-ner Bemerkung, daß man zuerst von dem Eros ansich zeigen müsse, wie er beschaffen ist, und dannerst von seinen Werken. Diesem Eingang stimmeich mit Freuden bei. Wohlan denn, sage mir vonEros, da du seine übrigen Eigenschaften gar schön

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und herrlich entwickelt hast, auch noch dieses: Istdie Liebe in dieser ihrer Beschaffenheit Liebe vonetwas oder von nichts; Ich meine damit nicht dieAbstammung, als ob ich dich fragen wollte, obEros von einer Mutter oder von einem Vater herist - denn das wäre eine lächerliche Frage, ob Erosvon mütterlicher oder von väterlicher Seite her dieLiebe ist -, sondern wie wenn ich dir über »Vater«dieselbe Frage vorlegte: Ist der Vater Vater vonetwas oder nicht? Du würdest mir nämlich danndoch wohl sagen, wenn du richtig antworten woll-test, daß er als Vater dies von einem Sohne odereiner Tochter ist, oder nicht?

Gewiß, habe Agathon erwidert.Ist es nun nicht mit der Mutter ebenso?Auch das habe er zugestanden.Beantworte mir demnach noch einige Fragen,

habe Sokrates fortgefahren, damit du noch besserbegreifst, was ich will: Wenn ich dich nämlichfragte: Wie weiter? Wie steht es mit dem Bruder?Ist er das, was er ist, nicht eben dadurch, daß erBruder von etwas ist? Oder nicht?

Er sei es, habe jener erwidert.Und zwar von einem Bruder oder einer Schwe-

ster, nicht wahr?Auch das habe er zugegeben.Versuche nun danach, hätte Sokrates weiter

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gesprochen, mir auch über die Liebe zu antworten:Ist sie die Liebe von nichts oder von etwas?

Freilich ist sie die Liebe zu dem...Das behalte jetzt noch bei dir im Gedächtnis, sei

ihm Sokrates ins Wort gefallen, welches ihr Gegen-stand ist! Jetzt dagegen sage mir nur so viel: Be-gehrt die Liebe eben diesen Gegenstand, auf wel-chen sie gerichtet ist, oder nicht?

Freilich, habe er entgegnet.Diesen Gegenstand nun, welchen sie begehrt und

liebt, begehrt und liebt sie den, indem sie ihn be-sitzt, oder indem sie ihn nicht besitzt?

Indem sie ihn nicht besitzt, wie es scheint, seidie Antwort gewesen.

Siehe doch zu, habe ihn Sokrates berichtigt, obes nicht statt des bloßen Scheines wirklich notwen-dig so ist, daß das Begehrende das begehrt, wessenes ermangelt, oder, wenn es ihm nicht mangelt,dann es auch gar nicht begehrt. Mir nämlichscheint dies ganz wunderbar notwendig zu sein, lie-ber Agathon; wie aber dir?

Auch mir scheint es so, habe dieser geantwortet.Wohl gesprochen. Wünscht nun wohl jemand,

wenn er schon groß ist, noch groß, oder, wenn erstark ist, noch stark zu sein?

Das ist nach dem Zugestandenen unmöglich.Nämlich wer dies schon ist, der dürfte dessen

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wohl nicht mehr ermangeln.Du hast recht. -Zwar könnte wohl gewissermaßen, habe Sokra-

tes sich selber eingewandt, der Starke stark und derSchnelle schnell und der Gesunde gesund zu seinwünschen. Wenigstens könnte wohl jemand vondiesen und allen entsprechenden Fällen solchesglauben, daß die so Beschaffenen und im Besitzdieser Dinge Befindlichen dennoch das, was sie be-sitzen, auch zugleich begehren. Damit wir uns alsonicht täuschen lassen, führe ich dies noch weiteraus: Es besitzen nämlich diese, wenn du daraufachtest, Agathon, das von ihnen Besessene zur Zeitganz notwendigerweise wirklich, gleichviel, ob siees wünschen oder nicht, und wer könnte dann nochdanach begehren? Wenn nun aber doch jemandsagte: »Ich, der ich gesund bin, wünsche auch ge-sund zu sein, und ich, der ich reich bin, wünscheauch reich zu sein und trage Begehr nach ebendem, was ich besitze«, so würden wir ihm entgeg-nen: »Nämlich du, guter Mann, der du Reichtumbesitzest und Gesundheit und Stärke, wünschestdiese auch für die Zukunft zu besitzen; denn gegen-wärtig hast du sie, du magst wollen oder nicht.Prüfe also, wenn du dies sagst: ›Ich begehre dasVorhandenene‹, - ob du damit wohl etwas anderessagen willst als dies: ›Ich wünsche, daß das jetzt

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Vorhandene es mir auch in Zukunft sei‹.« Müßte erdas nicht zugeben?

Agathon hätte dies eingeräumt, erzählte Aristo-demos.

Sokrates aber habe fortgefahren: Dieser Wunschnun aber, daß ihm dies auch für die Zukunft erhal-ten bleibe, besagt der wohl etwas anderes, als das-jenige lieben, was ihm noch nicht in seiner Gewaltsteht und was er noch nicht besitzt?

Gewiß nicht, habe jener geantwortet.Also auch dieser so gut wie jeder andere Begeh-

rende begehrt nach dem, was noch nicht in seinerGewalt steht und für ihn noch nicht vorhanden istund was er nicht besitzt und was er nicht ist undwessen er ermangelt, und von dieser Art ist allesdas, worauf Begierde und Liebe gerichtet sind?

Jawohl, habe die Antwort gelautet.Wohlan, habe Sokrates gesagt, verständigen wir

uns noch einmal über das Bisherige: Erstens istalso die Liebe Liebe zu etwas, und zweitens zudem, woran sie Mangel leidet.

Ja, war die Antwort.Jetzt erinnere dich ferner, welches nach deiner

Rede der Gegenstand der Liebe war, oder, wenn duwillst, will ich dich daran erinnern. Ich glaubenämlich, du sagtest ungefähr so, daß die Verhält-nisse unter den Göttern geordnet worden wären

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durch die Liebe zum Schönen, denn zum Häßlichengäbe es keine Liebe. Sagtest du nicht so ungefähr?

Ich tat es, versetzte Agathon.Und ganz recht tatest du daran, mein Freund, er-

widerte Sokrates. Wenn sich dies nun so verhält, sowäre die Liebe Liebe zur Schönheit, nicht aber zurHäßlichkeit?

Das gestand er zu.Räumten wir nun nicht soeben ein, daß sie dasje-

nige liebe, was sie entbehrt und nicht besitzt?Ja, sprach Agathon.Folglich entbehrt Eros der Schönheit und besitzt

sie nicht.Notwendigerweise, entgegnete er.Wie nun, was der Schönheit entbehrt und sie

keineswegs besitzt, das nennst du trotzdem schön?Gewiß nicht.Willst du also auch nun noch behaupten, daß

Eros schön sei, wenn dem also ist?Und Agathon habe gesagt: Fast scheine ich, lie-

ber Sokrates, von dem, was ich vorher sagte, selbernichts verstanden zu haben.

Und doch sprachst du schön, mein Agathon, er-widerte Sokrates. Aber eine Kleinigkeit beantwortemir noch: Scheint dir das Gute nicht auch schön zusein?

Allerdings.

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Wenn also Eros des Schönen ermangelt, dasGute aber schön ist, so dürfte er auch des Guten er-mangeln?

Ich kann dir, lieber Sokrates, nicht widerspre-chen, habe Agathon erwidert; sondern möge es sichso verhalten, wie du sagst!

Nicht doch, warf ihm Sokrates ein, sondern derWahrheit vermagst du nicht zu widersprechen,mein teurer Agathon; mit dem Sokrates würde dirdies dagegen ein Leichtes sein. Und so will ichdenn auch dich von nun ab unangefochten lassenund will vielmehr die Ansichten über den Eros,welche ich von einer Mantineierin, der Diotima,hörte, die in diesen sowie in vielen anderen Dingenweise war und den Athenern einst bei Gelegenheiteines Opfers vor dem Ausbruche der Pest einenzehnjährigen Aufschub dieser Krankheit erwirkte,und die auch mich in betreff der Liebe belehrte, -also ihre Äußerungen will ich jetzt meinesteils, sogut ich vermag, mit Anknüpfung an das, worüberich mit Agathon übereingekommen bin, euch wie-derzugeben versuchen. Man muß nämlich in derTat, wie du auseinandersetztest, mein Agathon, zu-erst, was Eros an sich und wie er beschaffen ist,und sodann seine Wirkungen erörtern. Es scheintmir nun am leichtesten, dies so zu tun, wie es einstdie Fremde durch vorgelegte Fragen mit mir

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durchging. Denn auch ich äußerte mich gegen sieungefähr auf ähnliche Weise, wie eben Agathongegen mich, daß Eros ein großer Gott wäre und zuden Schönen gehöre, und sie widerlegte mich wie-derum mit eben denselben Gründen, wie ich ihn,dahin, daß er meinen eigenen Worten zufolgeweder schön noch gut sei. Ich aber hielt ihr entge-gen: Was soll das heißen, Diotima? Ist also Eroshäßlich und schlecht?

Sie aber sprach: Frevle nicht! Oder glaubst du,was nicht schön ist, das sei deshalb auch notwendi-gerweise schon häßlich?

Freilich glaube ich das.Auch was nicht weise ist, sei deshalb schon un-

wissend? Oder weißt du nicht, daß es ein Mittlereszwischen Weisheit und Unverstand gibt?

Und was wäre dies?Wenn man sich das Richtige vorstellt, ohne daß

man Gründe für seine Richtigkeit anzugeben ver-mag, weißt du nicht, daß dies einerseits noch keinWissen ist - denn wie könnte etwas der GründeEntbehrendes ein Wissen sein? -, andererseits aberauch keine Unwissenheit - denn wie sollte es wohlUnwissenheit sein, wenn man doch im Besitze desRichtigen ist? So ist also doch wohl die richtigeVorstellung ein solches Mittelding zwischen Ein-sicht und Unwissenheit.

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Du hast recht, erwiderte ich.Halte es also nicht für notwendig, daß das Nicht-

schöne häßlich und das Nichtgute schlecht undböse sein müsse! So nimm denn auch vom Eros,wenn du selber zugestehst, daß er nicht gut undnicht schön sei, deshalb um nichts mehr an, daß erhäßlich und schlecht sein müsse, sondern nur, daßer ein Mittleres zwischen beiden sei, sprach sie.

Und doch, warf ich ein, stimmen alle darin über-ein, daß er ein großer Gott sei.

Meinst du alle Unwissenden, fragte sie, oderauch alle Wissenden?

