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1 Erhaltet den Kulturraum Distillery! Appell an den Leipziger Stadtrat Sehr geehrte Damen und Herren Stadträte, Sie entscheiden in Kürze über den Erhalt des Clubs Distillery am Standort Kurt-Eisner-Straße. Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Leipziger Stadtrat einen Altersdurchschnitt von rund 51 Jahren aufweist, richte ich diesen Appell an Sie, um Ihnen bewusst zu machen über was Sie in diesem Fall beraten und Beschluss fassen. Tatsächlich geht es bei dem Beschluss über die Distillery um mehr als den Erhalt eines Clubs an seinem altbewährten Standort. Es geht darum einem Teil der jungen Generation den Raum für seine Kultur zu nehmen oder zu lassen. Jugendkultur – und mit dem Begriff ziele ich nicht nur auf Menschen unter 30 ab – braucht öffentliche Räume, nichtkommerzielle aber eben auch kommerzielle wie die Distillery. Meine Generation ist unter anderem auch die Generation der Clubkultur, sowie es davor die Generationen der Diskotheken und noch früher die der Tanzlokale, -säle und -cafés gab. Der Stellenwert den diese Clubkultur für einen Teil meiner Generation besitzt, erklärt sich auch durch die Bedeutung welche die verschiedenen modernen Musikstile für das Identitätsbewusstsein vieler von uns haben. Der persönliche Musikgeschmack ist Teil unseres Selbstbildes, er prägt ein gewisses Gefühl von Gruppenzugehörigkeit und Lebenseinstellung mit; die Jungen prägen ihre Musik und werden von dieser natürlich auch selbst geprägt. Und das galt schon für die Generation des Rock 'n' Roll, dessen kulturelle Bedeutung, zu Beginn vor allem von den Älteren als Untergang des Abendlandes verdammt, ja mittlerweile unbestritten ist. Rock 'n' Roll und das was später mit dem Begriff Rockmusik bezeichnet wurde war eben auch ein Aufbegehren gegen den Konservativismus der Älteren. Schon in den 1950er Jahren war diese Musik mehr als "nur" Musik. Sie bedeutete wir sind anders als ihr, wir wollen auch anders sein, wir geben uns unsere eigene Stimme, wir befreien uns mit dieser Musik von Euren verknöcherten Vorstellungen. Die junge Generation gilt landläufig als politikverdrossen – doch es ist ein elementarer politischer Akt zu demonstrieren, einen kollektiven Willen kundzutun. Wenn über tausend junge Menschen über zwei Jugendgenerationen hinweg (1994, 2013) für den Erhalt eines Raums ihrer Kultur aufstehen, dann zeigt das, es sind nicht wenige die an der Distillery hängen, sondern viele denen es wichtig ist, dass dieser Kulturraum an seinem altbewährten Standort erhalten bleibt. Das ist nicht das Anliegen einer kleinen partyversessenen Gemeinde, vielmehr sind es Menschen denen dieser Club so wichtig ist, dass sie gemeinschaftlich einen Film über seine Geschichte mitfinanzieren. Talkin' 'bout my generation… Vielleicht bedeutet Jugend die Pflicht Aufzubegehren, vielleicht gebührt der Jugend nur dann eine Zukunft wenn sie für ihre eigenen Ideale kämpft, nicht gegen die Älteren, aber gegen deren Beharren, gegen deren leichtfertige Überzeugung recht genau zu wissen was das Richtige für die Jüngeren sei. In jedem Fall bedeutet Jugend einen Kampf auszutragen mit denen die vergessen haben, dass auch sie einmal gegen etwas angekämpft haben um für sich eine lebenswertere Welt zu schaffen. Und seien Sie versichert, dass diese Generation sehr wohl einzuschätzen weiß, welche Interessen in diesem Fall konkurrieren.

Ein Herz für die Tille

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Erhaltet den Kulturraum Distillery!

