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192 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-58517-3 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Edgar Wolfrum Die Mauer Geschichte einer Teilung

Edgar Wolfrum Die Mauer Geschichte einer Teilung...spielen. Die hohe Mauer, an die man die Bierkästen gestellt hatte, bot Vorteile. Jedenfalls hier im Westen; im Osten kam man ja

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192 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-58517-3

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Edgar Wolfrum Die Mauer Geschichte einer Teilung

EinleitungBlick auf die Mauer

Gemächlich, fast schläfrig ging das tägliche Leben seinen ge-wohnten Gang. Auf den ersten Blick unterschied diesen Ortüberhaupt nichts von ähnlichen Orten in anderen Metropo-len rings um den Globus. Das kleine Glück auf Erden – Schre-bergartenidylle. Wenn im Sommer die Sonne schien oderwenn ein lauer Abend hereinbrach, war es hier besonders be-haglich. An den Wochenenden traf man sich dann eigentlichimmer. Man legte die Würstchen auf den rauchenden Grilloder die Steaks, packte den Kartoffelsalat aus und machte essich auf den Campingstühlen bequem. Es war hier so himm-lisch ruhig, kein Verkehrslärm; überall grünte und blühte es.Und das mitten in der Stadt. Man winkte dem Nachbarn vonnebenan zu, der sogar Salatbeete angelegt hatte. Mit Kindund Kegel war man angerückt. Es war wie im Urlaub. Undwie sich die Kinder freuten. Da hier kein Windchen wehenkonnte, ließ sich viel besser als sonst irgendwo Tischtennisspielen. Die hohe Mauer, an die man die Bierkästen gestellthatte, bot Vorteile. Jedenfalls hier im Westen; im Osten kamman ja nicht an sie heran. War das Leben nicht schön? Natür-lich, die Mauer verstellte den Blick und so recht ansehnlichwar sie auch nicht, sondern eher hässlich, auch wenn siehier und da bunte Bemalungen aufwies. Doch wer hatte sichMitte der 1970er Jahre nicht an sie gewöhnt? Wen störte dieMauer noch? Die Kleinen, die nie etwas anderes gekannt hat-

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ten, konnten sich ein Leben ohne sie sowieso nicht vorstel-len, sie gehörte einfach dazu. Zur Gewöhnung gesellte sichGleichgültigkeit. Das Desinteresse ging meistens so langegut, bis ganz plötzlich wieder einmal Schüsse aus Maschi-nengewehren zu hören waren, die einen zusammenzuckenließen und jäh aus dem Tagtraum herausrissen. Dann warman mit einem Male wieder nüchtern, dann schmeckte dasBier nicht mehr und Würstchen wollte auch keiner mehr es-sen. Denn man wusste: Nur wenige Meter weiter östlich, imTodesstreifen, wurden Landsleute – «Grenzverletzer» – ver-wundet oder getötet. Schlagartig zerplatzte die scheinbareIdylle. Irgendwo da draußen brach für einen oder mehrereMenschen die Hölle herein. In jeder Großstadt auf der gan-zen Welt waren bestimmte Viertel gefährlich, gab es Gewalt,Verbrechen und Mord. Doch wo sonst ging die Gewalt von«staatlichen Organen» aus? Wo sonst schossen diese auf Bür-ger, die das eigene Land verlassen wollten? Wo sonst wurdedie Wahrnehmung dieses Menschenrechts schlimmstenfallsmit dem Tode bestraft? Wer sich nicht in Gewahrsam neh-men ließ, sondern weg wollte, der spielte mit seinem Leben.An der Grenze, nur wenige Meter vom Würstchengrill ent-fernt, lauerte der Tod. Und man war sich mit einem Schlagklar: An dieser Stelle der Welt herrschte permanenter Aus-nahmezustand. Man lebte in der anormalsten Stadt, dort, wodie Zweiteilung der Welt und der Kalte Krieg mitten hin-durch ging: in Berlin.1

Man kann sicherlich nicht behaupten, dass die Weltge-schichte arm an irrwitzigen Ereignissen wäre. Die Epochenach dem Zweiten Weltkrieg war ein radikales Zeitalter mitzahlreichen Gefährdungen und ebenso vielen Absurditäten;erst mit der Revolution der Staatenwelt 1989 ging diese Epo-che und der Kalte Krieg zu Ende. Die Berliner Mauer jedochsticht heraus, sie war in ihrer monströsen Abscheulichkeitund Menschenverachtung etwas so Besonderes, dass sie unsheute noch ins Staunen versetzen sollte. Niemals zuvor ist

