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Ein Brasilianer in New York. Raum und Sprache im Inferno de Wall Street von Sousândrade Von Katharina Niemeyer Einleitung Joaquím de Souza Andrade oder Sousândrade, wie er sich selber nannte, gehörte über lange Jahrzehnte zu den „vergessenen“ Dichtern der brasilianischen Roman- tik. 1833 in Guimarães (Maranhão) in begüterten und dann bald bankrotten Ver- hältnissen geboren, schlug er einen für lateinamerikanische Intellektuelle nicht untypischen Weg ein. Auf den mehrjährigen Studienaufenthalt in Europa – aller- dings in Paris, und nicht, wie die meisten Brasilianer, in Coimbra – und die Heirat in Maranhão folgten ausgedehnte Reisen durch Amerika und schließlich lange Jahre des selbstgewählten Exils in New York. Dort arbeitete er als Sekretär und Journalist für die portugiesischsprachige Zeitschrift O Novo Mundo (1870–1879) – wobei er keine Gelegenheit ausließ, seine republikanischen Ansichten zu vertreten – und brachte in mehreren unvollständigen Fassungen sein Langgedicht Guesa Er- rante heraus. 1 Kurz vor der Abschaffung der brasilianischen Monarchie (1889) kehrte er nach Maranhão zurück, um sich der Politik zuzuwenden. Nach anfäng- lichen Erfolgen, die ihm unter anderen das Amt des Intendenten von São Luís ein- brachten, mußte er sich jedoch bald zurückziehen und als Griechischlehrer am städtischen Lyzeum mehr schlecht als recht durchschlagen. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als die Steine seines Elternhauses zu verkaufen, was seinem Ruf als verrückter Sonderling natürlich gehörig Vorschub leistete. 1893 konnte Sousândrade in Maranhão noch das Fragment gebliebene Langgedicht Novo Éden herausbringen, das den Untertitel Poemeto da Adolescência trägt und als Hommage an die junge brasilianische Republik gemeint war. Völlig verarmt und vereinsamt starb er 1902 im Hospital von São Luís. 2 1 Ein erstes Fragment des Langgedichts erschien bereits 1868 in São Luís de Maranhão, weitere in den Obras Poéticas, New York 1874. Unter dem Titel Guesa Errante wurden in New York 1876 und 1877 zwei abweichende und als fragmentarisch gekennzeichnete Auf- lagen des inzwischen stark erweiterten Textes publiziert. Eine erweiterte und korrigierte, allerdings immer noch unvollständige Fassung kam 1888 unter dem Titel O Guesa bei Cooke & Halsted in London heraus. Nach dieser letzten Ausgabe wird im folgenden zitiert. 2 Eine ausführliche Biographie bietet Frederick G. Williams, Sousândrade: vida e obra, São Luís – Maranhão 1976. Bereitgestellt von | Universitäts- und Stadtbibliothek Köln Angemeldet Heruntergeladen am | 12.01.16 12:59

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Ein Brasilianer in New York. Raum und Sprache im Inferno de Wall Street von Sousândrade

Von Katharina Niemeyer

Einleitung

Joaquím de Souza Andrade oder Sousândrade, wie er sich selber nannte, gehörteüber lange Jahrzehnte zu den „vergessenen“ Dichtern der brasilianischen Roman-tik. 1833 in Guimarães (Maranhão) in begüterten und dann bald bankrotten Ver-hältnissen geboren, schlug er einen für lateinamerikanische Intellektuelle nichtuntypischen Weg ein. Auf den mehrjährigen Studienaufenthalt in Europa – aller-dings in Paris, und nicht, wie die meisten Brasilianer, in Coimbra – und die Heiratin Maranhão folgten ausgedehnte Reisen durch Amerika und schließlich langeJahre des selbstgewählten Exils in New York. Dort arbeitete er als Sekretär undJournalist für die portugiesischsprachige Zeitschrift O Novo Mundo (1870–1879) –wobei er keine Gelegenheit ausließ, seine republikanischen Ansichten zu vertreten –und brachte in mehreren unvollständigen Fassungen sein Langgedicht Guesa Er-rante heraus.1 Kurz vor der Abschaffung der brasilianischen Monarchie (1889)kehrte er nach Maranhão zurück, um sich der Politik zuzuwenden. Nach anfäng-lichen Erfolgen, die ihm unter anderen das Amt des Intendenten von São Luís ein-brachten, mußte er sich jedoch bald zurückziehen und als Griechischlehrer amstädtischen Lyzeum mehr schlecht als recht durchschlagen. Schließlich blieb ihmnichts anderes übrig, als die Steine seines Elternhauses zu verkaufen, was seinemRuf als verrückter Sonderling natürlich gehörig Vorschub leistete. 1893 konnteSousândrade in Maranhão noch das Fragment gebliebene Langgedicht Novo Édenherausbringen, das den Untertitel Poemeto da Adolescência trägt und als Hommagean die junge brasilianische Republik gemeint war. Völlig verarmt und vereinsamtstarb er 1902 im Hospital von São Luís.2

1 Ein erstes Fragment des Langgedichts erschien bereits 1868 in São Luís de Maranhão,weitere in den Obras Poéticas, New York 1874. Unter dem Titel Guesa Errante wurden inNew York 1876 und 1877 zwei abweichende und als fragmentarisch gekennzeichnete Auf-lagen des inzwischen stark erweiterten Textes publiziert. Eine erweiterte und korrigierte,allerdings immer noch unvollständige Fassung kam 1888 unter dem Titel O Guesa beiCooke & Halsted in London heraus. Nach dieser letzten Ausgabe wird im folgendenzitiert.

2 Eine ausführliche Biographie bietet Frederick G. Williams, Sousândrade: vida e obra, SãoLuís – Maranhão 1976.

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Dem zeitgenössischen Publikum blieb Sousândrade weitgehend unbekannt.Sein Erstlingswerk, den Gedichtband Harpas Selvagens (1857), hatte er zwar inRio de Janeiro publiziert, doch die weiteren Werke erschienen entweder in seinerHeimatprovinz oder in den USA und in England. In der Literaturszene Rio deJaneiros, der unbestrittenen Kulturhauptstadt des Reiches ebenso wie der jungenRepublik, scheinen sie kaum zur Kenntnis genommen worden zu sein. Sie botenwohl auch zu wenig Anknüpfungspunkte für Verortung und Wertschätzung inner-halb des damals in Brasilien herrschenden, spätromantischen Literaturdiskurses.So sahen die Literaturkritiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts in ihm vor allemeinen „Außenseiter“. Sílvio Romero betonte seine Orientierung an ausländischerLiteratur und hielt seine Lyrik für weitgehend unverständlich,3 José Veríssimowarf Sousândrade wie den Symbolisten die vollständige Ignoranz der nationalenTraditionen zugunsten einer oftmals „unintelligenten“ Imitation der ausländi-schen Dichtung vor und schloß ihn aus dem Kanon der jungen Nationalliteraturaus.4 Die chronotopische Exzentrizität des Werkes bleibt auch in den Jahrzehntennach dem Tod Sousândrades der bestimmende Tenor, obwohl sich die Bewertungnach der Erfahrung des brasilianischen Modernismo ändert. So beharrt FaustoCunha in seiner Darstellung des „metade gênio metade louco“ darauf, daß es inseiner Zeit nichts mit Sousândrades Werk Vergleichbares gegeben habe: Er seieiner der „primeiros modernistas do mundo“, ein Vorläufer des Symbolismus wieBaudelaire.5

Erst 1964, mit der Publikation der Re/Visão de Sousândrade von Augusto undHaroldo de Campos6, den bekanntesten brasilianischen Mitbegründern der poesiaconcreta, beginnt die eingehendere Beschäftigung mit dem Werk des Außenseiters.7

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen sein Epos O Guesa und vor allem dasdarin eine Sonderposition einnehmende sogenannte „Inferno de Wall Street“, einwüst-chaotischer Sprachbilderreigen, der das vom Kapitalismus dominierte Lebenin New York satirisch porträtiert. Im Sinne der von den Begründern der Konkre-ten Poesie vertretenen Dichtungskonzeption wird O Guesa nun als kühner Vorgriffauf die sprachlich-ästhetischen, aber auch die ideologischen Neuerungen der

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3 Silvio Romero, História da Literatura Brasileira, Rio de Janeiro 1888, Bd. 2, S. 1161–1165. In der zweiten Auflage von 1902/1903 revidiert Romero dieses Urteil im Hinblickauf das Werk Guesa Errante, das er der Lektüre anempfiehlt.

