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Ein amerikanisches Vermächtnis

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Helen Perkins Band 8

Ein amerikanisches Vermächtnis von Helen Perkins

Flora O'Donell – mit der armen Verwandten aus Irland hatte keiner gerechnet.

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Weit und hellblau war der Himmel an diesem wetterwendischen Mor­gen des Jahres 1830 über der Bucht von Ballybunion, nahe der Ein­mündung des Flusses Shannon in den Atlantischen Ozean. Hier, an der südlichen Westküste Irlands blies der Wind rau von See her und brach­te den Geruch nach Salz und Tang, Weite und unendlicher Freiheit mit sich. Ein junges Mädchen stand hier im einfachen Gewand, barfuss, die kupferroten Locken wehten in der frischen Brise und die himmel­blauen Augen schienen sich sehnsuchtsvoll nach Westen zu träumen, weit, weit fort über die mächtigen Gestade des Atlantik hinweg und hin in eine neue, eine andere, eine bessere Welt.

Doch Flora O'Donell war keine Träumerin. Das schöne irische Kind hatte eben seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag erlebt und stand mit beiden wohlgeformten Beinen mitten im Leben. Was blieb der bezau­bernden Flora auch anderes übrig? Arm geboren, arm gestorben hieß es in dem kargen Landstrich, in dem sie einst zur Welt gekommen war. Tochter von Kachel und Tom O'Donell, beide freundliche und fleißige Menschen, doch ohne es jemals zu etwas zu bringen. Sie hatten sich auf einem Tanzfest im nahen Städtchen Tralee verliebt; der fesche Junge und das feenhafte schöne Geschöpf mit dem weithin leuchten-den brandroten Haar. Ihre Liebe hatte reiche Frucht getragen. Neun Kindern hatte Kachel das Leben geschenkt, hatte in der winzigen Kate gewirtschaftet, die Tom durch seiner Hände Arbeit hatte pachten kön­nen. Schlechtes Land, viele Steine, Kartoffeln, die durch den reichlich vom Atlantik kommenden Regen in der Erde verfaulten. Kachel hatte sich nie beschwert, Flora erinnerte sich an die Mutter stets mit einem Lächeln. Schön war sie gewesen, auch dann noch, als Armut und nicht enden wollende Schwangerschaften ihren schmalen Leib zerquält und geschunden hatten. Tom hatte gelitten unter all dem, ein fleißiger Mann, aber still und sensibel. Nie hatte er seiner Kachel eine wirkliche Freude machen, ihr auch nur ein wenig ihrer Last abnehmen können. Schließlich hatte er sie verloren, mit nicht einmal vierzig Jahren war sie im Kindbett gestorben. Flora dachte oft an jenen trüben Herbsttag. Es hatte geregnet, gegossen in Strömen. Der Vater wollte Kartoffeln ern­ten, zwei von Floras älteren Brüdern hatte er mitgenommen auf das kleine schlammige Stück Erde, das sie großspurig ihr Feld nannten.

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Kachel konnte nicht aufstehen, starke Schmerzen hatten sie bereits die ganze Nacht gequält. Flora dachte daran, wie sie die Hafergrütze ge­rührt hatte, eine Aufgabe, einer Zwölfjährigen eben angemessen, die sie stets mit einem gewissen Stolz erledigt hatte, wie die Hüterin der wichtigsten Mahlzeit am Tag. Plötzlich hatte die Mutter sie zu sich ge­rufen, nichts war mehr wichtig gewesen, die Hafergrütze brannte im Eisen des Topfes fest, bald erfüllte der beißende Geruch des verbrann­ten Essens den kleinen Raum, in dem sie einst zu elft gehaust hatten. Kinder waren gestorben, Flora hatte drei Geschwister verloren, eines noch vor dem ersten Lebensjahr. Doch es hatte sie kaum berührt, als der Vater die kleinen Körper ins Freie getragen und hinter der Hütte verscharrt hatte. An jenem Herbsttag aber, als Flora der Mutter die schweißnasse Hand gehalten hatte, hilflos, überfordert und mit dem ganzen Grauen eines Kindes, dessen kleine Welt vollends zu zer­brechen drohte, da hatte sie gespürt, dass von nun an alles anders werden würde. Mit dem Tod der Mutter war Flora allein gewesen, nie­mand hatte ihr diese Bürde abgenommen. Und sie war erwachsen ge­worden, an jenem verregneten Morgen im Herbst, ganz allein in der erbärmlichen Hütte mit angebrannter Hafergrütze und dem liebsten, sanftesten Menschen, den ihr kleines Herz kannte.

Tom O'Donell hatte den Tod seiner Frau nicht verwinden können. Immer öfter war er ins Wirtshaus gegangen, hatte das wenige Geld, das nach Abzug der Pacht für unendlich viele Kleinigkeiten bitter nötig gewesen wäre, versoffen. So verlor Flora eine Schwester, die an Lun­genentzündung starb, weil kein Geld da war, um einen Doktor zu ru­fen. Die Kinder gingen barfuss durch den gefrorenen Schlamm des Winters, es gab keinen Zucker, um der Hafergrütze zumindest die Illu­sion eines Wohlgeschmacks zu verleihen. Und es gab keine Hoffnung mehr in den Augen der fünf O'Donell-Kinder, als der Vater sich bald ganz aufgab, dem Leben nichts mehr zu geben hatte, nichts mehr zu entringen suchte. Flora ahnte, was ihn bewegte, ohne es zu wissen. Sie hielt die Familie zusammen, bis alle alt genug waren, um für sich selbst zu sorgen. Während sie jetzt die Bucht verließ und sich zu der kleinen Hütte aufmachte, die sie mittlerweile allein mit dem kranken Vater bewohnte, dachte sie an Paddy, Stuart, Lissy und Susan, ihre

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Geschwister. Patrick, der Älteste, war zu einem stattlichen Mann he­rangewachsen, groß und stark wie ein Baum, er arbeitete in Dublin, im Hafen. Sein Traum war es gewesen, als Seemann die sieben Meere zu erkunden, doch er wurde auf dem Wasser gleich seekrank. So schlepp­te er nun schwere Fässer mit Whisky, der nach Übersee ging, große Säcke mit Gewürzen aus den englischen Kronkolonien und betrachtete all das Frachtgut mit fernwehkrankem Herzen. Hätte er lesen können, wären die exotischen Namen in den Ladepapieren für ihn vielleicht eine weitere Verlockung ohne Hoffnung auf Erfüllung gewesen. Doch die O'Donell-Kinder hatten keine Schule besuchen können, sie hatten von klein auf arbeiten müssen. Flora war ein gewisses Sonderprivileg zuteil geworden, denn die selige Mutter hatte sie Lesen und Schreiben gelehrt, was sie selbst leidlich beherrschte. Wenn sie zusammen in der kleinen Hütte gewirtschaftet hatten, waren dem klugen Mädchen diese Dinge leicht gefallen, beinahe zugeflogen. Und Kachel hatte einmal scherzhaft angemerkt, dass Flora eigentlich viel zu klug sei für ein Mädchen...

Bei diesem Gedanken musste sie schmunzeln. Kachel hatte von all ihren Kindern viel gehalten, ihnen nur das Beste gewünscht. Aber auch ihr war ein ausgeprägter Sinn für die Realitäten des Lebens zu eigen gewesen. Sie hatte ihn an alle weitergegeben; an Paddy und Stuart, der als Pferdebursche im Haus eines englischen Gentlemans in der Nähe von Cork angestellt war, an Elisabeth und Susan, beide Stuben­mädchen in angesehenen Häusern. Und auch an Flora, die beim Vater geblieben war, als es ihm beständig schlechter ging, als der Alkohol seine Sinne immer mehr vernebelte und seinen Lebenswillen vollends brach. Das schöne junge Mädchen hatte die kleine Hütte erreicht, warf einen knappen Blick auf die dünne Rauchfahne, die aus dem aufge­mauerten Kamin in den klaren Frühlingshimmel stieg, auf den Holzko­ben neben dem Haus, in dem eine Sau suhlte, nahm den Geruch von Mist wahr, der hier überall in die Nase drängte. Der Boden war voller Schweinedung, getrocknet wurde er im offenen Feuer im Haus ver­braucht. Manchmal hatte Flora das Gefühl, selbst in einem Schweine­stall zu hausen. Und immer öfter überkam sie der fast unbezähmbare Wunsch, einfach fort zu gehen, die Tür hinter sich zu schließen und

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sich zu trennen von Armut und Hoffnungslosigkeit, von der Vergan­genheit und all den grauen feuchten Herbsttagen, aus denen das Le­ben in Ballybunion zu bestehen schien. Sie träumte dann von einem sauberen Haus, von einer sinnvollen Arbeit, die ihr Brot und ein einfa­ches, nicht geflicktes Kleid bescherte. Von Sonntagen, an denen man frei hatte und promenieren konnte. Doch all das, da war Flora sicher, würde es für sie nie geben. Sie schüttete die Holzkiepe, die sie auf dem Rücken trug und die bis oben hin mit Seetang gefüllt war, in den Trog für die Sau und diese machte sich sogleich begeistert schmatzend über die frische Leckerei her, die das Meer kostenlos bot.

Flora lehnte die Kiepe an die Wand neben der Tür und trat ein. Sie sah gleich, dass das Feuer herunter gebrannt war. Der Vater war nicht hier. Ihr schönes Gesicht verschloss sich, denn sie konnte sich vorstel­len, wo Tom O'Donell sich wieder herumtrieb. Eine ganze Weile hatte er das Bett hüten müssen, da war es ihm sehr schlecht gegangen und man hatte bereits das Schlimmste befürchten müssen. Seit der Früh­ling gekommen war, trieb es den hageren, ausgezehrten Bauern wie­der ins Freie. Flora gab dem Vater kein Geld in die Hand, sie konnte es nicht verantworten, dass er das Wenige, was sie besaßen, auch noch in Schnaps umsetzte. Doch er hatte vor kurzem die Bekanntschaft mit einem Nichtsnutz namens Flenn O'Rourke gemacht. Ein zwielichtiger Kerl, der behauptete, sein leiblicher Vater sei ein Herzog und habe ihn verstoßen. Flora war überzeugt, dass dieser Flenn im Leben noch kei­nen Tag reeller Arbeit hinter sich gebracht hatte. Er hauste in einem selbst zusammen gezimmerten Hüttchen am Strand und seine einzige Beschäftigung bestand darin, Schnaps zu brennen. Das Teufelszeug, was er aus Steckrüben und Kartoffelschalen und allerlei weiteren dubi­osen Ingredienzien herstellte, war kaum zu genießen. Doch Floras Va­ter schien es zu schmecken. Und wenn er auf allen Vieren hätte krie­chen müssen, den Weg zum Strand hätte er für einen Krug dieses Ra­chenputzers stets gefunden.

Flora seufzte leise, fachte das Feuer wieder an, setzte den Kessel mit der Grütze auf und fing dann an, ein wenig Ordnung zu schaffen. Sie war gerade damit beschäftigt, den Schweinekoben zu misten, als jemand vom Weg her rief: »Immer fleißig, Schwesterherz! Aber ich

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fürchte, du verschwendest deine Kräfte.« Eine rundliche fröhliche Per­son mit brandrotem Haar blieb vor Flora stehen und strahlte sie freundlich an.

»Susan, du? Das ist aber eine nette Überraschung!« Die Schwestern begrüßten sich herzlich, dann folgte die unver­

wüstliche Susan Flora ins Haus und packte sogleich den Korb aus, den sie mit sich führte.

»Heute ist mein freier Tag. Die Herrschaft ist zudem nach London gefahren, zum Einkaufen. Und Mrs. Huddelton, unsere Köchin, hatte ihre großzügigen fünf Minuten. Sieh nur, was sie mir alles eingepackt hat, für die armen Verwandten, wie sie immer sagt.« Susan bemerkte nicht, wie ein Schatten über die ebenmäßigen Züge der Schwester flog. Flora war arm, aber sie hatte Stolz. Und sie nahm die milden Ga­ben der vornehmen Engländer nicht gern, auch wenn sie diese drin­gend brauchen konnte.

Während Susan Wurst und Speck, eingelegtes Gemüse und allerlei Backwaren aus den Tiefen ihres Flechtkorbs hervorzauberte, bedankte Flora sich immer wieder halbherzig.

Schließlich warf das robuste Dienstmädchen seinem Gegenüber einen strengen Blick zu und verlangte, zu erfahren: »Wo ist überhaupt Dad? Als ich das letzte Mal hier war, musste er doch das Bett hüten. Und nun ist er bereits ausgeflogen? Ist denn das wirklich klug?«

»Mit Sicherheit nicht.« Flora füllte zwei einfache Becher mit Pfef­ferminztee. Sie zog die Pflanzen dafür hinter dem Haus in einem klei­nen Kräuterbeet. Dazu gab sie einen winzigen Löffel Bienenhonig, den ihr ein Verehrer geschenkt hatte. Susan schloss genießerisch die Au­gen. »Du bist eine wahre Zauberin, Flora. Alles, was du in die Hand nimmst, gelingt. Meinst du, ich hätte schon mal so einen guten Tee im Haus von Lord Rutherford getrunken? Na ja, im Dienstbotentrakt des Hauses von Lord Rutherford meine ich natürlich.« Sie lachte. »Aber nun sag, was ist los mit Dad? Es wird doch nicht schlimmer geworden sein?«

»Ach, er ist schrecklich dickköpfig und unvernünftig«, beschwerte Flora sich müde. »Ich kann tun und sagen, was ich will, es ändert nichts an seinem Verhalten. Er hat da einen neuen Freund, einen Her­

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umtreiber und Nichtsnutz, der heimlich Schnaps brennt. Zu dem schleicht er andauernd hin... Ich kann's nicht verhindern, selbst wenn ich wollte.«

Susan tätschelte der Schwester die Hand. »Armes Ding. Ich sag's nicht gern, denn du weißt, ich halte viel auf die Familie. Jeden könn­test du mir schicken, selbst den alten Paddy. Wenn einer in Not ist, helfe ich. Aber was Dad angeht... Flora, du solltest fortgehen von hier. Was hat es noch für einen Sinn, wenn du bleibst, deine Jahre hier ver­schwendest?« Sie bedachte ihr Gegenüber mit einem Blick, in dem unterschwellig der Neid blitzte. Obwohl sie Flora von Herzen lieb hatte, waren deren Schönheit und Anmut, ihre Intelligenz gepaart mit ihrem praktischen Wesen für Susan doch ein steter Quell der Missgunst ge­wesen. »Du hast es nicht nötig, hier zu versauern. Geh nach Dublin. Ich bin sicher, du wirst eine gute Partie machen, schön wie du bist. Lesen kannst du, dich ausdrücken und benehmen.«

»Ich bitte dich, Susan!« Flora war ein wenig errötet bei soviel Lob. Ihre bescheidene Art konnte nichts damit anfangen. »Ich muss doch bei Dad bleiben. Was soll werden aus ihm ohne mich? Er wird das Land verlieren, vom Hof fliegen. Daggert wartet doch nur auf eine solche Gelegenheit, um ihn los zu werden und neue Leute auf das Land zu setzen.«

Howard Daggert war der Verwalter der großen Ländereien, die der englische Lord Ponsenby von der Krone erhalten hatte. Seit dem Frie­densschluss von 1801 und der Vereinigung von Irland und England zum Vereinigten Königreich Großbritannien hatten die britischen Adli­gen die Ländereien der irischen Insel unter sich aufgeteilt. Zwar durf­ten die Iren Abgeordnete ins Parlament nach London schicken, doch nur Protestanten waren zugelassen. Da ein Großteil des irischen Adels aber katholisch war, gab es hier große Interessenkonflikte und Span­nungen.

Seit Flora denken konnte, war es so, dass der reiche Engländer ihnen den Boden gab, sein Verwalter die Pacht kassierte und das, was dann übrig blieb, zum Leben zu wenig und nicht mal zum Sterben zu­viel war...

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Susan ließ sich von den Worten der Schwester allerdings nicht be­eindrucken. Sie war ein pragmatischer Mensch, hatte sich früh in ihr Schicksal gefügt. Und sie besaß einfach nicht die Intelligenz und die Feinfühligkeit, die Flora dazu bewegten, mit dem vorgegebenen Schicksal zu hadern und zu versuchen, etwas zu ändern, besser zu machen. »Na und?«, meinte sie nun gleichmütig. »Wozu soll Dad noch hier leben? Er bearbeitet das Feld schon lange nicht mehr. Und wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass es für dich allein viel zu schwere Arbeit ist.« Susan schaute der Schwester in die Augen. »Flo­ra, geh weg von hier, bevor es zu spät ist. Willst du so enden wie Ma?«

Es zuckte fast unmerklich um Floras schön geschwungenen Mund, ein trotziger Ausdruck erschien in ihren Augen, als sie erwiderte: »Ma hatte ein schweres Leben, das kann niemand bestreiten. Doch sie hat für uns gelebt, hat alles getan, um die Familie zusammen zu halten. Und das will ich auch.«

»Aber da ist doch gar keine Familie mehr.« Das Dienstmädchen hob die runden Schultern. »Du warst schon immer anders als wir, et­was Besseres, könnte man sagen. Du hast keinen von den Burschen angesehen, die dir hier ständig den Hof machten. Du bist klug und hast einen festen Willen. Ich glaube, du könntest es wirklich zu etwas bringen. Aber nicht hier. Verschwende deine Kräfte nicht an Dad. Siehst du nicht ein, dass er sich gar nicht helfen lassen will? Er ist fer­tig mit dem Leben. Weißt du, was er zu mir gesagt hat, bei meinem letzten Besuch? ›Könnte ich nur bei eurer Mutter sein, es wäre mein ganzes Glück.‹ Ist das nicht deutlich?«

Floras Miene verschloss sich und wurde nun vollkommen abwei­send. »Ich danke dir für die Sachen«, stellte sie kühl klar. »Und ich wünschte, ich könnte dir deine Großzügigkeit vergelten, Susan. Aber du wirst mich nicht umstimmen. Ich weiß, dass Dad mich braucht. Mein Platz ist hier.«

Susan zog eine Grimasse, die irgendwo zwischen Mitleid und Ver­wunderung lag und meinte nur: »Wie du denkst. Es ist schließlich dei­ne Entscheidung, dein Leben...«

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Nachdem die Schwester gegangen war, dachte Flora noch lange über deren Worte nach. Tief im Herzen ahnte sie, dass Susan Recht hatte. Sie war ein einfacher Mensch, doch sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und wusste meist, was richtig und falsch war im Leben. Im Grunde band Flora nichts auf diesem unfruchtbaren Stückchen Land, umgeben von alten Mauern und Schweinemist. Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, einfach fort zu gehen, ein neues Leben zu be­ginnen, erst vor wenigen Stunden hatte sie selbst darüber nachge­dacht. Doch sie konnte es einfach nicht. Selbst wenn sie wusste, dass es falsch war...

Der Tag neigte sich bereits dem Abend zu, feiner Regen hatte ein­gesetzt und schwemmte den nassen Boden noch weiter ein. Flora hat­te das Feld gehackt und Unkraut beseitigt. Als sie zur Hütte zurück­kehrte, müde und einsam, war ihr Vater noch immer nicht da. Wut überkam sie, am liebsten hätte sie die Kartoffelhacke von sich ge­schleudert und wäre davongelaufen. Doch sie tat es nicht, einmal mehr siegte der Verstand über das Temperament.

Sich näherndes Hufgetrappel ließ Flora aufblicken. Ihre himmel­blauen Augen verdunkelten sich, als sie erkannte, wer da kam. Kein anderer als Howard Daggert. Der Verwalter von Lord Ponsenby liebte den großen Auftritt. Er ritt einen makellosen Rappen mit silbernem Sattelzeug. Selbst kleidete er sich auch stets in Schwarz, wobei das kurze Wams und die Reithosen noch silberne Biesen besaßen. Flora dachte spöttisch, dass er aussah wie ein Soldat eines Phantasiere­giments. Doch sie behielt diesen Gedanken lieber für sich, wusste sie doch, dass Daggert nicht nur hinterhältig und brutal, sondern auch überaus eitel war. Ein unvorsichtiger Stallbursche, der einmal über eine übertriebene Halskrause des Verwalters gelacht hatte, konnte heute noch die Narben vorzeigen, die dessen Reitpeitsche auf seinem Rücken hinterlassen hatte. Es war besser, Daggert nicht zu reizen.

»Gott zum Gruße, schönes Kind«, sagte er jovial und lächelte ihr zu, doch dieses Lächeln erreichte nicht seine kalten hellen Augen. »Sag, ist dein Vater daheim?«

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»Sie wissen doch ganz genau, dass mein Vater krank ist, Sir«, entgegnete Flora gezwungen ruhig. »Wenn Sie etwas von ihm wollen, müssen Sie mit mir sprechen.«

»Nun, die Sache ist einfach.« Daggert grinste wölfisch. »Eure Pacht ist bereits seit einer Woche überfällig. Also, sag mir, wie es steht; kann der Lord die Zahlung in Tagesfrist erwarten? Oder werdet ihr das Land endlich verlassen, für andere Platz machen, die fleißig sind und etwas erwirtschaften? Nun?«

Flora musste sich sehr beherrschen, um nicht ausfallend zu wer­den. Daggert wusste so gut wie sie, dass die kleinen Parzellen in die­sem Landstrich nichts hergaben, dass die Kartoffeln in schöner Re­gelmäßigkeit verfaulten, andere Hackfrüchte gar nicht erst gediehen. Es war reiner Hohn, reine Gehässigkeit, die aus seinen Worten sprach. Aber eben deshalb war es überflüssig, ihm mit gleicher Münze heim­zahlen zu wollen.

»Sie wissen, ich bewirtschafte das Land im Augenblick allein«, er­klärte sie daher so ruhig wie irgend möglich. »Es dauert alles ein we­nig länger. Deshalb muss ich den Lord noch um einen kleinen Auf­schub bitten. Nur für kurze Zeit...«

Daggert lachte abfällig. »Das erzählst du mir nun schon zum drit­ten Mal. Tut mir leid, meine Kleine, aber diese Geschichte zieht bei mir nicht mehr. Also - entweder du zahlst, oder ich werde dich und deinen versoffenen Vater verjagen wie räudige Hunde. War das deutlich ge­nug?«

In Floras himmelblauen Augen blitzte der heilige Zorn. Doch sie sah, dass ihr Gegenüber sehr zufrieden wirkte und da wurde ihr klar, dass er nur darauf aus war, sie zu einer unvorsichtigen Äußerung zu reizen um sie gleich, hier und jetzt, davonjagen zu können. Gefasst entgegnete sie: »Ich werde zahlen, in Tagesfrist, wie Sie fordern. Es gibt keinen Grund, uns zu verjagen.«

Der Verwalter von Lord Ponsenby wirkte enttäuscht. Seine tücki­schen Augen betrachteten das schöne Mädchen auf eine Weise, die Flora unangenehm war. Wer mochte erraten, welch abseitige Gedan­ken sich hinter dieser intriganten Stirn bewegten?

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»Schön, wir sehen uns bald wieder«, schloss er endlich, zog kurz am Zügel und ließ seinen Rappen davon sprengen.

Flora spürte erst jetzt, dass ihre Knie zitterten. Die Begegnung mit dem hinterhältigen Kerl war für sie jedes Mal wieder ein schreckliches Erlebnis. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht zu strau­cheln. Als sie gerade die Hütte betreten wollte, hörte sie hinter sich eine Stimme murmeln: »Es tut mir leid, mein Kind, dass du mei­netwegen soviel durchzumachen hast.«

Ohne sich umzudrehen fragte sie: »Dad, wo bist du den ganzen Tag gewesen? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

Tom O'Donell betrat hinter seiner Tochter das kleine Steinhaus und ließ sich am Herdfeuer nieder. Sein von Wind und Wetter gegerb­tes Gesicht drückte deutlich Reue aus. Die himmelblauen Augen mu­sterten Flora, die das Abendessen zubereitete.

»Du wirst deiner Mutter mit jedem Tag, der vergeht, ein wenig ähnlicher. Ich bin stolz auf dich, Flora. Du solltest fortgehen und mich meinem Schicksal überlassen. Ich erwarte mir nichts mehr vom Leben. Nur noch den Tod. Und der wird mich hoffentlich bald besuchen.«

Flora bedachte den Vater mit einem ärgerlichen Blick. »Rede nicht so, das will ich nicht hören! Und nun iss, wir haben morgen einen lan­gen Tag vor uns. Das Feld muss bestellt werden.«

Tom sagte nichts, er rührte auch das Essen kaum an. Sein trauri­ger Blick, seine gebeugte Gestalt, all das sagte Flora, es gab hier wirk­lich keine Zukunft mehr für sie. Doch es fiel ihr einfach zu schwer, zu gehen. Nicht nur ihr Gewissen verbot es ihr, auch ihr Herz stand dage­gen...

*

Die Lords of Limerick lebten seit dem achten Jahrhundert auf der iri­schen Insel, ihr Stammsitz - ein prächtiges Schloss auf einem weithin sichtbaren Hügel - stand seit nunmehr vierhundert Jahren dort. Der erste Limerick, der von König Richard III aus dem Hause York die A­delswürde empfangen hatte, war der Bauherr gewesen, doch erst un­ter seinem Sohn waren Schloss und Außenanlagen fertig gestellt wor­

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den. Im Jahr 1830 hatte der Stammsitz derer von Limerick eben jene Patina entwickelt, die Ehrwürdigkeit und Vornehmheit ausstrahlte. Mächtige Blutbuchen säumten den kiesbestreuten Weg, der in einem eleganten Bogen zum Hauptportal führte. Jetzt, im Frühling, waren die weiten Wiesenflächen unter den Baumriesen mit Hasenglöckchen und kleinen wilden Narzissen bestickt. Meisen und Amseln zwitscherten im lichten Frühlingskleid von Linde, Buche und Eichbaum.

Eine Kutsche näherte sich am frühen Abend dem Schloss. Auf dem Bock saß ein livrierter Diener, zwei seiner Kollegen erwarteten den Schlossherren bereits im Schein von Sturmlaternen. Lord Humphrey, der fünfte Lord of Limerick, entstieg der Kutsche mit raschem festem Schritt und strebte auf das Portal zu. Der Lord war ein hoch gewach­sener, schlanker Mann Ende der Fünfzig. Die grauen Schläfen und der gepflegte Schnauz gaben ihm ein distinguiertes Aussehen, das zu sei­nem weltläufigen, vornehmen Auftreten passte. Nun allerdings war seine Miene verdüstert, die ernsten grauen Augen blickten unwillig vor sich hin. Er übergab Hut und Stock einem Diener und betrat wenig später den blauen Salon, wo seine Frau sich um diese Zeit normaler­weise aufzuhalten pflegte. Lady Sybill blickte von einer kleinen Hand­arbeit auf, als ihr Mann erschien. Ein feines Lächeln zeigte sich auf ihren klaren, ebenmäßigen Zügen. Sie war eine grazile Person mit hel­len Augen und blondem Haar. Die schmalen Hände, die nun im Schoß ruhten, wirkten wie edles Biskuitporzellan. Es dauerte nur einen Au­genblick, bis sie erkannte, dass Humphrey schlechter Laune war. Der Kuss, den er auf ihre Schläfe hauchte, fiel sehr halbherzig aus. Lady Sybill ahnte, was ihren Mann bewegte.

»Wie war die Parlamentssitzung in London? Konntet ihr etwas in eurem Sinne bewegen?«, fragte sie anteilnehmend. Lord Humphrey gehörte zu den wenigen irischen Adligen, die im Parlament of West­minster eine Stimme und Einfluss besaßen. Doch er war selten zufrie­den mit dem, was er erreichte. So auch an diesem Abend.

»Wo ist Cedric?«, antwortete er seiner Frau mit einer Gegenfrage. »Ich verspüre wenig Lust, die unerfreulichen Ereignisse dieses Tages zweimal zu berichten.«

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Lady Sybill konnte es ihm nicht sagen. »Er ist vor längerer Zeit ausgeritten. Eigentlich hätte er längst zurück sein sollen. Doch du kennst das Ungestüm der Jugend. Sieh es ihm bitte nach, wenn er einmal die Zeit vergisst.«

Lord Humphrey hob angedeutet die Schultern, nahm den Whisky, den der Butler ihm auf einem silbernen Tablett reichte und berichtete: »Es bewegt sich rein gar nichts in unserem Sinne. Der König hält seine Hand schützend über die Landräuber, die sich hier seit fast dreißig Jahren breit machen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir alle gegen Windmühlenflügel kämpfen.«

»Aber du hast doch Einfluss, deine Stimme hat Gewicht. Auch bei Hofe«, wandte seine Frau begütigend ein. »Warum sprichst du nicht einmal persönlich mit dem König, schilderst ihm die Probleme, die aus den Schenkungen entstehen?«

Lord Humphrey lächelte schmal. »Das hätte wenig Sinn. Der König würde gewiss Verständnis aufbringen. Doch er kann das Parlament nicht einfach übergehen. Und die englischen Lords werden den Teufel tun, sich freiwillig von dem zu trennen, was man ihnen so großzügig zugedacht hat.«

In diesem Moment wurde die Tür zum Salon aufgestoßen und Cedric erschien. Der junge Mann brachte einen Schwall frischer Luft mit sich, an seinen Reitstiefeln klebte noch der Moorboden und verteil­te sich nun wenig malerisch auf Lady Sybills Perserteppichen. Die Hausherrin bedachte ihren Sohn mit einem nachsichtigen Blick. Sie konnte Cedric einfach nicht böse sein, auch wenn er sich manchmal eine Spur zu rustikal gab, zumindest für den Geschmack der gebore­nen Bournmouth, die in direkter Linie mit dem ehemaligen Königshaus Lancaster verwandt war.