Alle ohne Ausnahme.Aber wie sollte doch, erwiderte sie lachend,

Freund Sokrates, von denen geurteilt werden kön-nen, daß er ein großer Gott sei, die ihn nicht einmalfür einen Gott halten!

Wer sind die? fragte ich.Einer bist du, war ihre Antwort, und eine andere

ich.Wie meinst du das? erwiderte ich.Und sie sprach: Ganz einfach. Sage mir nämlich

nur: Hältst du nicht alle Götter für glückselig undschön? Oder würdest du wagen zu behaupten, daßirgend einer von ihnen dies nicht sei?

Beim Zeus, nein, entgegnete ich.Nennst du aber nicht glückselig diejenigen,

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welche das Gute und Schöne besitzen?Allerdings.Nun hast du aber doch zugestanden, daß Eros

aus Mangel am Guten und Schönen nach eben die-sem strebt, dessen er ermangelt.

Das habe ich.Wie sollte er also wohl ein Gott sein, da er des

Guten und Schönen unteilhaftig ist?Freilich kann er dies dann nicht sein, wie es

scheint.Siehst du nun, sagte sie, daß auch du den Eros

nicht für einen Gott hältst?Was wäre denn also Eros? wandte ich ein: etwa

ein Sterblicher?Keineswegs.Aber was denn?Ganz nach dem Vorigen, ein Mittelwesen zwi-

schen Sterblichem und Unsterblichem.Was heißt das, Diotima?Ein großer Dämon, lieber Sokrates; denn alles

Dämonische ist eben das Mittelglied zwischen Gottund Mensch.

Welche Aufgabe hat es denn?Dolmetsch und Bote zu sein von den Menschen

bei den Göttern und von den Göttern bei den Men-schen, von den einen für ihre Gebete und Opfer,von den andern für ihre Befehle und ihre

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Vergeltungen der Opfer, und so die Kluft zwischenbeiden auszufüllen, so daß durch seine Vermittlungdas All sich mit sich selber zusammenbindet. Unddadurch hat auch die gesamte Weissagekunst ihrenFortgang und die Kunst der Priester in bezug aufOpfer und Weihungen und Besprechungen, und diegesamte Wahrsagerei und Zauberei. Nämlich nichtunmittelbar tritt die Gottheit mit dem Menschen inBerührung, sondern durch seine Vermittlung gehtaller Verkehr und alle Zwiesprache der Götter mitden Menschen im Wachen wie im Schlafe. Und werdieser Dinge kundig ist, der ist ein dämonenbeseel-ter (und daher dem Höheren zustrebender), weraber irgend eines anderen in Künsten oder Gewer-ben kundig ist, der ist bloß ein handwerksmäßigerMann. Solcher Dämonen gibt es nun viele und vonmannigfacher Art; einer von Ihnen ist aber auchEros.

Von welchem Vater und welcher Mutter stammter denn her? fuhr ich fort.

Das ist weitläufiger auseinanderzusetzen; indes-sen will ich es dir trotzdem mitteilen. Als nämlichAphrodite geboren war, hielten die Götter einenSchmaus, und mit den anderen auch Poros (Er-werb, Betrieb), der Sohn der Metis (Weisheit). Alssie aber gespeist hatten, da kam Penia (Armut), umsich etwas zu erbetteln, da es ja festlich herging,

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und stand an der Türe. Porös nun begab sich, trun-ken vom Nektar - denn Wein gab es damals nochnicht -, in den Garten des Zeus und schlief inschwerem Rausche ein. Da macht Penia ihrer Be-dürftigkeit wegen den Anschlag, ein Kind vomPorös zu bekommen: sie legt sich also zu ihm hinund empfing den Eros. Deshalb ist Eros der Beglei-ter und Diener der Aphrodite, weil er an ihrem Ge-burtsfeste erzeugt ward und zugleich von Natur einLiebhaber des Schönen ist, da ja auch Aphroditeschön ist. Als Sohn des Porös und der Penia nun istdem Eros folgendes Los zuteil geworden: Erstensist er beständig arm, und viel fehlt daran, daß erzart und schön wäre, wie die meisten glauben, son-dern er ist rauh und nachlässig im Äußern, barfußund obdachlos, und ohne Decken schläft er auf derbloßen Erde, indem er vor den Türen und auf denStraßen unter freiem Himmel übernachtet, gemäßder Natur seiner Mutter stets der Dürftigkeit Ge-nösse. Von seinem Vater her aber stellt er wieder-um dem Schönen und Guten nach, ist mannhaft,verwegen und beharrlich, ein gewaltiger Jäger undunaufhörlicher Ränkeschmied, der stets nach derWahrheit trachtet und sie sich auch zu erwerbenversteht, ein Philosoph sein ganzes Leben hin-durch, ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer undSophist; und weder wie ein Unsterblicher ist er

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geartet noch wie ein Sterblicher, sondern an dem-selben Tage bald blüht er und gedeiht, wenn er dieFülle des Erstrebten erlangt hat, bald stirbt erdahin; immer aber erwacht er wieder zum Lebenvermöge der Natur seines Vaters; das Gewonnenejedoch rinnt ihm immer wieder von dannen, so daßEros weder Mangel leidet noch auch Reichtum be-sitzt und also vielmehr zwischen Weisheit und Un-wissenheit in der Mitte steht. Es verhält sich näm-lich damit folgendermaßen: Keiner der Götter phi-losophiert oder begehrt weise zu werden, denn siesind es bereits; auch wenn sonst jemand weise ist,philosophiert er nicht. Ebensowenig philosophierenwiederum die Unverständigen, noch begehren sieweise zu werden. Denn das eben ist das Verderbli-che am Unverstand, daß man, ohne schön, gut undverständig zu sein, dennoch sich selber genugdünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, derbegehrt auch dessen nicht, wessen er nicht zu be-dürfen glaubt.

Wer sind denn also, Diotima, fragte ich, die Phi-losophierenden, wenn es doch weder die Weisennoch die Unwissenden sind?

Das ist doch nun wohl auch einem Kinde klar,erwiderte sie, daß es die zwischen beiden in derMitte Stehenden sind, und zu ihrer Zahl gehört nunwiederum auch Eros. Denn gewiß zählt doch die

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Weisheit zu dem Allerschönsten; die Liebe aber istauf alles Schöne gerichtet: folglich ist Eros ein Phi-losoph; als Philosoph aber steht er in der Mittezwischen einem Weisen und einem Unwissenden.Ursache auch hiervon ist ihm seine Geburt: denn erstammt von einem weisen und erfindungsreichenVater, aber von einer unweisen und ungeschicktenMutter. So ist die Natur dieses Dämons beschaffen,mein lieber Sokrates; daß du dir aber den Erosganz anders vorstellst, ist gar nicht zu verwundern.Du meintest nämlich, wie ich aus deinen Äußerun-gen schließen zu können glaube, daß Eros das Ge-liebte und nicht das Liebende sei. Deswegen, denkeich, erschien dir Eros so überaus schön. Denn dasLiebenswürdige ist in der Tat das wahrhaft Schöne,Zarte, Vollendete und Seligzupreisende; das Lie-bende aber trägt eine ganz andere Gestalt an sich,und zwar die, welche ich soeben mit dir betrachtethabe.

Und ich versetzte: Sei es denn, Freundin, gewißhast du recht. Aber welchen Nutzen gewährt dennEros in dieser seiner Beschaffenheit den Men-schen?

Darüber will ich nun zunächst, sagte sie, lieberSokrates, dich zu belehren versuchen. Es ist nunalso Eros von solcher Beschaffenheit und Herkunft,und die Liebe ist, wie du sagst, auf das Schöne

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gerichtet. Wenn nun aber jemand uns fragte: »In-wiefern ist denn die Liebe auf das Schöne gerichtet,o Sokrates und Diotima?« - was würden wir ihmantworten? Doch ich will es noch deutlicher aus-drücken: Wer des Schönen begehrt, was ist demdabei der eigentliche Zweck seines Begehrens?

Daß es ihm zuteil werde, war meine Antwort.Diese Erwiderung, wandte sie ein, bedarf einer

neuen Frage: Was wird denn dem damit zuteil, wel-chem das Schöne zuteil wird?

Auf diese Frage, gestand ich, habe ich durchausnicht mehr sogleich eine rechte Antwort zur Hand.

Nun, erwiderte sie, wie, wenn jemand statt desSchönen das Gute setzte und dich dann fragte:Wohlan, Sokrates, wer das Gute liebt, was begehrtder eigentlich damit?

Daß es ihm zuteil werde, war meine Entgeg-nung.

Und was wird jenem zuteil, dem das Gute zuteilwird?

Das, erwiderte ich, kann ich leichter beantwor-ten: er wird glückselig.

Denn durch den Besitz des Guten, fügte siehinzu, sind die Glückseligen glückselig. Und nunbedarf es nicht mehr der weiteren Frage: Was er-strebt derjenige eigentlich damit, welcher glückse-lig zu sein wünscht? Sondern hier scheint die

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Antwort am Ziele angelangt zu sein.Sehr wahr, bemerkte ich.Diesen Wunsch und diese Liebe aber - hältst du

sie nicht für etwas allen Menschen Gemeinsames,und glaubst du nicht, daß jedermann das Gute fürimmer zu besitzen wünscht? Oder wie meinst du?

So wie du sagst, war meine Erwiderung: ichhalte sie allen für gemeinsam.

Warum sagen wir, fuhr sie fort, lieber Sokrates,denn nicht von allen, daß sie lieben, wenn sie dochalle dasselbe und stets begehren, sondern nur voneinigen, von andern aber nicht?

Das nimmt mich selber wunder, sprach ich.Laß es dich nicht wundern, berichtigte sie: wir

nehmen nämlich von der Liebe nur eine besondereArt ab und benennen sie mit dem Namen des Gan-zen, Liebe; für die übrigen Arten aber bedienen wiruns anderer Benennungen.

Wie zum Beispiel? fragte ich.Zum Beispiel im folgenden Falle: Du weißt

doch, daß Dichten eigentlich alles Schaffen be-zeichnet, und daß das Schaffen etwas gar Vielfälti-ges ist. Denn allem demjenigen, was die Ursachedafür ist, daß irgend etwas aus dem Nichtsein indas Sein übergeht, legen wir eine schaffende Tätig-keit bei, so daß eigentlich auch die Werke sämtli-cher Künste Dichtungen und ihre Meister Dichter

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heißen müßten.Du hast recht.Nichtsdestoweniger, fuhr sie fort, weißt du aber

doch auch, daß sie nicht Dichter genannt werden,sondern andere Bezeichnungen empfangen, daßvielmehr von der ganzen Gattung ein kleiner Teil,nämlich der, der auf Tonkunst und Silbenmaß sichbezieht, ausgeschieden und mit dem Namen belegtwird, der vielmehr dem Ganzen zukommen sollte.Denn nur dieser heißt Dichtkunst, und die ihn inne-haben, heißen Dichter.

