34
EDMUND HUSSERL ZUM GEDÄCHTNIS

Edmund Husserl Zum Gedächtnis. Zwei Reden (Perspektiven Der Philosophie Vol 1 1975)

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Edmund Husserl Zum Gedächtnis

Citation preview

EDMUND HUSSERL Z U M G E D Ä C H T N I S

Gedruckt bei Druck-u. Verlagshaus Karl Prochaska G.m.b.H., Tschech.-Teschen Printed in Czechoslovakia

S C H R I F T E N D E S

PRAGER PHILOSOPHISCHEN CERCLES

H E R A U S G E B E R : J . B. K O Z Ä K U N D E . U T I T Z

I.

E D M U N D H U S S E R L

Z U M G E D Ä C H T N I S

Z W E I R E D E N

G E H A L T E N V O N

L U D W I G L A N D G R E B E U N D

J A N P A T O C K A

A C A D E M I A / V E R L A G S B U C H H A N D L U N G P R A G

1 9 3 8

D E R „ P R A G E R P H I L O S O P H I S C H E C E R C L E "

H A T F Ü R E D M U N D H U S S E R L , S E I N E I N Z I G E S

E H R E N M I T G L I E D , A M 13. M A I 1938 E I N E

T R A U E R F E I E R A B G E H A L T E N .

D i e v o n den p e r s ö n l i c h e n S c h ü l e r n des D a h i n ­

gegangenen, L u d w i g Landgrebe u n d J a n Pa tocka ,

gesp rochenen W ü r d i g u n g e n E d m u n d H u s s e r l s

w e r d e n h i e r m i t der Ö f f e n t l i c h k e i t ü b e r g e b e n ;

d ie R e d e J a n P a t o c k a s w u r d e i n t s chech i s che r

S p r a c h e geha l t en u n d f ü r den D r u c k v o n i h m

selbst ins D e u t s c h e ü b e r t r a g e n .

lief sinn ist ein Anzeichen des Chaos, das echte

Wissenschaft in einen Kosmos verwandeln will,

in eine einfache, völlig klare, aufgelöste Ord­

nung. Echte Wissenschaft kennt, soiveit ihre

wirkliche Lehre reicht, keinen Tief sinn. Jedes

Stück fertiger Wissenschaft ist ein Ganzes von

den Denkschritten, deren jeder unmittelbar ein­

sichtig, also gar nicht tiefsinnig ist. Tief sinn

ist Sache der Weisheit, begriffliche Deutlichkeit

und Klarheit Sache der strengen Theorie. Die

Ahnungen des Tiefsinns in eindeutige rationale

Gestaltungen umzuprägen, das ist der wesent­

liche Prozeß der Neukonstitution strenger Wis­

senschaften.'^ Edmund Husserl

Ludwig Landgrebe:

In seinem Buche über Rod in sagte R ü k e : „Man wi rd einmal erkennen, was diesen großen Künstler so groß gemacht hat: daß er ein Arbeiter war, der nichts er­sehnte, als ganz, mit ahen seinen Kräf ten , in das niedrige und harte Werkzeug; seines Daseins einzugehen. Dar in lag eine A r t von Ntxtlzht auf das Leben; aber gerade mit dieser Geduld gewann er es: denn zu seinem Werk­zeug kam die Wel t . "

Es sind Worte , die unveränder t fast als Mot to über E d m u n d H u s s e r l s Leben stehen können . Stih ging sein Dasein dahin in der Dreiheit von Arbeit , Geduld, Verzicht. Das kann so verschiedenes bedeuten. Es kann das Losungswort sein, das über einem Leben der Be­scheidung steht; der Zufriedenheit, in einer kleinen Ecke, in einer eng umgrenzten Wel t von Fragen und Problemen einige Steine zum Bau der Wissenschaft zu­sammengetragen zu haben. Es kann in solchem Verzicht aber auch der höchste Anspruch liegen, das Gegenteh von Zufriedensein und von Bescheidung, der unablässig wirkende Wihe, in einem Dasein, das äußerlich so gar nichts Auffähiges hatte, von innen her das A l l zu um­spannen in der Arbeit des Gedankens.

Es hemmt uns eine Scheu, über dieses L e b e n zu sprechen, wie es war und wie es sich dem zeigte, der sich des Glückes persönlicher Berührung mit ihm er­freuen durfte. U n d doch, wie sollen wir hier besser zu einem W e r k den Zugang finden, das so spröde und ver­schlossen allen leichten Eingang verwehrt? Wie sohen

9

wir den Sinn eines Lebens mit einem Schlage fassen, das so ganz, i m Werke aufging, das dieses selbst war und nichts anderes? Wie sollen wi r es anders als dadurch, daß wir i m B i l d e den M e n s c h e n sehen lassen, wie er war, der dahinter stand und eins war mit dem Werke? Trat doch alles Persönliche bei ihm zurück . Nichts lag ihm ferner, als neu und originell sein zu wol ­len. Nichts lehnte er mehr ab, als seinem Werke einen R.ahmen zu geben durch das Pathos eines großen A u f ­tretens. Fast jeder, der das erste M a l ihm entgegen trat, erlebte so etwas wie eine kleine Ent täuschung, daß er keine äußeren Zeichen dessen fand, was diesem stillen, schlichten Mann zu seiner großen Wi rkung , zu seinem großen Ruhme verholfen, den er, zwar spät, in aher Wel t geerntet hatte. Sein Reden war ein einfaches Erzählen von dem, was er geschaut und gedacht, so wie man den Be­richt über ein fernes Land gibt, das man durchreist und durchforscht hat. U n d doch war darin immer etwas, was schließlich den Z u h ö r e r bezwang. Der, der da vor ihm stand, und sprach, der war nicht Einer, der bloß nüch­tern und kühl Bericht gab über neue Entdeckungen. Das Denken selber sprach aus ihm, es hatte sich seiner be­mächt ig t und sich ihn zum Werkzeug gemacht wie ein D ä m o n , der in ihm hauste und der ihn verwandelte, sobald er sprach. Dann war es nicht mehr er selber. Name und Rang waren vergessen, die Umwel t war ver­schwunden; nichts gab es mehr als die Gedankenketten, die er entwickelte und in immer neuen Wendungen zum Ausdruck brachte. Sein Bl ick ging über die Dinge hin­weg, fast blind f ü r die Umgebung, in eine Weite, von der nicht mehr zu sagen war, ob sie tief drinnen oder weit d raußen war; und doch zog er in diesem Gehen in unnennbare Weiten einen Zauberkreis, in dem die Wirkl ichkei t der Wel t gefangen war. Tra t man, viel­leicht noch mit sich selbst beschäftigt , mit seinen Sorgen und Freuden, mit Neuigkeiten des Tages, zu ihm in

