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Vandenhoeck & Ruprecht Eduard Schweizer Kleine Vandenhoeck Reihe Band 1572 Jesus, das Gleichnis Gottes Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu?

Eduard Schweizer Jesus, das Gleichnis Gottes · EDUARD SCHWEIZER . Jesus da,s Gleichnis Gottes . Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu? V&R . VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN

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Vandenhoeck & Ruprecht

Eduard Schweizer

Kleine Vandenhoeck Reihe Band 1572

Jesus, das Gleichnis GottesWas wissen wir wirklich vom Leben Jesu?

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EDUARD SCHWEIZER

Jesus, das Gleichnis Gottes

Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu?

V&R

VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN

ISBN Print: 9783525335963 — ISBN E-Book: 9783647335964© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Eduard Schweizer

Geb. 1913 in Basel. 1941 Univ.-Dozcnt in Zürich, 1946 o. Prof. für Neues Testament. seit 1949 in Zürich, 1979 emeritiert.

Buchveröffentlichungen: Gemeinde und Gemeindeordnung im NT (1959, 21962; auch engl., ital., Japan.) Das Evangelium nach Markus (1967, 71989); Matthaus (1973, 3198 l)undLukas( 1982, 31993; auch engl., ital., Japan.,finn.); Der Brief an die Kolos­ser (1976, 21981; auch engl., japan., span.); Heiliger Geist (1978 ; auch engl., ungar.,

span., ital., portug.); Theolog. Einleitung in das NT (1989, auch engl., ital.) u. a.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Schweizer, Eduard: Jesus, das Gleichnis Gottes: was wissen wir wirklich

vom Leben Jesu?/Eduard Schweizer. -Göttingen: Vandcnhoeck und Ruprecht, 1995

(Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1572) ISBN 3-525-33596-2

NE: GT

Titel der Originalausgabe: Jesus the Parable of God - What do we really know about Jesus? (Princeton Theologicial Monograph Scries 37 Allison Park, PA: Pickwick

Publications, 1994)

Kleine Vandenhoeck-Reihe 1572

© 1995 Vandcnhoeck & Ruprecht in Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in

elektronischen Systemen. Umschlag: Hans-Dictcr Ullrich

Satz: KCS, GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

ISBN Print: 9783525335963 — ISBN E-Book: 9783647335964© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Inhalt

Vorwort 6

I Was wissen wir heute über das Leben Jesu? 9 1. Der lebendige Christus ohne ein Leben Jesu? 11 2. Die Unentbehrlichkeit der Geschichte 13 3. Der besondere Ort Jesu innerhalb seines jüdischen

Umfelds 17 4. Kritische Anfragen 18 5. Müssen wir resignieren? 22

II Jesus der Gleichniserzähler 26 1. Noch einmal die Kriterien 26 2. Das Kriterium der »Unähnlichkeit«: die Gleichnisse 28 3. Das Ein-Satz-Gleichnis von Lukas 13,21 30 4. Metaphern, nicht Vergleiche 35 5. Jesus das Gleichnis Gottes 39

IN Jesus, Prediger und Heiler, Freund von Zöllnern und Sündern — der Messias? 41

1. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf: Lk 15,3-7 41 2. Das Gleichnis vom Säemann: Mk 4,3-9 43 3. Die Bergpredigt 46 4. Jesus der Heiler 49 5. Jesus Freund der Zöllner und Sünder 52 6. Jesu Worte und Taten als »Statussymbole« 53

IV Jesus der Gekreuzigte 58 1. Die Kreuzigung Jesu: die Tatsachen 58 2. Hat Jesus von seinem künftigen Sterben gesprochen? . . . . 59 3. Die Kreuzigung Jesu: Heilsereignis? 62 4. Das Gleichnis vom mit-leidenden Vater (Lk 15,11 -32) . . 66 5. Die explizite Christologie der frühen Kirche 70

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V Jesus der Auferstandene 75 1. Die Notwendigkeit mythologischer Sprache 75 2. Die Auferstehung Jesu: die Tatsachen 77 3. Wie sahen Jesu Jünger ihren auferstandenen Herrn?