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mitten durch eine Millionen-Metropole eine fast unüber-windliche Mauer, ein gewaltiges Sperrwerk mit einem Todes-streifen errichtet worden. Warum nahmen die Menschendies hin? Kann man sich vorstellen, dass durch Paris eineMauer verläuft, die die Menschen diesseits und jenseits derSeine teilt? Deutsche schossen auf Deutsche, weil sie vonDeutschland nach Deutschland gelangen wollten – wie willman solche grotesken Dinge jemandem erklären, der nach1989 geboren wurde und keine Vorstellungen mehr davonhat, was die Teilung der Welt und die Spaltung der deut-schen Nation den Menschen aufbürdeten?

Um das ebenso Ungeheuerliche wie Unmenschliche be-greiflich zu machen, soll in diesem Buch ein perspektiven-reicher, immer fragender Blick auf die Mauer geworfen wer-den. Das Ziel ist es, anschaulich zu erzählen – denn erzählenheißt erklären. Die Darstellung beginnt mit dem Mauerbauin der Nacht des 13. August 1961 – zweifellos eine organisato-rische Meisterleistung – und mit der Frage, wer aus welchenGründen eigentlich auf den doch ziemlich abstrusen Gedan-ken kam, erst Stacheldraht auszurollen und dann eine über-mannshohe Mauer zu bauen. War es ein Plan der Sowjet-union oder drängte die SED darauf?

Anschließend werden Perspektivenwechsel zwischen Ostund West vorgenommen: Warum reagierte der Westen, Ame-rikaner, Briten und Franzosen, so sichtlich erleichtert aufden Mauerbau, während die Deutschen tief geschockt wa-ren? Warum taten die Berliner nichts? Was – vor allem – be-deutete die Einmauerung, das Eingesperrtsein für die Deut-schen in der DDR? Wer ein Menschenrecht in Anspruchnahm, nämlich sich frei zu bewegen, spielte mit seinem Le-ben. Bis 1989 wurden an der Mauer Menschen getötet, dieaus der DDR flüchten wollten. Gleichzeitig versuchte die SED

ihr Monstrum bis zum Untergang ihres Staates als «anti-faschistischen Schutzwall» zu rechtfertigen – eine glatteLüge. Aber einige glaubten daran. Warum war das so? Waskonnte der Westen, die Bundesrepublik, tun, um die Mauer

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durchlässiger zu machen, um den Landsleuten zu helfen? Inder Ära der weltpolitischen Entspannung seit dem Ende der1960er Jahre kam es zu menschlichen Erleichterungen fürdie Deutschen in Ost und West, doch gleichzeitig galt derSchießbefehl an der Mauer nach wie vor, nun wurde «gutnachbarlich» geschossen, wie Zyniker sagten. Warum ge-wöhnte man sich an die Mauer? Nein, genauer: Wer ge-wöhnte sich an die Mauer?

Von West-Berlin aus betrachtet glich die Mauer in den1980er Jahren einer knallbunten Leinwand, an der sich zahl-reiche Künstler aus aller Welt verewigten, während im Ostender Todesstreifen mit modernsten elektronischen Mittelnperfektioniert wurde. Warum fiel die Mauer 1989 dennoch,warum verschwand die DDR so sang- und klanglos von derBildfläche und warum ging der Kommunismus unter? Wasblieb von der Mauer übrig, welche erinnerungskulturellenSpuren hat sie hinterlassen? Existierte, nachdem die realeMauer weg war, an ihrer Stelle eine «Mauer in den Köpfen»der Deutschen? Wie ging das wiedervereinigte Land miteinem der dunkelsten Kapitel der DDR-Vergangenheit, näm-lich den Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze um?Was bedeuteten die «Mauerschützenprozesse»?