10

seine Studierstube, dann sclilug es einem entgegen wie Hauch aus einer anderen Welt , in der nichts mehr güt, was das eigene einzelne Ich beschäftigt und e r füh t , in der die zusammengebahte Kra f t jahrzehntelang gehegter Gedanken ihr Eigenleben füh r t e . Fast schämte man sich dann, eben noch überhaup t an sich selbst gedacht zu haben. U n d doch konnte er so väterlich und gütig sein, vol l Teilnahme und Hüfsbere i tschaf t f ü r seine Schüler und Freunde. Sobald er aber sich seinen Gedanken über­geben hatte, dann war es, als ob die Welt stih s tünde, und als ob auch f ü r den Zuhöre r es nichts anderes mehr gäbe und nichts mehr wichtig wäre als das, was er ge­rade sagte und worüber Stunden hingingen wie Minuten.

So groß war die stille Macht, die von ihm ausging. Es war die unfehlbare Sicherheit dessen, der seines Weges gewiß und ihn ein Leben lang gegangen ist ohne Rück ­sicht auf Erfo lg und Verständnis . E r wohte nichts als Klarheit bekommen, Klarheit vor allem f ü r sich selbst in einigen eng umgrenzten Fragen. Aber indem er damit ganz ernst machte und nichts mehr kannte als das Ge­setz restloser Sauberkeit und Konsequenz des Denkens, da zeigte es sich, wie Einzelfragen keine einzelnen mehr waren, wie sie h inausführ ten in das Universum des Seins und des Denkens, das das Sein umspannt; da zeigte sich, daß dieses Gesetz restloser Konsequenz ihn zwang. Syste­matiker zu werden und einen Weg zurückzulegen, in dem die Philosophie in ihrer ganzen Weite durchmessen ward. D a ß er nichts wollte als die letzte Klarheit, als die restlose Verantwortung f ü r jeden einzelnen Gedan­ken, sollte er würdig sein ausgesprochen zu werden, das war die Flamme, die sein Leben durchglühte und ver­zehrte, die ihm immer neue und äußerste Anstrengun­gen abzwang. U n d gerade dieser Radikahsmus war es, in dem dann auch das Geheimnis seines äußeren Erfolges beschlossen lag; daß er dort noch weiterdachte, wo die anderen stehen bheben, daß er sich nie beruhigte, bei

II

keinem Ergebnis. E r konnte es nicht dulden, daß zwei Gedankenreihen, wie er sagte, Rücken gegen R ü c k e n zu einander stehen blieben; er ruhte nicht, bis sie einander sich zuwandten und ihre inneren Beziehungen enthül l ­ten. Diese Zähigkeit des Nichtlockerlassens war das Ge­heimnis seines Lebens.

Seine Phänomenologie wurde in der Wel t bekannt als die Phhosophie des Schauens, der Wesensschau. Das be­deutete ihm aber nicht ein passives Aufnehmen und Warten auf Gesichte; es bedeutete auch nicht das Sich­überlassen den Funken der Intuition, wie sie hier und dort aufspringen, sondern es bedeutete die strenge und harte Zucht der Arbeit , der Technik, die das Schauen herbeizwang und das Gesehene zur Einheit brachte. Nirgends war es die bloße Genialität von Einfällen, auf die er seine Phhosophie baute. Begabung, Einfälle, so pflegte er zu sagen, das hat bald einer, und es ist nicht mehr als die notwendige Voraussetzung. Aber darauf kommt es an, was daraus gemacht wird , auf die Stetig­keit ihrer Verarbeitung, die Konsequenz und den Ernst, mit dem sie zur Einheit zusammengezwungen werden.

Heute, wo uns die zahllosen liegen gebliebenen Ent­wür fe seiner letzten Jahrzehnte bekannt sind, können wir besser verstehen, worauf dieses Leben hinauswollte, als aus den wenigen gedruckten Bänden, die er selbst der Öffent l ichkei t übergeben hat. Selten und mit zehn- und fünfzehnjähr igen Pausen erschienen sie, und was da ge­druckt war, war nur mehr der gedrängte Auszug langer Vorbereitungen, und hinter jedem Blatte, das erschien, standen hunderte, die er zurückhiel t . So ist er auch in seinen gedruckten Werken spröde und unzugänglich. Keine populäre Abhandlung, kein Aufsatz existiert aus seiner Feder, der es dem Leser leichter machte. E r lehnte es f ü r sein Leben ab, ein Schriftsteher sein zu wohen, und wenig lag ihm im Grunde am gedruckten Wor t . Was er erscheinen ließ, das war damit f ü r ihn erledigt

und vergessen und sein Denken schon weit darüber hinausgegangen.

Als Mathematiker begann er, in dieser festesten aher Wissenschaften, die so klar dem Denken jeden Schritt vorzeichnet und keinen Raum gibt f ü r persönliche W i h ­kü r und das Spielen von Einfähen. Immer war ihm die­ses Strenge, Unpersönl iche der Mathematik, in der das Denken selber sich entfaltet, Vorbüd . Aber zugleich lebte in ihm der Hunger nach der unverkürz ten W i r k ­lichkeit, der allen großen Menschen in jener Zeit vor und um die Jahrhundertwende eigen war, der Drang aus den erstarrten und zum Selbstzweck gewordenen Insti­tutionen hinaus, aus einer Kunst, die nur mehr Formen­spiel war, aus einer Wissenschaft, die sich so oft be­gnügte, selbstgenugsames, aufs Äußerste verfeinertes Handwerk zu sein, zurück zur Ursprüngl ichkei t eines Lebens, das sich hinter den falschen Fassaden des Jugend­stils verbarg. So konnte es ihm auch nicht genügen, jene in ihrer Methodik vollkommenste aller Wissen­schaften zu beherrschen; er wohte wissen, was er da trieb, was der Sinn dieses Tuns des Mathematikers sei. Damit f ü h r t e ihn sein Fragen zurück von der Wissen­schaft zu dem die Wissenschaft treibenden Leben, zu der Lebendigkeit des Lebens, das die Wurze l aller Wissen­schaft ist. E r war in einer Zeit aufgewachsen, in der die Naturwissenschaften mit ihrem Grundgerüs t , der M a ­thematik, über allem standen. Sie waren es, die den A n ­spruch machten, die volle, unve rkürz t e Wirkl ichkei t in ihren Formeln einzufangen. Aber Formeln, logische Ge­dankenketten, was sind das anderes als Leistungen von Menschen, die sich erkennend an der Welt betätigen? U n d was ist diese Welt anderes als das, was ihnen in ihrer Erfahrung, ihrer Anschauung gegeben ist? Er sah, wie diese Wissenschaften das vergessen hatten, woraus sie hervorgegangen waren und woraus sie ihren Sinn schöpften. Sie sind ja nicht in sich ruhende Gedanken-