»Guten Abend allerseits. Es tut mir leid, ich bin spät«, stellte Ce­dric fest. »Soll ich mich noch rasch umkleiden?«

»Es wäre angemessen, aber jetzt nicht unbedingt nötig. Dein Va­ter legt größeren Wert auf deine Anwesenheit, Cedric, als auf die Ma­kellosigkeit deiner Erscheinung«, ließ seine Mutter ihn wissen, worauf­hin er sich mit einem angedeuteten Lächeln in einem der verspielten Barocksessel niederließ, die vor dem prasselnden Kamin ihren Platz

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gefunden hatten. Die Frühlingsabende im County Munster waren meist empfindlich kühl.

Der junge Cedric war in der Tat eine blendende Erscheinung. Der einzige Sohn von Lord Humphrey und Lady Sybill sah seinem Vater ähnlich. Doch seine Züge waren markanter, die Augen von einem kla­ren Grau, das manchmal fast schwarz wurde, wenn Cedric sich ärger­te. Sein Haar war dunkel, seine ganze Gestalt spiegelte die lange, vor­nehme Ahnenreihe wider, auf die er zurückblicken konnte. Doch Cedric war kein Snob. Er bildete sich auf seine Herkunft nichts ein, war freundlich zu allen Menschen in seiner Umgebung und gab, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, wenig auf Standesunterschiede. Die Ange­stellten auf Limerick-Castle hatten ihn allesamt ins Herz geschlossen und wären für ihn durchs Feuer gegangen.

Lord Humphrey berichtete seinem Sohn nun in allen Einzelheiten, was der Tag in London für ihn gebracht hatte. Wie sein Vater war auch Cedric der Meinung, dass die Politik der Engländer eine Farce sei, die Entsendung irischer Abgeordneter ins Parlament nur eine Täuschung, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Ehe die beiden Männer sich aber zu sehr ereifern konnten, bat Lady Sybill zu Tisch. Und es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man im Speisezimmer nicht von Politik sprach. Einmal mehr kam dieses Tabu der Hausherrin zupass, denn sie hatte ein anderes Thema im Sinn, das ihr weitaus wichtiger erschien.

»Am Wochenende geben die Cliffords einen Ball. Ich hoffe sehr, du wirst ihre Einladung annehmen und hingehen«, sagte sie bei der Vorsuppe zu ihrem Sohn. »Ihre Tochter Myriel...«

Cedric verzog leicht das Gesicht. »Mutter, ich bitte dich!« Doch Lady Sybill verstand nicht, was daran falsch sein sollte, sich

nach der richtigen Partie für ihren einzigen Sohn umzuschauen. Cedric war im letzten November 26 Jahre alt geworden; das richtige Alter, um zu heiraten, eine Familie zu gründen.

»Myriel Clifford stammt aus einer der angesehensten Familien des Landes. Sie ist zudem ein hübsches Mädchen, klug und wohl erzogen«, beharrte die Lady. »Ich sehe keinen Grund, weshalb du sie ablehnen solltest.«

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»Lass Cedric Zeit, er wird sich schon die Richtige suchen«, ver­suchte ihr Mann, das Gespräch zu entschärfen. Darauf wollte Sybill sich aber unter keinen Umständen einlassen. Ein kleines spöttisches Lächeln spielte um ihre schön geschwungenen Lippen, als sie erwi­derte: »O ja, sicher. Ein Bauernmädchen mit nackten Füßen viel­leicht...« Zu ihrer Genugtuung bemerkte sie, wie ihr Sohn errötete. Sie hatte also den Finger in die Wunde gelegt.

Lady Sybill vermutete bereits seit einer Weile, dass ihr Einziger ei­nen unheilvollen Drang nach unten entwickelte bei der Wahl seiner Gefährtinnen. Bis zu einem gewissen Punkt hatte sie geschwiegen. Schließlich wusste die erfahrene Frau, dass ein junger gesunder Bur­sche sich auch mal austoben musste. Doch wenn Cedric nun anfing, an allen Töchtern des Landes etwas auszusetzen und womöglich daran dachte, ein Bettelmädchen in die altehrwürdigen Hallen von Limerick-Castle heimzuführen, dann war ein Punkt erreicht, an dem Lady Sybills Toleranz endgültig ihre Grenze fand.

»Sybill, nun übertreibe bitte nicht«, meldete sich Lord Humphrey, bereits recht verstimmt, wieder zu Wort. »Dieser Tag war in der Tat alles andere als erfreulich. Ein Familienstreit könnte dem noch die Kro­ne aufsetzen; allerdings im negativen Sinn.«

»Es geht hier um wichtige Entscheidungen, Lieber«, stellte seine Frau klar. »Oder ist dir die Zukunft unserer Familie vielleicht einerlei? Das wäre mir allerdings neu.«

»Selbstverständlich nicht«, beteuerte Lord Humphrey leicht ge­quält. »Allerdings halte ich nichts davon, Cedric irgendwelche Partien zuzuführen. Das erinnert mich unangenehm an meine eigene Jugend. Unter Zwang kann keine Liebe, nicht einmal Zuneigung entstehen. Und ich halte nun einmal das Gefühl für das beste Fundament, auf dem eine Gemeinschaft errichtet werden kann.«

»Lieber, du bist hier nicht im Parlament, also debattiere bitte auch nicht«, bat Lady Sybill ihn ironisch. »Ich muss wohl nicht betonen, dass ich nur das Beste für unseren Sohn will. Und was die Liebe an­geht; nun, ich denke, in dieser Beziehung hast du keinen Grund zum Klagen.«

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Trotz alledem musste Lord Humphrey schmunzeln. Er dachte an das schöne widerspenstige Mädchen, das ihn unter gar keinen Um­ständen hatte heiraten wollen. Langweilig hatte Sybill ihn genannt, denn in jungen Jahren war sie eine Rebellin gewesen. Doch irgendwie hatte sich alles dann schließlich zum Guten gefügt. Und der Lord of Limerick hatte die Hoffnung, dass es bei seinem Sohn ebenso sein würde.

Cedric, der die Unterhaltung der Eltern mit wachsendem Unmut verfolgt hatte, stellte nun fest: »Ich bin mittlerweile durchaus willens und in der Lage, mir selbst eine Braut auszusuchen. Und ihr könnt euch darauf verlassen, ganz egal, wen ich wähle, sie wird die Richtige sein. Für mich und für dieses Schloss.« Seine Augen blickten mit fins­terer Entschlossenheit in die der Mutter, doch Lady Sybill ließ sich nicht so leicht beeindrucken.

»Ich möchte, dass du am Wochenende zu den Cliffords fährst.« Sie lächelte leicht und unvergleichlich nonchalant. »Damit beweist du deinen guten Willen und zeigst uns, dass deine Worte nicht bloße Lip­penbekenntnisse sind.«

Cedric wäre am liebsten aufgesprungen und hätte den Raum ver­lassen. Oder aber er hätte seiner Mutter ins Gesicht gesagt, wem sein Herz gehörte und dass es niemals eine andere für ihn geben konnte. Doch sie hatte ihn gebeten, zu schweigen und die Angst in ihren schö­nen himmelblauen Augen bewog ihn, dieser Bitte nachzukommen. Auch wenn er sich wie ein Verräter ihrer Liebe, wie ein Feigling fühlte. Sein Stolz, seine Leidenschaft wollten für das einstehen, was sein gan­zes Glück war.

Lord Humphrey hatte mittlerweile endgültig genug von der Zänke­rei. Er bat seinen Sohn, einzuwilligen, damit man sich noch auf einen Plausch und eine Zigarre ins Herrenzimmer zurückziehen konnte. Ced­ric senkte den Blick und nickte stumm. Und dabei fühlte er sich so schlecht wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Fast schien es ihm, als blickten ihn zwei himmelblaue Augen tieftraurig an und eine leise melodiöse Stimme fragte: »Wohin gehst du, Cedric? Und warum nimmst du mich nicht mit...«

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Sehr zeitig am nächsten Morgen verließ ein Reiter Limerick-Castle. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch im Westen flimmerte bereits ein erster Schein von lichtem Purpur. Eine Nachtigall schlug im Schle­henbusch, sonst war es still. Nur der regelmäßige Hufschlag durch­brach die Ruhe der schwindenden Nacht. Cedric hatte keinen Schlaf finden können in diesen Stunden der Dunkelheit. Matt und zerschlagen hatte er sich gefühlt, doch der fordernde Schlag seines Herzens ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er spürte, dass er zu Flora musste, dem Mädchen, das er so sehr liebte, ohne das er nicht mehr sein konnte. Er musste ihr erklären, was sie sowieso verstehen würde, was sie schon verziehen hatte, noch ehe er sie darum bat. Er kannte ihr gütiges Herz, ihre Wärme, ihr Verstehen. Und er fühlte sich stets wie ein Schuft, wenn er ging, sie zurückließ in Elend und Armut und ihr doch nur die Hand hätte reichen müssen, um ihr ein wenig der Glückselig­keit zu vergelten, die ihre Liebe ihm schenkte.

Doch Flora war stolz, ihr Herz ließ sich nicht zwingen. Sie erwi­derte seine Liebe, aber sie kannte auch den Platz, den das Leben ihr zugewiesen hatte. Und sie wusste vielleicht besser als er, um die Un­möglichkeit ihrer Wünsche und Träume.

Cedric hatte Limerick-Castle hinter sich gelassen und hielt sich auf einem schmalen Weg Richtung Küste. Er ritt zu ihrem heimlichen Treffpunkt, zu ihrem Refugium, dem Platz, an dem es keinen zukünfti­gen Lord of Limerick und kein armes Bauernmädchen gab, sondern nur zwei Liebende, die einander alles sein wollten.

Es war eine alte Abtei, nahe dem Meer, halb zerfallen und vor lan­ger Zeit von den frommen Männern, die hier gelebt hatten, aufge­geben. Durch Zufall waren sie einander dort zum ersten Mal begegnet. Cedric zu Pferde, auf dem Weg nach Hause, Flora mit der Kiepe auf dem Rücken, beim Sammeln von Seetang. Sie war ihm erschienen wie eine Elfe, eine zarte Meerjungfrau, schaumgeboren und doch mehr ein Traum, ein hauchfeines Nichts, das bei der zartesten Berührung in flüchtigen Äther aufstieg als ein Mädchen aus Fleisch und Blut. Der junge Mann hatte sich auf den ersten Blick in das schöne Kind verliebt.

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Und doch hatte es lange gedauert, bis Flora Zutrauen gefasst hatte; zu ihm und zu ihren eigenen zärtlichen Gefühlen.

Seither waren Monate vergangen, Stunden, Tage und Wochen vol­ler Zweifel, tief empfundener Sehnsucht, Skrupel und dem alles über­ragenden Gefühl der innigsten Liebe. Cedric wollte Flora nie wieder verlieren, sie sollte zu ihm gehören, sein Leben teilen. Im ersten Über­schwang der Gefühle hatte er seinen Vater um die Heiratserlaubnis bitten wollen, blind vor Glück und in der beinahe naiven Hoffnung, dass niemand sich einem solchen Gefühl in der Weg stellen konnte, durfte, ohne sich schwer zu versündigen. Flora war es gewesen, die Cedric auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Sie bat ihn inständig, zu schweigen. Er hatte noch ihre bitteren Worte im Ohr, ihr Blick, vor­wurfsvoll und unglücklich, weil er sie gezwungen hatte, so deutlich zu werden: »Sollen die Nachkommen der Limericks O'Donellblut in sich haben, das Blut von vielen Generationen landloser Bauern, Bettler, Dienstboten und Säufern?«

Es hatte ihn mehr geschmerzt als sie, dass sie so sprach. Doch ihm war klar, sie wusste, dass dies nicht seine Gedanken, nie seine Meinung sein würden. Es war das, was seine Eltern sagen und alle Adligen der Insel denken würden. Sie wollte ihn nicht isolieren, un­möglich machen, seinem Haus keinen Schaden zufügen. Und er muss­te einsehen, dass er sie nicht unglücklich machen durfte. Das schöne, das stolze Mädchen, dessen kupferrote Locken den Wind spüren muss­ten, dessen himmelblaue Augen unter den kalten Blicken der bigotten Ladys nicht trübe und unglücklich werden durften. Denn das hätte er sich niemals verziehen.

Und doch musste es einen Weg geben, eine Möglichkeit, diese be­sondere Liebe zu bewahren, für ein langes gemeinsames Leben.

Cedric hätte alles dafür gegeben, diesen Weg zu finden. Mit Freu­den hätte er ihn betreten, noch an diesem Tag, zu dieser Stunde, an der Hand von Flora. Doch es waren Wunschträume, ein frommer Selbstbetrug vielleicht. Und die Zukunft sah düster aus.

Der junge Adlige hatte sein Ziel erreicht und saß ab. Sein Pferd schnaubte leise, er ließ ihm die Zügel und es fing an, das dürre See­gras zu raufen. Mittlerweile lag ein goldenes Lichtband im Westen über

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dem Horizont, das funkelnde Taler auf die See streute. Cedric blickte zu den altehrwürdigen Ruinen der ehemaligen Abtei und bemerkte einen großen Raben, der auf der Spitze eines Bogengesimses seinen Platz gefunden hatte. Der düstere Vogel erschien dem jungen Mann wie ein schlechtes Omen. Er dachte schon daran, ihn mittels eines gezielten Steinwurfs zu vertreiben, als er die schmale Gestalt wahr­nahm, die sich ihm aus Richtung des Bauerndorfes näherte. Nicht mehr als eine verschwommene Silhouette im Gegenlicht des kommen­den Tages und doch hätte Cedric Flora immer und überall wieder er­kannt. Er lief mit raschen Schritten auf sie zu, traf sie am Ende des Wegs, dort wo der schlammige Boden in Sand überging. Sie war wie immer barfuss, trug ein gestricktes dunkles Tuch über ihrem ärmlichen Kleid, das Schultern und Kopf bedeckte und ihre rote Lockenpracht doch nicht ganz verbergen konnte. Ihre Augen waren traurig, doch als ihr Blick den seinen traf, trat ein heller Glanz hinein, der Cedrics Herz berührte.

Er schloss das geliebte Mädchen ohne Worte in die Arme, hielt es ganz fest am Schlag seines Herzens. Und Flora empfand zum ersten Mal seit ihrem letzten Treffen wieder die Wärme, die seine Umarmung ihr gab, das wundersame Gefühl der Geborgenheit, des vollkommenen Glücks. Wenn Cedric nur bei ihr war, dann erschien ihr das Leben ganz leicht, dann waren alle Sorgen, aller Kummer nur kleine dunkle Wol­ken, weit hinten am Horizont eines unendlichen klaren und strahlen­den Himmels.

Eine ganze Weile standen sie so da, hielten sich nur fest, als müssten sie sonst ertrinken, eines ohne das andere. Dann legte Cedric einen Arm um Floras schmale Schultern und gemeinsam gingen sie zu den Ruinen der alten Abtei, die ihnen einen gewissen Schutz vor neu­gierigen Blicken boten.

»Flora, mein Herz, wie geht es dir?«, fragte der junge Mann und schaute das Mädchen dabei aufmerksam an. »Eben, als du gekommen bist, da waren deine Augen so traurig...«

Sie lächelte ein wenig verloren und versicherte: »Wenn du bei mir bist, Cedric, dann bin ich froh.«

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»Ja, aber eben... Bitte, sag mir doch, was dich bedrückt. Ich möchte dir so gerne helfen, wenn ich kann.« Er schob eine Hand sanft unter ihr Kinn, schaute ihr tief in die Augen und küsste sie dann un­endlich zart, unendlich innig. »Ich liebe dich doch.«

Ja, ich weiß, dachte sie. Und ich liebe dich. Mehr als mein Leben, so sehr, dass ich den Verstand darüber verlieren könnte. Aber das wä­re nicht gut, denn im Augenblick muss ich für uns beide denken. Du folgst ja nur deinem Herzen...

»Ich mache mir Sorgen um meinen Vater«, erzählte sie schließlich zögernd. Von Daggert und den drückenden Forderungen, die er immer heftiger stellte, sprach sie nicht. Flora war viel zu stolz, um von je­mandem Hilfe anzunehmen. Am allerwenigsten von Cedric. »Er trink zu viel. Ich kann tun und sagen, was ich will. Es nützt nichts.«

»Aber du gibst ihm doch kein Geld, oder?« »Nein, natürlich nicht.« Sie lachte traurig auf. »Doch was nützt

das schon? Er findet immer eine Möglichkeit, sich einen Rausch anzu­saufen. Ich fürchte, er will nicht mehr leben.«

»Flora, mein armes Herz. Ich begreife deinen Vater nicht. Er müsste doch für dich sorgen, dabei ist es genau umgekehrt. Und nun will er dich völlig im Stich lassen? Was ist er nur für ein Mensch?«

Sie seufzte leise, ein milder Ausdruck trat in ihre schönen Augen und Cedric dachte, dass ihr gutes Herz tatsächlich alles ertragen, alles verzeihen konnte. Er wünschte fast, es wäre nicht so, sie würde auch nur einmal an sich selbst denken, nur an sich. Doch das war nicht Flo­ras Art. »Dad ist ein gebrochener Mann. Nachdem meine Mutter ge­storben war, fühlte er sich ganz verloren. Sie haben sich sehr geliebt, aber er litt darunter, ihr nie etwas Gutes tun zu können, sie mit sich ins Elend gebracht zu haben. Sie starb jung und er glaubte, auch dar­an die Schuld zu tragen. All das ist einfach zuviel für ihn gewesen.« Sie schaute ihr Gegenüber ernst und auch traurig an. »Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, irgendwie. Doch ich fürchte, es geht nicht. Er will nicht mehr leben. Und man kann niemanden zwingen, sein Dasein anzunehmen.«

Cedric schwieg eine Weile. Plötzlich erschien ihm der Grund, der ihn hierher getrieben hatte, eitel und unwichtig. Was bedeutete schon

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eine Party, ein Abend oberflächliches Geplauder und die Versicherung, dass es im Hause Clifford kein Mädchen geben konnte, das ihr auch nur ähnelte, im Vergleich zu dem schweren Kummer, der Floras Herz erfüllte. Der junge Adlige wünschte sich, dem geliebten Mädchen et­was sagen zu können, was sie tröstete, was zumindest ihren Kummer linderte. Doch es gab nichts. Und er fühlte sich einmal mehr unzuläng­lich und feige.

»Wir wollen aber nicht die ganze Zeit von mir sprechen«, bat Flora nun und lächelte tapfer. »Wie geht es dir, Cedric? Hast du Neuigkeiten aus der großen Welt?«

Sie nannte die Kreise des weitläufigen Adels, die ihr so fern schie­nen wie der Mond in seinem Lauf, gerne die große Welt. Und wenn Cedric ihr etwas darüber erzählte, dann lauschte sie ihm wie ein Kind sich in ein Märchen vertieft und dabei von einer schöneren, einer bes­seren Welt träumt.

»Mama drängt mich, eine Party am Wochenende zu besuchen«, ließ er sie wissen. »Ich habe mich bis zuletzt gesträubt, aber sie lässt nicht locker.« Er grinste schief. »Sie glaubt, mich verkuppeln zu kön­nen.«

»Sicher werden viele schöne junge Damen dort sein«, sinnierte Flora. Und in einem Anfall von unsinniger Angst fügte sie noch hinzu: »Du solltest mit offenen Augen dorthin gehen...«

»Flora!« Cedric war ehrlich entsetzt. Doch sie lächelte nur bekümmert und versuchte, die Angst aus ih­

rem Herzen zu vertreiben, die dort wie ein gefangener Käfer in einem Spinnennetz zappelte, unfähig, sich zu entfernen. Seit Flora den jun­gen Adligen kannte und liebte, war diese Angst zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Angst, entdeckt und getrennt zu werden. Angst, dass Cedrics Eltern auf der Heirat mit einer anderen bestanden. Angst, Angst... Und doch wurde dieser ziehende Schmerz tief im Herzen stets auf einen Schlag unwichtig, wenn Cedric bei ihr war, sie im Arm hielt, sie küsste und ihr sagte, dass sie für ihn die Einzige sei, auf immer.

»Du weißt, wir dürfen nicht die Wirklichkeit vergessen«, mahnte sie ihn leise. »Ich möchte nicht, dass wir beide unglücklich werden, weil wir an einen Traum glauben, der doch nie...«

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»Liebling, bitte schweige!« Er packte sie bei den Schultern, starrte sie zwingend an. Seine grauen Augen waren dunkel vor Entsetzen und Leidenschaft. Sie durfte nicht so sprechen, es brach ihm das Herz, die Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme zu hören und zu wissen, dass es nichts gab, was er dagegen tun konnte, dass ihm die Hände gebunden waren. »Unsere Liebe ist stärker und wichtiger als alles andere. Du weißt, ich würde auf der Stelle von hier fortgehen, auf Titel und Erbe verzichten und mich als Minenarbeiter verdingen oder als Tagelöhner, wenn du es fordern würdest.« Er merkte, dass sie widersprechen woll­te und fuhr entschieden fort: »Ich weiß, dass du niemals eine solche Forderung stellen würdest. Aber du sollst wissen, dass ich alles, wirk­lich alles für dich tun würde. Nur um eines bitte mich nie wieder: Un­sere Liebe auf dem Altar der profanen Nützlichkeit, der gesellschaftli­chen Zwänge zu opfern. Denn das werde ich nicht tun. Niemals!«

Seine Worte hatten die Angst in ihrem Herzen noch verstärkt. Und obwohl Flora wusste, dass es klüger gewesen wäre, sich von Cedric loszumachen, wegzulaufen und ihn nie wieder zu sehen, flüchtete sie doch in seine Arme, schluchzte leise und verzweifelt und murmelte: »Ich weiß, ja, ich weiß...«

Er strich sanft über ihr Haar, vergrub sein Gesicht in den zarten Locken und schwor ihr: »Ich werde dich immer lieben, Flora O'Donell. Und nichts auf dieser Welt kann meine Gefühle ändern. Nichts...«

*

Howard Daggert baute sich in der Tür zum kleinen Steinhäuschen der O'Donells auf wie ein düsterer Racheengel. Sein starrer Blick richtete sich unbarmherzig auf den Bauern, der zusammengesunken in einer Ecke des engen Raums saß und schnarchte. Das Feuer war fast herun­ter gebrannt, es roch nach Schweinemist und Hafergrütze und Daggert dachte an die erbärmlichen Tage seiner eigenen Kindheit zurück, als er ebenso hatte vegetieren müssen, mit einer kranken Mutter und sechs Geschwistern. Nur sein unbeugsamer Wille und seine geschmeidige Anpassungsfähigkeit hatten es ihm ermöglicht, diese Hölle hinter sich zu lassen. Nun bewohnte er mehrere Räume im Dienstbotentrakt eines

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Herrensitzes. Er schlief in sauberen Laken und kleidete sich exquisit. Dass er dafür die Drecksarbeit machen musste, die allen anderen zu­wider war, erschien ihm nicht der Rede wert. Daggert war zufrieden. Er hatte es zu etwas gebracht. Und er konnte sich - innerhalb seiner begrenzten Befugnisse - austoben...

Seine hellen Augen fixierten den Schlafenden. Was hinter seiner Stirn vorging, war schwer einzuschätzen. Ein verächtliches Lächeln klebte um seinen schmalen Mund. Wenn er daran dachte, wie sein Brotherr ihm vorgeworfen hatte, allmählich zu nachsichtig zu werden, lief ihm die Galle über. Nichts und niemand durfte seine Stellung im Hause von Lord Ponsenby schwächen. Undenkbar, dass er stürzte, weil er seine Aufgaben nicht mehr zur Zufriedenheit des englischen Adligen ausführte! Er würde hier und jetzt ein Exempel statuieren. Und danach würde der Lord ihn nie wieder nachsichtig nennen. Nie wieder...

Daggert trat vor Tom O'Donell hin und tippte ihn mit der Spitze seines Stiefels an. »He, Mann, komm zu dir!« Seine Stimme klang scharf und kalt. Der Betrunkene gab aber nur einen leisen Grunzlaut von sich und dachte gar nicht daran, wach zu werden.

Kein Unterschied zwischen der Sau im Koben und dieser, dachte der Verwalter verächtlich und trat fester zu.

Langsam kam Tom zu sich. Er öffnete die Augen, sein glasiger Blick richtete sich auf sein Gegenüber, ohne zu verstehen.

Da packte Daggert den Wehrlosen am Schlafittchen und schrie ihn unverhältnismäßig laut an: »Die Pacht, du verkommenes Subjekt! Auf der Stelle zahlst du, oder aber du wirst es bereuen!«

O'Donell war zusammengezuckt, nun rötete sich sein Gesicht noch mehr und er lallte verbiestert: »Verschwinde, Daggert, du Engländer­knecht! Ich hab kein Geld und einem armen Mann kann keiner in die Tasche greifen.«

Der Verwalter holte mit einer Hand aus, es klatschte hässlich, als das Leder seines Handschuhs die Wange des Bauern traf. Der Schlag schmerzte diesen weniger als die Demütigung, die er bedeutete. In jungen Jahren hätte Tom sich so etwas nicht bieten lassen. Aber heut­zutage war er miesen Schweinen wie diesem Blutsauger Daggert hilf­los ausgeliefert.

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Der starrte ihn nun wie irre an, ein leises Kichern drang über seine Lippen, das dem Bauern eine Gänsehaut über den Rücken jagte und er flüsterte: »Deine Impertinenz wirst du noch sehr bereuen, du Stück Dreck! Wenn ich mit dir fertig bin, brauchst du nicht mal mehr ein Grab...«

O'Donell schloss die Augen, um diesem verstörenden Blick nicht mehr begegnen zu müssen. In diesem Moment wünschte er sich, nach Rachels Tod nicht einfach aufgegeben zu haben. Warum hatte er aber auch nicht den Mumm besessen, so weiterzumachen wie bisher? Er hatte sich treiben lassen, hatte seine Kinder vernachlässigt, das Land brach liegen lassen. Und nun war es zu spät für Reue, für eine Um­kehr. Er war nur noch ein Wrack, ein Säufer, der nicht einmal mehr für sich selbst, geschweige denn für seine Tochter sorgen konnte. Und er war diesem Verrückten ausgeliefert, der seine Stellung hemmungslos missbrauchte, um Angst und Schrecken unter der Landbevölkerung zu verbreiten.

»Nun, Tom O'Donell, wie steht es? Bist du bereit, zu sterben? O­der willst du vielleicht doch lieber zahlen?«, geiferte Daggert. In die­sem Moment erschien Flora auf der Schwelle. Sie starrte ein paar Se­kunden zutiefst erschrocken auf die Szene, die sich ihren Augen bot, dann war sie mit zwei Schritten bei Daggert und herrschte ihn an: »Lassen Sie meinen Vater los, Sie gemeiner Kerl! Er ist ein kranker Mann, was wollen Sie noch von ihm?« Sie kniete sich neben den Alten, wollte wissen, ob ihm etwas fehle, doch er stieß sie von sich und wankte aus der Hütte.

Daggert grinste kalt. »Dein Vater will nicht zahlen. Und die letzte Frist ist abgelaufen. Nun, mein schönes Kind, was gedenkst du zu tun, damit ich nicht mit zwei starken Burschen zurückkehre und euch auf die Straße werfen lasse?«

Flora starrte den Verwalter des englischen Lords entschlossen an. »Ich werde zahlen, das habe ich Ihnen gesagt. Aber Sie müssen war­ten. Und es hat keinen Sinn, wenn Sie jeden Tag herkommen. Ich bringe das Geld, wenn ich es beisammen habe.«

Daggert lachte meckernd. »Diese dummen Ausreden kannst du dir schenken, meine Schöne. Ich glaube dir nicht mehr!« Er kam unange­

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nehm nah, starrte ihr gierig in die Augen. »Aber ich ließe mich viel­leicht überreden, noch ein wenig zu warten, falls du... dich erkenntlich zeigst...« Er grinste dabei schmierig.