Du hast recht, sprach ich.So ist es demnach nun auch mit der Liebe. Im

weiteren Sinne umfaßt sie alles, was Streben nachdem Guten und der Glückseligkeit heißt, dieseLiebe, die so stark und listenersinnend ist in einemjeden; aber die, welche sich in vielfacher Art aufanderen Wegen ihr zuwenden, sei es nämlich derLiebe zum Gelderwerb oder zu Leibesübungenoder zur Philosophie, von denen gebraucht manweder den Ausdruck ›lieben‹ noch ›Liebhaber‹.

Du scheinst recht zu haben, bemerkte ich.Nun geht zwar eine Rede, fuhr sie fort, daß die-

jenigen lieben, welche ihre andere Hälfte suchen;meine eigene Rede aber sagt, daß die Liebe wederauf die Hälfte noch auf das Ganze gerichtet ist,wenn es nicht eben, lieber Freund, etwas Gutes ist.

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Denn die Menschen sind bereit, sich ihre eigenenHände und Füße abschneiden zu lassen, wennihnen diese, ob auch immer ihre eigenen, so dochzum Übel zu sein scheinen. Denn niemand liebt,wie ich denke, das Eigene als solches, es müßtedenn jemand das Gute als das Angehörige undwahrhafte Eigentum bezeichnen, das Schlechte aberals das Fremdartige. Nichts anderes nämlich liebendie Menschen als das Gute; oder scheint es dir an-ders?

Nein, beim Zeus, antwortete ich.Das darf man also ohne weiteres sagen, fragte

sie, daß die Menschen das Gute lieben?Ja, erwiderte ich.Wie weiter? Müssen wir nicht noch hinzusetzen,

daß ihre Liebe auf den Besitz des Guten gerichtetist?

Das müssen wir.Aber auch nicht bloß auf den Besitz, sondern auf

den dauernden Besitz?Auch das müssen wir hinzufügen.Die Liebe ist also mit einemWorte auf den dau-

ernden Besitz des Guten gerichtet.Sehr richtig bemerkt, entgegnete ich.Wenn nun also, fuhr sie fort, dies beständig der

Gegenstand der Liebe ist, auf welche Weise mußman ihn denn verfolgen und welches Verfahren bei

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seiner Mühe und Anstrengung einschlagen, um ihrden Namen der Liebe im eigentlichen Sinne zu er-werben? Was für einer Tätigkeit gelingt dies? Ver-magst du mir das zu sagen?

Dann würde ich, liebe Diotima, warf ich ein,dich doch wohl nicht wegen deiner Weisheit be-wundern und zu dir gegangen sein, um eben dies zulernen.

So will ich es dir denn sagen, sprach sie. Es istdies die Zeugung im Schönen, dem Körper wiedem Geiste nach.

Sehergabe gehört dazu, um zu wissen, was dumeinst, versetzte ich: ich fasse es nicht.

So will ich es dir denn deutlicher sagen, erwider-te sie. Alle Menschen nämlich tragen Zeugungs-stoff in sich, körperlichen sowie geistigen, undwenn wir zu einem gewissen Alter gelangt sind, sostrebt unsere Natur zu erzeugen. Im Häßlichen abervermag sie nicht zu erzeugen, wohl aber im Schö-nen. Zeugung nämlich ist die Vereinigung desMannes und Weibes. Es ist dies aber ein göttlicherAkt, und dies beides liegt in den sterblichen Wesenals ein Unsterbliches, Schwangerschaft und Erzeu-gung. Es kann dieser Akt aber da nicht vor sichgehen, wo es an Einklang fehlt. Im Widerspruchmit allem, was göttlich heißt, steht nun aber dasHäßliche, und nur das Schöne im Einklang damit!

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Eine leitende und entbindende Göttin ist daher dieSchönheit bei der Geburt. Wenn nämlich das, wasden Zeugungsstoff in sich trägt, dem Schönen sichnähert, dann empfindet es Lust und zerfließt inWonne und gebiert und erzeugt; wenn es aber demHäßlichen sich nähert, dann zieht es sich finsterund traurig in sich selbst zurück und wendet sichab und rollt sich zusammen und erzeugt nicht, son-dern hält mit Schmerzen seinen Zeugungsstoff ansich. Darum trägt denn auch das Schwangere undschon vom Zeugungstriebe Strotzende eine so hefti-ge Leidenschaft zu dem Schönen, weil es durchdieses großer Wehen entledigt wird. Es ist nämlich,mein Sokrates, fuhr sie fort, die Liebe nicht, wie duglaubst, auf das Schöne als solches gerichtet.

Auf was denn sonst?Auf die Erzeugung und Geburt im Schönen.Es mag sein, erwiderte ich.Es ist so, versicherte sie.Warum denn aber auf die Erzeugung?Weil die Zeugung das Ewige und Unsterbliche

ist, soweit dies vom Sterblichen erreicht werdenkann. Daher muß denn nach dem Zugestandenendie Liebe in und mit dem Guten auch zugleich aufdie Unsterblichkeit gerichtet sein, wenn anders siedoch nach dem dauernden Besitze des Guten strebt.So ist denn nach dieser Darlegung notwendig auch

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die Unsterblichkeit Gegenstand der Liebe.Dieses alles nun lehrte sie mich, sooft sie über

die Liebe mit mir redete, und einstmals fragte siemich: Was hältst du wohl für die Ursache dieserLiebe und dieses Verlangens, mein Sokrates? Odersiehst du nicht, in wie heftiger Aufregung die Tieresind, wenn der Trieb der Zeugung sie ergreift, dievierfüßigen sowohl wie die Vögel, wie sie allekrank sind vor Liebe, und wie dieser ihr Trieb nichtbloß auf die gegenseitige Vermischung gerichtetist, sondern ebensogut darauf, das Erzeugte aufzu-ziehen, und wie die schwächsten Tiere mit denstärksten für ihre Jungen zu kämpfen und für sie zusterben bereit sind, und wie sie sich selbst vomHunger verzehren lassen, um nur ihnen Nahrung zubieten, und überhaupt alles für sie tun? Von denMenschen nun, fuhr sie fort, könnte man wohlglauben, daß dies aus Überlegung geschehe; wasaber ist bei den Tieren der Grund, daß die Liebe sieso mächtig treibt? Kannst du mir das sagen?

Und ich erklärte wiederum, daß ich es nichtwisse, und sie erwiderte: Denkst du denn jemalstüchtig in der Liebeskunde zu werden, wenn du dasnicht begreifst?

Aber eben deswegen ja, liebe Diotima, wie icheben schon sagte, komme ich zu dir, weil ich weiß,daß ich der Lehrer bedarf. Darum gib du mir den

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Grund hiervon und von allem anderen an, was sichauf die Liebe bezieht!

Wenn du also glaubst, sprach sie, daß die Liebeihrer Natur nach sich auf dasjenige bezieht, wor-über wir wiederholt übereingekommen sind, so laßdich dies nicht wundernehmen. Denn auch hier (inden unvernünftigen Tieren) sucht die sterblicheNatur ganz nach eben dem obigen Grunde nachVermögen fortzudauern und unsterblich zu sein.Sie vermag dies aber eben nur auf diese Weise,durch die Zeugung, daß sie immer ein ebensolchesJunges an der Stelle des Alten zurückläßt. Dennselbst solange man auch von jedem einzelnen unterden lebenden Wesen sagt, es lebe und sei dasselbeso wie man von Kindesbeinen auf derselbe genanntwird bis zum Alter. - so wird ihm diese Bezeich-nung doch nur dem zum Trotze gegeben, daß manniemals dieselben Teile in sich faßt, sondern sie be-ständig erneuert und wieder abwirft: so Haare,Fleisch, Knochen, Blut und überhaupt den gesam-ten Körper. Und nicht bloß mit dem Körper stehtes also, sondern auch in der Seele bleiben der Cha-rakter, die Gewohnheiten, Meinungen, Begierden,Freude, Schmerz, Furcht, in einem jeden niemalsdieselben, sondern das eine von ihnen ist erst imEntstehen, während das andere schon wieder imVergehen begriffen ist. Was aber noch viel

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merkwürdiger ist, - auch selbst von den Erkennt-nissen sind nicht etwa bloß die einen erst im Ent-stehen, während die andern schon wieder ver-schwinden, und wir sind nicht einmal in bezug aufdie Erkenntnisse dieselben, sondern jede einzelneErkenntnis für sich erleidet den gleichen Wechsel.Denn was man nachsinnen nennt, geschieht doch,weil eine Erkenntnis im Entschwinden begriffenist; Vergessen nämlich ist das Entschwinden derErkenntnis, das Nachsinnen aber setzt eine neueErinnerung an die Stelle der abgegangenen und er-hält so die Erkenntnis, so daß sie dieselbe zu blei-ben scheint. Denn auf diese Weise erhält sich allesSterbliche, nicht dadurch, daß es beständig undüberall dasselbe bleibt, wie das Göttliche, sonderndadurch, daß das Abgehende und Veraltende stetsein anderes. Neues von derselben Art zurückläßt,wie es selber war. Durch dieses Mittel, mein So-krates, fuhr sie fort, hat das Sterbliche teil an derUnsterblichkeit, der Körper sowohl wie alles ande-re, das Unsterbliche aber auf einem anderen Wege.Wundere dich also nicht, wenn ein jedes von Naturseine Sprößlinge werthält; denn der Unsterblichkeitwegen haftet dieses eifrige Streben und diese Liebean einem jeden.

Und ich ward verwundert, als ich diese Lehrevernahm, und sprach: So weit wären wir denn;

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aber, weise Diotima, verhält sich dies denn auch inWirklichkeit so?

Sie aber erwiderte mir in der Weise der rechtenSophisten: Sei überzeugt davon, mein Sokrates!Denn auch wenn du auf den Ehrgeiz unter denMenschen hinblicken willst, so müßtest du dichüber das Vernunftwidrige desselben wundern,wenn du nicht eben das von mir Bemerkte in Be-tracht ziehst, sobald du erwägst, wie gewaltig dieLiebe zum Ruhme und das Streben sie mitnimmt,sich einen großen und unsterblichen Namen fürewige Zeiten zu begründen, und wie hierfür allenoch mehr als für ihre Kinder bereit sind. Gefahrenzu bestehen und ihr Vermögen zu opfern und jegli-che Mühsale zu ertragen, ja sogar dafür in den Todzu gehen. Denn glaubst du wohl, daß Alkestis fürAdmetos gestorben oder Achilleus dem Patroklosin den Tod gefolgt oder euer Kodros seinen Kin-dern in den Tod vorangegangen wäre, um ihnen dieHerrschaft zu erhalten, wenn sie nicht erwartet hät-ten, das Andenken ihres Heldenmutes würde einunsterbliches sein, wie wir es jetzt in der Tat ihnenzollen? Weit gefehlt, fuhr sie fort, sondern für denunsterblichen Ruhm ihres Heldenmutes und für einsolches ehrenvolles Andenken tun, meine ich, allealles, um so mehr, je edler geartet sie sind: denn sielieben das Unsterbliche.