All diese Fragen machen eines deutlich: «Die Mauer» –dies ist gleichermaßen ein Panoptikum und ein Panoramades Kalten Krieges sowie der europäischen und deutschen Ge-schichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

1. Der Schock:Mauerbau, 13. August 1961

«Unser Staat ist auf Draht», lautete die Schlagzeile des SED-Organs «Neues Deutschland» am Montag nach dem Wochen-ende, das die Welt veränderte,1 und im Radio sangen helleKinderstimmen ein Lied mit diesem Refrain. Mitten im Hoch-sommer lief vielen Deutschen, die diese Goldkehlchen hör-ten, ein kalter Schauer über den Rücken, denn am Sonntag,den 13. August, gegen zwei Uhr nachts, war unter Aufsichtschwer bewaffneter Volkspolizisten mitten durch die Millio-nenstadt Berlin Stacheldraht gezogen worden – bald sollte esso viel sein, dass man die ganze Welt damit hätte umspan-nen können. Wie bis zu diesem Zeitpunkt oft schon, so er-wies sich auch in jenem welthistorischen Moment die SED-Führung als Meisterin darin, abscheuliche Taten mit makab-ren Inszenierungen zu untermalen. Der Bau der BerlinerMauer, der mit Stacheldraht begann, war ein Irrsinn, aberdieser Irrsinn hatte Methode.

Die beispiellose Aktion war generalstabsmäßig geplant,straff durchorganisiert und vollzog sich in einem extrem ho-hen Tempo. «Binnen weniger Stunden war unsere Staats-grenze rings um West-Berlin zuverlässig geschützt», schriebfast zwanzig Jahre später der zuständige Sekretär für Sicher-heitsfragen im Zentralkomitee der SED.2 Erich Honecker, derdamals 49-jährige «junge Mann» im Politbüro und Organisa-tor der Abriegelung, war bis zum Schluss stolz auf sein Werk.

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Die meisten Berliner hatten den Mauerbau regelrecht ver-schlafen; am Morgen danach rieben sie sich verblüfft dieAugen. Der Überraschungscoup der SED, ein waaghalsigesUnterfangen mit vielen Unbekannten, schien gelungen zusein. Aber würde die Lage auch ruhig bleiben? Nochherrschte gespannte Nervosität.

Hätte es sich nicht um etwas derartig Ungeheuerliches,Menschenverachtendes gehandelt wie darum, die gesamteBevölkerung eines Landes einzusperren und sie der Freiheitzu berauben – man wäre zu Respekt genötigt ob dieser deut-schen Wertarbeit. Über Nacht schafften es Polizei-, Pionier-und Kampfgruppeneinheiten, 45 Kilometer innerstädtischeGrenze und 160 Kilometer am «Ring» um West-Berlin abzu-riegeln. All dies geschah unter strenger Geheimhaltung, dieEinsatzbefehle waren erst am 12. August um 16 Uhr unter-schrieben worden, um 22.30 Uhr trat der Einsatzstab zusam-men. Zwei motorisierte Schützendivisionen der NationalenVolksarmee waren aus den Bezirken Schwerin und Potsdamnach Berlin verlegt worden – sie würden eine Übung durch-führen, glaubten die Soldaten. Die Sowjetunion sicherte dieAktion militärisch ab, Panzer und Truppen hielten sich be-reit, blieben jedoch im Hintergrund. Punkt ein Uhr nachtsgingen an der Grenze die Lichter aus, bis zwei Uhr lief alleswie geplant an: Die Polizei besetzte die Bahnhöfe an den Sek-torengrenzen; pioniertechnische Absperrmaßnahmen be-gannen, man durchtrennte Gleisverbindungen und stellteSpanische Reiter auf, zog Drahtsperren hoch, verlegte Beton-schwellen, riss das Pflaster von Straßen auf. Das Militär über-wachte die Maßnahmen. 13 U-Bahnhöfe auf Ost-Berliner Ge-biet wurden geschlossen, von 81 Sektorenübergängen mau-erte man 69 zu. Die Reisezüge aus dem Westen kamen nichtmehr über den Bahnhof Friedrichstraße hinaus. Das ganzehistorisch gewachsene Zusammenspiel der Millionenmetro-pole geriet endgültig aus den Fugen: Gas, Wasser, Elektrizi-tät, auch Theater, Opern, Firmen und Behörden mussten inden nächsten Jahren auf jeder Seite der Mauer neu organi-