Floras schönes Gesicht verschloss sich, kalt erwiderte sie: »Lieber springe ich von den Klippen, als das zu tun.«

Daggert hob lässig die Schultern. »Wie du willst.« Er bedachte sie noch mit einem bedauernden Blick. »Schade, du bist hübsch und noch zu jung, um zu verhungern. Aber was geht's mich an?« Wieder lachte er und ging. Flora konnte dem Impuls nicht widerstehen, die Tür hin­ter ihm ins Schloss zu knallen. Dann stand sie mit hängenden Armen mitten in dem kleinen erbärmlichen Zimmer, das alles war, was sie ein Zuhause nennen konnte und das ihr nun auch noch genommen wer­den sollte. Eine kalte Hoffnungslosigkeit erfüllte ihr Herz und sie wuss­te nicht, was sie tun sollte. Zum ersten Mal im Leben sah das kluge patente Mädchen keinen Weg mehr, keine Möglichkeit, das Ruder noch einmal herum zu reißen und irgendwie weiterzumachen. Wäre der Va­ter wenigstens einsichtig gewesen, hätte er sie unterstützt, mit ihr an einem Strang gezogen. Doch er war ebenso ihr Gegner wie Daggert. Es gab niemanden, der ihr helfen, sie aus dieser schlimmen Lage be­freien konnte. Der einzige Mensch, der dies gewiss auf der Stelle und ohne Zögern getan hätte, durfte nichts davon erfahren. Flora war zu stolz, um Cedric um Hilfe zu bitten. Und sie wollte auf gar keinen Fall, dass ihre schlimme Lage ihn veranlasste, etwas zu tun, was ihnen bei­den noch weitaus mehr schaden würde. Wie immer Flora es auch drehte und wendete; die Zukunft sah düster aus. Und es gab nichts, was sie tun konnte, um daran noch etwas zu ändern...

*

Einige Tage vergingen, in denen nichts geschah. Flora hatte damit gerechnet, dass Daggert seine Drohung im Handumdrehen umsetzen würde, doch er ließ sich nicht mehr blicken. Sie wollte nicht hoffen, dass ihnen vielleicht doch noch eine letzte Frist gewährt worden war - warum auch immer - denn sie ahnte, dass es nur Wunschdenken ge­wesen wäre. Was der Verwalter von Lord Ponsenby gesagt hatte, galt.

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Und er war momentan vermutlich bloß mit etwas Wichtigerem be­schäftigt...

Cedric ritt beinahe jeden Abend zur alten Abtei, die Sehnsucht trieb ihn dorthin, doch Flora blieb ihm fern. Sein liebendes Herz war verstört und voller Angst, dass etwas geschehen sein könnte, was sie unerwartet und ohne Erklärung trennen würde. Dann aber, am dritten Abend, wartete Flora bereits auf ihn. Überglücklich schloss er das ge­liebte Mädchen in seine starken Arme und küsste sie lange und zärt­lich. Flora spürte, wie die Kümmernisse der vergangenen Zeit von ihr abfielen, wie reines Glück und stille Seligkeit ihr Innerstes zu erfüllen begannen. Und doch verbot sie sich, auch nur eine Sekunde die Wirk­lichkeit darüber zu vergessen.

»Was hast du?«, fragte Cedric. »Du bist so still.« »Es ist Dad. Es geht ihm sehr schlecht. Ich fürchte, ich werde ihn

bald verlieren«, gab sie leise und sehr traurig zu. Seit Daggerts Besuch hatte der Vater heftig getrunken und befand sich nun in einem Zu­stand, der an ein Delirium grenzte. Er lag fiebrig auf seinem Lager, träumte laut und viel und rief immer wieder nach Kachel, der geliebten toten Frau.

»Mein Engel, dein Kummer beschwert auch mein Herz. Aber wenn es nun einmal so ist, dass Gott deinen Vater zu sich ruft, müssen wir das hinnehmen.« Er suchte ihren Blick. »Und du wirst nicht allein sein, wenn es soweit ist.«

»Nein, Cedric, sprich nicht so«, bat Flora ihn erschrocken. »Es ist mein Leben, mein Schicksal. Und du darfst jetzt keinen Fehler ma­chen.«

»Ich verstehe dich nicht... Was willst du anfangen ganz allein?« Er schaute sie bekümmert an. »Erlaube mir, für dich zu sorgen. Ich möchte dich auf unser Schloss holen und...«

»Nein!« Sie wandte sich mit einem Ruck von ihm ab, ihre Stimme war flach und zitterte, doch sie sprach eindringlich und entschlossen: »Du weißt, das geht nicht. Ich könnte als Küchenmagd nach Limerick-Castle kommen, vielleicht als einfaches Stubenmädchen.« Sie sah das Entsetzen, die Abwehr in seinen ehrlichen Augen und fuhr unbarmher­

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zig fort: »Mehr bin ich nicht, das weißt du so gut wie ich. Und wie soll es dann weitergehen?«

»Flora, ich verbiete dir, uns beiden mit Absicht wehzutun. Bitte, tue das nie wieder. Unsere Liebe steht für mich an erster Stelle, das weißt du. Es ist mir egal, was die Leute sagen, ich werde auch meine Eltern überzeugen.« Er nahm ihre kalten, zitternden Hände fest in sei­ne. »Für dich würde ich sogar die Welt aus den Angeln heben! Aber du musst endlich aufhören, dich gegen unsere Verbindung zu sträuben. Sonst hat ja alles keinen Sinn!«

Unter seinem Blick wurde sie ganz ruhig. Und als er sie in seine Arme schloss, wünschte Flora sich von ganzem Herzen, dass Cedric Recht behielt, dass es ein Glück für sie geben könnte, das dauerhaft war. Ihr Herz sehnte sich nach Frieden, doch der Verstand wollte ihr diesen nicht gewähren. Nicht ohne den deutlichen Hinweis auf das, was dann geschehen würde: Eine kurze Spanne puren Glücks, erkauft durch Ablehnung, Verfolgung und dem Ende aller Möglichkeiten: Nie­mals wollte sie Bitterkeit in seinen Augen sehen, genährt von der Ge­wissheit, einen Fehler begangen und sein Leben verpfuscht zu haben. Lieber verzichtete sie auf die Liebe ihres Lebens, auf alles, was ihr Herz sich ersehnte.

Als Cedric sie schließlich fragte: »Willst du mir also vertrauen, Flo­ra? Willst du dein Leben in meine Hände legen?« Da nickte sie nur stumm. Es war keine Lüge, denn sie vertraute ihm und es wäre ihr nicht einmal bitter geworden, ihr Leben für ihn zu geben. Doch was wirklich geschehen würde, wenn Tom O'Donell die Augen für immer schloss, das sollte er jetzt nicht wissen...

Als Flora an diesem Abend heimkam, war es ganz still im Haus. Es dauerte nur einige Sekunden, bis sie begriff, was ihr fehlte: der laute, rasselnde Atem des Vaters, sein Stöhnen und Rufen. Ob es ihm besser ging?

Mit verhaltener Hoffnung trat das junge Mädchen an sein Lager - und erkannte sofort, was geschehen war. Flora kniete neben dem Ver­storbenen nieder, strich mit ihrer zarten, schmalen Hand über seine schon kühle Stirn und lächelte unendlich traurig. Sie hatte den Vater geliebt, auch wenn sie ihn nicht immer verstanden hatte. Und die letz­

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ten Jahre waren schlimm gewesen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, einfach fortgehen zu können, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Nun konnte sie es; und doch wusste sie, dass es die schwerste Entschei­dung ihres jungen Lebens sein würde. Eine Nacht wachte Flora am Bett des toten Vaters. Sie las aus der Bibel, die der Mutter gehört hat­te, sie weinte und dachte an früher. Und sie fühlte sich sehr einsam.

Als es hell wurde, verließ sie das Haus, klopfte an die Tür von Shaun, dem Zimmermann und bat ihn, den Vater einzusargen und un­ter die Erde zu bringen. Das wenige Geld, das sie noch besaß und das für die Pacht längst nicht gereicht hatte, war eigentlich auch zu wenig für eine einfache Holzkiste und ein Loch außerhalb des Kirchhofs, dort, wo die Armen verscharrt wurden. Aber Shaun hatte ein gutes Herz und er rief seine Frau, die Flora nicht gehen ließ, ohne ihr einen halben Laib Brot und etwas Stockfisch mitgegeben zu haben.

Als sie dann wieder daheim war, packte sie die wenigen Habselig­keiten, die noch zu etwas Nutze waren, verkaufte dem Nachbarn die Sau zum Freundschaftspreis und schnürte ihr Bündel. Sie hätte dem Vater gern das letzte Geleit gegeben, doch sie wagte nicht, länger zu bleiben. Sie wollte Daggert nicht noch einmal begegnen, ganz schutz­los, wie sie nun war. Und sie hatte Angst, dass Cedric sich zu etwas hinreißen ließ, das sie beide später bereuen mussten...

So verließ Flora O'Donell das kleine Bauerndorf nahe Ballybunion im Licht des frühen Tages, mit einem schmalen Bündel auf dem Rü­cken, mit wehem Herzen und der Gewissheit, von nun an ganz auf sich allein gestellt zu sein. Sie verbot sich jeden Gedanken an Cedric, denn sie ahnte, dass die Sehnsucht von diesem Tag an ihr ständiger Beglei­ter sein würde. Doch es hatte keinen Sinn, dem nachzugeben oder auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden; denn eine Erfüllung für die Liebe ihres Lebens konnte und durfte es nicht geben.

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Flora ahnte nicht, dass die Dinge bereits ins Rollen gekommen waren. Nachdem sie ihrem Liebsten von dem schlechten Gesundheitszustand des Vaters berichtet hatte, war dieser fester denn je entschlossen,

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endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Er wollte sich nicht länger heim­lich davonstehlen, um mit dem Mädchen zusammen sein zu können, dass er liebte. Und er fand es falsch und unwürdig, auf Partys jungen Damen vorgestellt zu werden, an denen er nicht das mindeste Interes­se hatte. Cedric war der Auffassung, dass er schon viel zu lange ge­schwiegen hatte. Es wurde Zeit, für seine Liebe ein zu stehen. Und so beschloss er, seinen Eltern reinen Wein einzuschenken.

Am Abend des Tages, an dem Flora ihrer Heimat für immer den Rücken gekehrt hatte, saß der zukünftige Lord of Limerick mit Mutter und Vater im blauen Salon und wartete auf eine Gelegenheit, sich zu offenbaren. Diese bot sich ihm schneller als gedacht, denn Lady Sybill konnte schon wieder mit einer interessanten gesellschaftlichen Einla­dung aufwarten.

»Die Van Hursts geben eine Dinnerparty, am Samstag...« Cedric lächelte schmal. »Und sie haben gewiss eine zauberhafte

Tochter, die ich dringend kennen lernen müsste...« Die Lady bedachte ihren Sohn mit einem tadelnden Blick. »Ich

mag es gar nicht, wenn du ironisch wirst, Cedric. Das ist weder deiner Person, noch dem Anlass angemessen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich es nicht leiden kann.«

»Bitte, entschuldige, Mutter. Aber ich habe dir nun schon so oft erklärt, dass ich kein Interesse an Miss Sarah und Miss Pearl, Miss Eli­sabeth und Miss Violet habe. Warum kannst du das nicht endlich ak­zeptieren?«

»Weil ich keinen vernünftigen Grund sehe, es zu tun«, kam es wie selbstverständlich von Lady Sybill. »Du bist unser einziger Sohn, wirst einmal Titel und Besitz erben. Und ich denke, deine Erziehung war so umfassend, dass dir bewusst ist, an so viel Glanz hängt auch Verant­wortung. Oder ist dir daran gelegen, dass unsere Linie mit dir aus­stirbt?«

»Sybill, du sollst den Jungen doch nicht drängen«, mahnte Lord Humphrey seine Frau streng. »Darüber haben wir erst kürzlich sehr ausführlich gesprochen.«

»Es hätte auch weder Sinn noch Erfolg«, erklärte Cedric mit fester Stimme.

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Lady Sybill hob leicht eine Augenbraue an, bei ihr das Zeichen höchster Irritation. »Und wie ist das zu verstehen?«

Der junge Mann erhob sich, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann, ein wenig auf und ab zu laufen, eine Angewohn­heit, die ihm half, seine Gedanken zu ordnen. Seine Eltern beobach­teten ihn mit zunehmender Sorge.

»Das ist leicht und schnell erklärt: Ich habe mein Herz bereits ver­loren. Das Mädchen, das ich liebe, ist weder reich noch von Stand. Sie ist in der Tat eine Bauerntochter. Und das schönste Kind, das unsere Insel jemals hervorgebracht hat. Mein Herz gehört ihr, mit jeder Faser. Niemals werde ich auch nur Sympathie für eine andere hegen können, denn ein Leben ohne Flora erscheint mir nicht mehr lebenswert.«

Nach dieser kleinen Ansprache senkte sich atemlose Stille über den Salon. Lord Humphrey warf deiner Frau einen betroffenen Blick zu, Lady Sybills Miene war wie versteinert. Und doch blitzte etwas wie Genugtuung aus ihren klaren Augen. Sie hatte es ja gewusst! Cedric liebte ein Bauernmädchen. Das war ganz einfach unmöglich, unglaub­lich und ganz undenkbar! Doch es war nicht die Art der Lady, sofort und heftig zu reagieren. Bevor sie das Wort an ihren Sohn richtete, hatte sie bereits den festen Entschluss gefasst, diese unselige Liaison zu zerstören. Sie würde Cedric die Flügel stutzen und nun nachholen, was man in Eaton versäumt hatte.

Mit einer gravitätischen Bewegung erhob Lady Sybill sich, trat hin­ter das bodentiefe Fenster aus Bleiglas und blickte eine Weile wortlos nach draußen.

Lord Humphrey zog es vor, seiner Frau die erste Reaktion zu über­lassen, er selbst wollte sich an dieser Angelegenheit, die eindeutig in den häuslichen Bereich fiel, nicht die Finger verbrennen. Und obwohl es ihm ebenso unmöglich erschien, dass sein einziger Sohn einfach ein Bauernmädchen heiratete, war er doch in den eigenen vier Wänden eher konfliktscheu. Vielleicht war es auch einfach die Angst, den einzi­gen Sohn und Erben durch eine unvorsichtige Bemerkung in seinem jugendlichen Stolz so zu kränken, dass es zum Bruch kam.

Lady Sybill sagte schließlich betont gleichmütig: »Du beabsichtigst also, dieses Bauernmädchen zu deiner Frau zu machen. Und sie soll

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einmal die Herrin von Limerick-Castle werden, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

Cedric war mit einer Antwort vorsichtig. Er kannte die diploma­tischen Fähigkeiten seiner Mutter sehr gut und wusste, wie leicht man sich in einer ihrer Fallen verfing und nur noch aufgeben konnte. Das wollte der junge Mann in diesem Fall aber unter allen Umständen ver­meiden. »Flora ist von großer Schönheit, Güte und Herzensbildung. Natürlich hat sie nicht das Auftreten einer Lady. Sie wird vieles lernen müssen. Doch ich habe gehofft, dass du, Mutter, ihr eine gute und geduldige Lehrmeisterin sein könntest«, erklärte er nun vorsichtig.

Lord Humphrey machte eine gequälte Miene. »Junge, du verlangst viel. Wir kennen dieses Mädchen nicht einmal. Und da erwartest du, dass wir sie in unsere Kreise aufnehmen, sie zu einer der unseren ma­chen?«

»Das verlange ich gar nicht. Flora ist...« Er machte eine allum­fassende Geste. »Sie ist ein ganz besonderer Mensch. Niemals würde sie sich ganz in das steife Protokoll fügen, aus dem unser Leben meist besteht. Sie ist so lebendig und heiter. Ich habe lange gezögert, mich zu dieser Liebe zu bekennen. Nicht aus Furcht oder Feigheit. Doch Flora bat mich, es nicht zu tun. Und ich wollte sie nicht unglücklich machen, indem ich sie in ihr völlig fremde Verhältnisse werfe, in denen sie sich auf Anhieb kaum würde zurechtfinden können.«

»Doch nun tust du es«, hielt sein Vater ihm entgegen. »Mir bleibt keine andere Wahl. Ihr Vater ist sehr krank, er wird

wohl bald das Zeitliche segnen. Dann steht sie ganz allein. Daggert wird ihr gewiss nichts lassen, denn ohne Hilfe kann sie das Feld nicht bestellen...«

»Demnach gehört sie zu den landlosen Bauern im Bezirk von Lord Ponsenby«, schloss der ältere Herr. Und als sein Sohn nickte, mischte sich die Mutter entschieden ein.

»Mein lieber Junge, du hast mir gerade eben in zweifacher Hin­sicht das Stichwort gegeben«, behauptete sie sachlich. »Zum einen scheint dieses Mädchen tatsächlich über einen gewissen natürlichen Anstand zu verfügen. Sonst hätte es nicht von sich aus eingesehen, dass eine offizielle Verbindung zwischen euch ganz undenkbar ist. Und

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dann... wie stellst du es dir vor, dass man aus einem Bauernmädchen eine Lady macht? Da bedarf es mehr als ein bisschen äußerer Putz und ein paar Umgangsformen, die deine Flora ohne Zweifel lernen könnte. Doch das Mädchen kann niemals die Herrin von Limerick-Castle sein. Ein Naturkind, das barfuss das Feld bestellt! Ich bitte dich, was für Kin­der soll sie dir schenken? Denkst du ernstlich daran, dass der siebte Lord of Limerick dereinst den Pflug mit eigener Hand ziehen soll?«

Cedrics Miene verfinsterte sich. Er setzte bereits zu einer heftigen Erwiderung an, als sein Vater feststellte: »Was deine Mutter sagt, ent­behrt nicht der Logik. Ich bin der Letzte, der dich nicht versteht, mein Junge. Es ist herrlich, jung und verliebt zu sein. Man glaubt, die Welt aus den Angeln heben zu können. Und nichts, nein gar nichts darf sich einem in den Weg stellen. Aber dieses Privileg kann in unserer Stellung über eine gewisse Tändelei nicht hinausgehen, verstehst du? Bitte, vergiss nicht zu unterscheiden zwischen den Torheiten der Jugend und deiner Verpflichtung unserem Namen gegenüber.«

Das letzte hatte Lord Humphrey sehr ernst ausgesprochen. Der junge Mann senkte den Blick und murmelte: »Es mag sein, dass ich dir pflichtvergessen erscheine, Vater, aber das ist nicht der Fall. Ich wurde mein ganzes bisheriges Leben auf das vorbereitet, was mein Erbe, meine Bestimmung ist. Du weißt, du kannst meiner Loyalität unserem Haus und Namen gegenüber versichert sein. Niemals würde ich etwas tun, das dem Haus Limerick Schaden zufügen könnte.« Er schaute sein Gegenüber nun ebenso ruhig wie fest entschlossen an. »Doch auch mein Herz hat ein Recht, meine Gefühle eine Berechtigung. Und wenn das Schicksal all mein Denken und Wollen auf diesen einen Menschen gelenkt hat, ohne den ich nicht mehr sein will, so muss ich euch beide bitten, dies zu akzeptieren. Ich weiß, es wird nicht leicht. Ich kämpfe vielleicht für lange Zeit an mehreren Fronten gleichzeitig. Flora scheut sich, auch nur den Fuß über diese Schwelle zu setzen. Dass ihr sie ablehnen werdet, erschien mir ebenso zwingend wie folgerichtig. Von der Gesellschaft ganz zu schweigen. Doch ich liebe sie. Und ich werde nicht auf sie verzichten.«

Lady Sybill lächelte schmal. »So spricht die Leidenschaft der Ju­gend.«

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»Es ist das Herz eines Mannes, der liebt. Und es wird sich nicht wandeln.« Cedric atmete schwer. »Ich wollte, dass ihr die Wahrheit kennt, denn alles Falsche und Verlogene ist mir zuwider. Vielleicht wird Flora nicht meine Frau, vielleicht wird sie mich abweisen, aus Angst, aus falscher Scham. Dann werde ich tun, was nötig ist, um mein Le­bensglück zu erhalten.«

»Willst du andeuten, du wirst auf Titel und Erbe verzichten? Für sie?« Lord Humphrey war betroffen.

»Ich hoffe sehr, dass es niemals soweit kommen wird. Doch wenn ich wählen müsste zwischen kalten Mauern und Papier und dem Men­schen, der mir alles ist, so wird mir die Wahl nicht schwer fallen.« Er wandte sich zum Gehen.

»Junge, wohin willst du? Nach allem, was heute gesagt wurde, kannst du nicht einfach fortgehen«, mahnte sein Vater streng.

»Ich möchte eine Weile allein sein«, bekannte der junge Adlige aufgewühlt. »Und ich denke, das ist auch in eurem Sinn. Wir sehen uns morgen.«

Nachdem Cedric den Raum verlassen hatte, schwiegen Lady Sybill und ihr Mann eine ganze Weile nachdenklich. Schließlich war es Lord Humphrey, der das Wort wieder ergriff. »Was denkst du, Liebes? Ist es eine Marotte, eine Grille, eine Torheit der Jugend? Oder geht es tiefer? Sollen wir abwarten oder einschreiten?«

Die Lady ließ sich Zeit mit einer Antwort, denn es fiel ihr nicht leicht, bei ihrem Standpunkt zu bleiben. Cedrics leidenschaftliche Wor­te hatten das Herz der liebenden Mutter berührt. Sie ahnte, wie schwer es ihm werden würde, auf den Boden der Tatsachen zurück­zufinden und zu verzichten, der Vernunft zu folgen. Aber das war un­abdingbar, da gab es keinen Zweifel.

»Wir müssen Cedric vor einer übereilten Entscheidung schützen«, erklärte sie schließlich bedächtig. »Er liebt, das ist deutlich, mit aller Leidenschaft seines jungen Herzens. Aber wir beide wissen, dass Lei­denschaft ein vergängliches Gut ist. Der Körper verlangt gewiss sein Recht, doch den Geist vermag auf Dauer nur das Gleichwertige zu fes­seln. Cedric wird einsehen, dass dieses einfache Mädchen ihm niemals

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gerecht werden kann. Seine Gefühle werden sich wandeln. Und bis dies geschieht, darf er sich nicht an diese Flora binden...«

*

Zeitig am nächsten Morgen machte der junge Limerick sich auf den Weg zur Abtei. Er wollte Flora von dem Gespräch mit seinen Eltern berichten, um ihr ein wenig Mut zu machen. Zwar hatte er zunächst noch nicht viel erreicht. Doch zumindest waren die Fronten nun abge­steckt, die Karten aufgedeckt. Der junge Mann fühlte sich wie befreit, denn er konnte jetzt ganz offen zu seinen Gefühlen stehen, für seine Liebe kämpfen. Und das erschien ihm bereits wie ein halber Sieg...

Cedric wartete eine ganze Weile bei der alten Abtei, doch Flora er­schien nicht. Also beschloss er, sie daheim aufzusuchen. Sie hatte ihm das zwar verboten, denn sie schämte sich vor ihm, doch es war eine Ausnahme, er musste unbedingt mit ihr reden. Als der zukünftige Lord of Limerick sich dem kleinen Bauerndorf näherte, hörte er ein dünnes Glockengeläut, das zaghaft durch die klare Morgenluft zitterte. Eine Totenglocke, wie es schien. Ohne lange nachzudenken lenkte er sein Pferd in Richtung des Totenackers, der sich dem Dorf anschloss.

Als Cedric sein Ziel erreichte, bemerkte er eine neue Grube außer­halb der Mauern des Kirchhofs, dort, wo die Armengräber lagen. Es gab ihm einen Stich, denn er ahnte, dass seine Vermutung richtig ge­wesen war. Doch außer dem Totengräber, der zugleich Schreiner und Einsarger in einer Person war, hielt sich hier niemand auf. Die einfache Holzkiste mit dem Toten stand neben dem frisch aufgeworfenen Erd­hügel.

Als Shaun Casey den jungen Adligen bemerkte, machte er einen tiefen Bückling, nahm die speckige Mütze von seinem struppigen roten Haar und grüßte demütig.

»Wer ist das, den du da begräbst?«, fragte Cedric. »Tom O'Donell. Die arme Seele hat sich tot gesoffen«, murmelte

Shaun. »Hat den Tod seiner Frau nicht verwinden können.« »Und seine Tochter Flora? Und der Pfarrer? Warum ist keiner hier?

Wieso wird der Mann nicht auf dem Kirchhof beigesetzt?«

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Der Schreiner hob die breiten Schultern. »Kein Geld war da. Was die Kleine mir gegeben hat, war eigentlich zu wenig für das da.« Er deutete auf die Kiste. »Aber ich hab ihn gekannt, den Tom, ein Freund war er. Und deshalb mach ich's auch für weniger. Aber ein christliches Begräbnis, das ist nicht drin. Und die Flora ist fort, muss sich eine An­stellung suchen. Glaub, Daggert hat den Hof schon weitergegeben...«

Cedric meinte, sich verhört zu haben. Flora war fort? Er hatte das Gefühl, als reiße ihm einer das Herz bei lebendigem Leibe heraus. Das konnte, das durfte nicht sein! Hatte sie ihm nicht erst gestern verspro­chen, ihm zu vertrauen, ihr Leben in seine Hand zu legen? Und nun ging sie einfach, ohne Abschied, ohne ein Wort? Das war nicht zu fas­sen! Cedric wollte es nicht hinnehmen. Er bedankte sich bei dem Mann, der wieder dienerte, drehte um und ritt zu dem kleinen Stein­haus, in dem die O'Donells beinahe ein Vierteljahrhundert gelebt hat­ten. Nun erinnerte nichts mehr an die Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste, Blut, Schweiß und Tränen, die in diesen einfachen Mauern vergossen worden waren. Die Hütte war leer. Und doch hoffte der junge Mann, hier noch etwas zu finden, etwas, das ihm in seiner Rat­losigkeit und Verzweiflung den Weg wies...

Er stand wie erstarrt inmitten des einfachen Raums, sein Blick irrte umher, in der leisen Hoffnung, dass Flora ihm vielleicht doch etwas hinterlassen hatte, einen Brief, eine kurze Nachricht nur, die ihm sag­te, sie war nicht gegangen, ohne an ihn zu denken. Doch da war nichts, wie Cedric schließlich niedergeschlagen und zutiefst verletzt einsehen musste.

Hufschlag, der sich näherte, riss den jungen Mann aus seinen trübseligen Gedanken. Er trat nach draußen, erkannte Howard Dag­gert, den Verwalter von Lord Ponsenby. Der stets in Schwarz geklei­dete Hagestolz war sehr überrascht, in der Hütte der O'Donells noch jemanden anzutreffen. Vor allem jemanden wie den Sohn des Lords of Limerick. Er begrüßte den jungen Herrn demütig und fragte mit verhal­tener Hinterlist: »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein, Sir? Ich ken­ne diesen Flecken wie meine Westentasche. Wenn Sie jemanden su­chen...«

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Cedric zögerte. Er ahnte, dass es falsch gewesen wäre, diesem Schleimer die Wahrheit zu sagen. Gewiss hätte er dafür gesorgt, dass die Beziehung zwischen dem jungen Edelmann und dem Bauernmäd­chen für eine Weile zum Gesprächsthema Nummer eins in allen Dienstbotentrakten der umliegenden Herrensitze geworden wäre. Und auf ein solches Gerede konnte Cedric guten Gewissens verzichten. Andererseits wäre es dumm und kurzsichtig gewesen, sich die Orts­kenntnis des Mannes nicht zunutze zu machen. Vielleicht konnte er auf diese Weise erfahren, wohin Flora sich gewandt hatte. Nachdem Ced­ric den ersten Schock überwunden hatte, war er nun sicher, dass seine Liebste aus falschem Stolz und Angst gehandelt hatte. Wäre er nur bei ihr gewesen, hätte ihr raten können! Doch sie war allein gewesen nach dem Tod des Vaters, niemand war da, der ihr helfen, ihr den Weg wei­sen konnte. Und nun galt es für Cedric, diese Scharte wieder aus­zuwetzen.

»Ich bin in der Tat auf der Suche nach jemandem«, erklärte er deshalb nun vorsichtig. »Ein junges Mädchen, kräftig gebaut und gut tauglich für grobe Arbeiten im Haushalt. Ich hörte, ihr Vater starb kürzlich. Und meine Mutter möchte gerne ein gutes Werk an dem ver­lassenen Kind tun, es in unseren Haushalt aufnehmen. Doch sicher, Sie verstehen, schickt es sich nicht für eine Lady, selbst hierher zu kommen. Deshalb bat sie mich, das Mädchen zu suchen und ihm die Stellung in Limerick-Castle anzubieten.«

Daggert dienerte beflissen, sein hinterhältiger Blick blitzte vor Ver­gnügen, denn ihm war gerade aufgegangen, dass er dem zukünftigen Lord of Limerick einen Gefallen tun konnte. Und man wusste ja nie, wie dieser vielleicht irgendwann zu vergelten war. »Ich kenne das Mädchen, die Tochter von Tom O'Donell«, versicherte er eifrig. »Doch sehr kräftig ist sie nicht, da werden Sie eher enttäuscht sein. Zudem hat sie sich bereits auf den Weg nach Dublin gemacht, um dort nach Arbeit zu suchen.«

»Nach Dublin? Wissen Sie das genau?« »Gewiss. Der Milchwagen nahm sie heute in aller Frühe ein Stück

weit mit. Und sie erzählte dem Fahrer, dass sie ihr Glück in der Stadt suchen wolle, nachdem sie nun ja keinen Menschen mehr auf Gottes

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weiter Erde habe.« Daggert wunderte sich, dass der junge Edelmann bei diesen Worten blass wurde. Er ahnte, dass dessen Interesse an der schönen Flora wohl über das übliche Maß hinausging und konnte es ihm nicht verdenken. Doch das kümmerte ihn nicht. Er war nur darauf aus, sich bei Cedric einzuschmeicheln.