Die Geschichten der Evangelien 81 4. Was geschah in Galiläa, Jerusalem und vor Damaskus

± 30 n. Chr.? 83 5. Zurück zum irdischen Jesus 87 6. Die explizite Soteriologie der johanneischen Kirche:

Joh 11,17-29 91

VI Schlußfolgerungen 95 1. Karl Barth gegen Rudolf Bultmann? 95 2. Das Problem der Religionen und der Allversöhnung . . . . 96

Anmerkungen 99

Zitierte Autoren 116

Ausgewählte Bibelstellen 118

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Rudolf Schnackenburg dem »treuen Jochgenossen« auf dem Weg des

Evangelisch-Katholischen Kommentars zum Neuen Testament 1967-1995

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Vorwort

Dieses Buch war nicht geplant. Als D. Hadidian von Pickwick Publica­tions mich 1993 fragte, ob ich eine knappe Monographie zur Frage des historischen Jesus schreiben könnte, schrieb ich ihm, daß ich wahr­scheinlich weder die Kraft noch die Zeit dazu fände (schon weil ich kei­nerlei Hilfe für die Reinschrift oder für das Nachprüfen der Stellen mehr habe) und daß der Ausstoß theologischer Bücher heute derart angeschwollen sei, daß es geradezu ein Gnadenakt geworden ist, keines mehr zu schreiben. Und doch liegt es jetzt vor. Es verdankt sein Werden einer ganzen Reihe von glücklichen Ereignissen (glücklich für mich, wohlverstanden; ob für die Leser, ist eine ganz andere Frage!).

Alles begann mit der freundlichen Einladung durch Dr. Allen Chur­chill, für drei Tage im September 1992 nach Kanada hinüberzukommen und in Ottawa/Ontario die Dominion-Chambers Lectures über die Leben-Jesu-Forschung zu halten. Das Thema war mir also schon 1992 gegeben. Im Jahr darauf folgte die Einladung, zum gleichen Thema in den ersten Tagen von 1994 die James D. Belote-Memorial Lectures an der Baptistischen Theologischen Hochschule in Hongkong zu überneh­men. An beiden Orten bin ich angeregt, belehrt und inspiriert worden durch ausgedehnte Diskussionen in einer warmen und offenen Atmo­sphäre. Zwischen beiden Veranstaltungen habe ich diese Frage eine Woche lang in der Nassau Presbyterian Church auf dem Campus der Universität Princeton/New Jersey behandelt und wiederum aus dem Gespräch Neues gelernt. Ein Glied dieser Gemeinde schenkte mir völ­lig spontan den Band von J . D. Crossan, eine Gabe, die mich (glück­licherweise) nötigte, das Buch gründlich zu lesen und mich damit aus­einanderzusetzen, bevor ich meine Hongkonger Vorlesungen nieder­schrieb. Ich schickte eine Kopie Herrn D. Hadidian mit der Bemerkung, daß ich nicht an eine Veröffentlichung dächte (außer in einer von vornherein gewünschten chinesischen Übersetzung). Nach meiner Rückkehr von Hongkong bat mich Dr. Amberg, in der Theolo­gischen Literaturzeitung vom September 1994 G. Lüdemanns sehr kri­tische und heiß diskutierte Monographie zur Auferstehung Jesu zu rezensieren. Das bedingte, die Hypothese der Auferstehungserschei-

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nungen als intrapsychischer Halluzinationen der Jünger(innen) gründ­lich zu überlegen. So zwangen mich drei Einladungen zu Vorlesungen und zwei Gaben von herausfordernden Büchern, die Frage mehr und mehr zu bedenken, wer Jesus war (und ist !) .