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Diejenigen nun also, fuhr sie fort, welche demLeibe nach zeugungslustig sind, wenden sich mehrzu den Weibern und suchen bei ihnen ihrer LiebeBefriedigung, um sich durch die Zeugung von Kin-dern Unsterblichkeit, Andenken und Glückseligkeitfür alle Folgezeit, wie sie meinen, zu erwerben; dieaber, die es der Seele nach sind,... - es gibt nämlichauch solche, deren Seele noch zeugungslustiger istals ihr Körper, in dem, was der Seele zukommt, zuerzeugen und fort und fort zu erzeugen. Was aberkommt ihr zu? Weisheit und alle andere Tugend.Deren Erzeuger nun sind gewiß alle Dichter undalle diejenigen Künstler, welche man als die schaf-fenden bezeichnet. Der bei weitem höchste undschönste Teil der Weisheit, sprach sie weiter, istaber der, welcher sich in der Verwaltung der Staa-ten und des Hauswesens zeigt und dessen Namemaßhaltende Besonnenheit und Gerechtigkeit ist.Wenn also hier - mit wiederum jemand von Jugendauf in seinem Geiste schwanger geht, göttlicher Be-geisterung voll, und wenn dann seine Jahre kom-men, in denen er bereits zu gebaren und zu erzeu-gen begehrt, dann sucht auch dieser, wie ich denke,nach dem Schönen, in welchem er fruchtbar werde:denn in dem Häßlichen wird er es niemals werden.Schöne Körper liebt er daher mehr als häßliche inseiner Zeugungslust, und wenn er eine schöne und

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edle und wohlbegabte Seele trifft, dann umfaßt erbeides in seiner Vereinigung mit außerordentlicherLiebe, und für einen solchen Menschen hat er so-gleich eine Fülle von Reden bereit, über die Tu-gend und darüber, wie ein wackerer Mann beschaf-fen sein und was er betreiben müsse, und er suchtihn zu bilden. Indem er nämlich mit dem Schönenin Berührung und Gemeinschaft kommt, wie ichdenke, gebiert und erzeugt er, womit er schon langeschwanger ging, indem er anwesend und abwesendsich seiner erinnert; und in Gemeinschaft mit ihmzieht er das Erzeugte auf, so daß solche Menscheneine viel engere Gemeinschaft als die auf den Kin-dern beruhende und eine viel festere Freundschaftmit einander haben, weil sie ja schönere und un-sterblichere Kinder mit einander gezeugt haben.Und ein jeder möchte wohl lieber solche Kinderhinterlassen wollen als die leiblichen, wenn er aufHomeros hinblickt und den Hesiodos und die übri-gen vortrefflichen Dichter glücklich preist, daß siesolche Sprößlinge hinterließen, welche, von glei-cher Beschaffenheit wie ihre Väter, ihnen unsterbli-chen Ruhm und ein ewig dauerndes Andenken er-halten, oder, wenn du lieber willst, sprach sie, sol-che Kinder, wie sie Lykurgos in Lakedaimon hin-terließ, als die Retter Lakedaimons und fast möchteich sagen ganz Griechenlands. Ebenso steht auch

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bei euch Solon in Ehren wegen der Erzeugung sei-ner Gesetze, und andere Männer an vielen anderenOrten unter Griechen und Nichtgriechen, welcheviele schöne Geisteswerke ans Licht förderten undso Tugenden aller Art erzeugten; ja vielen vonihnen sind um solcher Kinder willen sogar schonHeiligtümer errichtet worden, wegen seiner leibli-chen Kinder aber noch keinem.

Bis so weit nun, mein Sokrates, magst auch duwohl in die Mysterien der Liebe eindringen: ob duaber den höchsten Grad der Weihe, auf welchenauch das Bisherige bereits hinarbeitet, wenn mannur den rechten Weg dabei einschlägt, zu erreichenbefähigt bist, weiß ich nicht. Ich für meinen Teilwenigstens, sprach sie, will sie dir mitteilen undwill es an Bereitwilligkeit nicht fehlen lassen; ver-suche du mir zu folgen, so gut du es vermagst! Esmuß nämlich, fuhr sie fort, der, welcher auf demrichtigen Wege auf dies Ziel hinstrebt, in seiner Ju-gend sich allerdings den schönen Körpern zuwen-den, und zwar zuerst, wenn sein Führer ihn richtigleitet, einen solchen schönen Körper lieben und andiesem sich fruchtbar in schönen Reden erweisen;dann aber muß er innewerden, daß die Schönheitan jedem einzelnen Körper der an jedem anderenKörper verschwistert ist; und wenn er doch über-haupt der Schönheit der Gestalt nachgehen soll, so

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wäre es ja großer Unverstand, wenn er nicht end-lich die Schönheit an allen Körpern für eine unddieselbe erkennen würde. Wenn er aber zu dieserEinsicht gelangt ist, dann muß er sich als Liebha-ber aller schönen Körper darstellen und von seinergewaltigen Glut für einen einzigen nachlassen,vielmehr sie gering schätzen und verachten. Hier-nach aber muß er die geistige Schönheit für weitschätzbarer achten lernen als die des Körpers, sodaß, wenn jemand nur eine liebenswürdige Seelebesitzt, mag auch dabei sein körperlicher Reiz nurgering sein, dies ihm genügt und er sie liebt undihrer pflegt und Reden gebiert und aufzufindensucht, so wie sie geeignet sind, veredelnd auf Jüng-linge zu wirken. Diese Stufe führt ihn aber wieder-um nur dazu, daß er gezwungen wird, das Schönein den Bestrebungen, Sitten und Gesetzen zu be-achten, und einzusehen, daß dies alles mit einanderverwandt ist, und so das körperliche Schöne fürganz geringfügig achten zu lernen. Von den Bestre-bungen aber muß man ihn zu den Wissenschaftenführen, damit er wiederum die Schönheit der Wis-senschaften erkenne und, indem er so bereits aufdas Schöne in seiner Fülle hinblickt, nicht mehrmit sklavischem Sinne der Schönheit im Einzelnen,sei es in Liebe zu einem Knäbchen oder einerMenschenseele oder einer vereinzelten Bestrebung,

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diene und sich so als unedel und kleinlich erweise,sondern gleichsam auf die hohe See des Schönenhinaussteuernd und es also mit einem Blicke über-schlagend, viel schöne und herrliche Reden undGedanken in des Weisheitsstrebens Fülle gebäre,bis er, dadurch gekräftigt und bereichert, alles ineine einzige Erkenntnis von folgender Art zusam-menfaßt, die auf ein Schönes gerichtet ist, wie iches jetzt dir beschreiben will. Suche du, sprach sie,deine Aufmerksamkeit darauf gespannt zu halten,so sehr du es nur immer vermagst!

Wer nämlich bis hierher in der Liebe geleitetworden ist, indem er in richtiger Folge und Art dasviele Schöne betrachtete, der wird endlich, amZiele dieses Weges angelangt, plötzlich ein Schö-nes von wunderbarer Natur erblicken, und dies istgerade dasjenige, mein Sokrates, zu dessen Errei-chung alle früheren Mühen verwandt wurden. Zu-vörderst ist es ein beständig Seiendes, was wederwird noch vergeht und weder zunimmt noch ab-nimmt, sodann nicht nach der einen Seite betrachtetschön, nach der andern unschön, noch auch baldschön und bald nicht, noch in Vergleich mit demeinen schön, mit dem andern aber häßlich, oderteilweise schön und teilweise häßlich, oder nachder Meinung einiger schön, nach der von anderenaber häßlich ist. Ferner wird sich ihm dies Schöne

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nicht darstellen als ein Gesicht oder Hände oderwas sonst zum Körper gehört, noch auch als eineRede oder Erkenntnis, noch überhaupt als etwas,was an einem anderen ist, sei es an einem Einzel-wesen oder auf der Erde und im ganzen Welten-raume oder wenn es noch anderswo sein könnte,sondern als rein in sich und für sich und ewig sichselber gleich, alles andere Schöne aber als seinernur dergestalt teilhaftig, wie das Werdende undVergehende dessen, welches in nichts mehr oderweniger wird oder irgend etwas erleidet. Wenn alsojemand von dem ersteren, und zwar zunächst vonder rechten Knabenliebe, ausgegangen ist und nundas Urschöne selbst zu erblicken beginnt, danndürfte er seinem Ziele ziemlich nahe gekommensein. Denn dies eben heißt ja, den richtigen Wegder Liebe einschlagen oder von einem anderen aufdiesem geleitet werden, wenn man um dieses Ur-schönen willen von jenem vielen Schönen ausgehtund so stufenweise innerhalb desselben immer wei-ter vorschreitet, von einem zu zweien und vonzweien zu allen schönen Körpern, und von denschönen Körpern zu den schönen Bestrebungen,und von den schönen Bestrebungen zu den schönenErkenntnissen, - bis man innerhalb der Erkennt-nisse bei jener Erkenntnis endigt, die von nichts an-derem als von jenem Urschönen selber die

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Erkenntnis ist, und so schließlich das allein wesen-hafte Schöne erkennt.

Auf diesem Höhepunkte des Lebens, o mein lie-ber Sokrates, fuhr die Fremde aus Mantineia fort,auf welchem er das Ansichschöne betrachtet, hatdas Leben des Menschen, wenn irgendwo, einenwahrhaften Wert. Wenn du dies Schöne einstmalserblicken solltest, dann wird es dir nicht mit derSchönheit des Goldes und der Kleidung und mitschönen Knaben und Jünglingen vergleichbar er-scheinen, bei deren Anblicke du jetzt außer dir ge-rätst und, wie viele andere, bereit sein würdest, fürden steten Anblick des Lieblings und das stete Zu-sammenleben mit ihm, wenn es nur möglich wäre.Essen und Trinken aufzugeben und ihn nur immer-fort anzuschauen und mit ihm zu verkehren. Wassollen wir also wohl gar von dem glauben, dem eszuteil würde, das Ansichschöne lauter, rein und un-vermischt zu erblicken und nicht verunreinigt mitFleische und Farben und allem übrigen irdischenTande, sondern der das Göttlichschöne selbst inseiner ureigenen Gestalt zu erschauen vermöchte?Glaubst du wohl, sprach sie, daß das Leben einesMenschen gering erscheinen könnte, der dorthinblickt und es mit den Werkzeugen anblickt undsich mit ihm vereinigt, mit denen es betrachtet seinund mit sich verkehren lassen will? Oder wirst du

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vielmehr inne, so schloß sie, daß es ihm hier alleingelingen wird, wenn er das Schöne mit dem Augeanschaut, welchem es allein wahrhaft sichtbar ist,nicht bloße Schattenbilder der Tugend zu gebären,da er ja auch nicht an einem Schattenbilde haftet,sondern die wahre Tugend, weil er sich mit derWahrheit verbunden; wenn er aber die wahre Tu-gend gebiert und auferzieht, daß es ihm dann ge-lingt, ein Gottgeliebter zu werden, und, wenn ir-gend einem andern Menschen, so auch ihm un-sterblich zu sein?