»Nun, Sir, wenn Sie wollen, reite ich ein Stück Wegs in die Stadt und suche das Mädchen für Sie. Es würde mir nichts ausmachen. Ich kenne Flora O'Donell und hätte sicher keine Schwierigkeiten, sie aus­findig zu machen. Und danach könnte ich sie nach Limerick-Castle bringen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Daggert, aber unnötig. Wenn das Mädchen bereits fort ist, wird es in der Stadt sicher eine Anstel­lung finden. Damit erübrigt sich das Anerbieten meiner Mutter.« Er stieg auf sein Pferd, der Verwalter war enttäuscht, ließ es sich aber nicht anmerken. Er verabschiedete sich überaus freundlich von Cedric und blickte ihm noch eine ganze Weile mit seinen hellen, stechenden Augen hinterher.

*

Lady Sybill war hocherfreut, zu erfahren, dass Flora O'Donell ver­schwunden war. Dass ihr Sohn allerdings umgehend nach Dublin rei­ten und sie suchen wollte, gefiel ihr ganz und gar nicht.

»Junge, ich bitte dich, mache dich nicht lächerlich! Dieses Mäd­chen hat begriffen, wo sein Platz im Leben ist und dass es zwischen Wollen und Können oftmals einen unüberbrückbaren Gegensatz gibt. Lass sie ziehen, sie hat recht entschieden!«

Cedric ließ sich nicht beirren. Er schloss seine Reisetasche aus nachgedunkeltem Leder und stellte entschlossen fest: »Es war falsch, was Flora getan hat. Ich ahne, warum sie so handelte, doch ich werde es nie und nimmer hinnehmen!«

»Oh, Cedric, du benimmst dich wie ein garstiger Junge, der sich unbedingt an einer ganzen Schachtel Toffee den Magen verderben will.« Lady Sybill legte eine Hand auf den Arm ihres Sohnes und bat ihn eindringlich: »Gebrauche in dieser Sache endlich einmal deinen

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Verstand. Das Mädchen ist fort, die Sache ist vorbei. Es wäre dumm und würde zu nichts führen, ihr zu folgen. Sie wird dich doch abwei­sen, denn sie hat begriffen, dass es für euch beide keine gemeinsame Zukunft geben kann.«

»Das ist nicht wahr!«, fuhr Cedric auf. »Flora und ich, wir gehören einfach zusammen. Es gibt nichts, was unsere Herzen wieder vonein­ander trennen kann. Sie ist fort, weil sie sich gefürchtet hat. Wäre ich bei ihr gewesen, hätte das nicht geschehen müssen. Ich mache mir selbst die schlimmsten Vorwürfe!«

Die Lady schüttelte ärgerlich den Kopf. »Wie kann man nur so stur und verbohrt sein? Ich sehe, ich verschwende meinen Atem und über­lasse es deshalb deinem Vater, dir den Kopf zu Recht zu setzen.« Da­mit verließ sie ungnädig den Raum.

Als Lord Humphrey am frühen Abend heimkam, wollte Cedric ge­rade aufbrechen. Er sah keinen Sinn in einer Aussprache mit seinem Vater, denn er meinte, dessen Argumente bereits alle zu kennen. Doch es kam auch zu keinem Gespräch, denn der Lord fühlte sich nicht wohl. Bereits den ganzen Tag hatte er unter Beklemmungen in der Brust gelitten. Er begab sich sofort nach seiner Heimkehr zu Bett und wies seinen Butler an, den Arzt zu verständigen. Lady Sybill war aufs Höchste besorgt. Und auch Cedric zögerte, das Haus zu verlassen, bevor er wusste, wie es um seinen Vater stand.

Der Doktor erschien eine ganze Weile später. Er lebte in New­castle, beinahe eine Stunde Wegs entfernt. Als seine Kutsche vor dem Schlossportal hielt, verließ Cedric sofort das Haus und bat: »Bitte, be­eilen Sie sich, Doktor. Es geht meinem Vater nicht gut. Er klagt über Beklemmungen in der Brust, ist sehr blass und sein Schweiß erscheint kalt. Was mag das sein? Solange ich zurückdenken kann, war mein Vater stets gesund.«

Dr. Halloway bat den jungen Mann um Geduld. »Ich kann erst ei­ne Diagnose stellen, wenn ich den Lord untersucht habe. Doch mir scheint, es ist sein Herz, nach den Symptomen zu urteilen, die Sie mir gerade geschildert haben, Cedric.«

»Das Herz?« Der junge Mann erschrak. Nun wurde ihm die Zeit der Untersuchung lang. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sei­

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nen Vater am Vorabend noch in ein so langes Gespräch verwickelt hatte. Doch nichts war da an Lord Humphrey auffällig gewesen, nichts hatte darauf hingedeutet, dass es ihm schlecht ging. Wie hatte das nun so plötzlich kommen können?

»Dein Vater ist kein junger Mann mehr«, murmelte Lady Sybill zu­tiefst besorgt. »Und er hat sich viel zugemutet mit diesem politischen Amt.«

»Aber er hatte doch immer eine robuste Gesundheit«, hielt Cedric seiner Mutter entgegen. »Ich begreife das nicht...«

Es dauerte beinahe eine Stunde, bis Dr. Halloway wieder auf­tauchte. Seine Miene war ernst, doch seine Worte beruhigten Mutter und Sohn wieder ein wenig.

»Es ist Überanstrengung, Erschöpfung. Wenn Lord Humphrey sich eine Weile schont, wird es ihm bald besser gehen.« Der Mediziner lä­chelte angedeutet. »Ich hoffe sehr, Sie werden ihn dazu überreden können, Lady Sybill. Mir gegenüber zeigte er sich nämlich nicht sehr einsichtig.«

Die Lady nickte. »Sie können sich darauf verlassen, Doktor. Ich liebe meinen Mann und werde nicht zulassen, dass er sich für ein poli­tisches Ehrenamt zugrunde richtet!« Das hörte der Arzt natürlich gern. Nachdem er sich verabschiedet hatte, fragte Lady Sybill ihren Sohn: »Du wirst doch jetzt nicht nach Dublin reiten wollen, Cedric? Dein Va­ter ist krank und es wird gewiss nicht leicht werden, ihn zum Ausruhen zu bewegen. Ich weiß nicht, ob mir das allein gelingen wird...«

Der junge Mann musterte seine Mutter mit undurchdringlicher Miene. »Eben klangst du sehr überzeugend.«

»Ich bitte dich! Schließlich musste ich etwas sagen, den Doktor beruhigen. Aber du kennst deinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht so leicht etwas vorschreiben lässt. Bitte, Cedric, un­terstütze mich!«

»Also schön. Aber eines möchte ich von vornherein klarstellen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich werde Flora suchen, sobald es Vater besser geht. An meinen Absichten hat sich nicht das Geringste geändert.«

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Lady Sybill sagte dazu nichts, doch man sah ihr deutlich an, dass sie ganz anderer Meinung war...

*

Zwei Monate waren nun ins Land gegangen, seit Flora ihrem Heimat­dorf den Rücken gekehrt und sich auf den Weg nach Dublin gemacht hatte. Zunächst war es ihr in der großen Stadt recht bang ums Herz gewesen und sie hatte große Angst gehabt, sich nicht zurechtzufinden. Doch bereits nach wenigen Tagen schwand dieses Gefühl und verließ das junge Mädchen vollends, als es eine Anstellung als Bedienung in einem Coffeeshop fand.

Das kleine Lokal, in dem man Tee und Kaffee und allerlei süße Ku­chen genießen konnte, lag im Zentrum der Stadt und wurde von vielen Menschen besucht. Die Inhaberin Mrs. O'Donahue war eine patente Person, die Flora auf den ersten Blick in ihr mütterliches Herz ge­schlossen hatte. Sie zeigte großes Verständnis für das schöne Mädchen und verriet ihr bereits am zweiten Tag: »Ich komm selbst vom Land, weiß, wie es ist, wenn man sich ganz fremd fühlt und keine Menschen­seele kennt. Aber keine Angst, du wirst dich schon hier eingewöhnen, mein Kind!«

Zunächst hätte Flora das nicht glauben wollen. Sie freute sich zwar über die Anstellung, die nicht schlecht bezahlt wurde. Und auch die Tatsache, dass sie über dem Shop in einem lichten sauberen Zim­mer wohnen durfte, war für das arme Mädchen fast zu schön, um wahr zu sein. Doch Floras Herz war und blieb traurig. Sie sehnte sich mit jedem Tag, der verging, nach der weiten Bucht von Ballybunion, nach dem Wind in den Haaren und dem unendlichen Himmel über dem Meer. Und sie sehnte sich nach Cedric.

Obwohl Flora sich große Mühe gab, tapfer und realistisch zu sein, konnte sie doch die Liebe zu dem jungen Edelmann nicht aus ihrem Herzen reißen. Sie war einfach nicht fähig, ihn zu vergessen und die Sehnsucht machte ihr das Leben sehr schwer.

Mabel O'Donahue, eine lebenserfahrene Witwe mit erwachsenen Kindern, spürte natürlich, was mit ihrer neuen Bedienung los war. Und

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als Flora an diesem warmen Juniabend den letzten Tisch abgewischt und ein neues Tischtuch darüber gedeckt hatte, rief die Chefin sie zu sich.

Mabel hatte einen kleinen Raum hinter dem Lokal, wo man ge­mütlich sitzen und etwas essen konnte. Die Bedienungen - Flora hatte noch zwei Kolleginnen, lebenslustige Dinger, die jeden Abend mit ei­nem anderen Burschen ausgingen - nutzten den Raum für ihre Pau­sen. Nun hatte Mabel den Tisch mit Tee und Brot, deftiger Wurst und würzigem Käse gedeckt. Als Flora zögerte, machte die Chefin eine ein­ladende Geste und forderte sie so auf, sich zu ihr zu setzen. »Ich dachte mir, es würde uns beiden nach dem langen Tag gut tun, etwas Ordentliches zu essen und zu plaudern. Nun, mein Kind, was meinst du, ist das keine gute Idee?« Sie lächelte so freundlich, dass Flora einfach zustimmen musste. Nachdem sie sich gesetzt hatte, sagte sie leise: »Sie verwöhnen mich richtig, Mrs. O'Donahue. Ich schäme mich fast vor Bridget und Hazel. Die beiden sind schließlich ebenso fleißig wie ich.«

Mabel winkte ab. »Schon, aber die brauchen keine Fürsorge. Das sind echter Dubliner Feger, die wirft so schnell nichts um.« Sie lachte. »Ich leb lange genug in dieser Stadt, um das sagen zu können. Und schau mich an, robust bin ich auch geworden!« Sie klopfte auf ihre ausladenden Hüften und schmunzelte dabei vergnügt. Mabel O'Dona­hue war eben ein echter Gemütsmensch.

»Ich bin froh, dass Sie mich aufgenommen haben«, gab Flora lei­se zu. »Hier fühle ich mich schon ein bisschen daheim.«

»Das ist schön.« Mabel lächelte warm. »Aber etwas fehlt dir doch, mein Kind, nicht wahr? Das Herz tut dir weh, das ist nicht schwer zu erkennen. Wer ist denn der Bursche, der dir nicht aus dem Sinn geht? Lebt er auch auf dem Land?«

Im ersten Impuls wollte Flora abwiegeln, aber dann schien es ihr, dass ein Gespräch über Cedric ihr vielleicht helfen konnte, den Kum­mer ein wenig zu mildern. Zögernd gestand sie: »Ja, er lebt auf Lime­rick-Castle... Und er ist der Sohn des Lords.«

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»Ach herrje!« Mabel schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Da hast du ja wirklich großen Kummer. Ich hoffe doch, du hast dich nicht zu sehr auf diese hoffnungslose Sache eingelassen...«

Flora warf der Wirtin einen naiven Blick zu, dann errötete sie hef­tig, senkte den Blick und versicherte: »Cedric wäre nie zu weit gegan­gen. Er hat ja kein billiges Vergnügen gesucht, er liebt mich. Wirklich und aufrichtig. Alles wollte er für mich tun, sogar auf Titel und Erbe verzichten, um meinetwillen. Deshalb musste ich ja auch fort...«

Mabel schwieg eine Weile, ihr gutmütiges Gesicht drückte deutlich aus, wie beeindruckt sie war. »Ein nobler Gentleman. Du hättest bei ihm bleiben sollen.«

»Aber nein, eben das konnte ich nicht!« Flora sprang auf und be­gann, unruhig in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei rang sie gequält die Hände. »Cedric wollte mich zu seiner Frau ma­chen. Aber ich bin doch nur ein armes Bauernmädchen. Niemals könn­te ich die Frau des zukünftigen Lords of Limerick werden.«

»Du scheinst Angst zu haben. Ich verstehe das, denn mir würd's gewiss auch bang werden, wenn ich mein Leben so ganz über den Haufen werfen sollte. Aber sieh mal...« Sie lächelte schmal. »Es gibt sehr viele schöne Mädchen auf unserer Insel. Ein jedes würde zu Fuß von Malin nach Goleen gehen und das sind die äußerste Nord- und Südspitze von Irland, um so einen Mann zu bekommen. Warum nicht etwas wagen? Wer kriegt schon solch eine Chance? Und wenn's nicht klappt, was soll's? Mein Sean, der war ein guter und fleißiger Mann. Aber er hatte nicht mal das Geld, mir am Geburtstag einen Strauß Veilchen zu kaufen. Ist's das wert, nichts zu wagen und immer nur im gleichen Trott zu gehen?«

»Ach, Mrs. O'Donahue, Sie haben gewiss recht, was Sie selbst be­trifft. Aber ich könnte das nicht. Dazu hab ich Cedric zu lieb. Ihm zu schaden, das wäre eine furchtbare Vorstellung für mich. Das brächte ich nicht übers Herz.«

Die Wirtin lächelte nachsichtig. Sie wollte eben noch etwas anmer­ken, als heftig gegen die Ladentür geklopft wurde. »Na, wer will denn um diese Zeit noch was?«, wunderte sie sich und stand ein wenig schwerfällig auf. Flora, die bereits öffnen wollte, verharrte, als Mabel

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sie mahnte: »Lass mich das mal machen, mit unverschämten Kunden, die unbedingt nach Feierabend noch einen Pie brauchen, verstehe ich umzugehen.«

Die Wirtin betrat den Shop und sah bereits durch die gläserne Tür, dass sie es hier nicht mit irgendeinem Arbeiter oder Tagelöhner zu tun hatte, der schnorren wollte. Der späte Besucher war in einen dunklen Reisemantel gekleidet, sein Hut saß elegant und der Stock mit dem silbernen Knauf, den er zum Klopfen verwand hatte, wirkte sehr kost­bar. Mabel O'Donahue schloss auf und sagte, noch bevor der Fremde sein Begehr nennen konnte: »Wir haben geschlossen, Sir. Bitte kom­men Sie doch morgen wieder, ab acht Uhr, wenn Sie möchten!«

»Verzeihen Sie die späte Störung, gute Frau, doch ich komme in einer sehr dringlichen Angelegenheit«, erklärte der Fremde daraufhin freundlich. »Ich bin bereits seit Tagen in dieser Stadt unterwegs und auf der Suche nach einem jungen Mädchen, dessen Name Flora O'Do­nell ist. Es ist für mich von höchster Wichtigkeit, Flora zu finden, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, mein Leben hängt davon ab. Nun meine Frage: Kennen Sie Flora O'Donell oder können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann?«

Mabel lächelte ganz zufrieden. »Dann sind Sie Cedric, nicht wahr, Sir? Da staunen Sie! Ja, ich kenne Sie. Und Ihre Flora, die sitzt in mei­nem Hinterzimmer und weint sich die Augen nach Ihnen aus.« Sie trat beiseite und machte eine einladende Geste. »Kommen Sie nur herein. Aber ich muss Sie warnen: Flora ist ein sehr stolzer Mensch. Sie fürch­tet, einen Fehler zu begehen, wenn sie ihrem Herzen folgt.«

»Ja, ich weiß. Deshalb bin ich hier.« Der junge Edelmann strahlte. »Ich danke Ihnen, gute Frau, tausend Dank! Sie können nicht ermes­sen, was es für mich bedeutet, Flora endlich wieder gefunden zu ha­ben!«

»Na, ein bisschen was versteh ich auch von der Liebe«, murmelte die Wirtin launig. »Und nun rasch herein. Flora wird Augen machen!« Sie schloss hinter Cedric ab, zeigte ihm die Tür zum Hinterzimmer und zog sich dann dezent zurück. Zu gerne wäre Mabel Zeugin dieses schicksalhaften Wiedersehens geworden, doch sie sagte sich, dass die

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beiden jungen Leute nun vielleicht lieber allein waren. Und die Tür, die war sowieso nur angelehnt...

*

Cedric trat nur zögernd in die Tür zum Hinterzimmer. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, er sehnte das Wiedersehen mit Flora herbei, seit sie ihr Heimatdorf ohne ein Wort verlassen hatte. Und zugleich fürchtete er, in ihren Augen Ablehnung zu sehen, vielleicht sogar das Ende aller Hoffnung für sein liebendes Herz. Das junge Mädchen saß gedanken­verloren am Tisch. Flora hob den Blick, als Cedric erschien. Zuerst war sie nur unendlich verblüfft, schien ihn für einen Geist, eine Ausgeburt ihrer sehnsuchtsvollen Phantasie zu halten. Dann aber begannen ihre himmelblauen Augen zu strahlen und kein Falsch verbarg die tiefe Lie­be, die sie dem jungen Edelmann unvermindert entgegenbrachte. Ced­ric war es, als fielen Zentnerlasten von seinen Schultern. Wie befreit fühlte er sich und zugleich unendlich glücklich. Mit zwei Schritten war er bei Flora und zog sie einfach in seine Arme. Er konnte nicht anders, er musste sie einfach festhalten, ihr nah sein, spüren, dass er sie tat­sächlich und wahrhaftig gefunden hatte. Denn das war alles, was er sich wünschte.

Flora schmiegte sich an Cedrics Brust und schloss die Augen. Sie nahm den heftigen Schlag seines Herzens wahr, sie spürte, wie sehr er sie liebte, wie er sie vermisst hatte. Und sie ahnte zugleich, dass die­ses Wiedersehen ihr letztes sein musste. So glücklich sie seine Nähe auch machte, die Fakten blieben, konnten sich nicht ändern. Sie sagte es sich immer wieder, doch dieses Mal mochte das Herz ganz einfach nicht auf den Verstand hören. Zu selig war Flora, dass Cedric ihr end­lich wieder nah war.

Nach einer ganzen Weile gab er sie frei und schaute sie forschend an. Sie gewahrte die Frage in seinen Augen, doch sie senkte die Lider und schwieg. So ließ er sie schließlich ganz los und erklärte ernst: »Ich war sehr enttäuscht, als ich feststellen musste, dass du einfach fort gegangen bist. An jenem Abend, nachdem du mir von deinem Vater

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erzählt hast, war ich offen zu meinen Eltern. Sie wissen nun, dass ich dich liebe. Und dass keine andere Frau für mich in Frage kommt.«

»Cedric, das hättest du nicht tun dürfen!« Flora war entsetzt. »Du weißt doch, wie sehr ich dich gebeten hatte, zu schweigen.«

»Aber was hätte das für einen Sinn?« Er suchte ihren Blick. »Wa­rum bist du fortgelaufen? Es hat mir fast das Herz gebrochen. Weißt du denn nicht, wie sehr ich dich liebe?«

»Doch, ich weiß es. Und gerade deshalb...« »Nein!« Der junge Edelmann schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich will das nicht mehr hören. Wir haben schon zu oft darüber ge­sprochen. Und du weißt so gut wie ich, dass wir nie zu einer vernünf­tigen Lösung gelangt sind.«

»Ich... habe viel über alles nachgedacht, seit ich hier bin. Mrs. O'-Donahue ist gut zu mir, sie versteht mich und auch meinen Kummer. Und sie sagte, ich solle es wagen, solle mein Glück nicht wegwerfen.«

Cedric griff nach ihren Händen. »Dann wirst du mit mir kommen? Bitte, Flora, werde meine Frau. Du wirst sehen, gemeinsam können wir alles schaffen!«

Sie lächelte scheu. »Ich würde es nur zu gern. Doch ich fürchte noch immer, dass es ein Fehler wäre.« Sie merkte, dass er etwas ein­wenden wollte, schüttelte leicht den Kopf und versicherte: »Ich glaube dir, wenn du sagst, dass wir alles schaffen können. Und ich möchte nichts mehr als mit dir zu kommen. Aber ich glaube, wir sollten uns mehr Zeit lassen. Ich habe es gut hier, bleibe gerne noch eine Weile. Wenn du in einem Jahr noch immer glaubst, dass wir heiraten sollten, dann...«

»Flora! Ein Jahr? Hast du kein Herz?« Sie entzog ihm ihre Hände, seufzte leise. Warum nur machte er es

ihr so schwer? Warum hatte er sie suchen und finden müssen? Er bot ihr alles, was sie sich nur wünschen konnte und zwang sie zugleich, ihn abzuweisen. Denn wie sollte ihre gemeinsame Zukunft aussehen? Ein Bauernmädchen, das Lady of Limerick spielte? Eine Farce, über die doch niemand lachen konnte, Flora am allerwenigsten. »Bitte, geh jetzt, Cedric. Du hättest nicht herkommen dürfen. Es hat sich nichts geändert.« Sie schaute ihn an und da sah er die Tränen in ihren klaren

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Augen. »Was wir wollen, ist schlicht unmöglich. Warum kannst du das nicht einsehen?«

»Weil ich dich liebe. Und weil mein Leben ohne dich keinen Sinn hat«, entgegnete er schlicht.

Sie schwieg, denn was hätte sie auch sagen sollen? Sie wusste, dass er Recht hatte. Und doch...

Cedric begann zu ahnen, dass der Kampf um seine große Liebe vielleicht schwerer werden würde, als er es sich vorgestellt hatte. Flora war klug und stolz. Und ihre Liebe zu ihm wollte ihn schützen, ihn vor Schaden bewahren. Es würde nicht leicht werden, sie einmal nur an sich selbst denken zu lassen, an diesen Traum glauben zu lassen, der ihr viel zu phantastisch erschien, um jemals Wahrheit zu werden. Und doch musste es ihm gelingen, wollte er sie nicht verlieren und mit ihr alles, was sein Leben lebenswert machte. »Ich lasse dich jetzt allein, mein Engel«, hörte sie ihn nach einer Weile behutsam sagen. »Doch ich bleibe noch ein paar Tage in der Stadt. Es fügt sich, dass ich ge­schäftlich hier zu tun habe. Mein Vater ist seit einer Weile leidend. Das Herz. Er muss sich schonen und hat einige seiner wichtigsten Aufga­ben an mich delegiert.« Er legte seine Hände auf ihre Schultern, schaute sie offen an. »Ich bin hergekommen, um meine Braut mit mir zu nehmen. Es liegt nun an dir, unsere Zukunft hier und jetzt zu be­ginnen. Ich werde dich nicht drängen. Und wenn es nicht vor Jahres­frist sein soll, so werde ich auch das hinnehmen. Doch eines solltest du nicht vergessen, Flora: Meine Liebe zu dir ist unsterblich.« Er küss­te sie zart auf die Lippen und ging dann ohne ein weiteres Wort.

Flora aber blieb beglückt und verwirrt zugleich zurück. Und als Mabel O'Donahue einige Zeit später nach ihr schaute und sich erkun­digte, was denn nun werden sollte, da murmelte das junge Mädchen bekümmert: »Ich wünschte, ich wüsste es...«

*

Zwei Tage später erschien in Mrs. O'Donahues Coffeeshop ein gepfleg­ter Gentleman aus Übersee. Er sah etwas unscheinbar aus, war jedoch dezent und teuer nach der neuesten Mode gekleidet. Eine schmale

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Aktenmappe legte er neben sich auf den Tisch und bestellte dann Kaf­fee und ein Stück Apfeltorte.

Es war Hazel, die ihn bediente. Und der freche Rotschopf lachte über seinen komischen Akzent, als er die Inhaberin zu sprechen ver­langte. Mabel bedachte das Mädchen mit einem strengen Blick. Dann wandte sie sich freundlich an den weit gereisten Gast. »Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir. Bitte verzeihen Sie dem einfältigen Ding. Sie hat wohl im Leben noch nicht viel gesehen und die Nasen­spitze nicht einmal gen Bray gestreckt.« Sie lachte freundlich. Der Gast schien sich allerdings nicht für Hazels Heiterkeitsausbruch zu interes­sieren. Sachlich verlangte er zu erfahren, ob es sich bei dieser jungen Dame denn vielleicht um Flora O'Donell handele. Mabel wurde miss­trauisch. Das war nun bereits der zweite Gentleman innerhalb weniger Tage, der sich nach Flora erkundigte. Und er schien einen weiten Weg zurückgelegt zu haben, um sie zu sehen. Was mochte das wohl bedeu­ten?

Als habe der Mann ihre Gedanken erraten, lächelte er nun ein we­nig und nahm eine Visitenkarte aus seiner Aktenmappe. Diese legte er vor die Wirtin auf den Tisch, so dass sie in der Lage war, alles zu le­sen, was darauf stand. ›James Parker, Attorney at Law, Bushmillsroad 123, Richmond, Virginia‹ prangte auf dem schmalen Stück Bütten.

»Ein Rechtsanwalt aus Amerika?« Mabels Misstrauen war damit keineswegs beseitigt; im Gegenteil. »Nun, ich kenne Miss O'Donell wahrlich noch nicht lang. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie etwas verbrochen hat. Und in Übersee war sie ihr Lebtag noch nicht. Dafür leg ich meine Hand ins Feuer, Sir.«

James Parkers Lächeln vertiefte sich, in vertraulichem Tonfall ver­sicherte er: »Die Aufgabe, die mich hierher geführt hat, bedeutet für Miss O'Donell in der Tat nichts Unerfreuliches. Ganz im Gegenteil. Wenn ich's sagen könnte, was meine Verpflichtung zu schweigen ver­hindert, so wären Sie gewiss tief beeindruckt und ebenso erfreut, brin­ge ich doch quasi das Glück in ihr junges Leben. Nun, Mrs. O'Donahue, möchten Sie mir ein wenig vertrauen und Flora bitten, herzu­kommen?«

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»Ich... gebe ihr diese Karte und sage, was Sie mich wissen lie­ßen«, entschied Mabel. »Sie muss selbst wissen, ob sie so aufs Vage hin mit Ihnen sprechen will. Bitte, entschuldigen Sie mich.« Ein wenig unbehaglich war es der Wirtin noch immer ums Herz. Sie wusste zu gut, was Flora in den letzten Tagen zu leiden hatte. Das Auftauchen des jungen Edelmannes, der ihr so viel bedeutete, schien sie erneut in Gewissensqualen zu stürzen. Und nun auch noch dieser Fremde, der aus dem Nichts auftauchte und davon sprach, ein Glücksbote zu sein. Wenn das nur stimmte...

Flora hielt sich in der Küche auf und war damit beschäftigt, die Schokoladenkuchen vom Blech zu lösen. Sie war ein wenig von der Arbeit erhitzt, ihr schönes Gesicht leicht gerötet und eine Locke ihres prächtigen Haarschopfs war ihr in die Stirn gefallen. Die Wirtin konnte nicht umhin, zuzugeben, dass dieses Mädchen von besonderer Schön­heit und eben solchem Liebreiz war. Umso mehr sah sie es als ihre mütterliche Aufgabe an, Flora vor den Unbilden des Lebens zu schüt­zen, namentlich vor diesem Fremden, dessen Absichten ihr noch im­mer seltsam verschwommen erschienen.

»Die Kuchen sind gut geraten«, sagte Flora, denn sie meinte, Ma­bel wolle Nachschub für ihre Gäste holen.