13

gebäude, in deren Formeln die Wirkl ichkei t selbst ent­halten ist, sondern Anweisung, im unmittelbaren E r ­fahren, im unmittelbaren Erleben, das immer die letzte Instanz ist, das wiederzufinden, was sie aussagen, so daß alle ihre Begriffe, sollen sie überhaup t Sinn haben, zu­letzt auf die Anschauungen zu rückge führ t und mit ihnen erfül l t werden müssen, aus denen sie u r sp rüng­lich hervorgegangen sind. In seinen E n t w ü r f e n der letz­ten f ü n f z e h n Jahre ist immer wieder von der „Lebens­welt" die Rede, der Wel t der unmittelbaren Erfahrung. Indem er sie in ihren Strukturen zu erfassen strebte, zeigte sich, daß das keineswegs ein einfaches Beschrei­ben, ein Abbüden der Wirkl ichkei t sein könne , noch auch ihre Zerlegung in letzte Elemente. Es zeigte sich, wie sehr unser modernes Leben zumeist selbst gar nicht mehr aus dieser Ursprüngl ichkei t und Unmittelbarkeit der Erfahrung lebt, wie sehr es schon von Vorstellungen theoretischer He rkunf t d u r c h t r ä n k t und geleitet ist, und wie es da immer neuer methodischer Anstrengun­gen bedarf, um unmittelbares Erleben wiederzugeben und Welt , wie sie in ihm zugänghch ist, zu verstehen und zu erfassen. U n d weil auch hinter den speziell­sten und abstraktesten Erwägungen bei ihm überah dieser große, einheitliche Zug spürbar war, nur darum konnte schon das erste Werk , das sein Ansehen begrün­dete — ein f rüheres war fast unbeachtet geblieben — eine solche durchschlagende Wi rkung haben, wie es-die seiner Logischen Untersuchungen war, durch die mit einem Schlage eine Wendung in der Psychologie, i n der Logik und Erkenntnistheorie herbeigeführ t , der Sprach-phhosophie und Sprachtheorie neue Impulse gegeben waren.

Das Jahrzehnt, das dem Erscheinen dieses Werkes folgte, war das der großen Schulbhdung, in dem Phäno­menologie zum Kampfruf und bald auch zum Mode­wort wurde. Es war die Zeit, in der er selbst seine neuen

Methoden phänomenologisch-psychologischer Analyse, des Rückgangs vom Denken und seinen fertigen Pro­dukten auf das erlebende, produzierende Leben weiter-bUdete und auf ahe Bereiche des Bewußtseinslebens an­wendete, und die Zeit, in der er die Methode der Wesenserschauung f ü r alle Bereiche der Wirkl ichkei t , alle Bezirke des Seins du rchzu füh ren suchte. V o n da gingen Anstöße auf alle Wissenschaften vom Menschen aus. M . Scheler baute seinen Anregungen folgend die Eth ik auf neuen Grundlagen auf und machte sich zur Auswertung seines breiten Wissens um Mensch und Ge­sellschaft Husserls Methode zunutze. Die Psychopatho­logie ging mit den Werken eines Jaspers und Binswanger seinen Spuren folgend neue Wege und machte sich vom rein naturwissenschaftlichen Denken los. Es ist ja das Bedeutsame und Fruchtbare des phänomenologischen Wesensbegriffs, daß er nicht aprioristische Konstruktion besagt, sondern die Forderung in sich schließt, das ganze reiche Material philosophisch fruchtbar werden zu las­sen, das die Erfahrungswissenschaften an die Hand geben. Ich m u ß es mir versagen, auf die breiten Aus­wirkungen, die die Phänomenologie auch auf allen ande­ren Gebieten, in Ästhet ik und Rechtsphilosophie, in Religionswissenschaft und empirischer Psychologie hatte, weiter einzugehen. Es gibt in deutscher Philosophie und Wissenschaft wenige Bereiche, in die nicht in den letzten Jahrzehnten, wenn auch oft mittelbar, ihre Anregungen gedrungen wären. Die Wendung weg von den frucht­losen Methodendiskussionen und dür ren erkenntnis­theoretischen Argumentationen, die „ W e n d u n g zum Objekt", die bis heute in der deutschen Phüosophie als eine der wesentlichsten Errungenschaften der letzten Jahrzehnte ght, kann nicht minder als Auswirkung eines Motivs angesehen werden, das Husserl auf seinem Weg angeschlagen hatte, wie später die Phüosophie M . He id ­eggers. A u c h der systematische Zusammenschluß seiner

15

Gedanken, der f ü r das Alterswerk Dütheys charakteri­stisch ist, war nicht zuletzt die Folge der Ermutigung, die ihm das Auftreten Husserls und sein Sieg über die Psychologie gegeben hatte, nachdem er bereits f rühe re Ansätze resigniert und mißvers tanden fast ein Jahrzehnt hatte ruhen lassen. A u c h die Ausstrahlung in die ande­ren Länder , die Bildung von Schülerkreisen überall , blieben nicht aus; R u h m und Ehren kamen zu dem, der vierzehn Jahre einst als Privatdozent durchlebt und d u r c h k ä m p f t hatte, unbekannt und anscheinend erfolg­los, immer mit der bittern Frage ringend, ob er über­haupt zur Philosophie befähigt sei und nicht besser daran tä te , sie aufzugeben, ob er übe rhaup t würdig sei, Studenten etwas vorzutragen.