Solches, mein Phaidros und ihr übrigen, sprachDiotima, und mich hat sie davon überzeugt; und dadies der Fall ist, so suche ich wiederum andere zuüberzeugen, das man zur Erreichung dieses Besit-zes für das menschliche Geschlecht einen besserenMitarbeiter als den Eros nicht leicht finden kann.Deshalb nun behaupte ich, daß jedermann den Eroszu ehren hat, und ich selber ehre meinerseits seineKunst und übe sie vor allen und empfehle sie allenandern und preise jetzt und immerdar, soweit ich esvermag, die Macht und die mannhafte Tugend desEros.

Diese Rede nun also, mein Phaidros, laß, wennes dir gefällt, als Lobrede auf den Eros gelten;wenn aber nicht, so nenne sie, wie und mit wel-chem Namen es dich gut dünkt!

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Als nun Sokrates also gesprochen, hätten die üb-rigen ihn gelobt, Aristophanes aber habe im Begriffgestanden, etwas zu erwidern, weil Sokrates in sei-nem Vortrage auf ihn mit der Erwähnung jener um-laufenden Rede gezielt hatte; da sei plötzlich an dieVordertüre geklopft und dabei ein gewaltiges Ge-räusch, wie es schien, von Nachtschwärmern ge-macht worden, und man habe die Töne einer Flö-tenspielerin gehört. Da habe nun Agathon befoh-len: »Seht doch einmal nach, ihr Sklaven, undwenn es ein Bekannter ist, so ruft ihn herein; wennaber nicht, so sagt ihm, daß wir nicht mehr trinken,sondern schon aufgehört haben!« Und nicht langenachher habe man in der Vorhalle die Stimme desAlkibiades gehört, welcher stark angetrunken warund laut schrie: »Wo ist Agathon?« und verlangte,man solle ihn zu Agathon führen. So wäre er denndurch die Flötenspielerin, indem sie ihn unter demArm faßte, und durch mehrere andere von seinenBegleitern zu ihnen geführt worden, und er sei inder Türe stehengeblieben, mit einem dichten Kran-ze von Efeu und Veilchen bekränzt und mit sehrvielen Bändern auf dem Kopfe, und habe gerufen:Ihr Leute, seid gegrüßt; wollt ihr einen sehr starkangetrunkenen Mann als Mitzecher aufnehmen!Oder sollen wir wieder von dannen gehen, nachdemwir den Agathon bekränzt haben, zu welchem

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Zweck wir gekommen sind? Denn ich, habe er fort-gefahren, konnte gestern nicht kommen: nun aberbin ich da mit den Bändern auf dem Kopfe, damitich sie von meinem Haupte nehme und das Hauptdes weisesten und schönsten Mannes, indem ichihn öffentlich als solchen ausrufe, mit ihnen um-winde. Ja, ihr lacht wohl über mich, daß ich wieein Angetrunkener rede? Wenn ihr aber auchlacht, - ich weiß doch, daß ich die Wahrheit sage.Aber nun sagt mir auf der Stelle: soll ich auf meineBedingungen eintreten oder nicht? Wollt ihr mitmir zechen oder nicht?

Da hätten nun alle aufgejubelt und hätten ihnaufgefordert, einzutreten und sich niederzulagern,und Agathon habe ihn dazu eingeladen. Und so seier, von seinen Begleitern geführt, weiter vorgegan-gen, und zugleich habe er die Bänder abgenommen,um den Agathon mit ihnen zu bekränzen, und habesie so in die Höhe gehalten, daß er vor ihnen denSokrates nicht sehen konnte, und so habe er sichneben Agathon niedergelassen, mitten zwischenihm und dem Sokrates; denn der letztere sei zurSeite gerückt, um ihm Platz zu machen. Indem ersich nun also neben Agathon niederließ, habe erihn umarmt und bekränzt. Darauf habe Agathon ge-boten: Löset dem Alkibiades seine Sohlen ab, ihrSklaven, damit er sich zu dreien mit uns lagere!

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Versteht sich, habe Alkibiades gesagt; aber wenhaben wir hier denn als dritten Trinkgesellen? Undzugleich habe er sich umgedreht und den Sokrateserblickt; bei seinem Anblick aber sei er aufge-sprungen und habe ausgerufen: Beim Herakles,was ist das? Sokrates schon wieder da? Hast dudich schon wieder hier gegen mich auf die Lauergelegt, so wie du immer plötzlich da zu erscheinenpflegst, wo ich dich am wenigsten vermute? Undwozu bist du jetzt hier? Und wozu nimmst du wie-derum gerade hier deinen Platz und nicht bei Ari-stophanes oder wenn noch ein anderer da ist, derein Spaßmacher ist oder sein will? Sondern warumhast du es wieder so einzurichten gewußt, daß duneben dem Schönsten von allen Anwesenden dei-nen Platz bekamst?

Sokrates aber habe sich zu Agathon gewandt:Sieh doch zu, lieber Agathon, ob du mir nicht die-sen Menschen vom Leibe halten kannst; so vielNot macht mir seine Liebe! Denn von der Zeit ab,seit welcher ich ihn zu lieben begann, darf ich kei-nen einzigen schönen Mann mehr ansehen, ge-schweige denn mit ihm sprechen, oder aber der dabegehrt aus Neid und Eifersucht die wunderlichstenDinge und schilt mich und hält sich kaum vonHandgreiflichkeiten zurück. Siehe du also zu, daßer nicht auch jetzt wieder so etwas unternimmt,

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sondern versöhne uns, oder, wenn er Gewalt ge-brauchen will, so halte ihn zurück: denn ich habedie größte Angst vor der Raserei, in welche ihnseine Anhänglichkeit zu mir versetzt.

Nein, habe Alkibiades gesagt, zwischen mir unddir gibt es keine Versöhnung. Doch ich will hierfürdich später bestrafen; jetzt aber, Agathon, - mit die-sen Worten habe er sich zu dem letzteren gewandt -gib mir einige von deinen Bändern zurück, damitwir auch dieses Mannes wunderbares Haupt be-kränzen und er nicht mich tadeln könne, daß ichdich bekränzt, ihn aber, der mit seiner Rede Gewaltallen Menschen, und nicht bloß gestern, wie du,sondern immerdar, obsiegt, hinterher unbekränztgelassen habe!

Und zugleich habe er einige von den Bänderngenommen, mit ihnen den Sokrates bekränzt unddann sich wieder niedergelassen.

Nachdem er sich aber niedergelassen, habe ervon neuem begonnen: Heda, ihr Leute! Ihr scheintmir nämlich noch sehr nüchtern zu sein. Das darfman euch nicht zulassen, sondern trinken müßt ihr;denn dahin sind wir übereingekommen. Ich wähleeuch daher einen Präses, bis ihr gehörig getrunkenhabt, und zwar mich selbst. Wenn also Agathoneinen recht großen Pokal hat, so lasse er ihn herein-bringen! Doch nein, ist gar nicht nötig, sondern

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bringe du da, Bursche, rief er einem der Sklavenzu, einmal die Kühlschale dort her! - Es fiel ihmnämlich eine solche in die Augen, welche mehr alsacht Kotylen faßte. Diese habe er sich füllen lassenund zuerst selber leer getrunken, dann aber befoh-len, sie für den Sokrates voll zu schenken, unddabei bemerkt: Gegen den Sokrates, liebe Leute,hilft mir das Kunststück zu nichts: denn soviel ihmeiner auferlegt, so viel trinkt er aus und wird trotz-dem doch niemals betrunken.

Sokrates nun habe ausgetrunken, nachdem ihmder Sklave eingeschenkt; Eryximachos aber habesich mit der Frage an Alkibiades gewandt: Wiewollen wir es aber nun machen? Sollen wir so garnichts beim Becher reden oder singen, sondern nurso ohne weiteres wie die Durstigen trinken?

Alkibiades aber habe ihm erwidert: Ei, siehe da,Eryximachos! Sei mir willkommen, du bester Sohndes besten und verständigsten Vaters!

Ich danke dir, habe Eryximachos erwidert; abersprich: wie wollen wir es machen?

Ganz wie du es befiehlst, dir muß man ja gehor-chen:

Denn ein bellender Mann ist wert wie viele zuachten.

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Schreibe du uns also vor, was du willst!So höre denn, habe Eryximachos entgegnet: Wir

haben, bevor du kamst, die Übereinkunft getroffen,es solle ein jeder der Reihe nach rechts herum, so-bald diese an ihn käme, eine so schöne Rede, als ernur immer vermöchte, auf den Eros halten und ihnverherrlichen. Wir andern nun haben alle bereitsgesprochen. Du aber, da du noch nicht geredet unddoch schon ausgetrunken hast, bist jetzt verpflich-tet zu reden und sodann berechtigt, dem Sokratesaufzugeben, was dich gut dünkt, der aber wiederseinem Nachbar zur Rechten, und so alle übrigen.

Dein Vorschlag ist ganz schön, mein Eryxima-chos, habe Alkibiades eingewandt, wenn es nurnicht unbillig wäre, daß ein trunkener Mann mitden Reden Nüchterner wetteifern soll. Und über-dies, du Hochehrenwerter, glaubst du dem Sokratesirgend etwas von dem, was er soeben sagte? Undweißt du nicht, daß vielmehr das gerade Gegenteildavon wahr ist? Denn er vielmehr, wenn ich in sei-ner Gegenwart irgend jemanden, sei es einen Gottoder einen anderen Menschen als ihn, loben wollte,würde Hand an mich legen.

Frevle nicht! habe Sokrates gesagt.Nein, beim Poseidon, wende mir nichts dagegen

ein, habe Alkibiades erwidert: ich werde doch indeiner Gegenwart nie einen andern preisen.

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Nun, dann mache es so, habe Eryximachos vor-geschlagen, wenn es dir recht ist: halte eine Lobre-de auf den Sokrates!