Das entscheidende Ereignis stellte sich an meinem 8 1 . Geburtstag ein. In der Post lagen Druckbogen meiner Hongkonger Vorlesungen, die D. Hadidian mir schickte. Einerseits war das ein willkommenes Geburtstagsgeschenk, andererseits war ich dadurch gezwungen, genau das zu tun, was ich nicht tun wollte — nämlich ungefähr alles neu zu schreiben und vor allem auch (besonders angesichts der seither erfolg­ten Publikation des Buchs von Lüdemann) zu erweitern. Dabei war mir völlig unklar, wie und wann ich dazu Kraft und Zeit finden könne, alles nochmals in die Maschine zu schreiben. Als ich in der Baptistischen Theologischen Hochschule in Rüschlikon/Zürich bei der Abschluß­feier die Predigt halten durfte, traf ich meinen neutestamentlichen Kol­legen Keith Dyer, der freilich schon Ende Juni nach Australien zurück­kehren mußte. Erbot mir an, vor diesem Termin noch mein Manuskript durchzusehen und mein Englisch zu glätten. Mit der Hilfe von Clare Hutt, einer Austauschstudentin von Aberdeen, verwandelten sich die verschiedenen Schichten der ursprünglichen Vorlesungsmanuskripte, der vorläufigen Druckbogen und vor allem meiner Korrekturen, Verar­beitungen und Zusätze in ein lesbares und druckbares Compu­ter-Script. Das war eine sehr große Hilfe und die endgültige Befreiung von meinen Sorgen.

Ich bin daher Gott für all das dankbar, was mir an Herausforderung und an Gelegenheit zum Durchdenken und zum Lernen noch geschenkt worden ist. Von hier aus möchte ich denen danken, die mir dabei gehol­fen haben: Zuerst denen, die mich eingeladen haben, Dr. Churchill in Ottawa, unseren langjährigen guten Freunden Herrn und Frau Dr. W. Aiston und Pfr. Cindy Jarvis in Princeton (nicht zu vergessen das Ehe­paar Walker, das uns zum Dinner eingeladen und mit dem Buch von Crossan beschenkte), schließlich der Fakultät in Hongkong (mit mei­nem Freund, Prof. Dr. John Chow dort). Dann gilt mein Dank all den akademischen und nichtakademischen Teilnehmern, die freundlich und offen zuhörten und ins Gespräch mit mir kamen, und Dr. Dyer mit Clare Hutt für ihre hochgeschätzte Hilfe. Schließlich, last but not least, möchte ich meinen tiefen Dank auch D. Hadidian ausdrücken, der mich fast mit Gewalt dazu drängte, hart zu arbeiten, und der das Risiko über­nommen hat, das Ergebnis zu veröffentlichen.

Etwas von der Wirklichkeit der christlichen Kirche erweist sich in

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sehr einfachen Erfahrungen der Zusammengehörigkeit und Gemein­schaft. Das geschieht zu allererst im Zusammensein mit Elisabeth in allen Höhen und Tiefen einer schon fast 55jährigen Ehe und mit unse­ren Kindern, Groß- und Urgroßkindern, aber dann doch auch mit den Freunden, von denen einige oben erwähnt sind. Je älter ich werde, desto wichtiger wird das für mich.

Zur deutschen Ausgabe Als Herr Dr. A. Ruprecht mir schrieb, er möchte meinen anspruchslo­sen Versuch auch auf deutsch herausbringen, weil er meine, daß diese Stimme im Chor (oder Chaos?) der vielen Stimmen heute notwendig sei, habe ich die englische Fassung einigermaßen frei ins Deutsche übersetzt, ohne sie zu verändern, abgesehen von einigen Präzisierungen und (zum Teil zufälligen und keineswegs erschöpfenden) Hinweisen auf im deutschen Sprachgebiet wichtig gewordene Beiträge, vor allem in den Anmerkungen (deren Zählung aber mit der englischen Originalaus­gabe identisch bleibt). Frau Hannelore Würgler danke ich herzlich für ihre Mithilfe beim Schreiben und beim Nachprüfen der Bibelstellen und der Indices.

Wenn ich dieses Buch Rudolf Schnackenburg mit der schönen Wendung von Phil 4,3 widmen darf, dann denke ich an die 28 Jahre, in denen wir zusammen gewiß nicht wie Wundertiere, doch wie zwei ins Joch gespannte, zuverlässige Ochsen den Karren des EKK über alle Konfes­sionsgrenzen hinweg ökumenisch zu ziehen, ängstliche Kollegen zu ermutigen und andere dringend zu mahnen versuchten. Es war eine gute Zeit, für die wir dankbar sind, weil wir in intensiven Arbeits­tagungen viel voneinander gelernt haben, und wir sind dankbar, daß sich jetzt Jüngere vor den Wagen spannen lassen.