»Lass gut sein, mein Kind, ich kümmere mich weiter darum«, sag­te sie da aber zu Floras Überraschung. »Draußen am Fenster sitzt ein Gentleman aus Übersee, der die weite Reise übers Meer nur an­getreten hat, um dich zu sprechen.«

Das junge Mädchen machte ein Gesicht, als halte es die Worte der Wirtin für einen Scherz. Und als diese ihr die Visitenkarte reichte, frag­te Flora: »Das kann doch wohl nur ein Irrtum, eine Verwechslung sein, oder?«

»Der Gentleman gab sich sehr selbstsicher. Er scheint genau zu wissen, was er will. Und er sprach davon, für dich ein Glücksbote zu sein, der dein ganzes Leben zum Guten hin wenden könne. Ich muss gestehen, ich weiß nicht, was davon zu halten ist. Seit du hier ar­beitest, habe ich auch ein wenig die Verantwortung für dich über­nommen, Flora. Das weißt du. Und dir ist zudem bekannt, dass ich nur dein Bestes will. Ich überlasse dir die Entscheidung, ob du mit diesem

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Herrn sprechen möchtest. Doch wenn du es tust, so - bitte - sei vor­sichtig und nicht gleich zu vertrauensselig. Willst du mir das verspre­chen?«

»Ja, gewiss. Nur... ich begreife gar nicht, was das alles zu bedeu­ten hat.« Flora betrachtete die Visitenkarte unsicher. »Ich kenne kei­nen Menschen in Übersee. Und Sie sagen, er sucht gezielt nach mir?«

Mrs. O'Donahue nickte, dann schlug sie vor: »Wenn es dir recht ist, leiste ich dir bei diesem Gespräch Rückendeckung. Vier Ohren hö­ren mehr als zwei. Und vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, heraus­zufinden, was es mit diesem seltsamen Gentleman von weither auf sich hat...«

Floras himmelblaue Augen begannen zu strahlen. »Eine wun­derbare Idee. Wenn Sie mitkommen, will ich es wagen!«

Gesagt, getan. James Parker erhob sich von seinem Platz, als Flo­ra erschien. Er nahm die Hand, die sie ihm bot, hielt sie einen Au­genblick lang mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens in der seinen und räusperte sich dann ein wenig befangen.

Nachdem man sich gesetzt hatte, bat er: »Bitte, halten Sie mich nicht für unhöflich oder manierenlos, Miss O'Donell. Doch als ich Sie eben erblickte, da meinte ich, Ihre selige Tante Maggie in Person vor mir zu sehen. Das selbe köstliche Haar, die gleichen wundervollen Au­gen...«

»Maggie?« Floras Stimme drückte Unverständnis aus. »Ich habe keine Tante Maggie. Und ich wäre Ihnen wirklich dankbar, Mr. Parker, wenn Sie mir nun ausführlich erklären könnten, was Sie hierher führt. Woher kennen Sie mich? Woher wissen Sie, dass ich hier lebe? Und wer schickt Sie? Was ist Ihre Aufgabe? Ich kann mir auf all das keinen Reim machen.«

Der junge Anwalt lächelte schmal, seine tiefblauen Augen ruhten noch immer mit Sympathie und Wohlgefallen auf dem schönen Mäd­chen. »Ich will Ihnen gerne alle Fragen beantworten, denn deshalb bin ich ja hier. Doch zuvor muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen, um sicher zu gehen, dass Sie tatsächlich Flora O'Donell sind. Bitte nennen Sie mir die Namen Ihrer Eltern und Geschwister. Den Ort, an dem Sie

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geboren wurden. Und auch, soweit Ihnen bekannt, alle Geschwister Ihrer Eltern mit Namen.«

Flora gab sich Mühe, all diese Personen aufzuzählen, doch es war eine wirklich lange Liste. Die O'Donells waren eben eine weit verzweig­te Familie.

James Parker machte sich fleißig Notizen. Die Feder flog nur so über das Papier und es dauerte nicht lange, bis Flora erkannte, dass er aus ihrer Aufzählung heraus einen Familienstammbaum anfertigte. Allerdings gab es ein paar Lücken.

Als das junge Mädchen verstummte, nickte der Anwalt und stellte fest: »Ja, es ist, wie ich es mir dachte. Die ältere Schwester Ihres Va­ters Tom, Margaret Mitchelsen geb. O'Donell, verließ als junges Mäd­chen das Land auf einem Siedlerschiff nach New York. Sie ist die Tante Maggie, die ich vorhin erwähnte. Und von ihr wussten Sie, Flora, nichts, weil es fälschlicherweise hieß, das Schiff sei in einem Sturm mit Mann und Maus gesunken.«

»Aber warum hat Dad nie von ihr gesprochen?« »Nun, es gab kein sehr gutes Einvernehmen zwischen Bruder und

Schwester. Maggie war schon in jungen Jahren ein eigenwilliger Mensch, der wenig Rücksicht nahm und nur die eigenen Ziele kannte. Sie ging in Stellung, doch nur so lange, bis sie das Geld für eine einfa­che Passage nach Amerika in der Tasche hatte. Dann verließ sie Ir-land, ließ eine kranke Mutter und zwei minderjährige Geschwister zu­rück, die es nach ihrem Fortgang noch schwerer hatten. Ihr Vater hat ihr das wohl nie verziehen. Und Maggie hat in ihren späteren Jahren darunter gelitten, dass sie so selbstsüchtig gewesen ist. Sie bereute ihre Handlungsweise. Und sie hielt sich immer auf dem Laufenden, was ihre Verwandten in Irland betraf. Deshalb kannte sie alle ihre Nichten und Neffen beim Namen aus den Erzählungen der Detektive, die sie beschäftigte, um alles über sie zu erfahren.«

Flora machte große Augen. Die Vorstellung, dass es da eine Tante gab, die sie kannte, von der sie selbst - Flora - aber noch nie gehört hatte, erschien ihr einfach zu phantastisch, um wahr zu sein. Mrs. O'-Donahue, die ebenfalls interessiert gelauscht hatte, fragte nun: »Und Sie bringen Flora Kunde von Ihrer Tante? Ist das Ihr Auftrag?«

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»Ich bin der Familienanwalt der Mitchelsens. Eine sehr angesehe­ne und begüterte Familie, die mit einer großen Ranch in der Nähe von Virginia viel Reichtum erworben hat. Ihre Tante Flora ist vor kurzer Zeit verstorben. Und ich wurde mit der Testamentsvollstreckung be­traut.« Er machte eine kurze Pause und schaute das junge Mädchen aufmerksam an. Flora schien nicht im Geringsten zu ahnen, was auf sie zukam.

»Maggie hat einen Sohn, doch der wurde vom Erbe ausgeschlos­sen. Da ihr Mann bereits vor einigen Jahren das Zeitliche gesegnet hat, war es der Wunsch der Verstorbenen, dass jemand aus ihrer Fa­milie das Erbe antreten sollte. Und nach reiflicher Überlegung, vielen Gesprächen und der Prüfung aller Berichte, die ihr über die Mitglieder der Familie O'Donell vorlagen, bestimmte Ihre Tante Sie, Flora O'Do­nell, zur Haupterbin und zur neuen Herrin all ihrer Besitztümer in Ü­bersee.«

Auf diese Eröffnung folgte erst einmal gespannte Stille. Mabel O'-Donahue blies etwas Luft zwischen den Lippen hindurch und murmel­te: »Das ist ja kaum zu glauben...« Flora jedoch saß wie versteinert da. Sie hörte die Alltagsgeräusche, die sie umgaben, sie sah James Parker, der ihr gegenüber saß und sie geduldig anschaute und doch erschien ihr all das wie ein seltsamer Traum, der mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun haben konnte. Schließlich fragte der An­walt: »Wäre es Ihnen recht, wenn ich in groben Zügen den Umfang des Erbes umreiße? Dann könnten Sie sich eine ungefähre Vorstellung machen...«

»Aber das... kann doch alles gar nicht wahr sein.« Flora schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube das nicht. Wieso sollte diese Tante, von der ich im Leben noch nichts gehört habe, mir ihren Besitz ver­erben? Ich bitte Sie, Mr. Parker, treiben Sie keinen Schabernack mit mir!«

»Das liegt mir fern«, versicherte der Anwalt ein wenig steif. Er hatte doch zumindest mit einem Lächeln gerechnet, wenn Flora erfuhr, dass sie auf einen Schlag eine sehr wohlhabende Frau war. Doch sie schien ihm nicht glauben zu wollen. »Ich führe eine beglaubigte Ab­schrift des Testaments mit mir. Diese überlasse ich Ihnen gerne, damit

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Sie alles prüfen lassen und erkennen können, dass das, was ich Ihnen sagte, voll und ganz der Wahrheit entspricht.« Er reichte ihr das ver­siegelte Schriftstück. »Gewiss wird es eine Weile dauern, bis Sie sich an den Gedanken gewöhnt haben, eine reiche Erbin zu sein. Maggie sah das voraus. Deshalb knüpfte sie auch eine Bedingung an das Er­be.«

»Aber warum ich? Weshalb wählte sie nicht meinen Bruder Pat­rick? Oder eine meiner Kusinen? Ich verstehe nicht...«

»Sie erschienen ihr wie das junge Ebenbild ihrer selbst. Sie be­wunderte Ihren Fleiß und Ihren Stolz. Das Herz hat gesprochen. Und ich denke, es ist in diesem Fall auch nicht falsch, daran zu erinnern, dass Blut dicker als Wasser ist. Bitte, Miss O'Donell, seien Sie versi­chert: Alles hat seine Richtigkeit. Sie sollen die neue Herrin von Brooktree sein, dem Anwesen der Familie Mitchelsen in Virginia.«

»Sie sprachen eben von einer Bedingung«, warf Mabel ein. »Ja, das ist die Hauptklausel des Testaments. Es wird nur dann

rechtsgültig, wenn sie erfüllt ist.« »Und was ist das für eine Bedingung?«, wollte Flora zögernd wis­

sen. So ganz traute sie der Sache noch längst nicht. »Ihre Tante hat festgelegt, dass Sie persönlich nach Brooktree

kommen und Ihr Erbe antreten müssen.« Flora warf Mabel einen ungläubigen Blick zu, der sich rasch in Ab­

wehr verwandelte. »Ich soll nach Amerika reisen? Nein, Mr. Parker, das können Sie nicht von mir verlangen! Ich will und werde mein Hei­matland nicht verlassen.«

Der junge Rechtsanwalt wirkte bekümmert. »Nun, so Leid es mir auch tut, aber dann werden Sie Ihr Erbe verlieren...«

*

»Ich sehe darin keinen großen Verlust. Etwas wieder hergeben zu müssen, das man nie besessen hat, was bedeutet das schon?« Flora tat gleichmütig, obwohl sie die Begegnung mit dem amerikanischen Anwalt natürlich nicht unbeeindruckt gelassen hatte. Doch alles, was

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er gesagt hatte, erschien ihr viel zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein.

Mabel O'Donahue war da allerdings ganz anderer Meinung. »Mäd­chen, sei nicht verrückt! Zum zweiten Mal im Leben bietet sich dir da eine unglaubliche Chance. Du musst zugreifen. Besteig das nächste Schiff nach New York. Oder willst du das Glück mit Füßen treten? Das wäre wirklich sehr töricht und schon beinahe eine Sünde!«

»Ach, Mrs. O'Donahue, ich bin doch nur ein einfaches Mädchen vom Land. Wie sollte ich mich in einer fremden Welt zu Recht finden? Was können mir Reichtum und Besitz bedeuten? All das habe ich nie gekannt.« Ihre himmelblauen Augen richteten sich unsicher auf ihr Gegenüber. »Ich bin hier glücklich, fühle mich wohl. Was soll ich so weit fort...«

»Du hast Angst, das ist normal. Aber bedenke doch, was es hei­ßen würde, ein so großes Erbe anzutreten: Du könntest deinem Cedric ebenbürtig gegenübertreten. Ihr könntet heiraten...«

Wie es schien, hatte die Wirtin damit den rechten Ton angeschla­gen. Denn so hatte Flora es noch gar nicht betrachtet. Sie wurde nachdenklich. Und schließlich, kurz bevor Cedric am Abend vor­beischaute, beschloss sie, mit ihm über alles zu sprechen. Vielleicht hatte Mrs. O'Donahue ja recht, vielleicht war dies die Gelegenheit, ihr großes Glück doch noch zu erlangen...

Der junge Edelmann zeigte sich erwartungsgemäß ebenso skep­tisch wie seine Liebste. Er kannte einen Notar, dem er das Testament vorlegen wollte. Doch er riet Flora streng davon ab, eine Reise nach Übersee auch nur zu erwägen.

»Du kennst diesen Parker nicht, kannst nicht auf seinen Schutz, seine Loyalität bauen. Was immer er dir erzählen mag, es kann die Wahrheit sein oder eine Lüge. Ich lasse nicht zu, dass du dich so mut­willig in Gefahr begibst, Flora!«

Sie nickte. »Ja, ich denke ebenso darüber wie du, Cedric. Aber da ist noch etwas; wenn alles wahr ist, wenn ich nur nach Übersee reisen müsste, um als reiche Frau heimzukehren, dann würde ich es tun! Für uns, für unsere Zukunft.« Sie schaute ihn forschend an. »Bedenk doch, deine Eltern könnten dir nicht mehr vorhalten, dass du ein einfa­

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ches Bauernmädchen heimführen willst. Natürlich bedeutet Besitz nicht Herkunft oder Erziehung. Aber ich will mich bemühen, das wettzuma­chen. Ich könnte dir endlich die Frau sein, die du dir wünschst...«

Der junge Mann hatte ihr mit steigendem Unwillen zugehört, nun bat er: »Rede nicht so. Du weißt, ich liebe dich wie du bist. Niemals käme es mir in den Sinn, dass du nicht gut genug für mich wärst. Und für das Gerede anderer Leute sollst du dich nicht einem Ungewissen Schicksal ausliefern.«

»Aber, Cedric...« »Nein, ich möchte nichts mehr davon hören!« Er war plötzlich sehr

abweisend. »Wenn das Testament echt ist, können wir noch einmal darüber sprechen.«

Sie fügte sich, obwohl sie ihn nicht verstehen konnte. Zugleich fürchtete sie, etwas falsch zu machen, denn sie konnte seine Vorbe­halte nicht begreifen. Sollte sie Cedric gekränkt haben? Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.

Da trat er zu ihr, schloss sie sanft in seine Arme und versicherte ihr: »Ich liebe dich, Flora. Bitte verzeih, wenn ich eben so unfreundlich war. Aber was du mir erzählt hast, das hat auch mich ein wenig aus der Fassung gebracht. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass wir uns vielleicht trennen müssen.«

»Wenn, dann doch nur auf Zeit«, murmelte sie leise und schmieg­te sich an ihn. Ihr selbst erschien es in diesem Moment undenkbar, von Cedric zu scheiden. Doch wenn dieses Opfer bedeutete, dass sie ihr Leben doch noch zusammen verbringen konnten, dann wollte sie es freudig bringen...

Drei Tage später stand eindeutig fest, dass das Testament von Margaret Mitchelsen echt war. Cedric zögerte, die Botschaft zu über­bringen. Bevor er das Gasthaus verließ, in dem er sich eingemietet hatte, entschloss er sich, Flora nach Übersee zu begleiten. Es schien ihr wichtig, dieses Erbe anzutreten und er konnte ihre Motive verste­hen. Doch unter gar keinen Umständen würde er es zulassen, dass sie allein auf die gefahrvolle Reise ins Unbekannte ging.

Cedric wollte eben sein Zimmer verlassen, als unvermittelt ein Bo­te vor ihm stand. Er brachte Nachricht von Limerick-Castle.

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Der junge Edelmann ahnte, dass etwas geschehen sein musste. Und er hatte sich nicht getäuscht. Die Mutter schrieb ihm einen kur­zen, aber flehentlichen Brief mit der dringenden Bitte, sofort heimzu­kehren. »Vater geht es schlechter, wir müssen das Schlimmste be­fürchten. Bitte, Cedric, komm nach Hause!«

Natürlich musste er diesem Hilferuf folgen. Er trug dem Boten auf, seine baldige Heimkehr anzukündigen, dann eilte er zu Mrs. O'Dona­hues Coffeeshop, um mit Flora zu sprechen. Das junge Mädchen er­schrak und Cedric schien es kurz so, dass beide Nachrichten, die er brachte, sie gleichermaßen bekümmerten.

Er spürte, sie war innerlich ganz zerrissen, brauchte Rat und Hilfe. Deshalb nahm er ihre schmalen Hände in seine und sprach sehr ein­dringlich: »Du weißt, es ist nun meine Pflicht und Schuldigkeit, daheim bei den Eltern zu weilen. Aber ich gehe schweren Herzens und es will mir überhaupt nicht gefallen, dich hier allein zurückzulassen. Deshalb bitte, nein, beschwöre ich dich, Flora: Triff keine Entscheidung, bevor ich wieder bei dir bin. Du sagtest zu mir, es gefällt dir hier, du bist gerne bei Mrs. O'Donahue. Genieße also diesen Zustand noch eine Weile und denke über alles nach. Solltest du tatsächlich nach Übersee reisen wollen, so werde ich dich selbstverständlich begleiten. Doch ich kann jetzt nur ruhigen Herzens nach Limerick-Castle zurückkehren, wenn ich weiß, du wartest hier auf mich.«

Flora hatte ihrem Liebsten aufmerksam zugehört, nun nickte sie und versicherte: »Ich will auf deine Rückkehr warten, Cedric.«

»Gut.« Er küsste sie zärtlich. »Ich bleibe nur solange, wie es un­bedingt sein muss. Und ich komme schon sehr bald wieder her!«

»Ja, ich weiß.« Das junge Mädchen trennte sich schweren Herzens von seinem Liebsten. Dass Cedric ausgerechnet jetzt nach Hause musste, machte die Dinge schwieriger. Oder vielleicht auch leichter? Im Grunde hatte Flora sich bereits entschieden. Sie wollte alles tun, um ihre Liebe zu bewahren und die Chance auf ein gemeinsames Le­ben zu nutzen. Und wenn das bedeutete, dass sie nach Übersee reisen musste, dann wollte sie auch das wagen.

*

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Cedric musste länger auf Limerick-Castle bleiben, als er zunächst ge­glaubt hatte. Der Zustand seines Vaters war ernst, jeden Tag erschien der Arzt, konnte aber nur wenig Hoffnung machen. Lady Sybill litt sehr, denn sie liebte ihren Mann und die Tatsache, dass sie ihm so gar nicht helfen konnte, machte ihr sehr zu schaffen. Ihr Sohn stand ihr nach Kräften bei, doch sein Herz wurde mit jedem Tag, der verging, unruhiger. Immer öfter fragte der junge Mann sich, ob Flora wohl zu ihrem Wort stand. Oder war sie vielleicht in einem Anflug von heroi­schem Mut allein zu dieser Reise ins Ungewisse aufgebrochen, in der sie anscheinend den Schlüssel zu ihrem gemeinsamen Glück sah?

Cedric schrieb dem geliebten Mädchen mehrere Briefe, Antwort erhielt er aber nicht. Er wurde immer unruhiger. Und als fast ein Mo­nat vergangen war, ohne dass er ein Lebenszeichen von Flora erhalten hatte, bat er seine Mutter eines Abends: »Ich möchte nach Dublin rei­ten. Es wären nur ein paar Tage und ich...« Er konnte nicht weiter sprechen, denn Lady Sybill unterbrach ihn sogleich mit großem Unmut. Ihre Worte machten ihm deutlich, dass sie keinerlei Verständnis für seine inneren Nöte und Kümmernisse aufbrachte.

»Du willst mich allein lassen, in dieser schlimmen Lage? Jeder Tag könnte für deinen Vater der letzte sein. Und du würdest es vorziehen, einem Bauernmädchen in die Stadt nachzurennen? Ich fasse es nicht, Cedric, wirklich nicht! Das ist absolut indiskutabel!« Mit diesen Worten stand sie auf und verließ einfach den Salon. Der junge Mann war wie vor den Kopf geschlagen. Obwohl er natürlich wusste, wie seine Mut­ter zu dem Mädchen stand, das er heiraten wollte, hatte ihre harsche Reaktion ihn doch brüskiert. Und er konnte wenig tun, um etwas daran zu ändern, ohne als gefühllos gelten zu müssen.

Am Abend dieses wenig erfreulichen Tages bat Lord Humphrey seinen Sohn zu sich. Sein Zustand hatte sich nicht verändert, doch er war bei klarem Verstand und wachem Geist.

Der Kranke bat seinen Sohn, sich zu ihm zu setzen und erklärte dann mit matter Stimme: »Wie es scheint, wirst du früher Titel und Besitz erben, als wir alle geglaubt haben.«

»Vater, ich bitte dich...«

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»Nein, nein, keine Trostworte, dafür ist deine Mutter zuständig«, scherzte der Lord müde. »Ich weiß selbst, wie es um mich steht. Auch wenn der Doktor so tut, als leide ich nur an einer Erkältung. Sollte sich mein Schicksal nun erfüllen, so wäre mir das leid, denn ich möchte noch nicht sterben. Doch ändern kann ich es auch nicht, also wozu jammern? Allerdings werde ich ruhiger und gelassener von hier ab­scheiden in dem Wissen, dass mein Nachlass geregelt und mein Haus bestellt ist.«

»Dessen kannst du sicher sein, Vater«, bestätigte Cedric bedrückt. Auch wenn ihn nicht das allerherzlichste Verhältnis an seinen Vater band und sie beide des Öfteren anderer Meinung waren, so liebte der junge Mann seinen Vater doch von Herzen. Und die Vorstellung, ihn nun bereits zu verlieren, schmerzte sehr.

»Ja, gewiss. Das Haus, der Besitz, alles, was sich an den Namen unserer Familie bindet, ist keiner Überlegung wert, denn es regelt sich seit Generationen quasi von selbst«, stimmte der Kranke ihm zu. »A­ber was dich betrifft, Cedric, so scheinen mir noch einige Fragen offen, die nun spruchreif sind.«

Der junge Edelmann ahnte, worauf sein Vater hinauswollte. Doch er schwieg, denn er wollte Lord Humphrey weder aufregen, noch ihm vorgreifen.

»Du weißt, wie wir zu der Wahl deiner Braut stehen. Dieses Mäd­chen, das du so sehr ins Herz geschlossen hast...«

»Flora O'Donell.« »Flora, ja... Sie ist fort gegangen, ohne Abschied, sagte deine

Mutter mir. Wie es scheint, fühlt sie sich also in nichts an dich gebun­den. Oder irre ich mich?«

»Sie ist fort gegangen, weil sie fürchtete, eine unüberlegte Heirat könne uns beide unglücklich machen. Zuviel steht zwischen unserem Glück und dem Leben hier auf Limerick-Castle.«

»Sie scheint ein kluges Kind zu sein. Hast du sie denn nun wieder gesehen?«

»Ja, ich... war in Dublin, habe mit ihr gesprochen.« »Und wie steht sie zu dir? Hat sie ihre Meinung geändert?«

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»Sie bat mich um Bedenkzeit.« Cedric überlegte, ob er das Erbe erwähnen sollte, schwieg dann aber lieber. Er wollte nicht, dass Flora sich damit quasi in seine Familie einkaufte. Das erschien ihm unwürdig und falsch. »Ich konnte nicht länger bleiben, musste ja hierher zurück­kehren. Doch ich bin überzeugt, dass sie meine Frau werden wird. Sie liebt mich so wie ich sie liebe.«

Der alte Lord lächelte angedeutet, schloss kurz die Augen, denn er fühlte sich bereits den ganzen Tag sehr matt und stellte schließlich begütigend fest: »Ich möchte dir keine Vorschriften machen, mein Junge. Und eine Bitte, die auf dem Sterbebett ausgesprochen wird, kann schnell zum Mühlstein am Hals des Gebetenen werden. Eines aber ist mir wichtig: Solltest du diese Flora heiraten, so achte darauf, dass deine Mutter ihr das Leben auf Limerick-Castle nicht sauer macht. Es wäre mir leid, dich unglücklich zu wissen.«

Der junge Mann schluckte. Mit bewegter Stimme vergewisserte er sich: »Dann hast du nichts mehr dagegen, dass ich meine Braut nach dem Herzen und nicht nach Reichtum und Stand aussuche?«

Lord Humphrey schaute seinen Sohn ruhig an. »Es mag falsch sein, doch ich möchte nun, am Ende meines Lebens, nicht mehr auf meinem Standpunkt beharren. Ist's erst einmal so weit, dass man bald an der Himmelspforte steht, so erscheinen einem die irdischen Zwänge doch recht lächerlich und unwichtig.« Er legte seine kühle Hand auf die seines Sohnes und drückte sie leicht. »Du, Cedric, hast das Leben noch vor dir. Und darum rate ich dir: Genieße, was du kannst, vergiss darüber deine Pflicht nicht und suche das Glück, denn es ist kostbar und flüchtig...« Erschöpft schloss Lord Humphrey nach dieser kleinen Rede die Augen und fiel gleich darauf in einen leichten Schlaf. Cedric blieb noch eine Weile am Bett des Vaters sitzen, wachte über seinen Schlaf und dachte über das nach, was der Alte ihm geraten hatte. Ge­wiss würde es nicht leicht werden, die Mutter mit der Idee zu versöh­nen, dass Flora O'Donell ihre Schwiegertochter werden sollte. Doch die Worte des Vaters hatten Cedric wieder ermutigt und in seiner Auf­fassung bestätigt. Ja, er wollte kämpfen für sein Lebensglück! Und nichts und niemand sollte ihn davon abhalten.

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Lady Sybills Einstellung hatte sich hingegen nicht verändert. Nach dem Gespräch mit ihrem Sohn schmollte sie und behandelte Cedric wie einen Menschen, der sich eine schwere Verfehlung hatte zu Schulden kommen lassen. Dass ihr Sohn nicht nach Dublin ritt, hielt sie ihrer eigenen Autorität zugute.

Knapp zwei Wochen später schloss Lord Humphrey für immer die Augen. Frau und Sohn waren an seiner Seite und der Hausarzt konsta­tierte ein friedliches Einschlafen, das nach der schweren Leidenszeit eine Erlösung sein musste.

Lady Sybill zeigte sich untröstlich. So sehr Cedric sich auch be­mühte, seiner Mutter beizustehen, sie konnte den schweren Verlust nicht überwinden. Für Wochen lag sie selbst danieder, blass und kaum ansprechbar und es schien sogar, als wolle sie dem geliebten Gatten ins kühle Grab folgen.

Doch als der August heiße, sonnige Tage brachte, gewann auch die Herrin von Limerick-Castle ihren Lebenswillen zurück, verließ das Bett und nahm ihr Leben wieder auf.

Cedric war in der Zwischenzeit in Dublin gewesen, doch, wie er befürchtet hatte, Flora war fort und mit ihr der amerikanische Anwalt. Mrs. O'Donahue berichtete dem jungen Mann voller Mitgefühl, wie sich die Abreise zugetragen habe und dass Parker dem jungen Mädchen nicht einmal sehr hatte zureden müssen. Sie übergab einen Brief, den Flora hinterlassen hatte und Mitleid bewegte ihr gutes Herz.

Cedric las die wenigen Zeilen von der zarten Hand der geliebten Frau und empfand Wut, Enttäuschung und tiefe Sorge. Flora bat ihn um Verzeihung für ihre Eigenmächtigkeit, doch sie wollte das Erbe ihrer Tante so bald wie möglich antreten, um ebenso rasch nach Irland zurückkehren zu können. Cedric hatte daraufhin beschlossen, ihr zu folgen, denn er konnte und wollte nicht einfach tatenlos zusehen und abwarten. Das lag nicht in seiner Natur. Als er dann mit einer Schiffs­passage nach New York in der Tasche heimkam, machte Lady Sybill ihm die größten Vorwürfe.

»Wie kannst du mich jetzt allein lassen?«, rief sie erbost. »Gerade jetzt, wo ich auf deine Hilfe, deinen Trost angewiesen bin? Hat denn dieses Mädchen dir nicht schon wieder ganz deutlich gezeigt, dass es

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nichts mehr mit dir zu tun haben will? Wie lange willst du dich noch für sie zum Narren machen?«

Cedric dachte daran, die milden, versöhnlichen Worte seines Va­ters ins Spiel zu bringen, doch dann verzichtete er lieber darauf. Er ahnte, dass seine Mutter sich nicht so leicht würde überzeugen lassen. Er musste ihr gegenüber sachlich aber entschlossen bleiben. Nur dann konnte er etwas erreichen.