Aber immer, wenn sich diese Erfolge einstellten, dann war Husserl selbst schon längst hinaus über das Stadium seiner Lehren, das diese Entwicklungszüge in Bewegung gesetzt hatte. U n d kamen sie dann aus aller Wel t zu ihm, um mit ihm über die Probleme zu reden, die sie bei ihm gefunden hatten und die ihnen am Herzen lagen, dann sahen sie, wie er selbst schon längst wo an­ders war, wie alles das, was von so Vielen als der Ertrag seiner Arbei t angesehen wurde, ihm nur Mi t te l war, noch tiefer zu dringen in der Erschließung der Unmi t ­telbarkeit des Lebens. N ich t mehr stand auf der einen Seite eine neue Methode zur Analyse des Bewußtseins, auf der anderen eine Ontologie, ein Weg der Wesens-erschauung des Seienden in allen seinen Bezirken, nicht mehr die Zweiheit von Bewußtsein und Wel t ; ihre un­trennbare Einheit zu begreifen, den systematischen Z u ­sammenschluß aller Linien seines Denkens zu erreichen, das war es, was ihn in steigendem Maße in A tem hielt. D i e U r s p r ü n g l i c h k e i t des L e b e n s als das s c h ö p f e r i s c h e T u n des G e i s t e s , aus d e m a l l das e n t s p r i n g t , was d a n n als f e r t i g e s , r u h e n ­des S e i n v o r uns s t eh t , — das war das große Thema

16

seiner letzten Lebensjahrzehnte: keine feste Gestalt, die das Leben hervorgebracht hat, keine feste Form als ein dem Ich fremides Objekt stehen zu lassen, sondern von jeder zurückzugehen zum schaffenden Leben selber, die Welt v o n i n n e n her zu verstehen als Gebilde des ab­soluten Lebens, geleitet von der Überzeugung Hegels (und ihm verwandt i m letzten Ziele seines Strebens): „Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kra f t in sich, welche dem Mute des Erkennens Wider­stand leisten könn te , es m u ß sich vor ihm auf tun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genüsse bringen."

Bis zuletzt rang er darum, seinen unzähligen, immer neuen Ansätzen den zusammenfassenden Abschluß in einer Darstellung zu geben. N u r ein Stück davon zu vollenden war ihm noch vergönn t ; aber greifbar stand die F o r t f ü h r u n g vor ihm. Es ist noch kaum ein Jahr her, daß er nach kurzer Arbeitspause an mich schrieb: „Ich bin noch immer nicht wieder in den großen A r ­beitszug hineingekommen, in jenen Arbeitswahnsinn, ohne den bei mir keine Publikation zustande kommt. Ich habe ja seit zwei Monaten mich wieder im einzelnen vertiefen können , aber es fehlte die Spannkraft zu einer literarischen Ausarbeitung, es fehlte die freie Ver fügung über die historischen und sachlichen Horizonte. Sie kön ­nen sich denken, wie sehr mich das gequält hat. Aber Ausarbeitung ist ja bei mir eigentlich das Gegenteil von Quälerei , auf einmal kommt es immer, daß die Feder wie von selbst schreibt."

Es war ihm nicht mehr vergönnt , noch einmal diesen Augenblick des schöpferischen Rausches zu erleben, den er in lebenslanger Arbeit immer wieder herbeigezwun­gen hatte. Sein Denken war noch immer jugendfrisch geblieben und voller Spannkraft und Bereitschaft, i m ­mer wieder anzufangen, sich mit keinen fertigen Ergeb­nissen zu begnügen, von jeder fertigen Formulierung

17

immer wieder auf die ursprünglichen Anschauungen und Erfahrungen zurückzugehen. Er hatte den Ehrgeiz der ewige Anfänger zu- bleiben, der sich jede Einsicht immer wieder neu erwerben mußte, um nicht in die Gefahr zu kommen, im leeren, bodenlosen Denken stecken zu bleiben. Nur Klarheit wollte er ursprünglich über die Grundlagen einer Wissenschaft, die ihm am Herzen lag, aber diese Klarheit zu erreichen, das zwang ihn Systematiker zu werden. Die Konsequenz seines Willens trieb ihn fort zur Universalität der Fragestel­lung. Er war nichts mehr als Werkzeug, in dem das Denken, sich selber rücksichtslos ernst nehmend, zur Wirklichkeit zurückkehrte, sich selbst aus seiner Ver­lorenheit an die bloße Formel befreite. Immer wieder zurück von jeder festen Formel zu ihrer ursprünglichen Gewinnung aus dem Erleben, das war es, was ihn nie ruhen ließ und seinem Werke zugleich das Fragmenta­rische verlieh des niemals Abgeschlossenen, immer offen Gebliebenen. So war er Arbeiter, nichts als Arbeiter, dem sein ganzes Leben nichts war als die Vorbereitung auf den Augenbick, in dem der Funke des Denkens zündet und aus erstarrten Sätzen ursprüngliches Bild der Wirklichkeit wird. Und keine andere Rücksicht gab es in diesem auf die Minute geregelten Leben als die, keinen Augenblick zu verlieren, der für das Denken fruchtbar sein könnte.

Aber alles das, die vielfältige schulbildende Wirkung, das Ansehen und die Ehren der Welt, der wissenschaft­liche Ertrag, der teils veröffentlichte, teils noch in Tausenden von Blättern der Auswertung harrende, was ist das alles, um ein Menschenleben in seiner ewigen Bedeutung zu verstehen! Was ist es, um zu verstehen, wie h i e r die P h i l o s o p h i e selbst i n e inem M e n ­schen W i r k l i c h k e i t w u r d e !

