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Ein Tag in der Schneekugel. Er hatte Glück gehabt. Hausmeistertätigkeit. Zwei Flure mit Zimmern, durch einen Personalraum verbunden. 20 Mitarbeiter, die kamen und gingen. Es gab immer etwas zu tun, jeder hatte eine Aufgabe für ihn, sein Tag war immer gut ausgefüllt. Er war schon sechs Monate hier. Es machte Spaß. Das Haus war schön. Große Fenster, hohe Räume. Altbau, 1912, Palazzostil. Roter Klinker. Giebelchen, Erker, die Räume groß, sein Büro winzig, aber gemütlich in eine Dachschräge hinein gebaut. Bis zum Tag im März. Alle Mitarbeiter außer ihm waren fort. Für zwei Wochen. Er hatte lediglich das Haus zu beaufsichtigen, morgens auf- und abends abzuschließen, am Telefon, an der Tür darauf hinzuweisen, daß das Haus momentan unbesetzt sei. Er genoß es, morgens pünktlich dazusein, sich Kaffee zu kochen und an den Schreibtisch zu setzen. Er hatte bereits nach knapp zwei Tagen alle noch offenen Arbeiten erledigt. Das hatte er sich vorgenommen, um danach ebenfalls etwas Auszeit zu haben. Anfangs klingelte noch ab und an das Telefon oder es kam Besuch, doch nach etwa einer Woche hatte es sich herumgesprochen, daß das Haus nicht besetzt war. Von da an war es sehr ruhig geworden. Im ganzen Komplex, zu dem das Haus gehörte, waren zu dieser Zeit noch weitere Häuser geschlossen, also im Ganzen weniger Menschen unterwegs. Jeden Morgen und Nachmittag machte er seine Runde durch 1

Ein Tag in der Schneekugel

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Kurzgeschichte

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Page 1: Ein Tag in der Schneekugel

Ein Tag in der Schneekugel.

Er hatte Glück gehabt. Hausmeistertätigkeit. Zwei Flure mit Zimmern, durch

einen Personalraum verbunden. 20 Mitarbeiter, die kamen und gingen.

Es gab immer etwas zu tun, jeder hatte eine Aufgabe für ihn, sein Tag war

immer gut ausgefüllt. Er war schon sechs Monate hier. Es machte Spaß.

Das Haus war schön. Große Fenster, hohe Räume. Altbau, 1912,

Palazzostil. Roter Klinker. Giebelchen, Erker, die Räume groß, sein Büro

winzig, aber gemütlich in eine Dachschräge hinein gebaut.

Bis zum Tag im März. Alle Mitarbeiter außer ihm waren fort. Für zwei

Wochen. Er hatte lediglich das Haus zu beaufsichtigen, morgens auf- und

abends abzuschließen, am Telefon, an der Tür darauf hinzuweisen, daß das

Haus momentan unbesetzt sei. Er genoß es, morgens pünktlich dazusein,

sich Kaffee zu kochen und an den Schreibtisch zu setzen. Er hatte bereits

nach knapp zwei Tagen alle noch offenen Arbeiten erledigt. Das hatte er

sich vorgenommen, um danach ebenfalls etwas Auszeit zu haben. Anfangs

klingelte noch ab und an das Telefon oder es kam Besuch, doch nach etwa

einer Woche hatte es sich herumgesprochen, daß das Haus nicht besetzt

war.

Von da an war es sehr ruhig geworden. Im ganzen Komplex, zu dem das

Haus gehörte, waren zu dieser Zeit noch weitere Häuser geschlossen, also

im Ganzen weniger Menschen unterwegs.

Jeden Morgen und Nachmittag machte er seine Runde durch alle Räume

des Hauses, war erstaunt, wie schnell das Leben daraus fort war, wenn sie

nicht benutzt wurden. Fast die ganze Zeit über saß er in seinem Kabuff,

trank Kaffee, las, ging in die Cafeteria, aß. Es gab sonst nichts zu tun.

So angenehm es war, sich so frei auf so großem und vertrautem Raum

bewegen zu können, so beklemmend war die Ruhe. Ein Radio hatte ihn die

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erste Zeit noch unterhalten, aber inzwischen war es schon zu einem

Hintergrundgeräusch geworden, das er nicht mehr wahrnahm. Die Zeit

schien regelrecht leer zu laufen. Es war dunkel, wenn er kam, es war

dunkel, wenn er ging, zwischendrin war es düster, eben früher März. Die

Glocke der kupfergedeckten Kirche schlug alle Viertelstunde.