4 José Veríssimo, Estudos de Literatura Brasileira (Primeira Série 1895/1898), Rio de Janeiro1901, S. 94.

5 Fausto Cunha, O Romantismo no Brasil. De Castro Alves a Sousândrade, Rio de Janeiro1971, S. 47, 49.

6 Augusto e Haroldo de Campos, Re/Visão de Sousândrade. Textos Críticos, Antologia,Glossário, Biobibliografía, São Paulo 1964. Zweite erweiterte Auflage Rio de Janeiro 1982.Auf diese beziehe ich mich.

7 Neben der Biographie von Williams sind hier v. a. die Arbeiten von Luis Costa Lima, „OCampo visual de uma experiência anticipadora“, in A. und H. de Campos, Re/Visão deSousândrade (s. Anmerkung 6), S. 235–265, sowie von Luiza Lobo zu nennen (s. Anmer-kung 10).

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Avantgarden des 20. Jahrhunderts entdeckt und als einziges Werk des brasiliani-schen 19. Jahrhunderts gefeiert, das an der Poetik der sich formierenden inter-nationalen Moderne teilhat. Seitdem genießt Sousândrade unter brasilianischenIntellektuellen fast so etwas wie Kultstatus, genauer, den Kultstatus eines aner-kannten Außenseiters. Auch wenn Luiz Costa Lima vor wenigen Jahren nochmeinte, „pouco resta da descoberta. Sousândrade voltou à inexistência“8, sogenießt das Werk doch Wiederauflagen und eine zwar geringere, aber doch kon-stante Aufmerksamkeit, festzustellen nicht zuletzt in einer Reihe von Internetsei-ten, die auf ihre Weise die von den Brüdern Campos begonnene Modernisierungdes brasilianischen Kanons fortschreiben.9

Betrachtet man den skizzierten Rezeptions- und Revisionsprozeß etwas ge-nauer, so läßt sich dahinter dieselbe Dynamik ausmachen, die Jorge Luis Borges inseinem berühmten Essay „Kafka crea a sus precursores“ (1951) beschrieben hat,allerdings mit einem gewichtigen Unterschied: Während für Borges das Konzeptdes „Vorläufers“ die grundsätzlich kontingente Pluralität literarhistorischer Per-spektiven und Verortungen verdeutlicht, erfolgt die Einforderung Sousândradesfür eine „andere“ Genealogie der modernen brasilianischen Lyrik zumeist aufdem Hintergrund eines Masternarrativs der universalen Moderne, das eben imSinne des Universalitätsanspruchs ganz bestimmte Merkmale dominant setzenund vermeintlich Vorgängiges ausblenden muß. Dabei lassen sich, wie zu zeigensein wird, die Diskontinuitäten in Sousândrades Langgedicht eigentlich kaumüberlesen. Denn der von den Brüdern de Campos konstatierten und auch demheutigen Leser augenfälligen Modernität des 30 Seiten umfassenden „Inferno deWall Street“ stehen, mit einer Ausnahme, die mit den Signaturen der ästhetischenModerne nur schwer zu vereinbarenden 320 „restlichen“ Seiten des Epos gegen-über. Schon Luiza Lobo wies auf diese Spannung hin, als sie ihre Untersuchungdes Guesa unter das Motto „Tradição e ruptura“ stellte und versuchte, im Eposzwei Teile zu unterscheiden, die unterschiedlichen Kompositionsphasen entstam-men und somit auch unterschiedlichen literarischen Strömungen angehören wür-den.10 Dem widerspricht allerdings die vom Autor angegebene Chronologie derFragmente. Denn während für den 10. Gesang, der das „Inferno de Wall Street“enthält, die Jahre „1873–188…“ als Abfassungszeit notiert sind (S. 186), wird der2. Gesang, in den die von der Machart her sehr ähnliche satirische Darstellungeines grotesken indianisch-kolonialzeitlichen Festes („Tatuturema“) eingefügt ist(S. 25–41), auf das Jahr 1858 datiert und bereits 1868 vorab publiziert (S. 19).11

Eine aufteilende Zuordnung des Werkes nach den gewohnten Kriterien literarge-

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8 Luiz Costa Lima, „Um poeta inexistente: Sousândrade [1999]“, in http://www.secrel.com.br/jpoesia/lclima.html , 20. 10. 2005.

9 Einschlägig in diesem Sinne sind z. B. der Aufsatz von Marcelo Sandmann, „Sousândra-de futurista?“, in Revista Letras 39 (1990), S. 73–94, und Claudio Daniel, „A poética sincrônica de Sousândrade“, in http://www.paginas.terra.com.br/arte/PopBox/ cdsou-sandrade.htm , 20. 10. 2005.

10 Luiza Lobo, Tradição e ruptura: O Guesa de Sousândrade, São Luís 1979.11 Die erste gedruckte Version erschien in den Impresssos, São Luís 1868.

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schichtlicher Periodisierung vermag also wenig zu seinem Verständnis und seinerhistorischen Verortung beizutragen. Nötig scheint stattdessen die kritische Revi-sion des europäisch geprägten Modernitätsbegriffes, die in den letzten Jahrengerade durch die Erkenntnisse der area studies in den Kultur- wie in den Sozialwis-senschaften befördert wurde und in Konzepten wie dem der pluralen Moderneihren Niederschlag gefunden hat.12 Erst auf dem Hintergrund entsprechenderÜberlegungen wird es möglich sein, Sousândrades Auseinandersetzung mit derModerne aus dem Text und seinem Kontext heraus zu erhellen.

Genau das will ich im folgenden versuchen. Dabei werde ich zwei Aspektefokussieren, die in O Guesa besonders auffallen und die zugleich neuralgischePunkte der Diskussion über Geschichte und Begriff der ästhetischen Modernebetreffen: zum einen die symbolische Konstruktion des Raumes, zum anderen dielyrische Schreibweise, in der diese Konstruktion erfolgt und die ihrerseits durch diespezifische Bezugnahme auf die Kategorie der Räumlichkeit ästhetisches Profilgewinnt. Damit versuche ich, in gewisser Weise, den vieldiskutierten topographicalturn der Kulturwissenschaften für die literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbarzu machen, wohl wissend, daß vieles von dem, was heute als neuartige Reflexionangeboten wird, eine lange, die Moderne in und gerade auch außerhalb Europasprägende Vorgeschichte hat.13

Sousândrades Langgedicht, so meine erste These, ist zunächst ein Epos desRaumes oder, genauer, der Versuch, durch die Verbindung eines prähispanischenMythos mit dem Motiv der Reise das Bild eines totalen panamerikanischenRaumes zu entwerfen. Die damit einhergehende Verräumlichung der Handlungdes Guesa steht dabei in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur gewähltenSchreibweise, so meine zweite These. Grundsätzlich nämlich erscheint die Aus-drucksebene des Guesa durch die Entfaltung der Prinzipien der Zeitlichkeit undLinearität des lyrischen Sprechens bestimmt. Zu bestimmten Momenten jedoch,nämlich im „Tatuturema“ und, mehr noch, dem „Inferno de Wall Street“, scheinteine andere, auf Verräumlichung zielende Konzeption lyrischer Rede zu dominie-ren. Damit sind in Sousândrades Raumepos jene beiden gegenläufigen Tendenzen

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12 Die Suche nach einem angemesseneren Begriff der Moderne, der die lateinamerikani-schen Besonderheiten nicht mehr nur unter dem Rubrum der „Peripherie“ – bzw. als„Schwundstufe“ europäischer Muster – modelliert, hat inzwischen zu einer kaum mehrzu überschauenden Zahl von Arbeiten geführt, darunter bekanntermaßen diejenigen, diedas Konzept der Hybridität, zumeist im Rekurs auf Nestor García Canclini (Culturashíbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, México 1989), zu einer ArtPassepartout stilisieren. Eine stärker an der Vielfalt der Texte/Phänomene orientierteRevision bieten die Aufsätze in Inke Gunia, Katharina Niemeyer, Sabine Schlickers,Hans Paschen (Hrsg.), La modernidad revis(it)ada. Literatura y cultura latinoamericanasde los siglos XIX y XX, Berlin 2000.

13 Eine aufschlußreiche Übersicht zu dieser jüngsten „Wende“ und ihren heuristischenMöglichkeiten bieten Alexander C. T. Geppert, Uta Jensen, Jörn Weinhold, „Verräum-lichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive“, in dies. (Hrsg.), Orts-gespräche: Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 9–49.