Dieses Urbild schöpferischen Lebens uns vor Augen zu führen, das ist die einzige Totenfeier, die seiner wür-

i8

dig ist in einer Zeit, die es so oft gar niclit mehr weiß, was das ist: ein Philosoph. Es ist das Büd eines Lebens, das u n p e r s ö n l i c h geworden war; aber es ist nicht die Unpersönl ichkei t dessen, der keine Prägung hat, sondern dessen, der Werkzeug und nichts als Werkzeug geworden war. Was können wir Besseres tun als ver­suchen, das B i l d zu zeichnen eines Lebens, vor dem ahe Fragen nach dem Erfolg , nach dem W o z u , nach der Funkt ion verstummen, wie sie verstummen müssen vor jeder schöpferischen Tat, die immer mehr ist als das, was sie in ihren Auswirkungen f ü r ihre Zeit bedeuten kann. So güt unser Besinnen zugleich der Phüosophie selbst, die in ihm Wirkl ichkei t geworden ist. D a ß die Phüosophie ihrer Zeit etwas zu sagen habe, das ist eine Forderung, die ihr gutes Recht hat; aber daß sie darüber hinaus noch mehr ist, ein Schicksal, das den Einzelnen über fäh t und dem er sich zu stehen hat, in dessen Er ­fül lung er, wo dieses Schicksal sich in Größe vohzieht, nicht nur dieser Zeit gehört , das ist es, was uns das V o r ­büd dieses Lebens lehrt. D a ß wir mit der Vertiefung in seinen Gang in einen Bereich gelangen, in dem die Ph i ­losophie benachbart ist der Kunst, als schöpferisches E r ­eignis einbrechend in die Welt , benachbart in der Selbst­verständlichkeit , mit der sie, so verwirkhcht, fraglos und ein f ü r ahemal da ist: so selbstverständlich wie ein Baum dasteht, wurzelnd in dünner Erdschicht, durch sie noch dem Boden verbunden an der obersten Grenze des Waldes, aber seine Äste frei hinausstreckend dem tiefen, klaren Berghimmel entgegen und dem Sturme trotzend, in Zwiesprache mit der Ewigkeit.

19

Jan Patocka:

Der Mann, dessen Andenken diese Stunde gewidmet ist, iiat f ü r sich nie lautes Lob und Worte der Begeiste­rung in Anspruch genommen. Dazu war Edmund Hus­serl zu sehr Phüosoph, der ausschließlich in der Sphäre der „langen Zwiegespräche, von der Seele in ihren E i n ­samkeiten abgehalten", lebte und schuf. Jedes R ü h m e n war ihm fremd. Das wurde besonders offenbar, als er selber r ü h m e n sollte: aus einem Gelegenheitsvortrag, aus einem Gelegenheitsartikel erwuchs ihm wie von selbst und mit unwiderstehlicher Gewalt eine philosophische Meditation, unter welcher das ursprüngl ich Geplante vollkommen verschwand und erstickte. N ich t daß er der tiefsten Verehrung und des dankbarsten Lobes un­fähig gewesen wäre ; aber er konnte nur innerlich, nie öffent l ich feiern. So hä t te er wohl auch gewünscht , daß er von denjenigen, die zu ihm stehen, gefeiert wi rd . Wenn wir trotzdem heute öffent l ich seiner gedenken, dann geschieht das mehr aus dem Grunde, daß wir sel­ber das Bedürfnis haben, auszudrücken, wie wir uns durch seine Arbeit eben Ihm verpflichtet füh len , also eher um unserer selbst whlen. Unsere eigenen Verpf l ich­tungen klar zu sehen, uns klarzumachen, was vonnö ten , um seinem Andenken würd ig treu zu bleiben — das sollte der Sinn einer solchen Gedenkfeier sein. Dazu bedarf es einer in großen Zügen gehaltenen Skizze des­sen, was Edmund Husserl war.

Edmund Husserl war ein großer Glaubender. Gegen­stand seines Glaubens war die Macht der Idee, die in

20

einem echten, großen Aufschwünge ergriffen und von einem reinen, unvoreingenommenen, unbegrenzten Blicke geschaut wird . In ihrer Tiefe gefaßt, ergreift die Idee selbst, reißt mit, wi rd in höchs tem Sinne praktisch. V o r allem sind ahe Wissenschaften, ahe theoretischen Disziplinen in gewissem Grade Geschöpfe der Idee, und jeder weiß, zu welch unermeßlicher , das Leben jedes Menschen mitbestimmender Kra f t die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte geworden ist. Die Ehrfurcht vor der Wissenschaft und deren Repräsentanten war in der Zeit, wo Husserl geistig reifte, so unbegrenzt, daß nur die Kühns ten durch die A n h ä u f u n g von Organisation, Apparat, Spezialisierung, von entwickelter Methodik und Technik hindurch eine Gefahr zu sehen vermoch­ten. Deshalb waren es nur die wenigsten unter denjeni­gen, die es zur Wissenschaft drängte , welche schließlich den Weg zu den philosophischen Grundproblemen zu­rückfanden : Denn gab es nicht überah so viele Möglich­keiten fruchtbarer Arbeit , die sich im Rahmen von be­währ ten Methoden, auf Wegen, die schon vorgezeichnet waren, abspielen und dadurch ahgemeine Anerkennung erlangen konnten? N u n gehörte Husserl eben zu den­jenigen, die nicht einfach auf den anerkannten Wegen wandeln, sondern zu den ersten Ursprüngen vordringen wollten. E r fühl te , daß der äußeren Entfaltung keine ent­sprechende innere Klarheit zur Seite stand, er fühl te , wie die Wissenschaft sich von ihrem idealen Quell entfernte und sich innerlich erschöpfte . Darum wollte er sie nicht durch neue Errungenschaften fö rdern , durch welche sie damals wie heute blendende Erfolge erzielt, sondern an ihre wesentliche Bindung, an ihren Sinn, der nahe daran war, in Vergessenheit zu geraten, von neuem erinnern. So ist er aus dem Mathematiker zum Philosophen ge­worden, dem es um die Prinzipien der Wissenschaft ging. Aber nicht in der Weise, wie z. B . Dedekind und Frege, seine be rühmten älteren Zeitgenossen; die so­

l l

genannte Grundlagenforschung e rö f fne t haben; Hus­serl suchte nicht auf rein formalem Wege formale V o r ­aussetzungen des Aufbaues von Wissenschaften, sondern sein M ü h e n galt dem Sinne der Wissenschaft, ihrem o5 Ivsxa, ihrem letzten Ziele und andererseits ihrem ersten N ä h r b o d e n , ihrer Verankerung in dem sich ewig wandelnden und wechselnden, erlebenden Leben.