Ja, was sagst du dazu? habe Alkibiades versetzt;meinst du, ich soll es tun, Eryximachos? Soll ichmich an den Mann machen und mich hier in eurerGegenwart an ihm rächen?

He, Freund, habe da Sokrates begonnen, washast du denn eigentlich im Sinn? Willst du mich indeiner Lobrede lächerlich machen, oder was willstdu sonst tun?

Die Wahrheit will ich sagen. Überlege also, obdu mir das verstattest?

Gewiß, habe Sokrates erwidert: die Wahrheitverstatte ich nicht bloß, ich gebiete sie dir auch zusagen.

Ich werde nicht zaudern. Und mache du es dabeiso: Wenn ich etwas Unwahres sage, dann unter-brich mich, wenn du willst, und strafe mich Lügendabei! Denn mit Absicht werde ich nichts Falschesberichten. Wenn ich jedoch das eine hier und dasandere dort anführe, so wundere dich darüber nicht,denn in meinem Zustande ist es nicht leicht, deineSeltsamkeiten geläufig und in geordneter Reihen-folge aufzuzählen.

Indem ich den Sokrates zu loben versuche, ihrMänner, will ich dies vermittelst eines Gleichnisses

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tun. Und er freilich wird vielleicht glauben, es ge-schehe dies, um ihn lächerlich zu machen; in derTat aber soll das Gleichnis der Wahrheit und nichtdem Spotte dienen. Ich behaupte nämlich, daß erganz ähnlich jenen Silenen sei, welche man in denWerkstätten der Bildhauer findet, so wie dieseKünstler sie mit Hirtenpfeifen oder Flöten darzu-stellen pflegen; wenn man sie aber nach beiden Sei-ten hin auseinandernimmt, dann zeigt es sich, daßsie Götterbilder einschließen. Und wiederum ver-gleiche ich ihn mit dem Satyr Marsyas. Daß du zu-nächst in deinem Äußern diesen allen ähnlich bist,lieber Sokrates, wirst du selber nicht bestreiten;daß du aber auch in allen andern Stücken ihnengleichst, das will ich dir sofort beweisen. Du bistein übermütiger Schalk. Oder bist du es nicht?Wenn du es leugnest, will ich dir Zeugen beibrin-gen. Und ferner: du wärest kein Flötenspieler? Ja,sogar ein noch viel bewundernswürdigerer als Mar-syas. Denn vermittelst fremder Werkzeuge nur be-zauberte er die Menschen durch die Gewalt seinesMundes, und so auch jetzt noch ein jeder, welcherseine Weisen spielt. Nämlich die Tonstücke desOlympos nenne ich zugleich die des Marsyas, dadieser sein Lehrer war. Mag nun jene ein guter Flö-tenspieler oder eine schlechte Flötenspielerin vor-tragen, immer fesseln sie vor allen und machen,

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weil sie selber göttlich sind, diejenigen kund, wel-che nach den Göttern und nach den Weihen Verlan-gen tragen. Du aber unterscheidest dich von ihmnur darin, daß du ohne Instrumente durch deinebloßen Reden das bewirkst. Von uns wenigstensgeht es einem jeden, wenn wir einen andern undauch noch so guten Redner hören, fast gar nicht zuHerzen; wenn wir aber dich oder den Vortrag dei-ner Reden durch einen andern hören, mag dann derVortrag auch noch so schlecht, und mögen Mann,Weib oder Knabe die Zuhörer sein, so fühlen wiruns hingerissen und gefesselt. Ich wenigstens, ihrMänner, wenn ich nicht fürchtete, ganz betrunkenzu erscheinen, könnte es euch beschwören, was ichbei des Sokrates Reden empfunden habe und nochjetzt empfinde. Denn wenn ich ihn höre, dannpocht mir das Herz weit stärker, als wenn ich vomKorybantentaumel ergriffen wäre, und Tränen ent-strömen meinen Augen bei seinen Reden. Ich seheaber, daß auch seht vielen anderen dasselbe wider-fährt. Wenn ich dagegen den Perikles und anderegute Redner hörte, so schienen sie mir zwar wohlgesprochen zu haben, - so etwas jedoch habe ichnie dabei empfunden, noch war meine Seele dabeiin Aufregung oder klagte mein eigenes Herz michan, daß ich mich in einem Zustande befinde, wie ereines freien Mannes unwürdig ist; aber von diesem

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Marsyas ward ich oftmals in eine solche Stimmungversetzt, so daß mir das Leben unerträglich er-schien, wenn ich so bliebe, wie ich bin. Und hierin,Sokrates, wirst du mich nicht der Unwahrheit zei-hen können. Und auch jetzt noch bin ich mir dessenbewußt, daß, wollte ich ihm mein Ohr leihen, ichnicht Kraft genug zum Widerstande haben, sonderndaß mir von neuem dasselbe widerfahren würde.Denn er würde mich zwingen zu gestehen, daß ich,während mir selber noch so vieles fehlt, dochmeine eigenen Angelegenheiten vernachlässige undstattdessen die der Athener betreibe. Mit Gewaltverstopfe ich mir daher die Ohren wie vor den Sire-nen und fliehe schnell von dannen, damit ich nichtzur Stelle bei ihm sitzenbleibe und so bei ihm zumalten Manne werde. Und was mir niemand zutrauenwürde, daß ich mich nämlich vor irgend jemandemschäme, - das ist mir auch in der Tat bei ihm alleinunter allen Menschen begegnet: denn vor ihm alleinschäme ich mich wirklich. Denn ich bin mir be-wußt, daß ich ihm nicht darin zu widersprechenvermag, als ob ich das unterlassen dürfte, wozu ermich ermahnt, sondern daß ich nur, wenn ich ihnverlassen habe, den Ehrenbezeugungen der Mengeunterliege. Daher entlaufe ich ihm und fliehe ihn,und wenn ich ihn erblicke, dann schäme ich michmeines Abfalls von seinen Vorschriften. Und oft

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möchte ich wünschen, ihn gar nicht mehr unter denLebenden zu erblicken; wenn aber dies einträte,dann bin ich überzeugt, daß ich einen noch vielgrößeren Schmerz darüber empfinden würde, undso weiß ich nicht, was ich diesem Mann gegenüberbeginnen soll.

Solches nun haben ich und viele andere von demFlötenspiele dieses Satyrs erlitten. Vernehmt abernoch andere Dinge von mir, um zu erfahren, wieähnlich er denen ist, mit welchen ich ihn verglichenhabe, und welche wunderbare Gewalt er ausübt.Denn dessen seid gewiß, daß niemand von euchdiesen Mann wirklich kennt; ich aber will ihn euchkundmachen, da ich nun einmal dies zu tun begon-nen habe. Ihr seht nämlich, wie sehr Sokrates inschöne Jünglinge verliebt ist und sie beständig um-schwärmt und außer sich ist vor Entzücken übersie, und ferner, daß er sich das äußere Anseheneines Unwissenden und Unkundigen in allen Din-gen gibt. Ist dies nun nicht ganz silenenhaft? We-nigstens ist dies durchaus nur die äußere Hülle anihm, gerade wie jene geschnitzten Silenen; wennman ihn aber öffnet, so glaubt ihr es gar nicht,meine Tischgenossen, von wie großer Besonnen-heit sein Inneres voll ist. Denn wißt, daß er inWahrheit nicht das geringste Gewicht darauf legt,ob jemand schön oder reich ist oder irgend eine

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andere Auszeichnung von allen denen an sich trägt,die von der Menge gepriesen werden, sondern diesalles so sehr verachtet, wie niemand es glaubensollte. Alle diese Besitztümer hält er für wertlos,und uns alle achtet er gering; das hütet er sich aberfreilich zu sagen, vielmehr Ironie und Verstellungübt er sein ganzes Leben hindurch gegen alle Men-schen aus und treibt mit ihnen sein Spiel. Ob daherirgend ein anderer, wenn er Ernst macht und seinInneres aufschließt, die in ihm verborgenen Götter-bilder erblickt hat, weiß ich nicht; aber ich habe siegesehen, und sie erschienen mir so göttlich undgolden, so reizend schön und bewundernswert, daßich ohne Zaudern tun zu müssen glaubte, was So-krates von mir verlangte. Da ich nun wähnte, daßer ernstlich nach dem Genüsse meiner Reize streb-te, so hielt ich dies für einen herrlichen Fund undeinen wunderbaren Glücksfall für mich, da ichglauben durfte, daß mir, wenn ich dem Sokrates zuWillen wäre, alles zu Gebote stehen würde, was erselber wüßte; ich bildete mir nämlich eben aufmeine Reize wunder wieviel ein. Während ichdaher bisher nicht ohne Gegenwart eines Dienersallein mit ihm zu bleiben pflegte, schickte ich jetztin dieser Erwägung jenen fort und blieb mit ihmganz allein. Denn ihr sollt jetzt die volle Wahrheithören: drum merkt auf, und wenn ich irgend etwas

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Unwahres sage, Sokrates, so erhebe du dagegenEinspruch! Ich blieb also ganz allein mit ihm,Freunde, und erwartete nun, daß er sofort zu mirsprechen würde, wie wohl ein Liebhaber zu seinemGeliebten, wenn sie ohne Zeugen sind, zu sprechenpflegt, und freute mich schon darauf. Aber es ge-schah von alledem gar nichts, sondern er sprachmit mir ganz wie sonst gewöhnlich; und nachdemer den Tag mit mir zugebracht hatte, ging er nachHause. Darauf lud ich ihn ein, meine Leibesübun-gen zu teilen, und ich teilte sie auch wirklich mitihm, um dabei zum Ziele zu kommen. Er übte sichalso und rang mit mir ohne jemandes Beisein. Undwas bedarf es weiterer Worte? Auch hierbei richte-te ich ebensowenig etwas aus. Da ich nun auf kei-nem dieser Wege meinen Zweck erreichte, soglaubte ich dem Manne stärker zusetzen zu müssenund nicht nachlassen zu dürfen, da ich einmal ange-fangen; sondern ich wollte nun erfahren, wie esdenn eigentlich mit der Sache stände. Ich lade ihnalso ein, mit mir zu Abend zu speisen, indem ichihm gerade wie ein Liebhaber seinem Geliebtennachstellte. Er aber sagte mir dies nicht einmal so-gleich zu; mit der Zeit indessen ließ er sich überre-den. Als er nun das erste Mal zu mir kam, wollte ernach dem Essen wieder weggehen, und ich ließ ihndiesmal aus Scham auch noch wirklich fort. Das