»Flora ist in die USA gereist, um ein großes Erbe anzutreten«, er­innerte er seine Mutter ruhig. »Sie tut das, damit unsere Heirat endlich möglich wird. Und ich habe nicht vor, mich zum Narren zu machen. Ich werde ihren Mut würdigen, indem ich ihr folge und sie vor all den Gefahren schütze, die in der Neuen Welt ganz zweifellos auf die war­ten.«

Lady Sybill lachte abfällig. »Ach, wie edel! Und das soll ich glau­ben? Wie kannst du nur so naiv sein, Cedric? Denkst du im Ernst, an dieser fadenscheinigen Geschichte mit dem Erbe ist auch nur ein wah­res Wort? Sie ist mit diesem Anwalt auf und davon, sieh es endlich, wie es ist und höre auf, dir etwas vorzumachen! Dieses Mädchen passt nicht zu dir.«

»Bitte, Mutter, mein Entschluss steht fest.« Der junge Edelmann lächelte schmal. »Es ist schade, dass du Flora nicht kennst, sonst wür­dest du nicht so hässlich von ihr denken.«

»Cedric, bitte...« Die Lady suchte den Blick ihres Sohnes. Sie spür­te, dass sie mit Härte nicht weiterkam und verlegte sich aufs Bitten. »Lass mich nicht im Stich. Wenn dieses Mädchen dich tatsächlich liebt, wenn es so ist, wie du sagst, dann wird sie doch zurückkommen. Du musst nur auf sie warten...«

»Nein, Mutter, so leicht ist es nicht. Glaubst du, ich verkrieche mich hier wie ein Feigling, während Flora vielleicht in Gefahr schwebt? Ich muss zu ihr. Und nichts und niemand kann mich davon abhalten! In zwei Wochen geht meine Passage nach New York.«

»Ich wünschte, ich könnte dich endlich zur Vernunft bringen«, be­schwerte die Lady sich erbost. »Du wirst es bereuen, Cedric, das sage ich dir!«

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»Nein, ganz gewiss nicht.« Er lächelte ein wenig. »Was Flora be­reits freiwillig auf sich genommen hat, um unseres Glücks willen, das ist sehr viel mehr als ich noch tun kann...«

*

»Wollen wir nicht unter Deck gehen? Ich glaube, in einer halben Stun­de wird das Diner serviert.« James Parker betrachtete seine Begleiterin aufmerksam. Seit sie Irland verlassen hatten, war nun eine gute Wo­che vergangen. Der Ozeandampfer befand sich in der Zwischenzeit auf halbem Weg zwischen der Alten und der Neuen Welt. Flora O'Donell hatte sich mit bewundernswertem Mut all dem Neuen und Unbekann­ten gestellt. Und doch spürte der junge Mann, dass sie litt. Mit jeder Meile, die man sich von ihrem Heimatland entfernte, wurde ihr das Herz ein wenig schwerer. James Parker hatte alles getan, um das schöne Mädchen ein wenig aufzumuntern. Dazu hatte bereits der Kauf der Reisegarderobe gezählt, den Flora zusammen mit Mrs. O'Donahue erledigt hatte. Der Anwalt war bemüht gewesen, dem großen Aben­teuer ein wenig den Anstrich einer Vergnügungsfahrt zu geben, um Flora die Scheu zu nehmen. Doch mittlerweile ahnte er, dass ihr größ­ter Kummer die Sehnsucht nach dem geliebten Mann war, den sie zu­rückgelassen hatte. Und daran konnte Parker - so sehr er dies auch bedauerte - nun einmal nichts ändern.

Flora warf ihm nun einen flüchtigen Blick zu, es fiel ihr schwer, das Meer nicht andauernd zu betrachten, erschien es ihr doch wie eine letzte Verbindung zu Irland, zu Cedric. »Ja, gehen wir nach unten«, entschied sie schließlich und nahm den Arm, den er ihr galant bot.

»Sagen Sie, Mr. Parker, wie wird sich unsere Reise denn weiterhin gestalten, wenn wir nach New York kommen?«, fragte Flora eine Weile später, als sie beisammen im Speisesaal saßen. Das schöne Mädchen trug zu diesem Anlass ein Kleid aus himmelblauem Mousselin, wobei der Stoff genau der Farbe ihrer Augen entsprach. Flora hatte sich ein wenig gesträubt, so viele Kleider und Accessoires zu erwerben, doch der Anwalt hatte ihr versichert, dass ihre Tante an alles gedacht habe und auch die Reisegarderobe ausdrücklich in ihren Anweisungen er­

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wähnt sei. Nun fühlte Flora sich ein wenig wie eine Prinzessin und er­wischte sich manches Mal dabei, dass sie verstohlen all die Herrlichkei­ten betrachtete, die in dem großen Schrankkoffer in ihrer Kabine hin­gen. All das sollte ihr gehören? Es war kaum zu glauben, beinahe wie im Märchen...

»In New York haben wir ein paar Tage Aufenthalt, denn die Kut­sche nach Richmond fährt nur einmal die Woche. Die Fahrt dauert einige Tage. Doch ich kann Ihnen versichern, das meiste ist geschafft, wenn dieses Schiff im Hafen von New York anlegt.«

»New York...« Floras klare Augen wurden dunkel. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass sie tatsächlich diese Stadt und dieses Land besuchen würde. Und nun, da sie zu dem wohl größten Aben­teuer ihres jungen Lebens aufgebrochen war, hatte sie es mit wehem Herzen und voller Traurigkeit tun müssen.

James Parker bemerkte es und fragte sie vorsichtig: »Ist es das Heimweh, das Sie bedrückt, meine Liebe? Oder doch etwas anderes, das Sie mir vielleicht nicht anvertrauen wollen?«

Sie lächelte angedeutet. »Sie wissen, Sir, mein Herz ist nicht frei. Der Mann, den ich liebe und dessen Frau ich werden will, er ist ein hoch gestellter Adliger. Bevor ich nach Dublin kam, lebte ich mit mei­nem Vater auf einem winzigen Bauernhof. Wir waren arm, hatten nur wenig zu essen. Damals wäre es undenkbar für mich gewesen, an eine Heirat mit Cedric zu denken. Dann kamen Sie und brachten die Nach­richt von meinem großen Erbe. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, dass ich nur mit Ihnen nach Amerika reise, um als rei­che Erbin heimzukehren und Cedric die Hand reichen zu können. Doch ich vermisse ihn ganz schrecklich. Und je länger wir unterwegs sind, desto größer werden meine Zweifel. Hätte ich nicht warten sollen, an­statt allein aufzubrechen? Familiäre Angelegenheiten hielten ihn zu­rück. Doch als wir dieses Schiff bestiegen, da glaubte ich, recht zu handeln.«

»Es war recht«, bestätigte der junge Anwalt ihr nachdrücklich. »Der Antritt Ihres Erbes, nun, er eilt nicht direkt, doch ich sagte Ihnen bereits, dass Maggie auch einen Sohn hatte. Und, bei Gott, ich traue

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diesem Kerl jede Schurkerei zu, um doch noch an das Erbe zu kom­men, das seine Mutter ihm weise aberkannte.«

»Sie erwähnten das. Aber ich kann mir tatsächlich keinen Grund denken, weshalb ein Mensch sein eigen Fleisch und Blut leer ausgehen lässt und alles einer entfernten Verwandten vermacht.«

James Parker hob angedeutet die Schultern. »Sie kennen Jeff Mit­chelsen nicht. Er ist ein schlechter, ein verderbter Charakter. Bereits als Kind setzte er alles daran seinen Mitmenschen zu schaden. Er hat eine seltsame Freude daran, andere leiden zu sehen. Und sein unheil­voller Hang zu Spiel und Verschwendung hat seiner Mutter bereits mehr als einmal großen Ärger eingebracht. Sie war sogar gezwungen, eine Weide zu verkaufen, die Jeff beim Pokern verspielt hatte.«

»Und deshalb hat sie ihn enterbt?« »Nun, das wäre für Maggie noch kein Grund gewesen. Sie war sol­

chen Kummer gewöhnt. Aber nach dem Tod seines Vaters ging Jeff immer weiter. Er ließ sich treiben, tat keinen Handschlag mehr auf der Ranch, lungerte den ganzen Tag mit zwielichtigen Gestalten herum. Als er schließlich sogar in einen Banküberfall verwickelt war, bei dem der Kassierer erschossen wurde, sagte Maggie sich endgültig und mit blutendem Herzen von ihrem Sohn los. Ich werde nie vergessen, wie sie im Büro des Sheriffs vor Jeffs Zelle stand und ein letztes Mal ver­suchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Er hatte nur Spott und Hohn für sie übrig.«

»Sie tut mir leid. Es muss schlimm sein, das einzige Kind auf diese Weise zu verlieren«, sinnierte Flora.

Parker nickte. »Ja, sie hat sehr darunter gelitten. Doch Maggie war eine starke Frau, die sich durch nichts unterkriegen ließ. Sie such­te und fand eine Erbin.«

Flora lächelte ein wenig. »Ja, das ist schon seltsam... Und was ist aus Jeff geworden?«

»Er saß ein paar Monate im Gefängnis, wurde dann wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Er hatte den Kassierer nicht erschossen, aber er war an dem Überfall beteiligt. Was er danach tat, wo er sich nun aufhält, das weiß niemand so genau. Ich habe nach Maggies Tod nach ihm suchen lassen, weil ich glaubte, dass er vielleicht zur Beerdi­

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gung kommen wollte. Doch seine Spur verlor sich an der Grenze zu New Mexiko. Er treibt sich wohl mit irgendwelchen Halunken in dieser gottverlassenen Wildnis herum. Ich weiß auch nicht, was er sich davon verspricht, oder warum er nichts aus seinem Leben gemacht hat. Schwer zu sagen, was in dem Burschen vorgeht.«

»Wenn er auf die Ranch käme, würde ich ihn gewiss nicht fort­schicken«, erklärte Flora spontan. »Ich hätte ja das Gefühl, ihm das Erbe zu stehlen.«

Der junge Anwalt lächelte nachsichtig. »Sie kennen Jeff Mitchelsen nicht, Flora. Aber Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage: Die­ser Kerl verdient weder Ihr Mitgefühl, noch Ihre Großzügigkeit. Er ist eine Ratte. Und Sie können froh und glücklich sein, wenn Sie ihm nie­mals im Leben begegnen müssen...«

*

Die Ankunft im Hafen von New York gestaltete sich hektisch. Flora hatte das Gefühl, in einen riesigen Moloch aus Beton und Glas ge­worfen zu werden. Eine Stadt, in der über 70 000 Menschen lebten, das war kaum vorstellbar! Die Hochhäuser, die sich wie graue Riesen­finger in den dunstigen Himmel streckten, flößten dem jungen Mäd­chen Angst ein. Und all die vielen, vielen Menschen! Alle waren sie flott unterwegs, ob zu Fuß, zu Pferde oder in einer Kutsche. Jeder schien sein Ziel sehr genau zu kennen und nichts und niemand sollte ihn dar­an hindern, es so schnell wie irgend möglich zu erreichen.

Und dann waren da plötzlich große Parklandschaften. Die Häuser traten zurück, hundertfache Nuancen von Grün, in deren Mitte klare Seen funkelten, erinnerten Flora beinahe an ihre Heimat. Die ersten Eindrücke machten sie atemlos.

James Parker, der die Stadt kannte, ließ ihr Zeit, sich an alles zu gewöhnen. Sie stiegen in einem Hotel der Mittelklasse ab, doch die Halle mit den schweren Teppichen und dem vielen gold verzierten Stuck machte auf Flora trotzdem den Eindruck eines Märchen­schlosses. Sie war eingeschüchtert vom Tempo dieser Stadt, von dem offen zur Schau getragenen Wohlstand und den vielen verschiedenen

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Menschenrassen, die sich hier zu einem bunten, unglaublich lebendi­gen Knäuel zu verwirren schienen.

»Und, was sagen Sie zu New York?«, fragte Parker sie beim Diner. Sie nahmen es im Speisesaal des Hotels ein, der überaus elegant ein­gerichtet war und nicht nur von Hotelgästen benutzt wurde. Flora fühl­te sich unter all den Gentlemen in ihren dunklen Abendanzügen und den Damen in den puderigen Roben wie das berühmte Aschenputtel.

»Ich weiß nicht recht... Ich glaube, es gibt kein Wort, um diese Stadt zu beschreiben«, gestand das schöne Mädchen ein wenig verle­gen ein.

Der junge Anwalt nickte schmunzelnd. »Ebenso ist es mir ergan­gen, als ich das erste Mal hier war. Ich kann auch heute noch nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die immer hier wohnen. Jedes Mal, wenn ich eine Kutsche besteige und wieder nach Richmond fahre, at­me ich erst hinter der Stadtgrenze auf.«

Flora musste lachen. »Ja, das begreife ich nur zu gut.« »Ich habe mich übrigens erkundigt«, fuhr Parker fort. »Die näch­

ste Kutsche nach Richmond geht übermorgen. Wir haben also noch ein wenig Zeit bis zur Weiterfahrt. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen morgen die Stadt zeige? Manhattan mit dem Hafen, Brooklyn, die Bronx, Queens, dort gibt es sehr viele schöne Villen und Richmond, der Stadtteil, der so heißt wie meine Heimatstadt, aber sonst auch nichts mit ihr gemein hat...«

Flora zögerte nicht. Sie war überzeugt, nie mehr im Leben hierher kommen zu können. Das alles war ja doch nur wie ein schöner Traum, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Warum ihn also nicht bis zur Neige auskosten, bevor es Morgen wurde und sie unweigerlich aufwachen musste?

»Das ist eine nette Idee, ich komme gerne mit«, stimmte sie zu. »Und ich bin schon sehr gespannt...«

Der nächste Tag war angefüllt mit einer atemberaubenden Menge von neuen Eindrücken. Flora kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und sie bemerkte nicht, dass ihr Begleiter nach einer Weile seine ent­spannte Ruhe einbüßte. Immer wieder schaute James Parker sich um. Und beinahe jedes Mal begegnete sein Blick einem unauffällig geklei­

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deten Mann, der rasch wieder in der Masse der Menschen, die sie stets umgab, untertauchte.

Am frühen Abend brachte Parker Flora zum Hotel zurück. Sie lä­chelte selig und sagte: »Ich muss Ihnen danken, Mr. Parker. Dieser Tag war wie ein einziger schöner Traum.« Nun bemerkte sie doch, dass etwas nicht stimmte, denn ihr Begleiter blieb ernst, seine Miene angespannt. »Stimmt etwas nicht?«

Der junge Anwalt schüttelte angedeutet den Kopf. Er hatte den seltsamen Mann, der sie den ganzen Tag verfolgt hatte, bereits seit mehr als einer Stunde nicht mehr gesehen. Vielleicht war ja alles auch nur Einbildung, Zufall... Er wollte Flora nicht beunruhigen und schwieg deshalb.

Als sie den Lift betraten, um zu ihren Zimmern zu gelangen, trat der unauffällig gekleidete Mann hinter einer Säule in der Hotelhalle hervor und starrte mit unbewegter Miene auf die Liftuhr, die anzeigte, in welche Etage James Parker und Flora O'Donell gefahren waren. Dann verließ er das Hotel.

Zeitig am nächsten Morgen brachen die beiden jungen Leute auf. Die Kutsche fuhr von der Grand Central Station ab, was einen Weg von knapp einer Stunde bedeutete. James Parker mietete eine Kutsche. Allerdings verzichtete er während der Fahrt darauf, Flora noch weitere Attraktionen der Stadt zu zeigen. Er schien in Gedanken weit fort, dazu unaufmerksam und abgelenkt.

Flora meinte, dass ihr Begleiter wohl schlecht geschlafen hatte und deshalb so übellaunig war. Sie selbst hatte in der vergangenen Nacht kaum Ruhe finden können in dieser riesigen Stadt, die scheinbar niemals schlief. Und als sie dann New York verließen, sagte sie zu Par­ker: »Schade, dass wir nur so kurz hier waren, es war faszinierend. Aber ich bin auch froh.«

Er lächelte angedeutet, als sie ergänzte: »Ich atme auf...« Die Fahrt über Land verlief ruhig. Es war ein sehr warmer Som­

mertag, doch der leichte Fahrtwind, der durch die Kutschfenster nach innen strich, erwies sich als angenehm. Der Kutscher und sein Mitfah­rer wechselten sich alle paar Stunden ab, so kam man recht zügig

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vorwärts. Wenn die Pferde getränkt werden mussten, konnten die Fahrgäste sich die Beine vertreten.

Neben Flora und James befanden sich noch drei weitere Reisende in der Kutsche; ein untersetzter und ständig schwitzender Wäsche­vertreter namens Hanks aus Boston und ein älteres Ehepaar, das seine frisch verheiratete Tochter besucht hatte und nun auf dem Heimweg nach Richmond war.

Direkt hinter New York waren ihnen immer wieder Reiter und auch andere Kutschen begegnet. Doch je weiter man sich von der Stadt­grenze entfernte, desto einsamer wurde die Gegend.

»Die erste Zwischenstation ist in Philadelphia«, ließ James Parker Flora wissen, als sie einen kurzen Stopp eingelegt hatten. »Wir über­nachten in einer einfachen Pension, aber das Essen dort ist genießbar. Die Wirtin stammt auch aus Irland.«

Flora lächelte. »Was für ein netter Zufall.« Sie streckte sich ein wenig. Das Kreuz tat ihr weh von der langen Schaukelei in der Kut­sche. Und bei der Aussicht, diese strapaziöse Reise in absehbarer Zeit in die entgegen gesetzte Richtung und ganz allein wieder antreten zu müssen, wurde Flora doch etwas bang ums Herz. Doch soweit mochte sie noch nicht denken. Nun ging es ja erst einmal darum, diese Fahrt hinter sich zu bringen.

Am späten Abend hatte die Kutsche ihr Ziel erreicht. Philadelphia machte auf Flora einen sehr mondänen und vornehmen Eindruck. Kein Vergleich zum quirligen New York. Und als sie in ihrem Gastzimmer in die gestärkten Laken sank, schlief sie bei der erholsamen Stille, die hier herrschte, auf der Stelle ein. Im Traum sah sie noch einmal die Stationen ihrer bisherigen Reise, doch über allem - fast verblasst und kaum greifbar - leuchtete das Gesicht des geliebten Mannes, der ihr so unendlich fern war.

James Parker war am nächsten Morgen wieder besserer Laune. Er plauderte angeregt mit Flora, schilderte ihr die noch folgenden Statio­nen ihrer Fahrt und endete schließlich mit der Feststellung: »Übermor­gen um diese Zeit sind wir schon auf Brooktree.«

Das junge Mädchen nickte langsam und gestand: »Ich kann es mir noch gar nicht recht vorstellen. Bis jetzt war das alles doch abstrakt

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für mich, beinahe nur wie ein Traumgebilde. Aber wenn Sie jetzt sa­gen, wir sind bald da...«

»Es wird Ihnen gewiss gefallen«, versicherte er liebenswürdig. »Unendliche Ländereien, fruchtbarer Boden, Ställe voller Vieh, edle Reitpferde; für einen Menschen, der dem Landleben etwas abge­winnen kann, ist es ein wahres Paradies.«

»Und Tante Maggie? Hat sie gerne dort gelebt?« »O ja, sie liebte das Land. Als ihr Mann starb, versprach sie ihm in

seiner letzten Stunde, den Besitz zu hüten, der auch ihm viel be­deutete. Allein deshalb war es ja so eine Tragödie für sie, als Jeff so ganz aus dem Ruder lief. Sie hatte sich eine nette Schwiegertochter gewünscht und Enkelkinder, die sie im Arm wiegen kann. Leider blieb ihr dieser Wunsch versagt.« James Parker lächelte milde. »Doch ich denke, sie wäre mit Ihnen mehr als zufrieden gewesen. Brooktree wird wieder eine junge Herrin haben. Und, wer weiß, vielleicht wollen Sie gar nicht mehr fort, wenn Sie alles erst einmal gesehen haben.«

Das konnte Flora sich zwar nicht vorstellen, denn das Heimweh nach Irland und die Sehnsucht nach Cedric erfüllten noch immer ihr Herz. Doch sie widersprach ihm nicht, sondern erwiderte das Lächeln des jungen Anwalts, der sich so große Mühe gab, ihr das Neue, das Unbekannte leicht zu machen.

Knapp eine Stunde später verließ die Postkutsche Philadelphia. Die brütende Hitze, die über dem freien Land hing, ließ alle Reisenden schläfrig werden. Der Wäschevertreter trank dauernd Schnaps aus einem Flachmann und war bald schnarchend in einen tiefen Schlaf gefallen. Und auch das ältere Ehepaar verhielt sich ruhig. Der Mann schien mehr unter der Hitze zu leiden als seine Frau, die Flora von Zeit zu Zeit freundlich zulächelte.

Gegen Mittag, die Kutsche war noch gut eine Stunde vom näch­sten Haltepunkt entfernt, näherte sich schneller Hufschlag. Flora war ebenfalls leicht eingenickt. James Parker aber schreckte sofort hoch und weckte sie unsanft auf. Als sie in sein Gesicht blickte, wusste sie gleich, dass etwas geschehen war oder geschehen würde. Er war ganz blass, sein Blick schreckgeweitet.

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Noch ehe Flora aber eine Frage an ihn stellen konnte, stieß die Frau ihr gegenüber einen spitzen Schrei aus und keuchte: »Mein Gott, Banditen!« Sie drückte sich dicht an ihren Mann, der kaum begriff, was los war. Der Wäschevertreter schnarchte noch immer. James Parker griff in seine Rocktasche und Flora bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass er eine kleine kurzläufige Pistole herauszog. »Was... hat das zu bedeu­ten? Sie wollen sich doch wohl nicht mit den Banditen anlegen?«, frag­te sie ungläubig. Sie hatte die Kerle nun selbst erspäht, es waren fünf oder sechs, finstere Gestalten auf schnellen Palominopferden. Parker wirkte wild entschlossen.

»Ich lasse nicht zu, dass Ihnen etwas geschieht, Flora«, erklärte er, dann zog er den Hahn durch und legte auf den ersten der Bandi­ten, der die Kutsche fast erreicht hatte, an...

*

Flora hatte das Gefühl, sich unversehens in einem schrecklichen Alp­traum zu befinden. Während James Parker noch auf den sich nähern-den Banditen anlegte, kam der Wäschevertreter langsam zu sich. Der ältere Mann ihnen gegenüber fluchte saftig und schlug dem jungen Anwalt auf den Arm, so dass dieser den Schuss verriss. Ein seltsam hohes, sirrendes Pfeifen entstand, als die Kugel als Querschläger in die Decke der Kutsche sauste.

»Was fällt Ihnen ein«, setzte Parker an zu schimpfen, doch der Mann herrschte ihn an: »Sind Sie lebensmüde? Ich kenne solche Kerle. Die wollen nur Geld und Wertsachen. Aber wenn man sich wehrt, wer­den sie gemein. Und wir haben Frauen bei uns!«

Der Wäschevertreter pflichtete dem Mann bei, während sich drau­ßen bereits eine wilde Schießerei entwickelte. Der Kutscher und sein Beifahrer versuchten, die Banditen mit Schüssen aus ihren Flinten zu vertreiben, hatten damit aber wenig Erfolg. Nun zeigte sich, dass der alte Mann die Lage richtig eingeschätzt hatte; die Banditen schossen beide Kutscher ohne Zögern nieder, dann sprang einer wie ein Akrobat auf den Bock und bremste die Kutsche ab, während die anderen eine Eskorte zu beiden Seiten bildeten. Flora schaute in schmutzige, von

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der Sonnenglut verbrannte Gesichter mit tückischen Augen. Sie hatte das Gefühl, als müsse ihr Herzschlag vor Angst aussetzen. Ihre schma­len Hände klammerten sich an die Polsterung der Sitze, als könne sie dort Halt und Trost finden. Parker hatte seine Waffe verschwinden lassen, doch das junge Mädchen ahnte, dass er nur auf einen günsti­gen Moment wartete. Er schien unbedingt den Helden spielen zu wol­len.

Hanks, der Wäschevertreter, ließ seine Brieftasche hektisch zwi­schen die Polster rutschen. Die beiden alten Leute wirkten gefasst, es schien nicht das erste Mal zu sein, dass sie so einen Überfall erlebten. Flora dagegen klopfte das Herz im Halse, als sie die blitzenden Trom­melrevolver der Banditen auf sich gerichtet sah. Sie schloss gleichsam mit dem Leben ab, denn es schien ihr in dieser schlimmen Lage weder Ausweg noch Trost zu geben.

»Alle raus!« Der schnarrenden Stimme folgte ein Fußtritt gegen die Kutschtür, die daraufhin aufsprang. »Na los, wird's bald!«

Ein paar Schüsse in die Luft sollten die verängstigten Passagiere antreiben. Das ältere Ehepaar stieg zuerst aus. Flora sah, wie der Mann von einem Banditen ins Kreuz getreten wurde und strauchelte. Sie wollte sich empören, doch Parker bat sie: »Schweigen Sie, reden Sie nicht mit diesen Kerlen!«

Hanks stolperte nach draußen. Der Musterkoffer entglitt seinen schweißnassen Händen. Mieder, Strumpfbänder und Büstenhalter in allen erdenklichen Farben und Formen landeten im Staub der Straße. Für die Banditen ein gefundenes Fressen. Während sie den Vertreter verhöhnten, zertrampelten ihre Pferde die Wäsche. Flora presste die Lippen aufeinander, denn es fiel ihr nicht gerade leicht, zu schweigen. Was sie hier mit ansehen musste, ging ihr gegen Ehrgefühl und Gewis­sen. Parker hatte sie am Arm gefasst, während sie ausstiegen. Sofort wurde er gepackt und von ihr weggezerrt. Zwei der Banditen waren abgestiegen und hielten den jungen Anwalt fest, während ein Dritter die Reisenden ausplünderte. Dann stieg er in die Kutsche und fand nach kurzer Zeit auch Hanks Brieftasche. In einem Anfall von wütender Verzweiflung schrie dieser: »Das ist mein ganzes Geld, das kriegt ihr nicht, ihr Schweine!«

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»Schweigen Sie doch«, riet der alte Mann ihm, aber er war nicht zu bremsen. Die Hitze, die gefährliche Situation und der Alkohol, den der Mann genossen hatte, machten ihn wild.

»Gib mir mein Geld zurück, du Dreckskerl!«, forderte er und wollte mit bloßen Händen auf den Räuber losgehen. Der machte kurzen Pro­zess; ohne mit der Wimper zu zucken schoss er Hanks einfach nieder. Der übergewichtige Mann gab einen erstaunten Ruf von sich, dann brach er in die Knie und blieb, umgeben von seinen beschmutzten Mustern, mitten auf der Straße liegen.

Flora schloss die Augen, sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu wer­den. Die Schrecken der letzten Minuten waren einfach zuviel für sie. Der Bandit kümmerte sich nicht weiter um sein Opfer. Er filzte das ältere Ehepaar, wandte sich dann an Parker. Der hatte tatsächlich nur auf seine Chance gewartet. Als der Räuber in seine Taschen fasste, riss er sich von den anderen beiden los, zog seine Waffe und wollte feuern. Flora schrie gepeinigt auf. Die Banditen aber waren schneller. Ein gezielter Schuss traf den jungen Anwalt in den Rücken. Bewusstlos brach er zusammen.

Flora wollte zu ihm, ihm helfen, doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Das Entsetzen lahmte sie.

Die Banditen saßen wieder auf. Sie schirrten die Kutschpferde aus, nahmen sie ins Schlepptau. Die beiden Niedergeschossenen schienen sie nicht mehr zu interessieren. Schon glaubte Flora, es sei vorbei, die skrupellosen Kriminellen würden endlich wieder ihrer Wege gehen. Doch sie hatte sich getäuscht. Im nächsten Moment fühlte sie sich von zwei groben Händen gepackt und nach oben gezerrt. Sie schrie, wehr­te sich, doch es nützte ihr nichts. Unter den entsetzten Blicken des älteren Ehepaares wurde Flora von einem der Banditen aufs Pferd ge­zerrt und bereits im nächsten Augenblick ging es davon, fort wie der Wind...

*

James Parker öffnete langsam die Augen und blickte sich ungläubig um. Er befand sich in einem kleinen, sauber eingerichteten Kranken­

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zimmer. Das Bett, in dem er auf dem Bauch lag, war nicht einmal un­bequem. Und doch hatte er das Gefühl, als bohre unablässig jemand mit einer eisernen Faust in seinem Rücken herum. Er wollte aufstehen, doch da verstärkte sich das Bohren in seinem Rücken zu einem ste­chenden Schmerz von eigentümlicher Intensität. Sofort verhielt er sich wieder ruhig.

Was war geschehen? Er konnte sich an nichts erinnern. In seinem Kopf herrschte eine seltsame Leere, die nicht einmal unangenehm war. Und doch, ein leises Gefühl, eine Ahnung sagte ihm, dass er sich erin­nern musste, dass viel davon abhing. Flora!

Unvermittelt blitzten mit diesem Namen die Bilder der vergan­genen Tage in seinem Gedächtnis auf. Überdeutlich und in den grell­sten Farben. Er sah sie auf dem Ozeandampfer, in New York, auf dem Weg nach Richmond... Und er sah ihr entsetztes Gesicht, als urplötz­lich die Banditen aufgetaucht waren und die Kutsche überfallen hatten. Der Überfall! Nun wusste James endlich wieder, was geschehen war. Dieser Wäschevertreter war niedergeschossen worden, die Banditen hatten sich gemein und brutal verhalten. Und Flora? Er konnte sich nicht genau erinnern. Urplötzlich hatte er einen Schlag im Rücken ver­spürt. Und danach klaffte eine dunkle Lücke in seinem Gedächtnis. Wie es schien, hatten die Gangster auch auf ihn geschossen. Doch was war mit Flora? Er musste einfach Gewissheit haben, vorher blieb ihm keine ruhige Minute. Aber wo war er, wem gehörte dieses Haus? Wer hatte sich um ihn gekümmert, ihn verarztet?