Aber die Phüosophie selbst, zu der Husserl sich so wandte, war in jenen Tagen in arger Bedrängnis. Sie hatte ihr Selbstvertrauen, ihren Arbeitsboden und den Sinn f ü r ihre eigenständigen Verfahren verloren. Statt auf freiem, eigenem Wege zu wandeln, auf eigene Ge­fahr, aber auch mit der Hof fnung , Ursprüngl iches zu erfassen, um damit das geistige Leben zu befruchten, verbeugte sie sich vor der Fachwissenschaft mit ihren Erfolgen und verbarg sich hinter ihrem Rücken . Der Geist von Platon und Aristoteles hatte sie fast völlig verlassen, und der Geist Kants, soweit er in ihr herrschte, war ein bloßer Schatten des großen Denkers, ein Schat­ten, der keine K r a f t und keinen M u t mehr besaß, um Perspektiven zu ö f f n e n und das Unendliche des geistigen Aufschwungs zu tragen. Es war nicht so sehr der Glaube an die ewige, von Zeiterfolgen unabhängige Macht der Idee, deren eine Ausstrahlung die Wissen­schaft bildet, sondern eher dessen verengtes Abbi ld , das sich an das letzte Ergebnis, an die neueste Errungen­schaft klammert, was in den Phüosophen jener Tage lebte und die „ G r u n d l e g u n g " dieser faktischen Wissenschaft zum Ziel ihres geistigen Ehrgeizes setzte. Es fehlte aber auch damals nicht an großen Talenten wie z. B . Bren­tano, dem Wiener Lehrer Husserls; bei ihnen schöpfte Husserl, so viel er konnte, ohne sich je vom fremden schöpferischen Geiste und von der Atmosphäre einer sich entwickelnden Schule beherrschen und mi t re ißen zu lassen. Ahe Anregungen, die er so empfangen hat, verwandelten sich bei ihm so tief, daß of t ein gemein-

22

samer Fachausdruck die grundsätzlichsten Unterschiede birgt. Es k ö n n t e trotzdem den Anschein haben, da der Respekt vor der Wissenschaft und ihren Repräsentanten damals fast grenzenlos, das Ideal, .die Philosophie zum Range einer strengen Wissenschaft zu erheben, allgemein war, als ob die phüosophische Zielsetzung Husserls nur dem Geiste der Zeit entstammte.

D a ß dies nicht der Fall war, hat sich schon bei der ersten bedeutenden Veröf fen t l ichung Husserls gezeigt, bei der Publikation seiner Logischen Untersuchungen (1900—1901). Das Dogma von einer einzigen, durch die Naturwissenschaft in ihrem Wesen faßbaren W i r k l i c h ­keit, ein Dogma, das die Zeit beherrschte, wurde durch Husserls K r i t i k einer in diesem Sinne naturalistisch orientierten Wissenschaftslehre erschüt ter t . U n d diese Erschüt te rung geschah nicht i m Namen eines kompro­mittierten Mystizismus oder eines Irrationalismus, der unserem Erfassen eigene Wege neben dem wissenschaft­hchen e rö f fnen sohte, sondern im Namen der Wissen­schaftlichkeit selbst, in , strengen Gedankengängen und auf einem besonders trockenen und der Einbildungskraft wenig entsprechenden Boden. M i t klassischer Klarheit zeichneten sich Umrisse einer neuen, rein objektiver Logik, deren Aufbau ohne Rücks ich tnahme auf die Ge­setzmäßigkeit der psychologischen Verläufe erfolgt, welche sie aufnehmen und sie tragen. Bei so vielen Pro­blemen, die man als definitiv erledigt und gelöst zu be­trachten gewöhnt war, erfuhr man plötzlich, daß die angeblichen Lösungen auf Mißverständnissen beruhten. Unter diesen Scheinlösungen nahm der nominalistische Empirismus mit seiner Lehre vom Begriff als bloßem Wortsignal wohl den Ehrenplatz ein. Es war zum gro­ßen Te i l eine destruktive, aber befreiende Arbeit . Die Philosophie e r fähr t dabei mit voller Klarheit, daß selbst Begriffe wie Begriff, Bedeutung, Ur t eü , Satz voh U n ­klarheiten waren, die niemandem auf gefahen • sind, ob-

wohl — oder eher weÜ — jedermann mit ihnen täglich wie mit Selbstverständlichkeiten umging. U n d in der Arbeit an diesen Selbstverständlichkeiten ist das positive Schaffen des Denkers erwachsen, die Rehabhitation des Ahgemeinen, des Idealen, und in eins damit der 'Ver­such einer Aufk lä rung der A r t , wie die gesamte W i r k ­lichkeit uns gegeben wird , die Wirkl ichkei t , die uns nicht bloß leibhaftig — sozusagen Körpe r gegen Kör ­per — gegenwärtig werden kann, sondern auch so, daß ahgemeine, ideale, of t formale Züge des Wirk l ichen uns wie i m voraus und unabhängig von leibhaftigen Einzel­gegebenheiten aufleuchten und sich klären. So wurde auch das uralte Problem des A p r i o r i neu aufgenommen, aber nicht mehr in der harten und knappen, subjektivi¬stischen Kantischen Form, sondern als ein den inneren Kern , die innere gegenständliche Struktur der Sachen und Wirkl ichkei ten ausmachendes Apr io r i . U n d da­durch wurde auch das alte Problem der Ontologie er­neuert, der Husserl geschärfte methodische Waf fen in die H a n d drückt , seine Methode der „Wesensschau", der „eidetischen Erfahrung", die nicht auf das H ie r und Jetzt des Wirkl ichen, sondern auf seine innere ewige Klarheit geht; eine Methode, die zwar kritisiert wurde und kritisiert werden kann, die aber doch die Bemühung um einen wesentlich tieferen und klareren Standpunkt des philosophischen Selbstbewußtseins darstellt, als er im f rühe ren Philosophieren je erreicht worden ist. In jener Zeit erlebte der Strukturalismus in fast allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen einen neuen A u f ­schwung; die einseitig psychologische oder soziologische Betrachtung, ob es sich um Kunst, Religion, Recht han­delt, w i rd überall bezweifelt und überwunden , und die­ser Strukturalismus erhält in der Phüosophie der Log i ­schen Untersuchungen seine geistige Stütze. Aber noch mehr: ganze Disziplinen, die fast in Vergessen geraten sind, erlangen wieder ein schärferes Interesse; so wi rd

24

z. B. das Problem der logischen Grammatik neu gestellt, wodurch auch die Sprachwissenschaft dem einseitigen Psychologismus, bei aller Anerkennung der berechtigten Ansprüche der Psychologie, entzogen wird . Es entsteht eine Reihe von „mater ia len", abstrakten und konkreten Ontologien, Fragen, die seit den Tagen der Scholastik und der "Wolffschen Schule verstummt waren, werden neu diskutiert, es werden ihnen neue Aspekte, neue Er ­gebnisse abgerungen. Ahe modernen Bemühungen um eine neue Ontologie, auch diejenigen, die ihren U r ­sprung verleugnen, haben ihre Wurze l hier, in dieser ersten Phase von Husserls Neuentdeckung der Idee.