Zürich, im Advent 1994 Eduard Schweizer

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I Was wissen wir heute über das Leben Jesu?

0. 1 Seit der Aufklärung stellt die historisch-kritische Forschung diese Frage. Ist es für diejenigen, die an den auferstandenen Jesus glauben, überhaupt eine sinnvolle Frage? Ich versuche als einer zu leben, der an ihn glaubt. Darum meine ich, daß was der Auferstandene nach Ostern zu seinen Jüngern gesprochen hat, keineswegs mit weniger Vollmacht gesagt ist als das, was der irdische Jesus verkündet hat. Ich bin über­zeugt davon, daß Jesus in seiner vorösterlichen Wirksamkeit nicht in der nachösterlichen Sprache redete, wie wir sie im Johannesevangelium lesen, weil diese Sprache, z. B. in den langen Bildreden, die nicht um das Gottesreich, sondern um das »Ich bin. . .« Jesu kreisen, so völlig anders tönt als die Gleichnisse in den ersten drei Evangelien. Dennoch bin ich ebenso überzeugt davon, daß manchmal das vierte Evangelium das, was Jesus wirklich meinte, klarer und besser formuliert als die andern.1 Doch gilt Ähnliches schon von den Synoptikern (Markus, Matthäus und Lukas). Auch sie schreiben j a keine rein historischen Berichte, sondern bezeugen ihren Glauben an diesen Jesus. Auch bei ihnen finden wir das Echo von Menschen, die Jesus als seine Zeugen für sich gewonnen hat. Schon die Auswahl der Worte und Geschichten, die in ein Evangelium aufgenommen werden, ist Ausdruck einer per­sönlichen Entscheidung und damit Ausprägung des Glaubens des Ver­fassers. So mischt sich auch bei ihnen das, was sie nach Ostern erkannt haben und als wesentlich für ihr Leben und Sterben und Auferstehen ansehen, mit dem, was sie aus der Zeit vor Ostern berichten.

Dennoch ist es wichtig, zwischen den Worten des irdischen Jesus (oder den Geschichten von ihm) und denen, die in der Zeit nach Ostern entstanden sind, zu unterscheiden, so weit uns das noch möglich ist. Diese Unterscheidung ist nicht eine Unterscheidung von größerer oder geringerer Autorität, als wären die wörtlich vom Irdischen gesproche­nen Worte oder das von ihm Berichtete an und für sich für unseren Glauben wesentlicher als die nach Ostern formulierten Worte oder das dann über ihn und seine Bedeutung Gesagte. Die Unterscheidung bei­der Schichten hilft uns aber, die Texte der Synoptiker wie des vierten Evangeliums oder der Briefe des Neuen Testaments wirklich zu verste-

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hen. Wir verstehen ja ein Jesuswort und eine Jesusgeschichte erst dann vollständig, wenn wir wissen, in welcher Situation sie für uns aufge­zeichnet wurden. Was bestimmte den Verfasser, gerade dieses Wort oder diese Geschichte in sein Buch aufzunehmen, und was wollte er seinen Lesern damit sagen, wozu sie bewegen? Warum stellte er oder sie dieses Wort oder diese Geschichte gerade in diesen Zusammenhang, formulierte er oder sie sie in dieser Weise oder schuf sie im Hören auf den auferstandenen Herrn neu? Diese »analytische« Forschung an den neutestamentlichen Texten versucht, etwas von der Entwicklung der biblischen Botschaft zu erkennen: was für Probleme wurden angespro­chen, was für Fragen beantwortet, in welche neue Situationen hinein und welchen neuen Erkenntnissen gegenüber wurde die Botschaft von Jesus Christus so formuliert, wie wir sie jetzt vorfinden? Dies zu sehen ist ein wichtiger Teilaspekt des Erklärens und Verstehens dieser Bot­schaft.