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lyrischen Schreibens angelegt, die Octavio Paz später mit den Begriffen „poesíaespacial“ und „poesía temporal, discursiva“ belegt hat,14 und deren produktivesGegen- und Miteinander die Entwicklung der Lyrik in der Moderne prägt. KlausMeyer-Minnemann hat vor einigen Jahren in seiner Analyse der portugiesischenÜbersetzung, die Haroldo de Campos 1986 von Octavio Paz’ Langgedicht Blancovorgelegt hat, Filiationen und Entwicklungen dieser beiden Schreibweisen einsich-tig gemacht.15 Gerade die Stillstellung der Linearität zugunsten von Kombinatorikund Materialität der sprachlichen Zeichen charakterisiert demnach Campos’„transcriação“ („Umschöpfung“) des Paz’schen Langgedichts. Ähnliches gilt,nach meiner Einschätzung, auch für die Re/Visão de Sousândrade, also für die Ver-ortung des Guesa und insbesondere des „Inferno de Wall Street“ als einem Grün-dungstext der modernen Lyrik, deren avanciertesten Stand in den 60er Jahren desvorigen Jahrhunderts die poesia concreta zu vertreten beansprucht. Darauf werdeich abschließend noch einmal zurückkommen. Zunächst soll es um das Verhältniszwischen Raumkonfiguration und Sprache im Guesa gehen, und zwar erst in denanderen Gesängen, was für das Verständnis des „Inferno de Wall Street“ unver-zichtbar ist, und dann in diesem in der Tat besonderen Teil des Werkes.

O Guesa: RäumeDie lange und komplexe Entstehungs- und Editionsgeschichte des Guesa läßt nichtnur erkennen, wie wichtig das Werk für seinen Autor war, sondern auch, daßoffensichtlich bereits der ursprüngliche Plan des Epos für die Autodynamik einessich von Gattungskonventionen frei verstehenden Schreibens offen war. Denn indie 13 „cantos“ umfassende Verserzählung vom Schicksal des Guesa, jener mythi-schen jugendlichen Gestalt, die in der Religion der Muisca Kolumbiens für dasrituelle Götteropfer bestimmt war und von der Sousândrade durch die LektüreAlexander von Humboldts Vues des Cordillères (1810–1813) erfuhr,16 mischen sichbald die im Laufe der Abfassungszeit hinzukommenden biographischen Erfahrun-gen des Autors, darunter vor allem seine Reisen und sein langjähriger Aufenthaltin den USA. Die Nähe zu dem ebenfalls epische Motive mit biographischen Reise-erfahrungen verbindenden Childe Harold’s Pilgrimage (1812–1818) von Byron ist

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14 Octavio Paz, Poemas (1935–1975), Barcelona 1979, S. 693. Es handelt sich um den Kom-mentar von Paz zu seinen Topoemas, sechs visuellen Gedichten aus dem Jahre 1968.

15 Klaus Meyer-Minnemann, „Octavio Paz – Haroldo de Campos: Transblanco. Schnitt-punkt lyrischer Schreibweisen der Moderne“, Romanistisches Jahrbuch 47 (1996), S. 320–335.

16 Das entsprechende Zitat aus den Vues de Cordillères ist, im Anschluß an die wörtlicheWiedergabe der Passagen über das Ritual aus dem Kolumbien-Artikel der EnzyklopädieL’Univers ou Histoire et Description de Tous les Peuples, de leurs religions, moeurs, coutu-mes, etc. (Paris 1837, portugiesische Übersetzung Lissabon 1844 ff.), dem Text voran-gestellt (O Guesa, S. 1–2). Zum Bezug Sousândrades auf Humboldt s. Haroldo de Cam-pos, „A peregrinação transamericana do Guesa de Sousândrade“, Revista USP 50(2001), S. 221–231.

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gerade darin unverkennbar,17 dient aber auch wohl als Negativfolie, vor der diepolitische Dimension des Guesa deutlich werden soll. Die eigentliche Geschichtedes Guesa, der vor seiner Opferung durch die Priester flieht und von da an ruhelosdurch die Welt der zeitgenössischen Gegenwart reist und dabei Erfahrungen in derLiebe ebenso wie mit den unterschiedlichen Gesellschaften und sozialen Schichtenmacht, gerät in der Folge der biographisch motivierten Passagen und, vor allem,der raschen Ortswechsel jedenfalls ähnlich wie die von Childe Harold in ByronsEpos rasch ins Hintertreffen.

Dabei sind es weniger Orte als Landschaften, die aufgerufen werden und einenwahrhaft panamerikanischen Bilderzyklus bieten: die Anden mit Cundinamarcain Kolumbien, Geburtsort des Guesa, die Amazonas-Region und der Urwald(1.–3. Gesang), Maranhão, die Heimat Sousândrades (4.–5. Gesang), Rio deJaneiro und Umgebung (6. Gesang), die iberische Halbinsel, das Mittelmeer undAfrika (7. Gesang), Mexiko und die Antillen (9. Gesang), die nordamerikanischeLandschaft um Washington und Mount Vernon, New York (10. Gesang), derPazifik und die Küste bis hin zum Südpol und dann Feuerland, Patagonien(11.–12. Gesang) und schließlich wieder Cundinamarca. Während die außerhalbAmerikas liegenden Räume im unvollendet gebliebenen 7. Gesang nur mehrgenannt werden, kommen die amerikanischen Landschaften etwas ausführlichervor, allerdings in zumeist topischen Beschreibungen, wie hier die Bucht von Gua-nabara:

E ia os serros do Sul subindo o GuesaQual quem do mundo quer sair em vidaE sobe altas regiões da naturezaN’azas de kóndor, não de suicida.

[…]“Amplos rumôres dos milhões de vidasDos insectos, zumbindo a aza brilhante,Confusos da folhagem susurranteChegam aqui – do vall’ sempre queridas“Harmonias. Dos montes m’embriagaEste enlêvo; o silencio, o sentimentoCelestial; de Guanabara a vaga;Do oceano, além, o undoso monumento–“Vê-se a palpitação vasta dos mares;Se ouve do gallo o canto, o som dos sinos,Ahi retinido os rarifeitos aresLimpidos, vivos, lindos, peregrinos. (S. 133)18

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17 Auf die Nähe zu Childe Harold hat Sousândrade in dem Vorwort zur New Yorker Aus-gabe von 1877 selbst hingewiesen, eine vor allem formale Analyse der Bezüge unternimmtLuiza Lobo (s. Anmerkung 10), S. 24–34.

18 Meine Übersetzung ins Deutsche erhebt keinerlei literarische Ansprüche, versucht aber,die teilweise sehr eigenwilligen syntaktischen Strukturen und Neologismen sowie denüber weite Strecken gesuchten hohen Ton zu respektieren: „Und die Berge des Südens

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Natur und Landschaft erfüllen hier auf den ersten Blick vor allem allegorischeFunktionen. Sie versinnbildlichen in ihrer Erhabenheit, Unberührtheit und groß-artigen Harmonie zum einen das Wesen des Kontinents und zum anderen denCharakter des Guesa, geprägt eben durch die Landschaft seiner Kindheit. Ähnlichwie Iracema, die tragische indianische Protagonistin von José de Alencars gleich-namigem Gründungsepos (1865), tritt er so als Figuration Lateinamerikas auf,allerdings mit gewichtigen Unterschieden. Während Iracema mit einem klarbegrenzten brasilianischen Chronotopos verbunden ist – der Region Ceará zuBeginn der Kolonisierung –, sprengt Sousândrades Hauptfigur von Anfang an allezeitlichen und räumlichen Beschränkungen, darunter zunächst die der nationalenVerortung. Der Guesa ist seiner Abstammung nach eben nicht Brasilianer, nochRepräsentant der Ethnien, die – wie Iracema und der weiße Kolonist Martim – amAnfang der brasilianischen Nationsbildung stehen. Zwar wird auch er als „o selva-gem, puro, meigo“ (S. 69) bezeichnet, doch überwiegen die Bezüge, die vor allemin den andinen Raum verweisen – der Muisca-Mythos von Bochica, der inkaischeMythos von Viracocha19 – und aus dem Guesa die wohl ebenfalls mythischgemeinte Figur eines Wanderes zwischen den Welten und den Zeiten machen:„Guesa“ bedeutet in Chibcha „der Umherirrende, der Heimatlose“20. Es geht alsonicht, wie in den üblichen „foundational fictions“ der lateinamerikanischen Ro-mantik,21 um die (opferreiche) Setzung, sondern um die Suche nach Identität, eineSuche, die am Ende unvollendet bleiben muß. Bald schon hat sich konsequenter-weise der Erzähler, der über weite Strecken als epischer „cantor“ auftritt, aus-drücklich mit dem Helden identifiziert (S. 101), der, wie schon die Brüder de Cam-pos bemerkten, als „persona“ des Dichters erscheint.22 Dichter, Held und Land-schaft scheinen so zu einem einzigen Sinnbild des panamerikanischen Schicksalszusammenzufließen, wobei erstere in ihrer ständigen Bewegung zum Höheren hinund der Großmut ihrer Bestrebungen und Gefühle das in menschliche Dimensio-nen überführen, was in der amerikanischen Natur bereits angelegt ist.