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siert werden. Zwar war Berlin seit der ersten Berlinkrise desJahres 1948 geteilt und vieles lief nicht mehr rund in derStadt, aber bis zu jenem Augusttag, als es plötzlich Einge-mauerte und Ausgemauerte gab, hatte Berlin dennoch eineEinheit gebildet, und die Sektorengrenzen wurden täglichvon etwa einer halben Million Menschen in beide Richtun-gen überschritten. Der Potsdamer Platz, das Herz Berlins undeinst verkehrsreichster Punkt Europas, war nicht wiederzu-erkennen: aufgerissenes Pflaster, dichte Stacheldrahtrollen,eingerammte Pfähle, gespenstische Friedhofsruhe. Die SED

zeigte, dass es möglich war, eine moderne Großstadt in derMitte zu teilen und ihre Hälften hermetisch voneinander ab-zuriegeln. Dass nun das Brandenburger Tor geschlossenwurde, hatte Symbolcharakter für die – so schien es vielen –endgültige Teilung der Welt.

In den folgenden 28 Jahren, zwei Monaten und 27 Tagen

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1 «Aufmauerung» mit Hohlblocksteinen am Potsdamer Platz,

18. August 1961.

wandelte sich das Gesicht der Mauer ständig, bevor das Mons-trum fiel und die Epoche des Ost-West-Konflikts zu Endeging. Am Anfang stand die massive, aber noch primitive Ab-riegelung mit Stacheldrahtverhauen, die noch einige «un-dichte» Stellen aufwies, bald setzte zwischen Potsdamer Platzund Brandenburger Tor die «Aufmauerung» mit relativ leich-ten und großen Hohlblocksteinen ein. Bautrupps errichtetenunter strenger militärischer Bewachung eine etwa zwei Me-ter hohe Mauer. Gleichzeitig wurden Türen und Fenster je-ner Häuser zugemauert, die an der Sektorengrenze standen,etwa in der Bernauer Straße, deren Bürgersteig zum Westengehörte, während die Häuser auf Ost-Berliner Grund stan-den. Hier spielten sich ergreifende Szenen und menschlicheTragödien ab.3 Am 22. August 1961, einen Tag vor ihrem59. Geburtstag, sprang Ida Siekmann in ihrer Verzweiflungaus der dritten Etage ihres Wohnhauses in der BernauerStraße 48 auf den Bürgersteig, nachdem sie zuvor Federbet-ten auf den Gehweg geworfen hatte. Diese jedoch waren zuschwach, um den Sprung abzufedern, die Frau stürzte sichzu Tode. Nur wenige Häuser weiter starb eineinhalb Monatespäter der 22-jährige Bernd Lünser, der sich mit einer Wä-scheleine in den Westteil Berlins abseilen wollte. Während ersich auf dem Dachfirst des Hauses nach einem geeignetenAbstieg umsah, bemerkten Grenzpolizisten seinen Flucht-plan. Eine Verfolgungsjagd begann. Lünser schrie um Hilfe,auf der Westseite, wo mehrere hundert Menschen das Dramaverfolgten, trafen Feuerwehrleute ein, die hastig ein Sprung-tuch aufspannten. Als die DDR-Grenzpolizisten ihr Feuer aufden Flüchtenden eröffneten, sprang er vom Dach des fünfstö-ckigen Hauses in die Tiefe, verfehlte das Sprungtuch, schlugauf der Straße auf und starb kurz darauf. Bis zum Jahres-wechsel waren elf Todesopfer gescheiterter Fluchtversuchezu beklagen.

Überall kam es zu panischen Fluchten aus vermauertenHäusern, manchmal nur Minuten vor der Zwangsevakuie-rung; das meiste an Hab und Gut musste zurückgelassen wer-

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den, es ging um die Freiheit, das nackte Leben. Hundertengelang die risikoreiche Flucht, sie durchtrennten den Sta-cheldraht, was zu schweren Verletzungen führen konnte,kletterten über Mauern, durchbrachen Kontrollanlagen mitFahrzeugen, schwammen durch die Spree oder den Teltow-Kanal. Nicht selten verständigte man sich mithilfe eines klei-

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2 Fluchtversuch aus einem an der Sektorengrenze stehenden Haus,

September 1961. Eine Frau versucht ein auf West-Berliner Seite bereit

gehaltenes Sprungtuch zu erreichen. Von oben wird sie festgehalten,

von unten wird versucht, sie an den Beinen herunterzuziehen. Am

Ende gelingt die Flucht.