Aber dabei ist es nicht geblieben. Der Philosoph, welcher bei Einzeluntersuchungen angefangen und bei jedem Bohren neue Re ich tümer gefunden hat, wagt es jetzt, der Einheit ahes möglichen Begreifens überhaupt , dem universalen Ganzen ausdrücklich ins Auge zu blicken, dessen Wesen die Philosophie seit jeher zu er­gründen suchte. War die Idee in der ersten Etappe als ideale Struktur gefaßt, so wird sie jetzt zur Idee der univer­salen, allumgreifenden und durchleuchtenden Ganzheit, die uns mit unwiderstehbarer Macht an sich fesselt. Es ist dieselbe magnetische Kraf t , welche zu uns aus Platon und Aristoteles spricht, wenn sie das bestirnte, regel­mäßige, harmonische Universum betrachten, worin ge-heimnisvoh das Ideale ve rkörpe r t ist, das uns die Mög­lichkeit gibt. Seiendes zu begreifen. In diesem Sehen, dessen physische Wirkl ichkei t nichts mehr ist als ein Symbol eines tieferen, mächt igeren Geheimnisses, war, wie Platon sagt, die Phüosophie entstanden; aus ihm ist auch die moderne Wissenschaft durch den enthusiasti­schen Gedanken entsprungen, dies alles sei durch die reinen und strengen Gesetze der mathematischen Ver ­nunft zu begreifen; in ihm entsteht auch die neue, ent­scheidende Phase Husserls, in der er zu einer neuen Meta­physik, zu einem neuen Versuch, das Ganze zu ergrei-

25

fen, ausholt. E r zielt ins Zentrum des Geheimnisses, welches Platon mit einem mythischen Symbole ausdrückt , wenn er von der lebendigen Wel t spricht, dem Abbilde unsterblicher Göt te r . Denn auch die Wel t Husserls ist eine lebendige Welt , die den unauslöschlichen Abdruck von „ G ö t t e r n " in sich t rägt , von letzten und höchsten idealen Zielsetzungen, deren das Leben fähig ist.

Wie hat Husserl diese lebendige Wel t entdeckt? Es war ein paradoxer Fund. In seinem Bestreben, den ersten Ursprung, den N ä h r b o d e n alles unseren Begrei­fens zu erfassen, hat er sich auf das Erleben konzen­triert, dem Seiendes gegeben wi rd ; und indem er dieses Erleben von all dem zu reinigen suchte, wodurch es f ü r den reinen Bl ick ge t rüb t und verdeckt werden könn t e , sah er sich genötigt , den ganzen Prozeß des W i r k l i c h ­keitsglaubens, den ganzen Komplex von U r t e ü e n und Voraussetzungen, dessen wir uns täglich bedienen und an dem wir täglich schaffen, f ü r den Schauenden aus­zuschalten. Halten wir diesen Prozeß des ständigen gläu­bigen Urteilens an, nehmen wir Abstand von ihm und sammeln wir uns zum eigenen Erleben, das verbleibt, auch wenn der Schauende an seine Gegenstände, an das Universum zu glauben a u f h ö r t ! Es ist Ihnen bekannt, daß dieser eigentümliche Prozeß , diese Destruktion des gesamten Urteilens und aller Voru r t eüe , bei Husserl den Namen der „phänomenologischen Redukt ion" be­kam, Reduktion auf das reine Phänomen , auf das Seins­phänomen , und die zum Ausschöpfen des Blickes auf die reinen Phänomene bestimmte D o k t r i n den Ti te l „reine Phänomenologie" . Was ist aber das paradoxe Resultat dieser angeblichen Destruktion des Universums, dieser vermeintlichen Welt Vernichtung? Was kann uns nach diesem Vorgang übe rhaup t noch übrig bleiben? Es ver­bleibt das ganze erlebende Leben, das die Möglichkei ten zu ahen, gewöhnlichen und außergewöhnlichen Er fah­rungen vom Seienden in sich enthäl t , die dem glau-

26

bend-urteilenden Leben zugänglich sind; dieses reine Er ­leben enthäl t gewisserweise ahes, und man kann sagen, daß während dem gewöhnlich befangenen Blicke das Leben als ein Negativ der Welt erscheint, dem Phäno-menologen vielmehr das Leben zum Positiv des Univer­sums geworden ist. U n d in jedem Augenblicke ist auch seinem Erleben die Ganzheit gegenwärt ig: es gibt kein Erlebnis, das von den anderen so abgelöst wäre, wie ein Krystah vom anderen, wie A t o m vom A t o m , sondern immer ist schon der Zusammenhang aufgedeckt, und in diesem Zusammenhang, der dem forschenden Auge Schritt f ü r Schritt, Etappe f ü r Etappe sich erhellt, ist schheßhch der Weg zu ahem Möglichen vorgezeichnet, ist jedem Seienden seine Stelle angewiesen, ist die Mög­lichkeit gegeben, jedes Mögliche zu entdecken, aufzu­weisen, sich davon zu überzeugen.

W i r können hier nicht mehr tun, als einige Folgen zu unterstreichen, als anzudeuten, wohin dieses ganze philosophische Streben f ü h r t , welche Möglichkeiten es entdeckt. Husserl vereint Kant, wohl den am tiefsten bohrenden Modernen, mit dem Denker, in dem das pla­tonische Erbe am lebendigsten sich erhielt, mit Leibniz: sein Universum ist das lebendige Monadenall, das zu­gleich die Bedingungen der Möglichkeit des Erfahrens vom Seienden „enthä l t " . Das Seiende, wie es von uns naiv erlebt wi rd und wie die Wissenschaft es in einer methodisch präpar ier ten Form nachkonstruiert, ist sozu­sagen ein Zielpunkt unseres erlebenden Tuns, ist das­jenige, worauf es hinzielt. Dabei erscheint ein e igentüm­licher Primat der naiven Welterfahrung vor aller Wis­senschaft — die Welt der Naturwissenschaften bedeutet zwar eine ungeheuere Präzisierung und Bereicherung in der Menge von Kenntnissen und der Mannigfaltigkeit von Aspekten, aber sie setzt die ungenaue, vortheore­tische Welt unseres naiven Lebens aus Wesensgründen immer schon voraus. Man könn te vieheicht sagen, daß

^7

der letzte Sinn von Wissenschaft im g e n a u e n Erfassen des einheitlichen Planes liegt, nach dem das Leben in der Form von so vielen Erlebnisströmen und ohne selbst von ihm ausdrückliches Wissen zu besitzen, das Seiende entwirft und dem Seienden begegnet; Aufgabe der P h i ­losophie dagegen ist die Erforschung dieses Prozesses von Entwerfen und Begegnen selber.