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ging der Guesa besteigen / wie wer lebend die Welt verlassen will / und hohe Regionen derNatur erklimmt / auf den Schwingen des Kondors, nicht des Selbstmörders […] BreitesRauschen der Millionen Leben / der Insekten, die mit dem glänzenden Flügel summen, /dringt konfus aus dem rauschen Blätterdickicht / hierher – des Tales immer geliebte /Harmonien. Mich berauscht / dieser Zauber der Berge; die Stille, das himmlische Gefühl;die Welle Guanabaras; / außerdem das bewegte Denkmal des Ozeans- / man sieht dasweite Pulsieren der Meere; / man hört den Gesang des Hahns, den Ton der Glocken, /dort erklungen in seltenen Lüften / rein, lebendig, schön, wundersam.“

19 Diesen Bezügen ist v. a. Luiza Lobo (s. Anmerkung 10), S. 43–83, nachgegangen.20 So schon nachzulesen im Humboldt-Zitat (vgl. Anmerkung 14), O Guesa, S. 1.21 Ich beziehe mich hier auf die erfolgreiche Begriffsbildung von Doris Sommer, Foundatio-

nal Fictions: The National Romances of Latin America, Berkeley 1991. O Guesa ließe sichals ein markantes Gegenbeispiel anführen für Sommers u. a. an Iracema entwickelteThese, die erzählende Literatur Lateinamerikas in der zweiten Hälfte des 19. und denersten Jahrzehnten des 20. Jhdts. ziele vornehmlich eben auf die allegorische Nationen-bildung ab.

22 A. und H. de Campos, S. 40.

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Doch über ihre allegorische – und darin durchaus ja romantische – Funktionhinaus sind die Landschaften auch in ihrer Räumlichkeit präsent, und das miteiner symbolischen Struktur, deren Bedeutung sich erst auf der Folie dessenerschließt, was in O Guesa mit einer Ausnahme abwesend ist: die Stadt. Seit Mittedes Jahrhunderts wird auch in Lateinamerika die Stadt zu einem immer wichtige-ren Thema, man denke für Brasilien nur an die sogenannten Frauenromane Lucío-la (1862) und Diva (1864) von José de Alencar. Städtische Raumkonfigurationendienen zunehmend dazu, die durch die immer rascher voranschreitende Moderni-sierung angestoßenen sozialen Veränderungen zu thematisieren. Im Zuge der Aus-prägung des Naturalismus findet so vor allem die soziale Topographie der wach-senden Städte São Paulo und Rio de Janeiro Aufmerksamkeit, etwa in O Cortiço(1890) von Aluísio Azevedo.23 Der Einbruch von Unordnung und wilder Natur indie ja seit der Kolonisierung – und zu ihrem Zweck – als ordnungs- und zivilisa-tionsstiftend gedachte Stadt,24 ihre Zerfaserung in Randbezirke, die neue Unüber-sichtlichkeit, der man in the crowd und sein Gegenstück, der Flaneur, oder auchder Eigenwert der Stadtlandschaft finden in Lateinamerika jedoch erst gegenEnde des Jahrhunderts Eingang in den literarischen Stadtdiskurs.25 Und der brasi-lianischen Lyrik bleibt das Thema Stadt bis zum Modernismo eigentlich fremd.Die Gedichte der Romantiker behandeln, wenn überhaupt, brasilianische Land-schaften als Sehnsuchtsorte eines unbehausten lyrischen Ichs, so die berühmte„Canção do exilio“ (1843) von Antônio Gonçalves Dias oder auch die ähnlichgestimmten Gedichte von Casimiro de Abreu, die die brasilianidade der Land-schaft in der Mischung aus majestätischer Weite und tropischer Idylle verorten.

Sousândrades Beschränkung auf Naturräume müßte also nicht weiter verwun-dern, würde er nicht im 10. Gesang davon abweichen und New York in einer Aus-führlichkeit behandeln, die keiner der Landschaften zuteil wird, und würde nichtdie Konfiguration dieser Naturräume so deutlich auf die traditionellerweise mitdem Gegensatz Stadt – Land verbundene Dichotomie von „eng“ und „frei“ ver-weisen. Denn mehr noch als die Opposition „oben – unten“ spielt in den Textland-schaften der Gegensatz „begrenzt – unbegrenzt“ bzw. „offen – geschlossen“ dieentscheidende Rolle. Die Landschaften, die der Guesa durcheilt, sind dynamisch,sie sind unermeßlich und eben dadurch sein eigentliches Zuhause, in dem jeneFreiheit erfahrbar ist, die er für sich erhofft und die in zahlreichen Reflexionen fürdie Gesellschaft eingefordert wird. Die Unbegrenztheit der Landschaft erhältdabei in vielen Fällen auch eine zeitliche Dimension, indem historische und mythi-sche Ereignisse bzw. Epochen erinnert werden, die mit diesen Naturräumen ver-bunden sind, so etwa die Geschichte der Inka im 1. und 11. Gesang oder dieEroberung Mexikos im 9. Gesang. Damit wird dem Raum eine historische Tiefe,

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23 Zu diesem und anderen brasilianischen Stadttexten der Epoche vgl. Antonio Candido, Odiscurso e a cidade, São Paulo 1993.

24 Hier ist einmal mehr zu erinnern an die klassische Arbeit von Angel Rama, La ciudad let-rada, Montevideo 1984.

25 Diese Entwicklung und ihre postmoderne Fortsetzung wird analysiert in Renato Cor-deiro Gomes, Todas as cidades a cidade, Rio de Janeiro 1994.

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sozusagen eine vierte Dimension zugemessen, die noch einmal die Unbegrenztheitdes Naturraumes nach allen Seiten unterstreicht und ihm auch in dieser HinsichtErhabenheit verleiht. Die Geschwindigkeit, mit der der Guesa von Ort zu Ortwechselt, bildet den Grundstein dieser Verzeitlichung des Raumes, die auch diezunächst wenig einsichtige Stereotypie der Landschaftsbeschreibungen erklärt:Entscheidend ist nicht die einzelne Landschaft, sondern ihre Staffelung hinterein-ander. Jeder Raum öffnet sich auf einen anderen hin, in greifbarer Nähe Amerikaserscheinen Europa und Afrika, Ozeane wie Gebirge markieren keine Grenzen,sondern stellen Verbindungen her.

O Guesa: SpracheIn eigentümlicher Weise hat auch die Sprachverwendung teil an der geschildertenDynamisierung des Raumes. Mit Ausnahme von „Tatuturema“ und „Inferno deWall Street“ ist O Guesa durchgängig in decassílabos heróicos mit konsonantemKreuzreim verfaßt. Diese Ordnungsmuster werden von den Gesängen mit ihrenunregelmäßigen Strophen, ihren häufigen Themenwechseln innerhalb der Stro-phen, gelegentlich auch innerhalb des Verses, und ihrer nachgerade barocken Syn-tax mit zahlreichen enjambements jedoch eher unterlaufen. Die schiere Länge dermeisten Gesänge und des Werkes insgesamt – etwa 12.000 Verse – verstärkt denEindruck unaufhörlichen Sprachflusses. Die Dominanz narrativer und rhetori-scher Passagen unterstützt die Diskursivität und Linearität und damit die Zeitlich-keit eines Sprechens, das über die metrischen und strophischen Grenzziehungenhinwegtreibt. Auch die Vermischung der Stimmen von Erzähler und Protagonist –die ideologisch übereinstimmen und dieselben Erfahrungen thematisieren – trägtdazu bei, das lyrische Sprechen als Prozeß freien Strömens zu konstituieren. Hinzukommt eine gelegentlich auffällige Bildhaftigkeit, die später als Signum der „poe-sía temporal“ gelten wird. Metaphern, Vergleiche und Epitheta Sousândradesbewegen sich zwar generell im Bereich des konventionell Verstehbaren – und mitVorliebe des Erhabenen –, akzentuieren aber in unüblicher Weise die visuellenAnalogien, die zudem häufig über mehrere Verse hinweg im Modus der Reihungentfaltet werden. Auch die Komposita, für die Sousândrade eine markante Vor-liebe zeigt, betonen oft gerade die optischen Merkmale. Deutlich wird dies etwa imfolgenden Beispiel, das die Ähnlichkeiten zwischen Dünen und Brüsten entwickelt:

Qual as cem mammas naturaes de vidaAs arenosas dunas, alvejantes,Selvagens, virgens, poncteagudo-erguidas,Altos riçavam muros de diamantes:

Era a ilha sempre-Eden, sempre-verde,Onde abria o rosal á natureza,Crescia a palma que nos céus se perde – Ao Sol dos Incas s’incantava o Guesa! (S. 150)26

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26 Meine wiederum sehr wörtliche Übersetzung lautet: „Wie die hundert natürlichen Brüstedes Lebens / kräuselten die sandigen, weißlichen Dünen, / wild, jungfräulich, spitz-hoch-

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Canto XDoch im 10. Gesang, der sich zunächst wie die vorangegangenen anläßt, wird dieLinearität an entscheidender Stelle wenn nicht grundsätzlich unterbrochen, sodoch entscheidend eingeschränkt. Insgesamt können in diesem umfangreichstenTeil des Langgedichts fünf große Abschnitte unterschieden werden. Der Dichter-Guesa erzählt von seiner Ankunft in New York und entwirft sein utopisches USA-Bild, er evoziert einen Tag im Central Park und schweift dann 30 Seiten lang ab inReflexionen über die Ideale, Geschichte und sozioökonomische Wirklichkeit derUSA. Die anschließende, im dramatischen Modus erfolgende Präsentation des inder und um die New Yorker Börse kreisenden Mikrokosmos historischer Figurenund Typen, das berühmte „Inferno de Wall Street“, bildet den Höhepunkt desGesangs, der mit weiteren Erinnerungen und Reflexionen über US-Amerikaabschließt. Zentrales Thema der Reflexionen ist die Bedrohung des politisch-ethi-schen Projekts der Nation durch die eben im Rahmen dieses Projekts entfesseltenKräfte der Moderne. Über weite Strecken wird dieses Thema anhand biblischerBilder – die Schlange im Paradies (S. 197), Kain (S. 198), die Pharisäer – und derKlage über moralische Korruption und Gottvergessenheit verhandelt, wobei zeit-liche und vor allem räumliche Oppositionen diesen Konflikt konturieren.

Zwei Räume stehen sich hier also gegenüber. Zum einen das auch in der Struk-tur des Gesangs in der Mitte angesiedelte New York, als ein begrenzter Ort, zumanderen das ländliche Amerika, ein mit allen Zügen des locus amoenus ausgestat-tetes Arkadien. Ähnlich wie im Fall der lateinamerikanischen Landschaften wirdauch den nordamerikanischen Räumen neben der Weite – „da patria do Pacifico edo Atlante“ (S. 217) – historische Tiefe zugeschrieben, nun allerdings durch dieErinnerung an die founding fathers, allen voran George Washington (S. 186). Stär-ker noch als in den anderen Gesängen erscheint nun die Landschaft, die durch vonMenschenhand geschaffene Monumente der Freiheit – die von weitem sichtbareKuppel des Kapitols am Ufer des Potomac (S. 214) – domestiziert ist, als Allegorieeines politischen Projekts, das sich in den USA insbesondere mit Thomas Jeffer-son verbindet.27 Der vom Guesa immer wieder aufgerufene Mythos der USA alseiner jungen, freien und allen offen stehenden Nation wird so an das Modell einerrepublikanisch-christlich-agrarischen Gesellschaft gebunden, die auch den Ein-wanderer „auferstehen“ läßt:

Jovem America! Em teu seio ondulaUm sangue de oiro, generoso, ardente:[...]És a nação contente, onde infelizesDescanso teem e é a alma esperançosa:

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gereckt, / hohe Mauern aus Diamant: / Es war die Insel immer-Eden, immer-grün, / wosich der Rosenstrauch der Natur öffnete, / die Palme wuchs, die sich im Himmel verliert – /Unter der Sonne der Inka verzauberte (begeisterte) sich der Guesa!“

27 Vgl. hierzu und zur frühen US-amerikanischen Ablehnung des europäischen Stadtmo-dells Richard Lehan, The City in Literature. An Intellectual and Cultural History, Berke-ley 1998, S. 167–181.

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Porque acceitas nos braços sempre abertosO colono, os galés, os proletarios,Tudo que atira a Europa aos teus desertos,E os resuscitas homens, bons, agrarios. (S. 190)28

Die hier mitzulesende kritische Position gegenüber dem rasanten Metropolisie-rungsprozeß, den gerade New York in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertsdurchmacht – zwischen 1870 und 1890 wächst die Stadt um 1,3 Millionen Ein-wohner –, und der in bescheidenerem Maße aber auch Rio de Janeiro betrifft,29

findet sonst im 10. Gesang mit Ausnahme des „Inferno de Wall Street“ jedochkaum Ausdruck. Die Stadt erscheint gegenüber dem weiten Landschaftsraumzunächst merkwürdig reduziert auf wenige, punktuelle und nur privat bedeutsameOrtsreferenzen – Central Park, Harlem, Manhattanville –, sodann, nach derWiederaufnahme der eigentlichen Erzählung von den Geschicken des Guesa,beschränkt auf die Repräsentationsräume der besseren Gesellschaft, wo „O mer-cantil poder, as ondas de oiro, / Do progresso os lavores“ (S. 229)30 den Protagoni-sten verwirren. Auch seinem Eintritt in die Börse geht keine Ortsbeschreibung vor-aus, nur die Charakterisierung des Raumes als Inferno. Sie ist jedoch bereits Teilder in 176 überwiegend gleich gebauten Strophen vorgeführten Szenen:

(O GUESA tendo atravessado as ANTILHAS, crê-se livre dos XÈQUES e penetra em NEW-YORK-STOCK-EXCHANGE; a VOZ, dos desertos):– Orpheu, Dante, Æneas, ao infernoDesceram; o Inca ha de subir…

=Ogni sp’ranza laciate,Che entrate…

– Swedenborg, ha mundo por vir?

(XÈQUES surgindo risonhos es disfarçados em Railroad-managers,Stockjobbers, Pimbrokers, etc., etc., apreogando:) –Hárlem! Erie! Central! Pennsylvania!=Milhão! Cem milhões!! Mil milhões!!!

– Young é Grant! Jackson,Atkinson!

Vanderbilts, Jay Goulds, anões! (S. 231)31

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28 „Junges Amerika! In deiner Brust kreist / Ein Blut aus Gold, großzügig, brennend / […] /Du bist die frohe Nation, wo Unglückliche / Ruhe finden und die Seele hoffnungsvoll ist, /Weil du in deinen immer offenen Armen / den Siedler empfängst, den Sträfling, den Pro-letarier, / Alles, was Europa in deine Einöden wirft, / und du erweckst sie zu Menschen,zu Guten, zu Bauern.“

29 Zur Erinnerung: Rio de Janeiro wuchs zwischen 1872 und 1900 von 274.000 auf 480.000Einwohner, nicht zuletzt dank der zahlreichen Immigranten, vgl. Walther L. Bernecker,Horst Pietschmann, Rüdiger Zoller, Eine kleine Geschichte Brasiliens, Frankfurt 2000,S. 235 f.

30 „die Handelsmacht, die Wellen aus Gold (des Goldes) / des Fortschritts Arbeiten.“31 „(Nachdem der Guesa die Antillen durchquert hat, glaubt er sich von den Xèques [die

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Nun folgt ein grotesk-satirischer Reigen – die Brüder de Campos sprechen voneinem „montagem de shots ou tomadas, em collage“32 –, in dem Alle auftauchen:zeitgenössische, US-amerikanische wie aus anderen Ländern stammende Persön-lichkeiten – Präsident Ulysses Grant, Dom Pedro II., der Prediger und Abolitio-nist Henry Ward Beecher und seine Schwester Harriet Beecher Stowe, der Multi-millionär A.T. Stewart, Bismarck und viele mehr –; soziale Typen wie stock-jobbers, reporters, burglars und freeloves; literarische, biblische und mythologischeFiguren, antike Philosophen – Diogenes –, Autoren, personifizierte Zeitungen undFlüsse, Vampire, zum Schluß eine Drehorgel. Sie alle treten nacheinander auf,stets eingeführt durch eine als Klammerangabe vorangestellte kurze Beschreibungoder oft nur Nennung der Namen, und kommen dann selbst zu Wort. Und regel-mäßig entlarven sie durch ihre kurzen, syntaktisch oft unverbundenen Aussagenund Ausrufe ihre Geld- und Machtgier, ihre Dummheit, Lächerlichkeit und Heuche-lei, kurz, ihren kruden Materialismus, ihren Egoismus und ihre moralische Kor-ruptheit:

(Pretty girls com a BIBLIA debaixo do braço:)– Testamento Antigo tem tudo!O Novo quer sanctas de pau…

Co’o Book jubilanteAdelante

City bell’s, ao lager anyhow! (S. 234)33

Selbst der Guesa macht bei diesem aquelarre mit und sucht per Zeitungsanzeigeim Herald „Young-Lady da Quinta Avenida, / Celestialmente a flirtar / Na igrejada Graça …/ – Tal caça / Só mata-te almighty dollar“ (S. 237)34.