Antworten auf all diese Fragen sollte der junge Mann umgehend erhalten. Es dauerte nämlich gar nicht mehr lange, bis ein Mann in mittleren Jahren erschien. Er fühlte James' Puls, warf einen Blick unter den Verband und stellte dann gelassen fest: »Sie hatten großes Glück, Mister. Ein paar Zentimeter weiter rechts und die Kugel hätte in der Wirbelsäule gesessen. Dann hätte ich nichts mehr für Sie tun können.«

»Wer...« Er musste sich erst die Stimme frei räuspern. »Wer sind Sie? Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Und wo sind die anderen Mitreisenden?«

Der Mann nahm sich einen Stuhl, setzte sich neben das Bett, so dass James in sein Gesicht schauen konnte. Es war sympathisch mit

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den vielen Lachfältchen und dem kleinen Bärtchen. »Ich bin Doc Miller, Sie sind hier in Annapolis, auf halbem Weg zwischen Philadelphia und Richmond. Der Sheriff hat die überfallene Kutsche gefunden, er kam gerade zufällig vorbei, das nenne ich noch mal Glück. Wäre er einen anderen Weg geritten, dann hätte es leicht aus mit Ihnen sein kön­nen.«

»Und dieser Vertreter, Hanks, hieß er, glaube ich? Und die älteren Leute. Und Flora? Eine junge Lady, Sie war in meiner Begleitung. Was ist mit ihnen geschehen?«

»Hanks hieß der Mann also.« Dr. Miller machte ein ernstes Ge­sicht. »Tja, für den konnte ich nichts mehr tun. Die Enderbys sind schon weitergefahren, nachdem sie beim Sheriff ihre Aussage gemacht haben. Ja und Ihre Begleiterin, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber wie es aussieht, haben die Banditen sie mitgenommen. Sie ist spurlos verschwunden.«

Parker wurde blass. Er presste die Lippen fest zusammen, denn er hatte das schreckliche Gefühl, vollkommen versagt zu haben. Er hatte sich vorgenommen, Flora vor allen möglichen Gefahren zu schützen, wenn nötig mit dem eigenen Leben. Das schöne Mädchen war ihm keineswegs gleichgültig, auch wenn er respektierte, dass ihr Herz ei­nem anderen gehörte. Die Vorstellung, dass sie sich nun in den Hän­den dieser Strauchdiebe befand, die brachte ihn allerdings beinahe um den Verstand.

»Ich muss sie suchen«, murmelte er verbissen und versuchte noch einmal, aufzustehen. Dagegen hatte der Doktor jedoch etwas.

»Sie dürfen sich die nächsten Tage nicht bewegen. Wenn die Wunde aufplatzt, werden Sie sehr viel länger liegen müssen. Falls Sie danach überhaupt wieder aufstehen können«, mahnte er in aller Of­fenheit. »Also seien Sie lieber vernünftig!«

»Na schön.« James Parker biss die Zähne zusammen. »Dann tun Sie mir wenigstens den Gefallen und schicken Sie den Sheriff her. Ich habe ihm nämlich einiges zu erzählen!«

*

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Flora wusste nicht zu sagen, wo sie sich aufhielt. Der stramme Ritt der Banditen hatte sie nicht nur über Wege oder freies Terrain geführt. Teilweise hatten sie ausgedehnte Wälder hinter sich gelassen, durch die weder Weg noch Steg führte. Für das schöne Mädchen war dieser Ritt wie das Vorspiel zur Hölle gewesen. Sie hatte sich nicht wehren können gegen ihre Entführung, sie vermochte den Gesetzlosen nichts entgegenzusetzen. Mit wachsendem Grauen dachte sie an James Par­ker. Er hatte sich für sie geopfert, hatte sein Leben gegeben, um sie zu schützen. Umsonst. Sie hatte ihm nicht einmal danken können und fühlte sich nun schrecklich schuldig. Allein die Frage, was die Banditen von ihr wollten, verdrängte sie. Es war offensichtlich, was sie vorhat­ten. Und Flora wäre lieber gestorben, als nur einen Gedanken an das zu verschwenden, was ihr blühte.

Über zwei Stunden hatte der Ritt gedauert. Als man endlich das offensichtliche Ziel erreichte, war das schöne Mädchen halb besin­nungslos von den Strapazen, die hinter ihm lagen. Ihr Entführer zerrte sie allerdings ohne Rücksicht vom Pferd und schleifte sie hinter sich her. Vor einer erkalteten Feuerstelle ließ er sie los und kümmerte sich nicht weiter um sie. Flora schaute sich verschüchtert um. Das Lager der Banditen war bei einigen Höhlen errichtet worden. Nun bemerkte sie auch, dass die Landschaft sich ganz verändert hatte. Das weite parkähnliche Land zwischen Philadelphia und Richmond war hügeliger geworden, dichter Laubwald umgab sie. Und die Höhlen bestanden aus einem auffallend rötlichen Gestein, wie Flora es noch nie gesehen hatte. Doch sie war weniger an ihrer Umgebung interessiert als an der Möglichkeit, zu fliehen. Vielleicht gab es hier in der Nähe ja eine menschliche Ansiedlung, ein kleines Dorf, in dem sie Schutz vor ihren Kidnappern suchen konnte. Die Banditen kümmerten sich momentan nicht um sie. Doch noch ehe sie einen Fluchtplan schmieden oder gar in die Tat umsetzen konnte, hörte sie aufgeregte Stimmen und Pfer­degetrappel, das sich rasch näherte. Die Banditen rannten zusammen und gleich darauf erschien ein Reiter, der in Auftreten und Stil so gar nicht zu den schmierigen Prärieläusen zu passen schien. Er ritt ein schneeweißes Pferd mit schwerem mexikanischem Sattelzeug, das silberbeschlagen war. Seine Kleidung war dunkel bis zu dem Hut, des­

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sen breite Krempe sein Gesicht teilweise verdeckte. Der Mann war groß und athletisch gebaut. Mit einem elastischen Satz sprang er vom Pferd, das er einem seiner Helfer überließ. Er wechselte ein paar knappe Worte mit den anderen, die sich daraufhin sofort trollten. Dann kam er auf Flora zu und zog den Hut vor ihr. Sie bemerkte, dass er ein schmales, gut geschnittenes Gesicht mit samtbraunen Augen hatte. Doch etwas an diesen Augen, diesem Blick stieß sie spontan ab. Es war wie das heimliche Kainsmal, das ihn mit dem Treiben seiner Kum­pane verband und aus der normalen menschlichen Gesellschaft aus­schloss.

Er lächelte nun angedeutet, aber dieses Lächeln erreichte nicht seine Augen, die das schöne Mädchen mit seltsamer Glut betrachteten. »Miss O'Donell, ich muss mich für die Unannehmlichkeiten, die Sie zu erleiden hatten, entschuldigen. Doch seien Sie versichert: Es soll Ihnen hier an nichts mangeln. Hank Johnson ist für seine Gastfreundschaft bekannt. Und manchmal auch gefürchtet.« Er lachte selbstsicher auf und trat noch etwas näher. Flora wich zurück. Ihre himmelblauen Au­gen waren voller Verachtung, als sie erwiderte: »Ihre Worte mögen wohl gesetzt klingen, Sir, aber Ihr bisheriges Verhalten straft Sie Lü­gen. Sie ließen mich entführen, zwei Menschen starben...«

Johnson grinste. Mit einer gedankenschnellen Bewegung packte er Flora um die schlanke Taille und starrte ihr in die Augen. Flammendes Begehren und eine kalte Hemmungslosigkeit spiegelten sich in diesem Blick, der das schöne Mädchen für einen Moment beinahe willenlos machte. Dann aber versetzte Flora dem Gesetzlosen eine schallende Ohrfeige und zischte ihn an: »Nehmen Sie Ihre Hände von mir, Mis­ter!« Der Bandit war kurz überrascht. Für ein paar Sekunden stand die Situation auf der Kippe. Doch Flora hatte keine Angst. Lieber wollte sie auf der Stelle sterben, als sich der Gewalt zu beugen, die sein Blick ihr androhte. Schließlich ließ Johnson sie wieder los, mit einer betont nachlässigen Geste. Aber sie spürte, dass sie ihn verunsichert hatte. Ein kleiner Triumph in einem gewagten Spiel, dessen Ausgang völlig ungewiss schien.

»Also, schönes Kind, Sie scheinen tatsächlich eine Lady zu sein. Gut. Ich werde Ihnen beweisen, dass Ihre schlechte Meinung über

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mich falsch ist. Denn ich bin nicht der Hund, den Sie gerne prügeln möchten. Sie werden meine Gesellschaft noch zu schätzen lernen, das verspreche ich Ihnen!«

Er wandte sich zum Gehen, da fragte Flora: »Was beabsichtigen Sie, Mr. Johnson? Wieso bin ich hier? Wenn Sie denken, jemand würde für mich Lösegeld zahlen, dann irren Sie sehr...«

Er setzte seinen Hut wieder auf, musterte sie eine Weile stumm, wobei seine schlanken sehnigen Finger ein wenig nervös mit den bei­den Revolvern spielten, die er tief am Gurt trug. Schließlich, als Flora bereits sicher war, dass er ihr gar keine Antwort geben würde, erklärte er: »Ihr Aufenthalt hier wird schon seinen Sinn haben. Und, glauben Sie mir, er bringt mir in vielerlei Hinsicht einen Profit ein.«

*

Einige Tage vergingen, in denen Flora sich allmählich an ihre Situation gewöhnte. Sie schlief schlecht in der Nacht, schreckte immer wieder aus wirren Träumen. Nicht nur die Gesellschaft der Banditen ängstigte sie, auch die fremden Geräusche, die aus dem Wald drangen, machten ihr zu schaffen. Allerdings schien es so, als wolle Hank Johnson Wort halten. Er hatte seinen Kumpanen eingeschärft, Flora in Ruhe zu las­sen. Und er selbst gab sich ihr gegenüber wie ein Gentleman. Sie meinte aber, ihn zu durchschauen. Seine zurückhaltende, wohlerzoge­ne Art konnte den Banditen, der sich dahinter verbarg, nur unzurei­chend verstecken. Zudem fragte Flora sich unausgesetzt, was es mit ihrer Entführung auf sich hatte. Ein Mann wie Hank Johnson raubte und tötete für Geld. Er war nicht der Typ Mensch, der eine ihm völlig fremde Frau entführte, um sie in seinem Versteck im Wald von seinen guten Manieren zu überzeugen. Irgendetwas stimmte da nicht. Und nichts passte wirklich zusammen.

Mittlerweile hatte Flora den Gedanken an Flucht aufgegeben. Sie wusste, dass es im Umkreis von mehreren Meilen kein Dorf, keine Stadt gab. Das hatte sie aus der Unterhaltung zweier Banditen ge­schlossen, die sie heimlich belauscht hatte. Wenn sie sich befreien wollte, dann konnte ihr das nur mit einer List gelingen. Und sie glaub­

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te, bereits eine Möglichkeit gefunden zu haben. Flora wusste, dass Hank Johnson eitel war. Er bildete sich wohl ein, etwas Besonderes zu sein. Und er schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, sie mit sei­nem Charme einzuwickeln.

Wenn sie nun zum Schein darauf einging... Alles in ihr sträubte sich bei diesem Gedanken. Der Gesetzlose war ihr zuwider. Auch wenn er eine gewisse, nicht zu unterschätzende Anziehungskraft besaß, so verachtete sie ihn doch und wünschte, ihm niemals begegnet zu sein. Aber sie durfte nicht so denken. Wichtig war jetzt nur, ihr Leben zu retten. Und wenn sie dafür einen Frosch küssen musste, dann ließ sich das eben nicht ändern...

Hank Johnson schien nicht zu ahnen, was hinter Floras klarer Stirn vorging. Während er sich ihr gegenüber höflich und freundlich gab, umschlich er sie heimlich wie eine Raubkatze ihre Beute. Das schöne Mädchen hatte sein leidenschaftliches Herz berührt, er wollte Flora besitzen, sie nicht wieder gehen lassen. Und er war bereit, viel für sie zu wagen... Als sie sich an diesem sonnigen Morgen an einem kleinen Bach im Wald wusch, stand der Gesetzlose plötzlich vor ihr. Heftig errötend wich sie zurück, raffte ihr Kleid am Hals zusammen und fuhr ihn an: »Was erlauben Sie sich! Verschwinden Sie auf der Stelle!«

Doch Johnson dachte gar nicht daran. Er kam im Gegenteil auf Flora zu, packte sie am Arm, dass sie aufschrie und murmelte mit hei­serer Stimme: »Du bist das schönste Mädchen, das mir je begegnet ist. Ein Wort - und du bist frei! Ich würde alles für dich tun. Und das sind keine leeren Worte!« Noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie an sich gerissen und küsste sie so leidenschaftlich, dass ihr fast die Sinne schwanden.

»Du sollst mein werden«, murmelte er zwischen zwei Küssen und packte sie fester. Flora nahm kaum wahr, was um sie herum geschah, sie war starr vor Angst und zugleich zutiefst verstört. So hörte sie auch nicht die Schritte, die sich ihnen näherten. Johnsons geschärfte Sinne aber bemerkten sie. Abrupt ließ er von dem Mädchen ab und wirbelte herum. Doch es war nur einer seiner Kumpane, der da kam. Noch ehe der Bandenchef ihn anfahren konnte, erklärte er mit gedämpfter

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Stimme: »Du solltest zum Lagerplatz kommen, Boss. Jeff ist da. Und er will wissen...«

»Schon gut, ich komme«, entgegnete Hank knapp, gab dem Ban­diten einen Stoß, dass dieser leicht taumelte und dämlich lachte und folgte ihm dann, ohne sich weiter um Flora zu kümmern.

Das schöne Mädchen brauchte eine Weile, um wieder zu sich zu kommen. Johnsons fordernde Leidenschaft hatte Flora zutiefst ver­wirrt. Denn sie glaubte nun zu wissen, dass dieser Mann sie liebte. Es war seine Art, ihr zu zeigen, wie viel sie ihm bedeutete. Und er hatte ihr zudem angeboten, sie freizulassen. Je länger sie den Banditen kannte, desto weniger verstand sie ihn. Nachdem Flora sich wieder ordentlich zu Recht gemacht hatte, kehrte sie langsam zum Lagerplatz zurück. Sie musste an die Worte des Mannes denken, der sie eben mit seinem Auftauchen gerettet hatte. Er hatte davon gesprochen, dass jemand gekommen sei, ein gewisser Jeff. Flora dachte auf dem ge­samten Rückweg zum Lagerplatz darüber nach, wo sie diesen Namen schon einmal gehört hatte. Er kam ihr bekannt vor. Und sie wusste auch, dass es kein angenehmer Zusammenhang gewesen war. Doch wo war es, wer hatte von Jeff gesprochen? Sie konnte sich einfach nicht erinnern...

Als sie ihr Ziel erreichte, sah sie noch einen Reiter, der sich rasch entfernte. Johnson stand neben dem Feuer, auf dem einer der Ban­diten Kaffee kochte. Sein schmales Gesicht wirkte wie versteinert. Flo­ra vermutete, dass der Besucher schlechte Nachrichten gebracht hatte.

Sie setzte sich etwas abseits des Feuers auf einen Stein und ver­hielt sich ruhig. Einer der Männer kam, brachte ihr Kaffee und etwas getrockneten Speck. Johnson kümmerte sich nicht um sie. Nach einer Weile ritt er fort. Nachdem er das Lager verlassen hatte, senkte sich eine schläfrige Stille über die Szenerie. Der Tag wurde heiß, feuchte Luft stand wie eine Mauer über dem Wald. Flora litt unter dem ex­tremen Wetter, das sie so nicht kannte. Erst mit dem Abend kam ein leichter, fächelnder Wind auf, der etwas Abkühlung mit sich brachte. Das schöne Mädchen war eingeschlafen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Sogleich fuhr Flora hoch und starrte erschro­cken in Hank Johnsons Gesicht. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass

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sie allein waren. Sofort wich sie etwas von ihm zurück, doch er lächel­te, ein wenig wehmütig, wie es schien und erklärte: »Ich muss mit dir reden, Flora. Du sollst die Wahrheit erfahren.«

»Was... meinen Sie damit?«, fragte sie unruhig. »Die Wahrheit...« Er ließ sich neben ihr nieder, starrte eine Weile

in die Flammen des Feuers, deren Widerschein sein markantes Gesicht zu einem Schattenriss machte. Ein eigener Zauber haftete dieser Situa­tion an und Flora mahnte sich selbst, weiterhin auf der Hut zu bleiben. Als Johnson schließlich zu ihr sprach, begriff sie aber, dass er ganz anderes im Sinn hatte, als sich ihr wieder zu nähern.

»Es war kein Zufall, dass die Kutsche überfallen wurde. Und es war auch kein Zufall, dass man dich entführt hat. All das gehört zu einem Plan. Dem Plan eines Mannes, dem du im Weg bist.« Er wandte ihr das Gesicht zu, seine samtbraunen Augen funkelten geheimnisvoll. »Ahnst du, von wem ich spreche?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne keine Menschenseele in die­sem Land. Ich verstehe nicht...«

Er lächelte schmal. »Du bist wirklich naiv, Flora O'Donell. Glaubst du, es ist so leicht, in ein fremdes Land zu gehen und dort sein Glück zu machen? Hast du überhaupt eine Vorstellung von den Heerscharen, die hierher kamen, ins gelobte Land, um reich zu werden und dann einen frühen und sinnlosen Tod fanden und noch immer finden? Seu­chen, Hunger, Indianer. Hinter der Grenze nach Westen lauern viele Gefahren.«

»Aber ich bin hierher gekommen, um mein Erbe anzutreten.« Sie starrte ihn ungläubig an, denn gerade eben war ein ungeheuerlicher Verdacht in ihr aufgestiegen. Jeff... Hieß nicht Tante Maggies Sohn so?

Johnson lachte. »Ich sehe, du begreifst allmählich. Jeff Mitchelsen ist ein kleines Licht. Er hat es als Ranchersohn zu nichts gebracht und er ist auch in unseren Kreisen nur eine Ratte. Aber er hat Aussicht auf ein riesiges Erbe. Und davon wollte ich mir eine dicke Scheibe ab­schneiden, um mich endlich zur Ruhe setzen zu können, verstehst du?« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Ich bin es leid, wie ein wil­des Her im Wald zu hausen, zu rauben und zu töten, um von der Hand

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in den Mund zu leben. Ich will auch einen Platz, wo ich meinen Hut hinhängen kann. Eine Frau und Kinder...«

»Machen Sie sich nicht lächerlich!« Er packte sie unvermittelt bei den Schultern und starrte sie böse

an: »Red nicht so mit mir! Ich bin ein Mensch mit Gefühlen, kein Stück Dreck. Es liegt nur an mir, ob du noch eine Zukunft hast. Ich brauche dir bloß deinen schönen Hals umzudrehen. Und schon bin ich ein rei­cher Mann!«

Sie erwiderte seinen Blick ruhig, obwohl ihr das Herz im Halse klopfte. »Dann tun Sie es. Sie werden doch nicht glücklich werden mit ihrem gestohlenen Stück Leben.«

Er sah sie noch immer an, doch seine Augen waren nun traurig. »Du verstehst mich nicht, Flora. Ich könnte dir nie etwas antun.« Er gab sie frei und stand auf. »Aber Mitchelsen besteht auf der Einhal­tung unserer Abmachung. Er hätte keine Skrupel, dich über den Hau­fen zu schießen und über deinen toten Körper hinweg auf Brooktree Einzug zu halten.«

»Und was soll nun werden?«, fragte Flora nach einer Weile leise. Sie begann zu begreifen, dass die Dinge nicht so einfach waren, wie sie immer geglaubt hatte. Es gab nicht nur Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Das Leben hatte viele Farben und Schattierungen, ebenso wie der Charakter eines Menschen. Und sie wusste nun wirklich nicht, was sie noch denken, wem sie noch trauen konnte. Wäre nur Cedric bei ihr gewesen. Doch er war weit fort, unerreichbar...

Johnson stocherte im Feuer herum und schwieg. Schließlich kehrte er zu ihr zurück, schaute sie aufmerksam an und erklärte: »Es gibt nur einen Weg. Wenn du mir vertraust, Flora, werde ich dein Leben ret­ten.«

Sie erwiderte seinen Blick ernsthaft. Im tiefsten Herzen wusste Flora, dass es Wahnsinn war, diesem Gesetzlosen, Verbrecher, diesem Mörder, an dessen Händen schon soviel Blut klebte, ihr Leben anzuver­trauen. Doch eine leise Stimme riet ihr, es zu tun, es zu wagen. Sie meinte, neben all dem Schlechten, das den Charakter von Hank John­son prägte, auch noch eine andere Seite kennen gelernt zu haben. Seine Gefühle für sie waren echt. Und vielleicht besaß dieser Mann

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sogar etwas wie Ehrgefühl. Er würde zu seinem Wort stehen. Sie ahn­te, dass sie es wagen konnte.

»Und wie sieht dieser Weg aus?«, fragte sie unsicher. Er lächelte ein wenig, als er sie wissen ließ: »Ich werde dich nach

Brooktree begleiten. Meine Männer beschützen dich mit ihrem Leben. Jeff Mitchelsen kann dir nichts anhaben und du hältst dort Einzug als die neue Herrin.«

»Und was ist der Preis?« Johnsons Lächeln vertiefte sich. »Du hast mich wirklich kennen

gelernt in dieser kurzen Zeit, Flora O'Donell.« »Ich weiß, dass Sie nichts tun, ohne sich einen Vorteil davon zu

versprechen«, entgegnete sie kühl. »Und es muss ein besonderer Vor­teil sein, der Sie gegen Jeff Mitchelsen handeln lässt. Was ist es? Wol­len Sie Brooktree übernehmen? Ist es die Ranch, Geld, Besitz?«

»Nichts von alledem.« Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. »Ich will, dass du meine Frau wirst, Flora...«

*

James Parker bedachte Sheriff Gordon mit einem unwilligen Blick. »Was soll das heißen, die Armee schickt in drei Tagen Soldaten? Bis dahin kann alles zu spät sein. Wenn Mitchelsen in der Gegend ist, dann...«

»Nun beruhigen Sie sich mal, Parker«, brummte der Gesetzeshü­ter, ein knorriger Zweimetermann mit Schnauzbart. »Es läuft alles nach Plan. Meine Deputies haben Mitchelsen seit fast zwei Wochen nicht aus den Augen gelassen. Und ich bin sicher, er wird sich über kurz oder lang mit den Entführern von Miss O'Donell treffen. Nur so ergibt das Ganze einen Sinn. Und dann schlagen wir zu und schnappen die ganze Bande.«

Parker schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht! Wäre ich nicht so lange ans Bett gefesselt gewesen, dann...«

»Bilden Sie sich ein, Sie hätten Miss O'Donell finden und befreien können? Sieht aus, als hätten Sie ein bisschen den Sinn für die Realität verloren, Mr. Parker. Mitchelsen ist ein Gangster der übelsten Sorte.

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Und Sie können davon ausgehen, dass seine Spießgesellen aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Gegen die haben Sie keine Chance, das ist Ihnen doch schon mal plastisch vor Augen geführt worden.«

Der junge Anwalt presste die Lippen aufeinander, denn er ließ sich nicht gerne an den Überfall und seine Unfähigkeit, Flora zu beschüt­zen, erinnern. Sheriff Gordon klopfte ihm nachsichtig die Schulter. »Nun seien Sie mal friedlich, Mann. In drei Tagen reiten wir los. So­bald Mitchelsen auftaucht und meine Deputies uns grünes Licht geben, schnappt die Falle zu.«

James Parker wollte das gar nicht gefallen. Er knurrte: »Ich kann nur hoffen, dass es dann noch nicht zu spät ist...«

Während der junge Anwalt sich noch in Annapolis aufhielt, hatte Hank Johnson mit seiner Bande und in Begleitung von Flora sein Ver­steck in den Wäldern verlassen und sich auf den Weg nach Richmond gemacht. Das schöne Mädchen war zum Schein auf die Forderung des Banditen eingegangen. Flora wusste, dass dies ihre einzige Chance war. Nur so konnte sie nach Brooktree gelangen und dort vielleicht auf Hilfe hoffen. Wenn Johnson sich aus seiner Deckung begab und den gesetzfreien Raum verließ, hatte er keine absolute Gewalt mehr über sie. Und dann musste es einfach eine Möglichkeit geben, sich aus sei­nen Händen zu befreien.

Am frühen Abend hatten sie Richmond fast erreicht, Johnson ent­schied, vor der Stadt zu lagern und einen Kundschafter loszuschicken. »Man weiß nie, wo Jeff sich herumtreibt. Und ich habe wenig Lust, in eine Falle zu gehen«, erklärte er Flora gegenüber. »Morgen reiten wir weiter nach Brooktree.« Seine Augen suchten ihren Blick. »Du solltest nicht vergessen, was du mir versprochen hast, Flora.«

»Ich stehe zu meinem Wort«, betonte sie ruhig. »Tun Sie das auch, so soll es mir recht sein.«

Johnson lachte. »Du bist eine stolze Frau. Im Leben sind mir viele Weiber über den Weg gelaufen, aber keine war wie du. Kein Wunder, dass dieser Parker dich mit seinem Leben beschützt hat.«

»Woher wissen Sie...« »Ich weiß es, das genügt doch.« Er schob den Hut übers Gesicht.

»Und jetzt werde ich eine Weile schlafen. Schließlich ist morgen ein

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besonderer Tag für uns beide. Der Beginn unseres neuen, ge­meinsamen Lebens!«

Flora sagte nichts. Die Erwähnung James Parkers hatte ihr das Herz schwer gemacht. Sie fühlte sich schuldig, denn er hatte schließ­lich sein Leben für sie gegeben. Während Johnson leise vor sich hin schnarchte, dachte Flora an ihre Heimat, an Cedric. Ihr früheres Leben schien ihr unendlich weit entfernt. Nicht zum ersten Mal wünschte sie, Irland nie verlassen zu haben. Selbst wenn dieses Erbe ihr als Chance erschienen war, ein Leben an Cedrics Seite führen zu können, war der Preis, den sie nun vielleicht zahlen musste, doch viel zu hoch...

Sehr zeitig am nächsten Morgen brach die Bande um Hank John­son nach Brooktree auf. Flora hatte keinen Schlaf gefunden in der ver­gangenen Nacht und die Rückkehr des Kundschafters miterlebt. Er gab Entwarnung, wie es schien, hatte niemand Mitchelsen in der Gegend gesehen. Doch die Gefahr, in der Flora schwebte, war damit längst nicht gebannt, das wusste sie nur zu genau.

Der Ritt dauerte gut zwei Stunden. Das Anwesen von Tante Mag­gie lag außerhalb der Stadt und erstreckte sich über viele Quadrat­meilen umzäuntes Weideland. Von einem Wegkreuz an verkündete eine Tafel, dass man nun Privatland betrete. Flora schaute sich mit wachen Augen um. Die Landschaft war lieblich, beinahe wie ein riesi­ger Park. Gruppen von gigantischen Bäumen wechselten sich mit grü­nem Buschwerk ab, das Koppeln mit großen Herden edler Pferde um­gab. Saftig grünes Weideland, das selbst jetzt, im Spätsommer nichts von seiner Fruchtbarkeit verloren hatte, reihte sich an große Felder, auf denen das Korn hoch stand oder bereits geerntet worden war. Flora musste an das denken, was James Parker zu ihr gesagt hatte; dass Brooktree ein Paradies sei für denjenigen, der dem Landleben etwas abgewinnen könne. Das schöne Mädchen spürte, wie sein Herz schneller schlug. Allein die Vorstellung, dass dies alles nun ihr gehören sollte, war ebenso atemberaubend wie märchenhaft. Und doch... Glücklich konnte Flora nicht sein, denn es gelang ihr nicht, die Wirk­lichkeit in dieser schönen Umgebung auch nur einen Moment lang zu vergessen. Sie warf Johnson, der an ihrer Seite ritt, einen scheuen Blick zu. Er wirkte verändert auf sie. Angespannt und aufmerksam,

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aber auch in gewisser Weise zufrieden. Sie fragte sich, ob er tatsäch­lich glaubte, sein bisheriges Leben abstreifen zu können wie ein altes Hemd, um hier mit ihr neu anzufangen. So viel naive Träumerei passte nicht zu einem Mann, der sein Leben lang über Leichen gegangen war, um sein Ziel zu erreichen. Er erwiderte ihren Blick, lächelte ein wenig und versicherte: »Es wird alles gut, Flora. Du brauchst dich nicht zu fürchten, ich...«

Sie waren noch gut eine Meile vom Haupthaus entfernt. Der Weg führte durch mannshohes Buschwerk und war unübersichtlich ge­worden. Und Hank Johnson schien plötzlich seine instinkthafte Vorsicht verloren zu haben. Der Schuss kam quasi aus dem Nichts und traf den Bandenchef in den rechten Arm. Für ein paar Sekunden herrschte heil­lose Verwirrung, dann schrie Johnson: »Alle in Deckung, verdammt, das ist eine Falle!«

Die Banditen ließen sich von ihren Pferden gleiten und huschten ins Unterholz. Dem ersten Schuss waren noch weitere gefolgt. Wäh­rend Johnson, Flora im Schlepptau, hinter dem breiten Stamm einer uralten Eiche in Deckung ging, zerrte er sein schmales Halstuch herun­ter und schlang es um die Wunde, die stark blutete. »Es ist nur einer«, zischte er Flora zu, die verschreckt neben ihm kauerte. »Das ist Mit­chelsen.«

Einer der Banditen robbte heran, Hank trug ihm auf, die anderen zu informieren. »Wir ziehen einen Kreis um ihn und machen ihn kalt«, bestimmte er ohne zu zögern.