0.2 Freilich darf dabei die Begrenzung unserer Forschungsmöglich­keiten nie vergessen werden. Gewiß spricht der auferstandene Herr bis heute; aber was wir von ihm her hören, muß immer sehr genau gemessen werden an den ersten, von der Gemeinde Jesu anerkannten und weiterü­berlieferten Texten, also am Neuen Testament. Stimmen neue Erkennt­nisse, die uns heute geschenkt sind, wirklich zu der grundlegenden Bot­schaft, die den ersten Jüngern geschenkt wurde? Sind sie zwar nicht bloße Wiederholung, wohl aber echte Entfaltung dieser ursprünglichen Verkündigung? So wie das von Jesus Gesagte, Gewirkte und Erlebte (soweit das noch erkennbar ist) auch Maßstab für das Verständnis der neutestamentlichen Aussagen und Berichte ist, so sind diese Maßstab für alle spätere Entwicklung des Jesusglaubens. So sehr bei der Zusammen­stellung des Kanons da und dort auch andere Einflüsse mitgespielt haben, sind darin doch die Texte erhalten, die sich selbst kraft ihres Inhalts in der ersten Zeit der Kirche durchgesetzt haben, was natürlich nicht ausschließt, daß auch Traditionen außerhalb des Kanons Wesent­liches aufbewahrt haben, wenn auch nur in seltenen Fällen.

Wo solche Vorsicht fehlt, läßt sich schlechterdings nicht mehr unter­scheiden zwischen Jesu Worten und unseren eigenen. Historisch-kriti­sche Forschung wird also gewiß nicht von sich aus zum Glauben füh­ren, aber sie bewahrt ihn davor, zum Aberglauben zu werden, weil sie sehr viel eigenwillige Vorurteile und Vorverständnisse aufdeckt und zu unterscheiden hilft zwischen dem, was im Text steht, und dem, was wir selbst in ihn hineinlegen.

0.3 Es ist daher sinnvoll zu fragen, wo wir im Spektrum der modernen

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Leben-Jesu-Forschung heute stehen. Diese Formulierung ist weiter als diejenige von der Forschung über den historischen Jesus; denn dies bedeutet strenggenommen die Erforschung des »Jesus, den wir >ent­decken< und prüfen können durch die Benützung der wissenschaft­lichen Mittel moderner Geschichtswissenschaft«.2 Selbstverständlich war der »wirkliche Jesus« immer mehr als dies, genau so wie meine Mutter sehr viel mehr war, als was man noch mit solchen Mitteln des Historikers entdecken kann. Faktisch müssen alle modernen Ge­schichtswissenschaftler die Tatsachen, die sie für gesichert ansehen, unter Ausfüllung der Lücken zu einem überzeugenden Bild einer leben­den Person (oder einer in der sich stets verändernden Wirklichkeit abgelaufenen Geschichte) gestalten. So lange sie das in »ehrlicher Objektivität« tun, obwohl notwendigerweise persönlich beteiligt, und sich gegen alle Vorurteile von Sympathie oder Antipathie vorsehen, bil­det das einen unvermeidlichen und auch fruchtbaren Teil ihres Werkes. In diesem Sinn wollen wir darzustellen versuchen, was die neueste Ent­wicklung der Forschung zur Erkenntnis des Lebens Jesu beiträgt.

1. Der lebendige Chr is tus ohne ein Leben J e s u ?

1.1 Schon 1906 zeigte Albert Schweitzer, daß ein Leben Jesu (im übli­chen Sinn des Wortes) nicht mehr rekonstruierbar ist. Für eine Biogra­phie Jesu ist fast alles unbekannt: seine Familie (außer einigen Namen), seine innere und äußere Entwicklung, die Einflüsse von seiten der Eltern, Lehrer und Freunde, seine Schulbildung usf. Schweitzer erkannte klar, daß die Evangelisten nicht primär an einem historisch korrekten Bericht interessiert waren, sondern an der Verkündigung ihres Glaubens an Jesus.3 Rudolf Bultmann akzeptierte dieses Ergebnis ohne Wenn und Aber. Es ist der Glaube der frühen Kirche, der auch in den Evangelien dargestellt wird. Dann aber müssen wir vom Oster­ereignis ausgehen und dem darin gegründeten Glauben der Kirche. In diesem Sinn ist »Jesus ins Kerygma auferstanden«, in die Glaubensbot­schafi.4