Die anfangs immerhin noch genannte Stadt New York taucht in ihrer Räum-lichkeit so gut wie gar nicht auf, gelegentlich ein Straßenname oder der Nameeiner Institution, mehr nicht. Und in dem Maße, in dem internationale zeitgenös-sische wie historische Bezüge einfließen und der New Yorker Mikrokosmos uni-versalisiert wird, scheint der Ort ohnehin auch bedeutungslos zu werden. Odergenauer gesagt, er wird allgegenwärtig, allerdings nicht in seiner materiellen Kon-kretheit, sondern in seiner metonymischen Beziehung zu dem menschlichen

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Priester, die ihn opfern wollen, K.N.] befreit und betritt die New Yorker Börse; die Stimme, aus der Wüste:) / Orpheus, Dante, Äneas stiegen ins Inferno / hinab; der Inkamuß hinaufsteigen … / =Ogni sp’ranza laciate, / Che entrate … / Swedenborg, gibt es einekommende Welt? // (Xèques tauchen auf, lächelnd und verkleidet als Railroad-managers,Stockjobbers, Pimbrokers, etc., etc., ausrufend:) / –Hárlem! Erie! Central! Pennsylvania! /Million! Hundert Millionen! ! Tausend Millionen!!! / Young ist Grant! Jackson, / Atkin-son! / Vanderbilts, Jay Goulds, Zwerge!“

32 A. u. H. de Campos, S. 56.33 „(Pretty girls, mit der Bibel unterm Arm:) / Altes Testament hat alles / Neues will Heilige

aus Holz / Mit’m Book jubilierend / Vorwärts, / City bell’s [!] zum lager [= Bier] anyhow!“34 „Young Lady der 5th Avenue, / himmlisch zu flirten / in der Kirche der Gnade … / – So

ein Wild (eine Jagd) / dich tötet nur almighty dollar“.

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Mikrokosmos, der an eben diesem Ort angesiedelt, aber auch anderswo zu findenist. Besonders markant findet sich diese Ausweitung in der Szene der „procissãointernacional“ (S. 248), in der das Defilé aller möglichen New Yorker Gruppen –vom Volk Israel und den Mormonen über die Kommunisten und „Railroad-Stri-kers“ bis hin zu den „All-brockers [!]“ sowie den „All-saints“ und „All-devils“ –mit der Erwähnung von London und Paris verknüpft wird.

Zwei gegenläufige Prozesse der Raumkonfiguration wirken so schon auf derInhaltsebene des „Inferno“ zusammen. Auf der einen Ebene wird der Ort gleich-sam entmaterialisiert, auf seine Funktion soziologisch-metonymischer Referenz-verbürgung reduziert und auf einen Punkt zusammengeschrumpft; auf der ande-ren Ebene wird dieser selbe Ort, ebenfalls über die metonymische Beziehung zudem Pandämonium der an ihm zu beobachtenden gesellschaftlichen Kräfte, sym-bolisch ausgedehnt und zu einer universalen Allegorie, zur Chiffre des entfesseltenKapitalismus und der moralischen Korruption erhoben. New York und sein gro-teskes Personal sind überall, auch in Paris (S. 259) oder eben in Rio de Janeiro, wodas Bankett für „Regente, Apóstoles e Estrangeiros“ (S. 259) bereitet wird.

Der für diese Allegorisierung der Stadt notwendige Prozeß der Abstraktionwird im Verlauf der 176 Strophen durch die besondere Sprachverwendung jedochimmer wieder eingeschränkt und an konkrete Materialität zurückgebunden.Genauer gesagt, es ist die Sprache in ihrer spezifischen Konkretheit, die hier denauf der Inhaltsebene zunehmend abstrakten Raum wieder ins Spiel bringt und indoppelter Weise in der Lektüre erfahrbar macht. Schon die geänderte Strophen-form, die auf der Zweiteilung in einen in Klammern gesetzten Prosateil und einenVersteil beruht und als solche nur mit den die räumliche Verteilung erfassendenAugen, jedoch nicht mit den Ohren sofort erkennbar ist, akzentuiert ein Prinzipnicht-linearer Verknüpfung. Der damit einhergehende Einsatz unterschiedlicherTypographie – Kapitälchen, Kursivierungen und unterschiedliche Schriftgröße –,sowie die Verwendung von Klammern, Gleichheitszeichen und von der semanti-schen Steigerung entsprechenden mehrfachen Ausrufezeichen betont die optisch-räumliche Dimension, die Textgestalt. Korreliert man diese Ausdrucksebene derStrophen mit ihrer Inhaltsebene, so wird als möglicher Architext eben kein Text,sondern eine bildliterarische Gattung ersichtlich: das Emblem, dessen Struktur-prinzip in der Karikatur des 19. Jahrhunderts eine zeitgemäß aktualisierte Fort-führung findet. Die in Klammern gesetzte Angabe entspräche der Zeichnung, derpictura, die Verse der erläuternden subscriptio, die in der Karikatur entweder dar-unter gesetzt oder auch in die Zeichnung integriert sein kann. Die übergeordneteallegorisch-abstrakte Deutung der inscriptio entfällt hingegen, was der konkreten,auf Tagesereignisse Bezug nehmenden Ausrichtung der Karikatur entspricht.Durch seine Tätigkeit als Journalist war Sousândrade mit diesem vor allem für diezeitgenössischen Zeitschriften typischen Medium politisch-sozialer Kritik – wie esz. B. in Harper’s Weekly schon immer auf der Titelseite präsent war, aber auch inder brasilianischen Presse gepflegt wurde35 – bestens vertraut. Viele der Klammer-

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35 Zur Geschichte der Karikatur in Brasilien s. Herman Lima, Historia da caricatura noBrasil. 4 Bände, Rio de Janeiro 1963.

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angaben weisen darüber hinaus bei der Figuren- und HandlungsbeschreibungZüge auf, die unmittelbar in karikatureske Zeichnungen übersetzt werden könn-ten: „(GLADSTONE pagando á thesouraria de WASHINGTON os milhões daarbitração de GENEBRA)“ (S. 240), oder, markanter noch: „(HERALD safe-guardan-do $ 2 do último e nunca-nato quinquagenario personal de ‚HONOURABLE’; police-man lisongeando-lhe a golla do business coat:)“ (S. 254)36. Zu dieser starken undgleichzeitig absurden Bildlichkeit paßt die Anlehnung an den Limerick, die überdie Strophenform mit ihrem Reimschema und die darin erfolgende Auflösung syn-taktisch-semantischer Kohärenz markiert wird.37 Als populäre „Nonsense“-Dich-tung basiert der Limerick auf der Dominantsetzung der phonischen Äquivalenz,der die semantisch-diskursive Verknüpfung merkbar zwanghaft angepaßt wird –das „reim’ dich oder ich freß dich“ –, also auf einer der Bild-Text-Gleichzeitigkeitentsprechenden Verräumlichung poetischer Rede durch lautliche Verdichtung.