So hat Husserl ein großes, ungemein mannigfaltiges und verlockendes Gedankenprogramm aufgestellt, an dessen Verwirkl ichung er im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten mit höchster Gedankenanspannung, mit seiner unendlichen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit ge­arbeitet hat. E r hat bald allein, bald mit seinen zahl­reichen Schülern, die ihn teüs maßlos bewunderten, teils von ihm abgewichen sind, an der Erfü l lung dieses Pro­grammes gearbeitet; einige der begabtesten haben ihn gleich am Eingang seines metaphysischen Strebens ver­lassen, um eigene Systeme zu bauen, denen oft ein laute­rer Beifall, eine regere öffent l iche Aufmerksamkeit, eine tief ere Ergriff enheit der Höre r scha f t beschieden war. Aber auch die treuesten füh l ten manchmal, daß sie ihm nicht folgen können , besonders dort, wo Husserl glaubt, daß die Einheit seines monadischen, lebendigen Universums, in der das Seinsphänomen eine gemeinsame Erzeugung zahlloser Lebensströme ist, auf eine* universale Teleologie des Weltprozesses hinweist, die ihrerseits das höchste , das theologische Problem anzeigt. Aber f ü r Husserl selbst ist dieser Zusammenhang kein unwesentlicher. Schon am Anfang haben wir ihn als einen großen Glaubenden^ be­zeichnet. So wie Platon, glaubt auch Husserl, daß das Eine als das Gute den Schlußstein des Weltgewölbes b i l ­det; sein Ideenglauben, den wir zunächst in seiner logi­schen, dann in seiner metaphysischen Form angedeutet haben, geht bei ihm wesenhaft in die theologische über . Al l em Schmerze an der ganzen Last der Wel t zum Tro t z schimmert in der Wel t eine tiefe, nicht anthropomorphe

28

Vorsehung der letzten idealen Zielsetzungen hindurch, die den Preis einer langen Sehnsucht bilden.

In diesem Glauben sah Husserl persönlich sogar die Grundlage der Philosophie und somit letztlich auch der Wissenschaft; nicht in dem Sinne, daß man sonst nicht phhosophieren und wissenschaftlich theoretisieren könn te , sondern so, daß das Philosophieren ohne diesen Glauben seinen letzten Sinn, seinen realen Inhalt, seine W i r k l i c h ­keitsbelastung verlöre und zu einem Spiele niedersinken würde . E r hat das Phhosophieren als Spiel, als bloße intellektuell ansprechende Beschäftigung immer verwor­fen. Dieser Philosoph, der zu den einflußreichsten seiner Zeit gehörte , betonte ausdrücklich, sollte eine solche Auffassung der Philosophie Recht behalten, würde er sich lieber der niedrigsten und gewöhnlichsten, aber gültigen Arbeit widmen — gültig darin, daß in ihr das Pathos der Liebe zur Welt , zum lebendigen Univer­sum, das zum Kern von Husserls Persönlichkeit gehörte, sich kundtut und auslebt.

So hat, hochverehrte Anwesende, der Philosoph E d ­mund Husserl geglaubt. War aber gerade in diesem Glauben nicht ein Anspruch verborgen, war es kein bloßer Selbstbetrug des Philosophen, der seinem E r ­kenntnisdrange, seiner maßlosen Leidenschaft des Erken­nens die höchste Heiligung dadurch zu geben strebt, daß er sie mit den höchsten, den entscheidenden Grundlagen der Wel t selbst verbindet? Ich wage nicht auf diese Frage eine bündige Antwor t zu geben. Aber vielleicht könn te man den so Fragenden auf etwas hinweisen, was zwar diesen fundamentalen Glauben, der zum Wesen Husserls gehört , in seinem Glaubenscharakter nicht auf­hebt, aber ihn wenigstens in eine historische Linie von besonderer Bedeutung und besonderer innerer Kra f t ein­zureihen gestattet: nämlich, daß dies ein Glaube ist, der f ü r die europäische Kul tu r überhaup t konstitutiv ist, ein Glaube an die Macht der Idee, an die Möglichkeit ,

29

das Leben von der Idee aus zu gestälten, die uns ergreift und zu sich e rhöht , und die Überzeugung, die Erkennt­nis sei der Ausdruck einer universalen Liebe zum Sein, zur lebendigen Welt , oder, mit unserem Palacky zu sprechen, die Phhosophie sei ein Ausdruck der Gotthaf-tigkeit des Menschen. Diese Überzeugung, der Mensch sei frei zur Idee, frei zur Wahrheit, frei zum Bestimmen' des eigenen Lebens, zu den letzten Zielsetzungen, die ihn zu ergreifen vermögen, und keineswegs der bloßen Naturhaftigkeit unterworfen, kein bloßer Index von Verhältnissen und Schicksalen, darin ist Husserl mit dem großen Strome einig, der in den Anfängen der griechischen Philosophie seine Quehe findet, in Platon sein erstes umfassendes Selbstbewußtsein erringt, i m Christentum um eine neue Lebenspraxis ringt, in der modernen Wissenschaft ein genaueres und durchsichti­geres objektives Universum anstrebt; mit einem Strome, der zwar of t durch innere Schwierigkeiten und Unkla r ­heiten sowie durch die Ungunst der Zeiten zum Stehen gebracht zu werden scheint, der aber nie bezwungen werden kann, weil mit ihm die Menschheit ihr Wesent­lichstes aufgeben m ü ß t e . U n d zum Glauben an diese Hehe der menschlichen Geschichte, an diese schließlich über dem ganzen Leben ausgebreitete Macht der Ideen­arbeit ruf t uns auf, zu ihm verpflichtet uns das W e r k Edmund Husserls.

30