Damit ist zunächst einfach gesagt, daß wir Jesus nach Ostern nur in der Verkündigung der Kirche finden und daß eben diese Verkündigung die Wirklichkeit Jesu richtig erkennt. Das ist sicher für alle auf Grund des Neuen Testamentes an Jesus Glaubenden so. Dabei anerkennt Bult­mann durchaus schon im Wirken des irdischen Jesus eine »implizite Christologie«, d. h. den Anspruch, daß seine Worte und sein Wirken

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endgültige Offenbarung Gottes sind. Ob dies indessen so war oder nicht und in welcher Weise er diesen Anspruch aussprach oder ausdrückte, ist für Bultmann theologisch unwesentlich; denn der Glaube hängt nicht von den sicheren Tatsachen des Lebens Jesu ab. Glauben kann ja nicht heißen, dies oder jenes als historisch richtig für wahr zu halten. Es heißt, in seinem Personsein (»existential«) berührt sein, so daß man sich selbst sieht, wie man ist, nämlich als das von Gott selbst angenommene Kind, gerechtfertigt durch Gottes Vergebung und begabt mit neuem Leben. Es heißt, daß wir unser Leben nicht mehr in unseren »Werken« finden, in dem, was wir leisten und erreichen, oder in unserer »Rechtgläubigkeit«, in dem, was wir als Dogma unserer Kirche anerkennen. Wir finden es in seinem Geschenktsein, in dem, was wir als Gabe Gottes erhalten und annehmen. Glaube ist nie »sacrificium intellectus«, Verzicht auf unseren Verstand; Glaube ist Neuwerden unseres Selbstverständnisses.

Bultmanns Lösung war faszinierend. Sie gab seinen Studenten unbe­grenzte Freiheit in der Anwendung historisch-kritischer Forschungs­methoden und doch zugleich die Freiheit zum kirchlichen Bekenntnis Jesu Christi als des Sohnes Gottes und Retters von aller Verlorenheit. Ob Jesus sich selbst für den Messias hielt, der als Sühneopfer für die Sünden der Welt starb, wurde unwichtig, weil wir wußten, daß er der Messias war und daß sein Sterben das Heil brachte. Denn er befreite tatsächlich die Welt vom Vertrauen auf ihre eigenen Werke und ihre eigenen religiösen Überzeugungen. Er ermöglichte so tatsächlich der Welt, Gottes Gnade anzunehmen. Mehr brauchten wir, historisch gesprochen, nicht als das »Daß« seiner Existenz: daß Jesus einmal gelebt hat und am Kreuz gestorben ist.

1.2 Das wurde noch deutlicher in Bultmanns Programm der »Entmy­thologisierung«,5 d. h. der Bemühung, die mythische Sprache lang ver­gangener Zeiten in moderne, heute verständliche Sprache zu überset­zen. Für Bultmann bedeutete das eine sich auf unsere Existenz bezie­hende, »existentiale« Sprache. Was die Bibel als Kampf Gottes gegen Satan oder als Kampf des Geistes gegen das Fleisch beschreibt, beschreibt moderne Interpretation als Angriff des Glaubens auf die tief­verwurzelte Sucht des Menschen, sich »zu rühmen« (ein Wortstamm, der sich in allen unbestrittenen Paulusbriefen außer Phm findet!), sich physisch oder psychisch, im Gebiet des Besitzes, der Kunst oder auch der Religion mit andern zu messen und dabei, je nach Temperament, als überlegen oder minderwertig zu bewerten. Davon kann nur »die Gnade Gottes« befreien, die Einsicht, daß, was immer wir leisten, Geschenk ist. Es ist dieser Kampf in uns selbst, der wesentlich ist.

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