Die Strophen des „Inferno“ treiben dieses Prinzip jedoch sehr viel weiter, undzwar durch die in der pictura wie in der subscriptio gleichermaßen häufige Verwen-dung von phonetischen Figuren und lexikalischen Verfremdungen nicht nur desdamals üblichen poetischen Vokabulars, sondern des brasilianischen Portugiesischüberhaupt. Schon in den ersten beiden zitierten Strophen werden die entsprechen-den Verfahren deutlich: zum einen Alliterationen und kakophonische, syntaktischunverbundene Kombinationen einzelner Substantive, zum anderen die gelegentlichgraphisch markierte, aber ansonsten umstandslos erfolgende Integration fremd-sprachiger Ausdrücke, insbesondere aus dem amerikanischen Englischen, aberauch aus anderen (indo-europäischen) Sprachen. Im Verlauf des „Inferno“ kommtes dann zu einem regelrechten code-switching, bei dem nicht nur fremdsprachige,meist englische Ausdrücke und Syntagmen in die portugiesischen Sätze bzw. Verseeingefügt, sondern auch mit portugiesischen Wörtern gereimt werden: „cae“ –„Fourth July“ (S. 237), „flirtar“ – „dollar“ (S. 237), „me acode“ – „God? Cod!“ (S. 235), „sans-culottes“ – „Quijotes“ (S. 254), um nur einige Beispiele zu nennen.Den Höhepunkt dieser auf den ersten Blick nur mehr lautlich bedingten Kombi-natorik bilden zweifellos die letzten beiden Strophen des „Inferno“. Nach einersicher nicht umsonst an letzter, herausgehobener Stelle stehenden Anspielung aufHeinrich Heines satirisch-politisches Versepos Atta Troll (1843/1847) erfolgt dieVerdichtung von „não paga“ – „pagão“ und „usura“ – „ursos“ in einer Art„Bärengebrumm“ und der sinnlosen Gleichsetzung von englisch „bear“ und por-tugiesisch „ber’beri“ sowie der die p-Achse wieder aufnehmenden, unvermitteltenNennung von „Pegàsus“ und „Parnasus“:

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36 „(GLADSTONE, die Millionen des Schiedspruchs von GENF an das Schatzamt vonWASHINGTON zahlend)“; „(HERALD, $2 vom letzten und nie-geborenen fünfzig-jährigen personal des ‚HONOURABLE‘ safe-behaltend; policeman, ihm um den Kragendes business coat gehend [schmeichelnd]:).“

37 Die Strophen des „Inferno de Wall Street“ variieren das klassische Limerick-Schema A-A-B-B-A zu A-B-C-C-B, halten aber an der Kürze von drittem und viertem Vers fest,s. auch A. und H. de Campos, S. 44 f.

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(Practicos mystificadores fazendo seu negócio; self-help Ata-Troll:) –Que indefeso cáia o extrangeiro,Que a usura não paga, o pagão!

=Orelha ursos tragam,Se afagam,

Mammumma, mammumma, Mammão.

(Magnetico handle-organ; ring d’ursos sentenciando á pena-última o architectoda Pharsalia; odysseu phantasma nas chammas dos incendios d’Albion:)

–Bear… Bear é ber’beri, Bear… Bear…=Mammumma, mammumma, Mammão!

–Bear… Bear… ber’… Pegàsus…Parnasus…

=Mammumma, mammumma, Mammão! (S. 260–261)38

Die metonymische Beziehung zwischen den „Bears“ – Bezeichnung sowohl für dieyankees wie für kriminelle Börsenspekulanten – und dem Mammon erhält hiernun über die Figur der „Mumma“, Ehefrau des Tanzbären Atta Troll, und durchdas daraus abgeleitete Bärengebrumm „Mammumma, mammumma, Mammão“ein gleichsam reales, weil in der Materialität der Sprache gründendes Fundament.

So gibt im „Inferno“ die poetische Schreibweise der Stadt ein Teil der räum-lichen Dimension zurück, die ihr auf der Inhaltsebene genommen wird. Und dieseRaumverschiebung geht nun weit über eine schlichte Ersetzungsoperation hinaus.Denn betrachtet man genauer, welche Worte und Wortkombinationen hier zumEinsatz kommen, so wird schon in den ersten Strophen deutlich, daß es sich viel-fach um vorgefundenes Material handelt, um (fiktionalisierte) Fragmente „frem-der Rede“: das Stimmengewirr des Börsenhandels, Zeitungsnachrichten, politischeParolen, Predigten und feststehende Wendungen der amerikanischen Umgangs-sprache, Zitate aus bekannten literarischen Texten, wie eben Dantes Divina Com-media oder, an anderer Stelle, Shakespeares Macbeth. Im Hinblick auf die zahl-losen Eigennamen hatte der Autor in der New Yorker Ausgabe bereits ausgeführt,daß er „conservou nomes próprios tirados à maior parte dos journais de NewYork e sob a impressão que produziam“ 39. In der Tat finden sich im „Inferno“ständige Anspielungen auf historische Ereignisse – der Besuch des brasilianischenKaisers Dom Pedro II. oder des schwedischen Prinzen Oskar, die Streiks und diegroßen Geschäfte – und Skandälchen, die New York beschäftigten. Im Verein mitden Besonderheiten der Schreibweise, mit ihrer Betonung der Kombinatorik und

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38 „(Praktische Mystifikatoren, ihre Geschäfte machend; self-help Ata-Troll:) / Wie wehrlosfiel der Ausländer, / der den Zins nicht zahlt, der Heide! / Ohr verschlingen die Bären, /sie streicheln sich, / Mammumma, mammumma, Mammon // Magnetisches handle-organ;ring der Bären, den Architekten der Pharsalia zur Todesstrafe verurteilend; OdysseusPhantasma in den Flammen des Feuers von Albion:) / –Bear … Bear ist ber’beri, Bear …Bear … / =Mammumma, mammumma, Mammon! / –Bear … Bear … ber’ … Pegàsus … /Parnasus… / =Mammumma, mammumma, Mammon!“

39 Zitiert nach A. u. H. de Campos, S. 168.

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ihrer an Montage gemahnenden Ausstellung fremder Rede, erhält die Raumver-schiebung von der Inhalts- auf die Ausdrucksebene so eine diskurskritischeDimension, die in der brasilianischen Literatur der Zeit nur in den RomanenMachado de Assis’ eine Parallele findet. Das „Inferno“ päsentiert die Stadt alsDiskursraum, als Geflecht der Reden und Stimmen, durch deren Interaktion sichdie Stadt als spezifisches – kapitalistisches und von Heuchelei geprägtes – Biotopüberhaupt konstituiert. Erst die poetisch-satirische Verdichtung läßt folglich daswahre Gesicht dieses städtischen Mikrokosmos erkennen.

Spätestens an dieser Stelle stellt sich nun erneut die Frage nach der poetischenModernität des „Inferno“. Augusto und Haroldo de Campos haben in ihrerRe/Visão de Sousândrade eben den poetischen Verfahren der lautlichen-lexikali-schen Vernetzung besondere Aufmerksamkeit gewidmet, insbesondere den lexika-lischen Innovationen – vor allem den Komposita –, der Mehrsprachigkeit und der„insurreição sonora“, die das „Inferno“ ebenso wie das „Tatuturema“ aus demKorpus der romantischen brasilianischen Lyrik herausheben. Und für sich be-trachtet könnte man in der Tat in beiden Textpassagen eine Vorwegnahme avant-gardistischer und gar konkretistischer Kompositionsprinzipien sehen, eine auffreier Kombinatorik statt diskursiv-linearer Regelhaftigkeit beruhende lyrischeSchreibweise, die mit ihrer „técnica imagista“, der „dicção sintético-ideogrâmica“und dem „fragmentarismo conversacional“40 vor allem an Ezra Pounds Cantoserinnert. Diese für die Genealogie der poesia concreta entscheidende Poetik desimagism unterlegen die Brüder Campos auch den restlichen Passagen des 10. sowieden anderen Gesängen. Die anderen Aspekte der Sprachverwendung und dieInhaltsebene werden dabei konsequent ausgeblendet, ebenso wie die deutlicheAnlehnung an Heines Atta Troll und Dantes Divina Commedia. Damit wird auchdie im „Inferno“ geübte Kapitalismuskritik aus ihrem Kontext gelöst und um-standslos als Verwirklichung des majakowskischen Diktums eingeordnet, daß esohne revolutionäre Form keine revolutionäre Kunst gäbe.41

In Anbetracht der zu Beginn der 60er Jahre durchaus noch umstrittenen Posi-tion der poesia concreta hat die Einforderung Sousândrades für eine auch brasilia-nische Filiation dieser Lyrik, die ansonsten bewußt auf Internationalität setzt,wohl nicht zuletzt einen strategischen Sinn. Doch während Sousândrades Paname-rikanismus und seine Orientierung an englischsprachigen Modellen – Byron – inder Tat späteren Positionen der Noigandres-Gruppe entspricht, ist die für das„Inferno“ behauptete Korrelation Kapitalismuskritik + revolutionäre Form =revolutionäre Kunst das Ergebnis eines ansonsten produktiven misreadings. Über-sehen wird nämlich, daß in Sousândrades O Guesa die Kritik an der Moderneweder einem revolutionären politischen Ideal noch einem revolutionären Begriffästhetischer Moderne verpflichtet ist. Die satirisch getönte Kritik, die der „can-tor“ gelegentlich an den romantischen Dichterkollegen ob ihrer Speichelleckereigegenüber Dom Pedro II („Inferno“) und ihres ‚verkitschten’ Indianismus („Tatu-

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40 A. u. H. de Campos, S. 55 f.41 A. u. H. de Campos, S. 109.