Appell an den Leipziger Stadtrat

Sehr geehrte Damen und Herren Stadträte,

Sie entscheiden in Kürze über den Erhalt des Clubs Distillery am Standort Kurt-Eisner-Straße. Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Leipziger Stadtrat einen Altersdurchschnitt von rund 51 Jahren aufweist, richte ich diesen Appell an Sie, um Ihnen bewusst zu machen über was Sie in diesem Fall beraten und Beschluss fassen. Tatsächlich geht es bei dem Beschluss über die Distillery um mehr als den Erhalt eines Clubs an seinem altbewährten Standort. Es geht darum einem Teil der jungen Generation den Raum für seine Kultur zu nehmen oder zu lassen. Jugendkultur – und mit dem Begriff ziele ich nicht nur auf Menschen unter 30 ab – braucht öffentliche Räume, nichtkommerzielle aber eben auch kommerzielle wie die Distillery. Meine Generation ist unter anderem auch die Generation der Clubkultur, sowie es davor die Generationen der Diskotheken und noch früher die der Tanzlokale, -säle und -cafés gab. Der Stellenwert den diese Clubkultur für einen Teil meiner Generation besitzt, erklärt sich auch durch die Bedeutung welche die verschiedenen modernen Musikstile für das Identitätsbewusstsein vieler von uns haben. Der persönliche Musikgeschmack ist Teil unseres Selbstbildes, er prägt ein gewisses Gefühl von Gruppenzugehörigkeit und Lebenseinstellung mit; die Jungen prägen ihre Musik und werden von dieser natürlich auch selbst geprägt. Und das galt schon für die Generation des Rock 'n' Roll, dessen kulturelle Bedeutung, zu Beginn vor allem von den Älteren als Untergang des Abendlandes verdammt, ja mittlerweile unbestritten ist. Rock 'n' Roll und das was später mit dem Begriff Rockmusik bezeichnet wurde war eben auch ein Aufbegehren gegen den Konservativismus der Älteren. Schon in den 1950er Jahren war diese Musik mehr als "nur" Musik. Sie bedeutete wir sind anders als ihr, wir wollen auch anders sein, wir geben uns unsere eigene Stimme, wir befreien uns mit dieser Musik von Euren verknöcherten Vorstellungen. Die junge Generation gilt landläufig als politikverdrossen – doch es ist ein elementarer politischer Akt zu demonstrieren, einen kollektiven Willen kundzutun. Wenn über tausend junge Menschen über zwei Jugendgenerationen hinweg (1994, 2013) für den Erhalt eines Raums ihrer Kultur aufstehen, dann zeigt das, es sind nicht wenige die an der Distillery hängen, sondern viele denen es wichtig ist, dass dieser Kulturraum an seinem altbewährten Standort erhalten bleibt. Das ist nicht das Anliegen einer kleinen partyversessenen Gemeinde, vielmehr sind es Menschen denen dieser Club so wichtig ist, dass sie gemeinschaftlich einen Film über seine Geschichte mitfinanzieren. Talkin' 'bout my generation… Vielleicht bedeutet Jugend die Pflicht Aufzubegehren, vielleicht gebührt der Jugend nur dann eine Zukunft wenn sie für ihre eigenen Ideale kämpft, nicht gegen die Älteren, aber gegen deren Beharren, gegen deren leichtfertige Überzeugung recht genau zu wissen was das Richtige für die Jüngeren sei. In jedem Fall bedeutet Jugend einen Kampf auszutragen mit denen die vergessen haben, dass auch sie einmal gegen etwas angekämpft haben um für sich eine lebenswertere Welt zu schaffen. Und seien Sie versichert, dass diese Generation sehr wohl einzuschätzen weiß, welche Interessen in diesem Fall konkurrieren.