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zweite Mal aber machte ich so meinen Angriff:nachdem er gegessen hatte, hielt ich ihn mit Ge-sprächen bis in die Nacht hinein auf, und als erendlich gehen wollte, stellte ich ihm vor, daß esschon zu spät wäre, und nötigte ihn zu bleiben. Solegte er sich denn auf dem Lager zur Ruhe, das andas meine stieß, und auf dem er auch zu Tische ge-legen hatte, und kein anderer schlief in dem Zim-mer als wir. Bis hierher nun könnte ich die Sachewohl noch jedermann erzählen; was aber nun folgt,würdet ihr schwerlich sobald von mir hören, wennnicht erstens der Wein die Wahrheit sagte, selbstum die Gegenwart oder Nichtgegenwart der Skla-ven unbekümmert, und wenn es mir ferner nicht un-gerecht erschiene, eine stolze Tat des Sokrates zuverschweigen, nachdem ich es einmal übernom-men, ihm eine Lobrede zu halten. Endlich geht esmir überdies hierbei wie den von einer Natter Ge-bissenen: Denn man sagt, daß der, welcher einensolchen Biß erlitt, es keinem andern zu beschreibengeneigt sei, was er infolge desselben empfand, alsden selber einmal Gebissenen, weil diese allein im-stande sein dürften, es zu begreifen und verzeihlichzu finden, wenn er vor Schmerz im Reden wie imTun zum Äußersten getrieben ward. Ich aber binvon etwas gebissen, was noch weit größereSchmerzen macht, und bin es gerade an dem

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empfindlichsten Teile. Denn ins Herz oder in dieSeele - oder wie soll ich es sonst nennen? - hineinbin ich getroffen und gebissen worden von denWorten der Weisheit, welche, wenn sie ein jugend-liches, nicht unbegabtes Gemüt ergreifen, sichgrimmiger in ihm festbeißen als die Natter, und eszum Äußersten forttreiben in Rede und Tat. Indemich nun also einen Phaidros, Agathon, Eryxima-chos, Pausanias, Aristophanes vor mir sehe... wasbedarf's noch den Sokrates selber zu nennen undalle anderen, die hier zugegen sind? Kurz, ihr alleseid (wie einst ich) von dem Wahnsinn und derSchwärmerei der Liebe ergriffen; darum sollt ihralle es hören, denn ihr werdet mir verzeihen, wasich damals tat, und daß ich jetzt es erzähle. DieDienerschaft aber, und wenn sonst ein Ungeweihterund Ungebildeter unter uns ist, die mögen rechtstarke Schlösser vor ihre Ohren legen.

Als nun nämlich, ihr Freunde, das Licht ausge-löscht war und die Sklaven das Zimmer verlassenhatten, da glaubte ich ohne weitere Umschweifegegen ihn gerade heraus mit der Sprache übermeine Absichten gehen zu müssen. Ich stieß ihndaher an und fragte ihn: Sokrates, schläfst du?

Nein, erwiderte er.Weißt du, was ich beabsichtige?Nun, was denn? fragte er.

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Es will mir scheinen, erwiderte ich, als ob du dereinzige meiner Liebhaber bist, der es zu sein ver-dient, und als ob du dich scheust, mir deine Wün-sche zu gestehen. Ich aber denke so: Es wäre, wieich meine, töricht, wollte ich dir hierin nicht eben-sowohl zu Willen sein, als wenn du sonst irgend-wie meiner bedarfst, sei es in bezug auf mein Ver-mögen oder auf meine Freunde. Denn mir liegtnichts mehr am Herzen als dies: ein möglichsttüchtiger Mann zu werden; hierzu aber glaube icheine geeignetere Beihilfe nicht finden zu können alsdie deinige; und ich scheue daher den Tadel, dermich bei allen Verständigen treffen müßte, wennich einem solchen Manne seine Wünsche versagte,mehr als den, welchen der große Haufe der Unver-ständigen wegen ihrer Gewährung erheben wird.

Er aber, als er dies vernommen, antwortete wie-derum ganz mit seiner gewohnten Ironie: Meinguter Alkibiades, du scheinst mir wirklich gar nichtdumm zu sein, wenn es in der Tat so mit dir steht,wie du meinst, und ich wirklich eine solche Kraft inmir habe, dich zu veredeln; denn wahrlich, einewunderbare Schönheit würdest du dann in mir er-blicken, welche die Wohlgestalt an dir weit über-trifft. Wenn du also infolge dieses Anblickes an ihrteilzunehmen und den Genuß deiner Schönheitgegen den der meinigen auszutauschen wünschest,

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so merkst du dabei recht wohl, daß du mich nichtetwa bloß um ein geringes übervorteilst, sonderndu suchst vielmehr um den Preis eines bloßenScheines von Schönheit dir die wahre Schönheit zuerwerben und in der Tat eine goldene Rüstung füreine eherne einzutauschen. Aber, mein Verehrter,siehe doch erst genauer zu, damit dir meine Wertlo-sigkeit nicht entgehe! Beginnt doch das Auge desGeistes erst dann scharfblickend zu werden, wenndas des Leibes seine Schärfe zu verlieren anfängt;davon aber bist du noch weit entfernt.

Wie es meinerseits steht, entgegnete ich, hast dunun gehört, und ich habe dabei kein Wort andersgesagt, als ich denke; überlege du also nun, was dirfür mich und dich das Beste zu sein scheint!

Wohlgesprochen, versetzte er. Laß uns also inder Folge nach dieser Erwägung so handeln, wie esuns beiden in diesem Stücke und in allen andern alsdas Beste erscheint!

Nachdem ich nun in dieser Wechselrede gleich-sam meine Pfeile gegen ihn abgeschossen hatte,glaubte ich ihn getroffen zu haben. Ich stand daherauf und ließ ihn nicht weiter sprechen, sondernwarf mein eigenes Oberkleid über ihn - es warnämlich gerade Winter - und legte mich unter sei-nen Mantel und schlang meine Arme um diesenwahrhaft dämonenbeseelten und wunderbaren

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Mann, und so lag ich die ganze Nacht neben ihm.Und auch hierin, Sokrates, wirst du mich wiederumnicht der Unwahrheit beschuldigen können. Als ichnun dies alles tat, da zeigte dieser Mann seineÜberlegenheit in einem staunenswerten Grade undverachtete und verspottete, ja verhöhnte meine blü-hende Schönheit, auf welche ich mir doch wunderwieviel eingebildet hatte, ihr Richter, - denn Rich-ter sollt ihr mir sein über des Sokrates Hochmut.Denn bei allen Göttern und Göttinnen, ihr könnt esglauben, nachdem ich mein Lager mit Sokrates ge-teilt hatte, stand ich wieder auf, ohne daß irgendetwas Weiteres vorgegangen wäre, ganz so, als obich bei meinem Vater oder einem älteren Brudergeschlafen hätte.

Wie glaubt ihr aber wohl, daß jetzt meine Stim-mung war, da ich mich für verschmäht hielt, aberzugleich den Charakter dieses Mannes und seineBesonnenheit und Seelenstärke bewunderte, so daßich jetzt zuerst einen solchen Mann gefunden, wieich ihn an Weisheit und Festigkeit niemals zu fin-den erwartet hatte? So vermochte ich ihm dennweder zu zürnen und seinen Umgang zu entbehren,noch bot sich mir andererseits ein Mittel dar, ihn anmich zu fesseln. Denn das wußte ich wohl, daß erdurch Gold noch viel unverwundbarer sei als Aiasdurch Eisen, und das einzige Mittel, durch das ich

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ihn in meine Gewalt zu bringen hoffte, hatte er so-eben vereitelt. Ratlos also blieb ich und in der Ge-walt dieses Mannes, wie wohl niemals sonst einMensch in der eines andern. Dies alles hatte sichnämlich schon unter uns zugetragen, bevor wir ge-meinsam den Feldzug nach Poteidaia mitmachtenund dort Tischgenossen waren.

Dort nun war er zuvörderst in der Ertragungaller Strapazen nicht bloß mir, sondern auch allenandern überlegen. So, wenn uns irgendwo, wie esim Felde zu geschehen pflegt, die Zufuhr abge-schnitten war, vermochte bei weitem niemand sogut als er, den Mangel an Speise auszuhalten.Wenn dagegen reichliche Lebensmittel vorhandenwaren, so verstand er wiederum am besten zu ge-nießen, wie in allen andern Stücken, so namentlichauch darin, daß er, ohne alle eigentliche Neigungzum Zechen, trotzdem, wenn er dies mitzumachengenötigt ward, es allen darin zuvortat, und, was dasWunderbarste ist, kein Mensch hat jemals den So-krates betrunken gesehen. Und hiervon, glaube ich,werdet ihr auch bald selber eine Probe sehen. Wie-derum die Beschwerden des Winters - und es wardamals ein sehr rauher Winter - ertrug er nicht bloßim übrigen mit der wunderbarsten Leichtigkeit:sondern eines Tages, als die Kälte gerade am stärk-sten war, wo sich alle entweder gar nicht

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hinauswagten oder, wenn dies ja einer tat, so dochin wunder wie dichter Bekleidung und so, daß dieFüße nicht bloß mit untergebundenen Sohlen verse-hen, sondern auch in Filz und Schafpelz einge-wickelt waren, - da ging er dagegen mit derselbenBekleidung hinaus, wie er sie auch sonst zu tragenpflegte, und schritt barfuß leichter über den gefro-renen Erdboden hin als die andern mit ihren Soh-len, und die Krieger sahen ihn scheel an, als wollteet sich über sie erheben.

Das wäre nun eins. Doch

Wie er auch jenes vollbracht' und bestand, dergewaltige Krieger,

auf jenem Feldzuge, auch das ist der Mühe wertzu hören. Nämlich in tiefes Nachdenken über ir-gend einen Gegenstand versenkt, blieb er von früh-morgens an auf demselben Flecke stehen und wich,da er das Gesuchte nicht finden konnte, nicht vonder Stelle, sondern verharrte in unablässigemNachsinnen. Inzwischen war es bereits mittags ge-worden, als die Leute es merkten und staunend ein-ander darauf aufmerksam machten, daß Sokratesnun schon vom frühen Morgen her im Nachfor-schen über irgend einen Gegenstand begriffen da-stände. Endlich aber, als es schon Abend war,

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brachten einige Ionier, nachdem sie zu Abend ge-gessen, ihre Matratzen heraus, teils um im Kühlenzu schlafen, denn es geschah dies im Sommer, teilsaber auch um ihn zu beobachten, ob er auch wohlin der Nacht dort stehenbleiben würde. Er aberblieb wirklich stehen, bis der Morgen graute unddie Sonne aufging; dann aber ging er von dannen,nachdem er zuvor noch sein Morgengebet an denSonnengott verrichtet hatte.