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turema“) äußert, gründet ebenso wie die Bewunderung für die US-amerikanischeSklavenbefreiung auf einer republikanisch-abolitionistischen Einstellung, die seitden 1860er Jahren in Brasilien von vielen Organisationen und Zeitungen massivvorangetrieben wurde und in den romantischen Dichtern der sogenannten drittenGeneration entschiedene Vertreter fand.42 Weiteren sozialen Umwälzungen wirdjedoch selten das Wort geredet, im Guesa etwa gerät die Lebenssituation der städ-tischen und ländlichen Unterschichten nicht einmal in den Blick, auch nicht im10. Gesang. Selbst das bitterböse „Tatuturema“ spießt im Grunde allein die mora-lischen Verfehlungen und eben nicht die soziale Ungerechtigkeit auf: Gomorrha(S. 42) ist hier der dominante Bildgeber. Und auch in seiner Machart entfernt sichO Guesa keineswegs so weit von der (brasilianischen) Romantik und ihrer eminentrhetorischen Prägung, wie die isolierte Lektüre des „Inferno“ nahelegen könnte.Die überbordende und hochtönende, durch zahlreiche Ausrufe im Pathos ver-stärkte Redeweise prägt gleichermaßen die Naturbeschreibungen wie die politi-schen und metaphysischen Reflexionen, die historischen Evokationen und denAusdruck der eigenen, durch Weltschmerz, Heimatlosigkeit und Ausgestoßenseincharakterisierten Befindlichkeit:

Ainda, ainda existe, Oh Deus! a naturezaDas luzes e dos sons, ainda dos maresAinda dos céus a virginal purezaE azas de bella chamma pelos aresCoroas de gloria sobre nòs traçando–Mas, ao christão viajor não será dadoPrémio odysseu. […] (S. 347) 43

Diese Stillage gibt den Rahmen vor, in dem die Verräumlichung der lyrischenSchreibweise im „Inferno“ – die ja zugleich eine enorme Herabstufung des Stilsbedeutet – vor allem als Funktion der satirisch-didaktischen Intention und desmoralischen Wahrheitsanspruchs erkennbar wird. Es geht Sousândrade nichtdarum, die „evolução crítica de formas“, wie es im Manifest der poesia concretaheißt,44 weiter voranzutreiben, sondern die dem Gegenstand angemessene und derkritischen Absicht dienlichste Schreibweise zu verwenden. Und was wäre dafürbesser geeignet, als die entlarvende ‚Vorführung‘ der Ausdrucksweise, die derGegenstand – das New Yorker Bürgertum – selbst geprägt hat? Anders gesagt,

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42 Dazu Bernecker, Pietschmann, Zoller (s. Anmerkung 29), S. 203–212; zum abolitionisti-schen Engagement und den anderen Merkmalen des stark von der sozialen Lyrik VictorHugos geprägten condoreirismo s. Domingos Carvalho da Silva, A presença do condor:estudo sôbre a caracterização do condoreirismo na poesia de Castro Alves, Brasília 1974.

43 „Noch, noch existiert sie, oh Gott! Die Natur / der Lichter und Töne, noch der Meere, /der Himmel jungfräuliche Reinheit, / Und Flügel der schönen Flamme in den Lüften, /uns Ruhmeskronen windend – / Aber, dem christlichen Reisenden wird kein / Odysseus-Preis gegeben werden […].“

44 „PLANO-PILOTO PARA POESIA CONCRETA“, in Noigandres 4 (1958).

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nicht ästhetische Modernität im Sinne avantgardistischer Entsprechung zwischenden verschiedenen Wertsphären der Moderne ist das Ziel der neuen Schreibweise,sondern die punktuelle Aneignung des sozialen Modernisierungsprozesses zumZwecke seiner dem bürgerlichen Fortschrittsideal verpflichteten Kritik. So soll das„Inferno“, bei aller Entfaltung sich verselbständigender Bildlichkeit, doch einerallegorischen Deutung dienen und als warnendes ‚so nicht!‘ dem Sinnversprechender anderen Passagen Kontur verleihen. Deutlich wird dies in der GleichsetzungMensch – Natur – Gesellschaftsverfassung, die im Anschluß erneut aufgerufenund rhetorisch-pathetisch ausbuchstabiert wird. Im Gegensatz zur Stadt NewYork gerinnt die Landschaft Nordamerikas zum symbolischen Raum einer Platon,Sparta und christlich-puritanische Tugenden zusammenbindenden politischenUtopie, der durch die Homologisierung von Landschaftseindruck und republika-nischen Werten eine „natürliche“ Begründung zugeschrieben wird – und die unterRekurs auf das Gemeinschaftssystem der Inka in den anderen Gesängen auchLateinamerika als natürliches, historisch gewachsenes Ideal anempfohlen wird.Die Bedrohung dieser Ordnung durch die entfesselten Kräfte des Kapitalismuserscheint zwar als eine der Freiheit der „modernen Zeiten“ inhärente Gefahr, siewird aber durch den Aufruf zur Besinnung auf das Christentum – das in denersten Gesängen noch höchst kritisch verhandelt wurde – und zu verantwortungs-vollem Umgang mit der Freiheit noch einmal gebannt. „E voltava, do inferno deWall Street, / Ao lar, a eschola, ao templo, a liberdade; / de Vassar“ (S. 264) heißtes wenig später über den Guesa, der seine Tochter in dem berühmten – und länd-lich gelegenen – College untergebracht hat. Seine grundsätzliche Bewunderung derUSA, des Nachts bewacht von Franklin und Lincoln (S. 266), erfährt durch dieBegegnung mit dem „honesto lavrador“ in den Great Plains (S. 267) neue Nah-rung, womit einmal mehr auch die Verbindung zu dem ländlich geprägten Ameri-ka-Bild von Ralph Waldo Emerson und Henry Wadsworth Longfellow geschlagenwird, die beide am Ende des 10. Gesangs gefeiert werden.45 Noch läßt sich dieAuswirkung der wachsenden Großstadt durch die Verankerung republikanisch-christlicher Tugenden kontrollieren – und durch die Rückkehr zu einer entspre-chend erhabenen, frei aber doch verständlich strömenden poetischen Rede. Das istwohl eine der Lehren, die der brasilianische Leser am absehbaren Ende der Mon-archie in Anbetracht der auch in seinem Land stattfindenden Verstädterung undder notwendigen politischen Neuorientierung aus dem Beispiel USA ziehen kön-nen sollte.

Allerdings wird diese Lesart im „Inferno“ durch die Fokussierung nicht desRaumes, sondern der Sprache und Diskurse, in denen sich die Dominanz des Gel-des als Grundprinzip der modernen städtischen Ordnung manifestiert, doch auchwieder eingeschränkt. Denn die Konstruktion der Stadt als Diskursraum läßterahnen, daß die gemeinten sozialen Prozesse keinen bestimmten Ort mehr vor-aussetzen, sondern ihren eigenen Raum hervorbringen. New York mit seinembabylonischen Sprachenwirrwarr wird zur Chiffre der prinzipiellen Allgegenwär-

Katharina Niemeyer440

45 Bezeichnenderweise fehlt in O Guesa jeglicher Verweis auf Walt Whitman.

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tigkeit einer Moderne, deren Konsequenzen umso bedrohlicher wirken, je mehr sieLänder- und Sprachengrenzen verwischen und damit der ‚Enträumlichung‘ Vor-schub leisten. Während sonst die gesellschaftlichen Entwürfe durch die BeziehungMensch – Natur ein ‚reales‘, räumlich verortetes – und positives – Fundamenterhalten, spielt sich der moderne Kapitalismus mit seinen Begleiterscheinungenvor allem im Bereich der Kommunikation und symbolischen Interaktion ab. Unddort setzt er eine Dynamik frei, die nur mehr schwer zu bändigen ist. Auch diepoetische Darstellung wird davon affiziert, und das gerade weil sie versucht, ihremGegenstand auch sprachlich zu entsprechen. So geht im „Inferno“ die Kombina-torik des Wortmaterials immer wieder über die satirische Funktion hinaus undgewinnt neue, spielerische Dimensionen, die das Dargestellte zunehmend als poe-tisch – und nur poetisch – Hergestelltes ausweisen. In eben dieser Ambivalenz vonMitvollzug und Kritik des Modernisierungsprozesses liegt die plurale Modernitätvon Sousândrades Epos.

Köln, im Oktober 2006

Ein Brasilianer in New York 441

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