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Elektronische Musik und die entsprechenden Clubs sind ein nicht unbedeutender Teil der Musik- und Jugendkultur dieser Stadt. Der Kulturraum Distillery ist nicht zuletzt deswegen erhaltenswert, weil er ein Ort für die Jungen in dieser Stadt, und weit darüber hinaus, ist, weil er für einen Teil dieser Jungen ein Lebensgefühl darstellt. Diese Kultur ist kein reiner Hedonismus wie man gelegentlich hört oder liest. Man kann dem Distillerybesucher wohl nicht mehr Hedonismus vorwerfen als den Gewandhausbesuchern die bei der Aufführung von Bachs h-Moll-Messe Freude empfinden, oder als den Konzertbesuchern der Rolling Stones die beim Erklingen von Satisfaction in Ekstase geraten. Denn nicht anders als bei diesen geht es um das Genießen von Musik, und dabei um ein Versinken im Moment. Die Bedeutung dieses bewussten "Abschaltens" vom Alltag sollte nicht gering geschätzt werden, zumal in einer Welt die von der Verdichtung von Zeit und Raum geprägt ist, einer Welt in der auch Arbeitsstrukturen und Kommunikationsprozesse für ein Gefühl der allgemeinen Beschleunigung und Hektik, des Nicht-zur-Ruhe-Kommens sorgen. Man müsste dem Schlagwort des globalen Dorfes das sprachliche Bild der Zeitarmut, oder der nervösen oder prekären Zeit zur Seite stellen. Die nächste Deadline, der nächste Termin, der nächste Kunde, der nächste Monat, vorüber, das nächste Jahr … – das Gefühl für vieles zu wenig Zeit zu haben ist weit verbreitet, nicht nur unter ehrenamtlichen und Berufspolitikern. In einer solchen Atmosphäre ist die Fokussierung auf den Moment, den Moment intensiv zu erfahren, für eine kurze Zeit aus dieser Beschleunigung herauszutreten, eine wichtige Ausgleichsstrategie. Ein Clubbesuch bedeutet vielen die Möglichkeit dies zu tun, einen Raum zu haben für ein paar Stunden gemeinsamen, intensiven Musikerlebens, ein Zusammensein von Freunden elektronischer Tonkunst. Und falls Ihnen der Vergleich mit dem Gewandhausbesuch unangemessen erscheint – wer wollte sich anmaßen zu beurteilen was Kultur sei und was nicht, was erhaltenswürdige, ja förderungswürdige Kultur ausmacht und was keiner Berücksichtigung und Wertschätzung bedarf. Das Urteil darüber ist den Zeitgenossen selten geglückt. Wir lehren den Faust an den Schulen und das ist richtig. Genauso richtig und wichtig ist es aber zeitgenössische Musik- und Jugendkultur zu fördern, nicht zuletzt deshalb weil sie als das Hier und Jetzt prägende Kulturformen lebensweltlich näher an der jungen Generation sind und damit einen stärkeren Einfluss auf ihre kulturelle Identität haben. Und schließlich wird auch niemand vergessen, dass auch der Goethe'sche Spruch, mit dem Leipzig seit Jahrzehnten wirbt, sich einer Szene verdankt, die die Studenten- und damit Jugendkultur der Goethezeit darstellt. Um die elektronische Musikszene in ihrer Bedeutung einschätzen zu können muss man sich das Folgende bewusst machen: "Aus der Technoszene ist die bisher einzige internationale Popkultur hervorgegangen, die maßgeblich in Deutschland (mit)entstanden ist", wie es auf der Webseite des Goethe-Instituts heißt. Und auch der historische Moment ist nicht gänzlich unbedeutend und sollte gerade in diesem Fall mitbedacht werden, fallen die Anfänge dieser Clubkultur doch mit dem Mauerfall zusammen, die mit dem Epizentrum Ostberlin als eine der ersten gemeinsam gelebten subkulturellen Erscheinungen der ost- und westdeutschen Jugend gelten kann. Die Distillery ist nicht nur der älteste Club für elektronische Musik in Ostdeutschland, sie ist wahrscheinlich der einzige Club für elektronische Musik in Deutschland der seit 1995, also seit 18 Jahren an seinem Standort steht und damit einzigartig in der deutschen Elektroclublandschaft – ein Alleinstellungsmerkmal welches allein schon für den Erhalt des Standortes spricht. Die Akzeptanz eines Clubs in der Szene steht und fällt mit seiner Authentizität. Ein Umzug würde diese Authentizität gefährden. Genauso unvorstellbar wie es für Gewandhausbesucher erscheinen mag das Gewandhausorchester zukünftig in einem anderen Konzertgebäude, vielleicht in Plagwitz, spielen zu sehen und hören, so unvorstellbar

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ist für die Besucher der Distillery eine "Umsetzung" ihres Clubs. Es gibt in der Berliner Szene genügend Beispiele dafür, dass Clubs, die so eng mit einem bestimmten Standort verbunden sind, sich nicht schadlos umsetzen lassen und dass Grundstücksverkäufe nicht selten das Ende von Clubs bedeuteten. Burkhard Jung hat vor einem Jahr im Namen dieser Stadt in der Zeit geschrieben "Niemand muss Angst haben, er werde an Ränder gedrängt und könne keinen Platz mehr in meiner [der Leipziger] Mitte finden. Der Freiraum wird […] ausreichen, auch wenn manchmal an alten Orten Raum für andere Lebensentwürfe entsteht." Schöne Worte, nur wie ernst nehmen wir es damit? Die Frage wird erlaubt sein: Wieso ist es für gewöhnlich die Kultur die weichen muss? Wieso gelingt so selten eine gedeihliche Lösung, die die Interessen auszugleichen im Stande ist? Weil Kultur zwar eine Lobby hat, aber diese Lobby rein ideeller Natur ist? Hat man schon mal von einem intakten Wohn- oder Gewerbekomplex gehört der einem Kulturprojekt weichen musste? Ein absurder Gedanke? Aber doch wohl nicht absurder als umgekehrt! Eine Vereinbarkeit (jugend-)kultureller Interessen mit denen der Stadtentwicklung, ohne einseitige Benachteiligung, müsste mit dem entsprechenden politischen Willen kein Widerspruch sein. Daher mein Appell an Sie: Haben Sie den Mut dieser Generation einen ihrer kulturellen (Frei)Räume zu lassen, an seinem altbewährten Standort! Begreifen Sie die Distillery als ein lebendiges Kulturgut der Musik- und Jugendkultur meiner Generation. Sie haben es in der Hand ein Zeichen zu setzen, für den Erhalt eines Jugendkulturraums, für den Erhalt eines bedeutenden Ortes der modernen Musik- und Clubkultur.