An diesem Tag begann es zu schneien. Erst wenig, dann mehr, und bald,

schon nach anderthalb oder zwei Stunden so fest, daß er, egal, aus

welchem der Fenster er schaute, überall dicke, harte Flocken dicht über das

ganze Gelände niedergehen sah. Abgesehen davon, daß es im März her

eigentlich kaum noch schneite, eher unablässig trüb oder regnerisch war,

konnte er sich nicht erinnern, überhaupt seit längerer Zeit so ein

Schneetreiben erlebt zu haben. Er dachte an seine Kindheit. Damals hatte

er öfter das Gefühl gehabt, der Schnee läge ihm bis zu den Knien und es

schneie den gesamten langen Tag über. Er hatte natürlich inzwischen

eingesehen, daß es wahrscheinlich ganz normale Maße gewesen waren,

nur er selbst war kleiner, sein Tag kürzer gewesen. Jetzt jedoch schneite es

bereits seit über drei Stunden mit einer solchen Heftigkeit, daß von den

Rasenflächen, dem betonierten Festplatz und dem überdimensionalem

Schachbrett auf dem Gelände nichts mehr unter der weißen Decke zu

erkennen war.

Er saß auf dem Fensterbrett, hatte alle Verbindungstüren zwischen den

Fluren und Räumen offen stehen und sah vor allen Fenstern nichts als

Schnee, denn er befand sich in einem der höchsten Gebäude hier, wie in

einem Turm. Kein anderes Haus, kein Baum ragten in seine Sicht hinein. In

der Ferne, in der sonst die Stadt zu erkennen gewesen wäre, ebenfalls

nichts als ein gleichmäßiger weißer Vorhang. Er war fasziniert und tat nichts

als nach draußen zu starren. Ruhe, die ohnehin spärlichen Geräusche wie

erstickt. Da hier keine Kinder lebten, ging auch niemand hinaus. Außen auf

dem Fensterbrett inzwischen eine glitzernde Schicht von festem, sicher

zehn Zentimetern dickem Schnee.

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Obwohl es schon einige Tage ruhig im Haus gewesen war, hätte es ihn jetzt

enorm gestört, wenn etwa das Telefon geläutet hätte. Er war jetzt nicht der

Moment für dienstliche Gespräche um Reparaturen oder ähnliches.

Er fühlte sich merkwürdig, wirklich wie in einer Welt, in der die Zeit nicht

mehr gilt; als wäre es wieder früher, als habe man eben wieder Zeit und

eigentlich auch die Pflicht, sich nur dieses absonderliche Ereignis

anzusehen.

Wären die Kollegen hier, würde er sicher seinen Tätigkeiten nachgehen, ab

und an mal hinaus schauen, vielleicht sogar über das Wetter fluchen. Das

wäre einfach normal, angemessen gewesen, aber so. So war der Schnee für

ihn die perfekte Antwort auf seine Zeit hier allein. Das Haus, dieser Raum,

alles war seins. Das Radio hatte er sogar ausgestellt und es gar nicht

bemerkt. Der Kaffee auf der Wärmeplatte war nun schon einige Stunden alt

und ölig, aber er trank ihn dennoch, denn er wußte nicht, ob ein frischer sich

dieser Situation hätte anpassen können. Alles mußte unberührt bleiben, der

Schnee schrie danach.

Dennoch war er sich bewußt, daß er im Dienst war, dennoch lauschte er, ob

die Tür unten am Haus sich schleifend öffnete, hier würde er einmal mit dem

Hobel heran müssen, aber sicher nicht heute. Dennoch hörte er auf Schritte

auf der Treppe, er hatte schließlich alle Türen geöffnet, was er sonst

vermied, denn er konnte nicht beide Flure gleichzeitig einsehen, egal, wo er

sich befand.

Er hatte auch keine Lust, Überraschungen zu erleben, wenn er heute

nachmittag durch die inzwischen im Dunklen liegenden Räume ging, bevor

er Feierabend machte. Wenn er dann das Licht einschaltete und die

Neonröhren mit Verzögerung ihre volle Helligkeit entfalteten mußte man sich

erst einmal an die plötzliche Veränderung gewöhnen und er hatte sich

bereits mehrfach vor den Schatten von Schränken oder Falten im schweren

Vorhang erschreckt.

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Nachdem er den Nachmittag mit um sich herum fallendem Schnee verbracht

hatte, sich gefühlt hatte wie einer Schneekugel, wie er sie als Kind gehabt

hatte, hatte es jetzt, da es gegen Abend ging, langsam aufgehört zu

schneien. Die Dinge nahmen wieder normale Zustände an. Ihm war, als

habe etwas kurzzeitig alles auf den Kopf gestellt, in völligem Schneechaos

versinken lassen und nun, nach einiger Zeit, sei alles wieder normal. Was

noch von dem merkwürdigen Tag geblieben war, als er seine Runde

machte, jedoch auf nichts ungewöhnliches stieß und abschloß, war der

festgepappte Kegel dicken Schnees auf seinem Fahrradsattel und die

kleineren Häufchen auf den höchsten Punkten der Schutzbleche. Er fegte

alles mit dem Ärmel ab, es war nicht einmal sonderlich kalt, langsam kamen

sogar die Leute wieder aus den Häusern und begannen zu räumen, so daß

wahrscheinlich schon morgen niemand mehr an heute denken würde.

Wenn in einigen Tagen die Kollegen wiederkämen würde ihm wohl niemand

glauben, wenn er erzählen würde, wie sehr es geschneit hatte. Er wollte

aber ohnehin nichts davon sagen.

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