Flora schluckte. Eben noch hatte sie geglaubt, dass der Mann an ihrer Seite sich geändert hätte. Nun wurde ihr plastisch ihr Irrtum vor Augen geführt. Johnson war ein Bandit, er konnte nur in eine Richtung denken. Und er würde sich nie ändern.

»Du bleibst hier. Rühr dich nicht vom Fleck«, forderte er. »Aber ich fürchte mich, ich...« Er nahm einen seiner Revolver und drückte ihn ihr in die Hand.

»Sei vorsichtig damit, der geht sehr leicht los. Es dauert nicht lang.« Damit war er fort. Flora betrachtete voller Entsetzen die Waffe, die in ihrem Schoß lag. Eine gespenstische Stille hatte sich plötzlich über das Land gelegt. Kein Vogel sang mehr in den hohen Bäumen, nicht einmal

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ein Lüftchen wehte noch. Es war, als halte die Natur den Atem an, voller Bangigkeit vor dem, was nun geschehen sollte. Das schöne Mädchen dachte daran, zu fliehen. Nun war die ideale Chance. Sie war allein, sogar im Besitz einer Waffe. Und wenn Johnson sie fand, konnte sie ihn... Entschieden schüttelte sie den Kopf und schob die Waffe von sich. Nein, sie wollte damit nichts zu tun haben. Und sie durfte sich auch nicht vom Fleck rühren, denn sie lief Gefahr, Mitchelsen zu be­gegnen. Sicher würde er keine Sekunde zögern, sie zu erschießen. Hank Johnson hatte ihr ja deutlich gemacht, was für ein Mensch ihr Cousin war. Flora atmete zittrig aus. Die Anspannung, die von ihr Be­sitz ergriffen hatte, war kaum noch zu ertragen. Ihr Herz hämmerte wie verrückt gegen die Rippen, alles drehte sich vor ihren Augen und kurz schien es ihr, als verliere sie das Bewusstsein. Doch im nächsten Moment änderte sich alles.

Gleichzeitig krachten mehrere Schüsse los. Und eine Hand legte sich von hinten über ihren Mund, verhinderte so, dass sie schreien konnte...

*

Johnson und seine Männer waren überaus vorsichtig. Sie bewegten sich beinahe lautlos durchs Unterholz, schlichen sich an ihren Gegner, mit der ruhigen Sicherheit von Raubkatzen heran. Hank sollte sich nicht geirrt haben; Jeff Mitchelsen war tatsächlich da. Und er war al­lein. Wie immer hatte der Sohn von Maggie Mitchelsen sich selbst grenzenlos überschätzt. Nachdem deutlich geworden war, dass John­son sich nicht an ihre Abmachung halten würde, hatte Jeff beschlos­sen, die Bande in Brooktree zu erwarten, ihnen eine Falle zu stellen und den verdammten Verräter vor aller Augen zu erschießen. Leider war ihm das nicht auf Anhieb gelungen. Und so hatte er sich nun zu­rückziehen und abwarten müssen. Dass seine Gegner ihn längst aus­findig gemacht hatten, ahnte er nicht. Jeffs herausragende Charakter­züge waren Egoismus und Selbstüberschätzung. Seine Intelligenz war dabei ein wenig zu kurz gekommen.

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So fiel er aus allen Wolken, als Johnson und seine Männer ihn plötzlich umzingelt hatten. Noch bevor er seinen Revolver überhaupt ziehen konnte, war er entwaffnet und blickte in die Mündung von ei­nem halben Dutzend Colts. Sofort überfiel ihn das große Zittern und er brabbelte: »Ich wollte dir nichts tun, Johnson, ehrlich! Hey, Mann, wir sind doch Freunde, Kumpel. Ich wollte euch nur warnen. Hier ist es nicht sicher, überall Sheriffsterne und...«

Hank Johnson grinste kalt. »Halt's Maul, du Feigling. Stirb wenigs­tens wie ein Mann, wenn du schon nicht wie einer leben konntest.« Er hob den Arm mit seiner Waffe an und richtete sie auf sein Gegenüber.

Mitchelsen stieß einen hohen Wehlaut aus und riss die Hände vors Gesicht, dabei keifte er: »Das wirst du bereuen, ich werde...« Seine Worte gingen in mehreren Gewehrschüssen unter, die gleichzeitig ab­gefeuert wurden und sich zum gnadenlosen Nadelöhr um die Banditen zusammenzogen. Zwei wurden in den Rücken getroffen und brachen tot zusammen. Johnson rettete sich durch einen Hechtsprung hinter einen Felsen, während Jeff Mitchelsen gleich von mehreren Schüssen durchlöchert wurde und seine erbärmliche Existenz an dem Platz aus­hauchte, der ihm selbst zur Rache hatte dienen sollen. Sheriff Gordon und seine Deputies kamen langsam näher, ohne ihre Deckung zu ver­lassen. Der Gesetzeshüter zischte James Parker zu, der an seiner Seite war: »Seien Sie bloß vorsichtig. Vier der Kerle sind noch da. Und der Anführer, Hank Johnson, steht auf meiner Wunschliste ganz oben. Er ist gefährlich wie eine Klapperschlange und wird in fünf Bundesstaaten wegen Mordes gesucht. Also versuchen Sie jetzt nicht, den Helden zu spielen!«

Der junge Anwalt schluckte hart an einer Erwiderung. Er wusste, dass Flora dort draußen war, vermutlich in Johnsons Nähe. Er hatte sie eben zusammen gesehen und doch konnte er nichts tun. Zuerst hatte Mitchelsen das Geschehen diktiert. Und nun sollte er sich wieder an die Vorgaben eines anderen halten. Aber da spielte er nicht mit!

»Ich gehe außen rum«, beschloss er. Noch ehe Gordon ihn aufhal­ten konnte, hatte James Parker sich aus seiner unmittelbaren Nähe entfernt. Der Sheriff stieß einen saftigen Fluch aus, konnte aber mo­mentan nichts tun, denn die Banditen hatten wieder das Feuer eröff­

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net. Er musste sich auf die Angreifer konzentrieren und konnte nur hoffen, dass Parker mehr Glück als Verstand hatte.

Der junge Anwalt kämpfte sich durch dichtes Buschwerk, darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Er wollte zu der Stelle gelangen, an der Mitchelsen die Banditen gestoppt hatte, denn er vermutete Flora dort. Erst wenn er sie in Sicherheit wusste, konnte er sich wieder an die Seite des Sheriffs stellen. Parker hatte bereits eine gute Strecke Wegs hinter sich gebracht, als er unvermittelt einen Schlag in den Nacken erhielt. Er sah Sterne, stieß einen erstickten Laut aus und kippte nach vorne weg. Der junge Deputy, den Gordon als Nachhut zurückgelassen hatte, beugte sich über den Mann und drehte ihn auf den Rücken. Dabei entschlüpfte ihm ein nicht ganz stubenrei­ner Fluch. Verdammt, er hatte den Anwalt erwischt! Was tat der aber auch hier, statt an der Seite des Sheriffs zu kämpfen? Mit einem be­dauernden Schulterzucken lehnte er den Bewusstlosen gegen einen Baumstamm. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Und wer konnte schon sagen, wozu es gut war? Jetzt befand James Parker sich wenigstens außer Lebensgefahr.

*

Flora war ein paar Sekunden lang starr vor Schreck gewesen. Dann aber tastete ihre Rechte nach dem Revolver, während sie versuchte, sich aus dem Griff des Unbekannten zu winden. Noch ehe sie die Waf­fe zu greifen bekam, hörte sie aber eine ihr sehr bekannte Stimme sagen: »Nicht, Flora, ich bin es doch...«

Sie riss die Augen weit auf, wirbelte herum - und meinte, zu träu­men. Nur ein Wort kam über ihre Lippen und es war nicht viel mehr als ein Hauch. »Cedric...«

Der junge Ire lächelte angedeutet. Als die Schießerei an Intensität zunahm, bat er Flora: »Stell jetzt keine Fragen, komm mit mir. Ich bringe dich in Sicherheit.«

Sie starrte ihn noch immer an wie einen Geist, eine Erscheinung, an deren Existenz sie einfach nicht glauben konnte. Da zog er sie in seine Arme und küsste sie innig. Ein nie gekanntes Glücksgefühl stieg

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in ihr auf, sie klammerte sich an Cedric, sprach immer wieder seinen Namen und lachte und weinte in einem Atemzug. Schließlich nahm er sie auf die Arme und trug sie fort. Ganz in der Nähe stand eine Kut­sche. Der junge Edelmann bettete seine Liebste behutsam in die wei­chen Polster, schwang sich dann auf den Bock und trieb die Pferde an. Fort ging es in rascher Fahrt. Cedric hatte sich in die entgegen gesetz­te Richtung gewandt, fort von Brooktree. Momentan war es nicht rat­sam, sich der Ranch zu nähern, denn noch immer tobte der Kampf zwischen dem Sheriff und den Banditen. Die Schüsse hallten weit über das Land und begleiteten die beiden jungen Menschen auf ihrem Weg zurück nach Richmond. Flora begriff kaum, dass sie in Sicherheit war. Die schrecklichen Erlebnisse der vergangenen Tage hatten sie zu sehr mitgenommen und nun zeigte sich allmählich, unter welch schlimmer Anspannung sie gestanden hatte. Sie konnte nicht aufhören zu wei­nen. Als Cedric vor der Pension hielt, in der er sich eingemietet hatte, klammerte Flora sich wie eine Ertrinkende an ihn. Immer wieder bat sie ihn, sie nicht allein zu lassen.

Der junge Mann ahnte, dass sie einen Schock erlitten hatte. Er verständigte einen Arzt und saß dann noch lange an Floras Bett, die ir­gendwann in einen unruhigen Schlaf fiel. Die ganze Nacht hindurch wachte Cedric bei dem geliebten Mädchen. Und die Gewissheit, sie lebend und gesund bei sich zu haben, machte ihn wunschlos glück­lich...

Gegen Mitternacht kehrten Sheriff Gordon und James Parker mit den Deputies und zwei der Banditen in die Stadt zurück. Die Kerle hat­ten nur leichte Schusswunden und waren an ihre Sättel gefesselt. Ja­mes Parker war außer sich. Er hatte den jungen Deputy, der ihn ver­sehentlich niedergeschlagen hatte, stundenlang beschimpft, bis der Sheriff dem Ganzen durch ein Machtwort ein Ende gesetzt hatte.

»Wo ist Miss O'Donell, wo, verdammt noch mal?«, herrschte er den Gesetzeshüter an, der daraufhin die Geduld verlor und zurück­blaffte: »Sie werden noch alles erfahren! Miss O'Donell ist in Sicher­heit, das sollte Ihnen doch genügen!«

Der junge Anwalt begann zu ahnen, dass hier einiges geschehen war, wovon er nichts wusste. Und es wurde ihm schwer, abzuwarten,

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bis der Sheriff ihm endlich die Wahrheit sagte. Gordon sperrte die bei­den Gefangenen in eine Zelle, brachte die Toten zum Leichenbestatter und erklärte schließlich: »Dass Johnson fliehen konnte, habe ich Ihnen zu verdanken, Parker. Sie sind einfach durch die Vegetation gestapft und haben meinen Deputy abgelenkt. Wissen Sie eigentlich, wie viel zusätzliche Arbeit Sie mir damit gemacht haben?«

Der junge Mann schwieg verbissen. Gordon, den Parker trotz al­lem nicht unsympathisch fand, fuhr brummig fort: »Bevor wir los gerit­ten sind, hat sich ein englischer Gentleman bei mir vorgestellt. Sein Name ist Cedric of Limerick. Und er ist Miss O'Donells Verlobter.«

»Der ist hier?« Parker konnte es offensichtlich nicht fassen. »Er ist ihr nachgereist, hat von dem Überfall auf die Kutsche er­

fahren und ihre Spur bis hierher verfolgt.« Der Sheriff nickte aner­kennend und steckte sich eine Zigarre an. »Aus dem hätte ein Detektiv werden können...«

»Und er... Ich meine, Flora ist bei ihm?« Die Enttäuschung sprach deutlich aus Parkers Stimme.

»Ich habe ihm gesagt, er solle uns in einigem Abstand folgen, mit einer Kutsche, falls Miss O'Donell verletzt würde und einen Arzt braucht. Die Soldaten hatten den Banditen den Rückweg versperrt, es war ein wasserdichter Plan.« Er kaute auf seiner Zigarre herum. »Hät­ten Sie mir nicht dazwischen gefunkt...«

»Ich... gehe dann.« Der junge Anwalt nahm seinen Hut und wollte das Büro des Sheriffs verlassen, als dieser ihm noch mitteilte, dass Cedric sich in Mrs. Clanghans Boarding House eingemietet habe. »Si­cher wollen Sie noch mal mit Miss O'Donell sprechen, oder? Sie weiß schließlich nicht mal, dass Sie am Leben sind.«

»Das ist doch auch ganz unwichtig, jetzt, wo er bei ihr ist«, mur­melte James bekümmert und ging. Der Sheriff hob die Augenbrauen; wie es schien, hatte es den jungen Rechtsverdreher schwer erwischt. Diese Flora O'Donell schien ja ein ganz besonderes Mädchen zu sein, wenn sich so viele Männer um sie bemühten... Noch ehe der Geset­zeshüter sich allerdings weitere Gedanken in dieser Richtung machen konnte, kam einer seiner Deputies ins Büro gestürmt und erklärte a­

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temlos: »Johnson ist gesehen worden, etwa zehn Meilen nördlich von hier, in der Nähe einer Farm. Er soll schwer verletzt sein!«

Sheriff Gordon nickte entschlossen und griff nach seiner Win­chester. »Dann nichts wie hin. Wir haben hier noch eine Zelle frei. Und der Strick wartet schon viel zu lange auf Hank Johnson...«

*

Der Bandit hatte sich tatsächlich bereits recht weit von Brooktree ent­fernen können. Obwohl er eine Kugel im rechten Arm hatte und sich eine weitere beim Feuergefecht mit den Gesetzeshütern eingefangen hatte, dachte er gar nicht daran, aufzugeben. Schließlich hatte John­son schon in viel schwierigeren Situationen gesteckt und es immer wieder geschafft, zu entkommen.

Sheriff Gordon zu unterschätzen, diesen Fehler beging der Gangs­ter allerdings nicht. Er wusste, dass der knorrige Hüne ebenso gerissen war, wie er selbst. Und dass er höllisch aufpassen musste, um nicht wieder in eine Falle zu gehen. Ein Fehler wie in Brooktree sollte ihm kein zweites Mal unterlaufen. Da war er abgelenkt gewesen, seine Aufmerksamkeit hatte sich mehr auf Flora gerichtet, denn auf die Ge­fahr, in die sie unversehens geraten waren. Auch jetzt, während John­son auf die wüsten Ausläufer der Appalachen zuhielt, kehrten seine Gedanken zu der Frau zurück, die ihn so sehr fasziniert hatte, dass er sogar bereit gewesen war, sein gesamtes Leben umzukrempeln. Aller­dings hatte er einsehen müssen, dass dies unmöglich war. Der Weg zurück ins normale Leben war ihm versperrt, das hatte ihm die Schie­ßerei bei Brooktree einmal mehr bewiesen. Johnson beschloss daher, so weiterzumachen wie bisher. Er musste erst mal ein ruhiges Plätz­chen finden, wo er seine Wunden ausheilen konnte. Danach ein paar Männer um sich scharen. Und dann würde man schon sehen...

Der Bandit hatte einen Platz erreicht, der ihm geeignet schien, die Nacht zu verbringen. Es war eine versteckt liegende, niedrige Höhle, die ihm idealen Schutz bot. Entkräftet von dem hohen Blutverlust woll­te er nur noch schlafen, sich ausruhen. Er fiel mehr vom Pferd, als er abstieg. Und er sah auch nicht das Nest von Klapperschlangen, das

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sich neben dem Eingang der Höhle befand. Als er es bemerkte, war es bereits zu spät, da hatte er sich schon einige Bisse eingefangen. Wü­tend und jähzornig feuerte er einen Colt auf die gefährlichen Schlan­gen leer, erwischte aber nur eine. Keuchend brach der Bandit in die Knie, kroch in die Höhle und blieb schließlich liegen. Die Bewusstlosig­keit kam langsam, sie verdeckte die schmerzenden Wunden und legte einen angenehm kühlen dunklen Schleier über Hank Johnsons Denken. Sein letzter Gedanke galt Flora. Er meinte, ihr schönes Gesicht vor sich in der Dunkelheit zu sehen. Sie lächelte ihm zu, er streckte eine Hand nach ihr aus - dann war es ihm, als fiele er unvermittelt in einen tiefen schwarzen Schacht, aus dem es keine Wiederkehr mehr geben konn­te...

Sheriff Gordon und seine Männer fanden Hank Johnsons Pferd ei­nige Stunden später gut eine Meile von der Höhle entfernt, wo der Bandit zusammengebrochen war. Es äste friedlich, doch die Blutspuren an Sattel und Fell sagten den Gesetzeshütern, dass Johnson sich noch in der Nähe aufhalten musste.

»Vielleicht eine Falle«, mutmaßte einer der Männer. Der Sheriff konnte nicht widersprechen. Er stellte zwei Mann ab, die die Gegend genau beobachten sollten, während er mit dem Rest seiner Deputies weiter ritt. An diesem Abend wurden sie nicht mehr fündig und raste­ten nur wenige hundert Meter von der Höhle entfernt, in der sich Hank Johnson befand.

Als Sheriff Gordon am nächsten Morgen entschied, umzukehren, rief ihn einer seiner Männer zur Höhle. Johnsons Pferd war hierher zurückgekehrt. Der Gesetzesmann schob seinen Stetson in den Nacken und seufzte.

»Wer hätte das gedacht? Der große Hank Johnson, zur Strecke gebracht von ein paar Klapperschlangen...«

»Sollen wir ihn gleich hier beerdigen oder...« »Wir nehmen ihn mit.« Sheriff Gordon lächelte schmal. »Sonst

wird uns doch keiner diese Geschichte abnehmen.«

*

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Flora stand auf der breiten überdachten Veranda des Haupthauses und ließ ihren Blick über die liebliche Umgebung von Brooktree schweifen. Es war ein noch milder und sonniger Herbsttag, die großen Laubbäu­me begannen eben, sich in allen Nuancen von Gold über Kupfer bis zu tiefem Purpur zu verfärben, die Luft war klar, der Himmel unendlich weit. Das schöne Mädchen nahm den würzigen Geruch der letzten Maat im Jahr wahr, hörte das Schnauben der Pferde auf den Koppeln und all die Geräusche des Lebens, die zu einem so großen landwirt­schaftlichen Anwesen gehörten.

Cedric trat nun neben sie, suchte ihren Blick und als sie ihm ein wenig zulächelte, fragte er: »Wie fühlst du dich?«

Zwei Tage waren seit der Schießerei und Floras Befreiung aus den Händen der Banditen vergangen. Sie hatte erst am Morgen das Bett verlassen dürfen und sofort den Wunsch geäußert, hierher zu fahren. Cedric war skeptisch gewesen, er wollte nicht, dass sie sich gleich ü­beranstrengte. Doch Flora wollte nun endlich das Anwesen sehen, dass die Tante ihr vermacht und dass ihr so viele Strapazen und Ge­fahren eingebracht hatte.

»Es geht mit gut«, versicherte sie und setzte sich in den Schau­kelstuhl, der auf der Veranda seinen Platz hatte. »Ich fühle mich sogar recht wohl. Und ich bin sehr glücklich, dass du bei mir bist.« Sie schaute ihn aufmerksam an. Cedric wusste, dass es noch einiges zu klären und vieles zu erzählen gab. Bislang hatte er geschwiegen, um Flora nicht zu überanstrengen. Doch nun fragten ihre Augen nach der Wahrheit und er wollte sie ihr auch nicht länger vorenthalten.

»Mein Vater ist verstorben«, berichtete der junge Edelmann mit ernster Miene. »Es war ein schwerer Schlag, vor allem für meine Mut­ter. Sie wollte nicht, dass ich dir nachreise. Doch sie hat es schließlich akzeptiert. Am Tag meiner Abreise versicherte sie mir, alles hinzuneh­men, wenn ich nur gesund heimkäme. Mein Vater hat uns kurz vor seinem Tod noch seinen Segen gegeben. Du siehst also, einer Heim­kehr stünde nichts im Weg. Falls du nicht doch lieber hier bleiben willst.« Er machte eine kurze Pause, Flora fragte: »Würdest du denn dein Leben hier verbringen wollen, in einem fremden Land?«

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Cedric nahm ihre Rechte und drückte sie leicht, dabei verbesserte er: »Unser Leben. Und wir werden es dort verbringen, wo du am glücklichsten bist, mein Engel.«

»Ach, Cedric, ich kann es noch immer kaum glauben, was du alles für mich getan hast...«

»Ich war ein wenig verstimmt, als ich erfuhr, dass du allein gereist bist.«

»Aber mein Brief...« »Gewiss, du hast es mir erklärt. Trotzdem wäre es mir lieber ge­

wesen, du hättest auf mich gewartet. Doch wie auch immer. Ich wuss­te, dass du mich brauchst. Dieser Parker mag ein aufrechter Mann sein. Und nach allem, was ich hörte, ist er auch tapfer. Aber der Ge­danke, dass du ganz allein in der Fremde so vielen Gefahren ausge­setzt bist, der wollte mir ganz uns gar nicht gefallen.«

»Dass du mich gefunden hast, erscheint mir wie ein Wunder. Und James Parker, er hat sich für mich geopfert...«

»Oh nein, er lebt.« Cedric bemerkte den überraschten Blick, den Flora ihm zuwarf und berichtete: »Der Sheriff hat ihn gefunden und zum Doktor gebracht. Und der pflegte ihn gesund. Er war dabei, als Johnson vor Brooktree in die Falle ging.«

»Er hat noch einmal für mich sein Leben riskiert? Ich kann das kaum fassen...« Sie schaute Cedric lebhaft an. »Ich muss ihm danken. Er ist ein außergewöhnlicher Mann!«

»Er liebt dich.« »Nein!« Flora errötete. »Cedric, wie kannst du nur so etwas be­

haupten? Er war mir ein guter Freund und Reisegefährte, zu keinem Zeitpunkt mehr.«

»Gewiss, nichts anderes habe ich andeuten wollen. Doch ich glau­be, dass ein Mann sich nur so sehr für die Frau einsetzt, der sein Herz gehört.«

Die Worte des jungen Lords hatten Flora nachdenklich gemacht. Während ihrer langen und auch gefahrvollen Reise hatte sie nie soweit gedacht. Sie hatte in James Parker nur Tante Maggies Testa­mentsvollstrecker gesehen, den Mann, der dafür sorgte, dass sie Brooktree unbeschadet erreichte...

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»Ich glaube, ich sollte mich bei ihm bedanken«, sinnierte sie. »Das wirst du gleich tun können.« Cedric wies nach vorne und als

Flora seinem Wink folgte, bemerkte sie, dass Sheriff Gordon und Ja­mes Parker sich dem Haupthaus zu Pferde näherten. Der Ge­setzeshüter stieg ab, zog seinen Hut und grüßte freundlich.

»Miss O'Donell, ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Sie sich vor Hank Johnson nicht mehr zu fürchten brauchen.«

»Haben Sie ihn festnehmen können?« »Wir haben ihn gefunden. Er ist an mehreren Klapperschlangen­

bissen gestorben.« Flora wurde ein wenig blasser. Sie hatte die Erinnerung an ihre

Entführung weitgehend verdrängt, denn sie fühlte sich noch nicht sta­bil genug, um darüber nachzudenken. Dass Hank Johnson tot war, tat ihr trotz allem leid. Er war wohl kein guter Mensch gewesen und doch hatte er ihr Leben verschont, ihr zugleich aufrichtige Gefühle entge­gengebracht. Dass sein Leben so unrühmlich und früh enden würde, war bei seiner Vergangenheit allerdings kaum verwunderlich.

»Ich hoffe, er erhält wenigstens ein ordentliches Begräbnis. Trotz allem war er ein Mensch«, wandte sie ein.

Der Sheriff nickte. »Sicher, er wandert nach Boothill. Das ist der Platz für Verbrecher und Galgenstricke wie ihn. Aber ein Priester wird auch ein paar Worte sprechen. Wir sind ja keine Unmenschen.« Er zögerte kurz, wandte dann den Blick zu James Parker, der in einigem Abstand wartete und auch keine Anstalten machte, vom Pferd zu stei­gen. »Äh, Miss, ich will mich ja nicht einmischen. Aber ich finde, Sie sollten sich doch von Parker verabschieden. Er reitet heute heim. Und er hat doch einiges für Sie riskiert...«

Flora lächelte angedeutet. »Das habe ich nicht vergessen, She­riff.« Mit diesen Worten verließ sie die Veranda und steuerte auf den jungen Anwalt zu, der nun doch abstieg und seinen Hut zog. Er wirkte sehr befangen und zugleich auch bekümmert.

Als Flora ihm die Hand reichte, berührte er sie kaum. »Mr. Parker, ich bin sehr froh, dass Sie am Leben sind«, ließ sie ihn herzlich wissen. »Und ich möchte Ihnen auch danken für alles, was Sie für mich getan haben.«

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»Ach, das ist nicht nötig. Als Maggies Anwalt war das ja meine Aufgabe«, versuchte er, abzuwiegeln, doch Flora ließ das nicht gelten.

»Sie haben zweimal Ihr Leben für mich gewagt, das werde ich Ih­nen niemals vergessen«, unterstrich sie nachdrücklich.

Er schaute sie kurz wortlos mit einem ausdrucksvollen Blick an, dann hob er leicht die Schultern. »Sehen Sie es als zusätzlichen Ser­vice Ihres Anwalts. Als neue Herrin von Brooktree werden Sie mich doch weiter beschäftigen, oder?«

»Ich fürchte, da gibt es für Sie nur noch eine Sache zu tun.« Sie schaute ihn sehr ernst an. »Ich habe lange nachgedacht, Mr. Parker. Sie hatten Recht, dies hier ist ein wunderbarer Besitz. Und wäre ich frei in meiner Entscheidung, so würde ich nicht zögern, zu bleiben, um hier mein Leben zu verbringen. Doch das bin ich nicht. Cedric hat Titel und Besitz von seinem kürzlich verstorbenen Vater geerbt. Seine Ver­pflichtung ist es, nach Irland heimzukehren, um als sechster Lord of Limerick die Tradition seiner Familie fortzusetzen. Und als seine Frau werde ich ihn natürlich begleiten.«

»Dann wollen Sie Brooktree also verkaufen«, schloss Parker mit deutlicher Enttäuschung. »Schade, ich dachte, Maggies Wunsch nach einer neuen Generation auf dieser Ranch würde sich vielleicht doch noch erfüllen.« Der Blick, mit dem er Flora bedachte, sprach dabei Bände.

Das schöne Mädchen lächelte angedeutet. »Sie wussten von An­fang an, dass mein Herz nicht frei ist, Mr. Parker. Und ich trat diese Reise nur zu dem einen Zwecke an, Cedric einst als Braut die Hand reichen zu können.«

»Ja, ich weiß, Sie waren offen zu mir.« Er hatte sich gefangen, erwiderte ihr Lächeln herzlich. »Ich werde alles für den Verkauf in die Wege leiten. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie in Irland Ihr Glück fin­den.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Parker. Für alles.« Noch einmal legte sie ih­re schmale Rechte in seine Hand, dann wandte sie sich zum Gehen, er saß auf und wartete auf den Sheriff, der sich nun auch verabschiedete.

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Nachdem die beiden Besucher fort waren, fragte Cedric Flora: »Und was soll nun werden? Hast du eine Entscheidung getroffen, Liebste?«

»Ich möchte heim. Nach Irland.« Sie schaute ihn aufrichtig an. »Sicher wird es nicht ganz leicht für uns werden. Auch wenn ich nun eine reiche Erbin bin, kennen mich die Leute in Ballybunion doch wei­terhin als die Tochter von Tom O'Donell.«

»Allerdings nicht mehr lange.« Er nahm ihre Hände und suchte ih­ren Blick. »Dann wird Lady Flora meine Gattin sein. Und niemand wird es noch wagen, ein falsches Wort gegen sie zu sprechen. Es sei denn, er möchte es mit mir zu tun kriegen.«

Sie lächelte. »Und deine Mutter? Wird sie mich akzeptieren?« »Sie muss. Nach allem, was hinter uns liegt, soll sich nichts und

niemand mehr gegen unser Glück stellen.« Cedric zog Flora an sich. »Das schwöre ich dir, bei unserer Liebe.« Und als er sie dann zärtlich küsste, da wusste Flora O'Donell, dass sie den Kampf um ihr Le­bensglück nun endlich gewonnen hatte.

Ende

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