Wollt ihr ihn aber auch in der Schlacht geschil-dert hören? Denn auch hier ziemt es sich, ihmmeine Schuld abzutragen. In jener Schlacht näm-lich, infolge deren die Feldherrn mir sogar denKampfpreis zuerteilten, hat vielmehr kein anderermich gerettet als er, indem er den Verwundetennicht verlassen wollte; sondern er brachte meineWaffen und mich selber in Sicherheit. Und ich fürmein Teil bat daher damals auch die Feldherren,dir, mein Sokrates, den Preis zuzuerkennen, und duwirst auch hier meine Darstellung nicht tadeln,noch sie der Unwahrheit zeihen können. Als aberdie Feldherrn aus Rücksicht auf meinen höherenmilitärischen Rang mir diese Auszeichnung zu-dachten, da war er noch bereitwilliger als sie, mirsie zuzuwenden, anstatt sich. Der Mühe wert wares ferner, meine Freunde, den Sokrates zu sehen,als das Heer sich nach der Schlacht bei Delion auf

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der Flucht befand. Ich war nämlich gerade beiderselben als Reiter, er aber als Schwerbewaffnetertätig. Wie also sich alle bereits zerstreut hatten, be-fand er sich noch Seite an Seite mit Laches auf demRückzuge. Ich nun komme dazu, und als ich sie er-blicke, rufe ich sofort ihnen zu, guten Mutes zusein, und versprach ihnen, daß ich sie nicht verlas-sen würde. Bei dieser Gelegenheit nun konnte ichden Sokrates noch besser als bei Poteidaia in seinerganzen Größe beobachten, da ich selbst, als Berit-tener, weniger in Furcht war, zunächst, wie sehr erdem Laches an besonnener Ruhe überlegen war;sodann aber schien er mir, um deine allbekanntenWorte, Aristophanes, zu gebrauchen, auch dort, sowie hier in der Stadt, einherzustolzieren und dieBlicke stier nach allen Seiten zu werfen und so involler Ruhe Freund und Feind im Auge zu behal-ten, so daß es einem jeden auch schon aus derFerne klar werden mußte, er werde einen heißenKampf zu bestehen haben, wenn er diesen Mannangreifen wollte. Deshalb kam er denn auch unver-sehrt davon samt seinem Gefährten; denn in derRegel pflegt man die nicht anzugreifen, welche sichalso gerüstet zeigen, sondern die zu verfolgen, diekopflos davonfliehen.

Viel andere wunderbare Eigenschaften undHandlungen könnte man noch an Sokrates lobend

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hervorheben; allein in allen übrigen Bestrebungenmöchte man auch wohl von andern etwas Ähnli-ches berichten können: daß er aber keinem vonallen Menschen weder aus alter noch aus gegen-wärtiger Zeit vergleichbar ist, das verdient allemögliche Bewunderung. Denn so wie Achilleuseinst war, ähnlich, könnte man sagen, seien neuer-dings Brasidas und viele andere gewesen, und sowie neuerdings Perikles, also einst Nestor und An-tenor und manche andere; und auf dieselbe Weisekann man auch alle übrigen mit einander verglei-chen. Sowie aber dieser Mann ist mit seinen Selt-samkeiten, sowohl an sich selbst, als in seinenReden, möchte man so leicht keinen ähnlichen fin-den, weder unter den Zeitgenossen, noch unter denAltvorderen, - man müßte ihn denn, wie ich esgetan habe, mit keinem Menschen, sondern mit Sa-tyrn und Silenen vergleichen, ihn selbst sowie seineReden.

Denn das habe ich nämlich zuvor noch zu be-merken vergessen, daß auch seine Reden ganz denauseinandergenommenen Silenen gleichen. Dennhöre jemand nur die Reden des Sokrates an, sowerden sie ihm zuerst sehr lächerlich vorkommen;in solche Ausdrücke und Bezeichnungen hüllen siesich äußerlich ein, wie in das teil eines neckischenSatyrs. Denn von Lasteseln stricht er und von

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Schmieden und Schustern und Gerbern, und überdenselben Gegenstand scheint er immer dasselbe zuwiederholen, so daß jeder Unkundige und Gedan-kenlose darüber lachen muß. Wenn man sie abererschlossen sieht und in ihr Inneres hineindringt,dann wird man zunächst finden, daß sie allein unterallen Reden einen wahrhaften Inhalt haben, baldaber auch, daß sie die göttlichsten von allen sindund die mannigfaltigsten Gestalten der Tugendgleich Götterbildern umfassen, und daß sie sichüber das reichhaltigste Gebiet ausdehnen, ja allesin sich schließen, was dem zu bedenken ziemt, wel-cher ein geistig und sittlich durchgebildeter Mannwerden will.

Solches ist es, ihr Freunde, was ich zum Lobedes Sokrates vorzubringen habe, und ebenso habeich den Tadel eingemischt, den ich gegen ihn füh-ren muß, und habe euch erzählt, wie übermütig ermich behandelt hat. Und doch ist er nicht mit mirallein so umgegangen, sondern auch mit Charmi-des, dem Sohne des Glaukon, und mit Euthydemos,dem Sohne des Diokles, und mit gar vielen ande-ren. Diesen allen hat er vorzuspiegeln gewußt, daßer ihr Liebhaber wäre, während er sich vielmehrselbst immer aus dem Liebhaber zum Geliebten zumachen weiß. Das laß nun auch dir gesagt sein, lie-ber Agathon, damit du dich nicht von ihm täuschen

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läßt, sondern, durch unseren Schaden belehrt, aufdeiner Hut bist und nicht erst nach dem Sprichwor-te, wie die Toren, durch eigenen Schaden klugwirst.

Als nun Alkibiades so gesprochen, sei ein allge-meines Gelächter über seine Offenherzigkeit ent-standen, zumal daraus hervorzugehen schien, daßer noch immer in den Sokrates verliebt sei. Sokra-tes aber habe gemeint: Du scheinst mir ganz nüch-tern zu sein, Alkibiades. Denn sonst würdest du eswohl nicht so geschickt durch allerlei Winkelzügezu verbergen versucht haben, zu welchem Zweckedu dies alles gesagt hast, und nur zu Ende sowie imVorbeigehen darauf gekommen sein, als ob dunicht auch schon alles Vorige bloß deshalb gesagthättest, um mich mit Agathon zu entzweien, in demWahne, ich dürfe bloß dich allein lieben und kei-nen anderen, Agathon aber dürfe bloß von dir al-lein geliebt werden und von keinem anderen. Aberdu bist nicht damit durchgekommen, sondern deinSatyr- und Silenendrama ist entlarvt worden.Darum, lieber Agathon, laß ihn keinen Gewinndavon haben, sondern sorge, daß niemand unsbeide entzweie!

Agathon aber habe ihm erwidert: Ich glaube, duhast ganz recht, mein Sokrates; ich schließe diesauch daraus, daß er sich zwischen uns beiden

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niedergelassen hat, um uns so auch räumlich zutrennen. Das soll ihm aber nichts helfen, sondernich werde zu dir herüberkommen.

Vortrefflich, habe Sokrates gesagt; nimm hierunterhalb von mir dicht an meiner Seite Platz!

O Zeus, habe Alkibiades ausgerufen, was habeich schon wieder von diesem Menschen auszuste-hen! Überall will er mir seine Überlegenheit zei-gen. O nein doch, du Lieber, wenn es nicht andersgeht, so laß wenigstens den Agathon in der Mittezwischen uns Platz nehmen!

Das geht nicht, habe Sokrates versetzt, denn duhast eben eine Lobrede auf mich gehalten; ich mußalso wieder eine solche auf meinen Nachbar zurRechten halten; wenn nun Agathon unterhalb vondir Platz nimmt, so kann er mich doch wahrlichnicht noch einmal preisen, bevor er vielmehr vonmir gepriesen worden ist. Darum laß ihn gewähren,du Vortrefflicher, und mißgönne dem jungenManne meine Lobrede nicht, zumal da ich selberhöchst begierig darauf bin, sie ihm zu halten!

Juchhe! habe da Agathon ausgerufen: Alkibia-des, nun hält mich nichts mehr zurück, sondernnichts ist mir jetzt angelegentlicher als meinenPlatz zu wechseln, damit ich von Sokrates verherr-licht werde.

Ja, da haben wir wieder das alte Spiel, sei die

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Antwort des Alkibiades gewesen: wenn Sokratesda ist, dann kann kein anderer zum Mitbesitzeeines Schönen gelangen. Und wie leicht hat er auchjetzt wieder einen so scheinbaren Vorwand gefun-den, weshalb Agathon neben ihm sich niederlassenmuß!

Agathon sei hierauf aufgestanden, um neben So-krates Platz zu nehmen: da sei plötzlich eineMenge von Nachtschwärmern vor der Tür erschie-nen, und da sie diese geöffnet fanden, weil geradejemand hinausging, so seien sie zu ihnen einge-drungen und hätten sich bei ihnen niedergelassen.So hätte sich alles mit Lärm erfüllt, alle Ordnunghabe sich aufgelöst, und man sei genötigt worden,sehr vielen Wein zu trinken. Eryximachos, Phai-dros und mehrere andere hätten sich deshalb, wieAristodemos erzählte, davongemacht; ihn selbstaber habe der Schlummer überwältigt, und er haberecht lange geschlafen, indem ja damals die Nächtelang waren, und er sei erst mit Tagesanbruch er-wacht, als schon die Hähne krähten. Da habe erdenn nun bemerkt, daß alle anderen teils schliefen,teils fortgegangen waren, und daß nur Agathon,Aristophanes und Sokrates noch wach waren undaus einer großen Schale nach rechts herum einenUmtrunk hielten. Sokrates aber habe mit den bei-den andern ein Gespräch geführt. Der übrige Inhalt

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desselben, sagte Aristodemos, sei ihm nicht mehrgegenwärtig, denn er habe den Anfang noch nichtgehört und sei auch zwischendurch wieder einge-nickt. In der Hauptsache aber, erzählte er, sei esdarauf hinausgelaufen, daß Sokrates sie einzuräu-men gezwungen habe, es sei Sache eines und des-selben, des Komödien - und Tragödienschreibenskundig zu sein, und der kunstgerechte Tragödien-dichter müsse auch zugleich Komödiendichter sein.Während er sie nun dies einzuräumen nötigte, undda sie ihm dabei nicht ganz zu folgen vermochten,seien sie eingenickt. Und zwar zuerst sei Aristo-phanes eingeschlafen, dann aber, als es schon hel-ler Tag war, auch Agathon. Sokrates aber sei,nachdem er sie so in den Schlaf geredet, aufgestan-den und fortgegangen, und er selber sei, wie er zutun pflegte, ihm gefolgt. Dann habe jener sich indas Lykeion begeben und, nachdem er ein Bad ge-nommen, ganz wie sonst dort den ganzen Tag ver-weilt und sei erst nach so verbrachtem Tage nachHause und zur Ruhe gegangen.