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Seminararbeit aus Mathematik Eine historische, mathematische Betrachtungsweise der Versicherungswirtschaft ausgef¨ uhrt an der Technischen Universit¨ at Wien Autor : Thomas Tanzer Betreuer: Doz. Dipl-Ing. Dr.techn. Stefan Gerhold Institut: Finanz und Versicherungsmathematik

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Seminararbeit aus Mathematik

Eine historische, mathematischeBetrachtungsweise der

Versicherungswirtschaft

ausgefuhrt an der Technischen Universitat Wien

Autor : Thomas Tanzer

Betreuer: Doz. Dipl-Ing. Dr.techn. Stefan Gerhold

Institut: Finanz und Versicherungsmathematik

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Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort 3

2 Anfange 42.1 Das antike Babylonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

3 Das antike Rom 53.0.1 Begrabnisvereine im antiken Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63.0.2 Die romische Legion als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73.0.3 Lex rhodia de iactu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

4 Das antike Griechenland 94.1 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

4.1.1 Stadt und Gemeindearzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94.1.2 Staatliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104.1.3 Eranosvereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

5 Das Mittelalter 125.1 Gilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125.2 Zunfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135.3 Einige Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

5.3.1 Leistungen im Brandfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135.3.2 Leistungen bei Gefangennahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145.3.3 Leistungen im Todesfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145.3.4 Leistungen bei Unfall und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145.3.5 Alters und Hinterbliebenenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

5.4 Weitere Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155.5 Schatzbarkeit von Risiko im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155.6 Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

6 Neuzeit 176.1 Uberlegungen zur Pravention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176.2 Exkurs : Liste bedeutender Mathematiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186.3 Versicherungsbeispiele aus der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

6.3.1 Seeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196.3.2 Sterbe , Witwen und Waisenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206.3.3 Leistungen bei Immobilienschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

6.4 Industriezeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216.5 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

6.5.1 Die Haftpflichtversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226.5.2 Lebens und private Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 226.5.3 Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

6.6 Abschließende Bemerkung zur Historie und Ausblick . . . . . . . . . . . . . 24

7 Risikovergleich 257.1 Ein kurzes Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257.2 Stochastische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

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8 Stop-loss Ordnung 298.1 Vergleich durch die Wachstumsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308.2 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

9 Literaturverzeichnis 32

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1 Vorwort

Der Gedanke dieser Themenwahl entspringt meiner Hingabe zur Egrundung des geschichtli-chen Entstehungsprozesses, welcher, sofern man nur entsprechend genau hinsieht, unglaub-lich lange zuruckliegen kann.Die Vergangenheit bildet einen Bezugspunkt , welcher zur Messung der kontinuierlichenVeranderung, des menschlichen Ruck oder Fortschritts unvergleichlich gut geeignet ist.Eine exakte Datierung der Entstehung des Versicherungsgedankens ist kaum fassbar , da Ver-sicherung zweifelsohne philosophische Charakteristika aufweist und als solches als Gedanken-konstrukt vermutlich mit den Anfangen der Menschheit seinen Ursprung nahm. Die Entste-hung direkter Vorlaufer der modernen Versicherungsunternehmen finden sich naturlich erstim spaten Mittelalter durch Zunfte und Gilden und in erster , intuitiver Uberlegung neigtman eventuell dazu den Versicherungsgedanken per se in eben jenen Zeitraum einzuordne-nen.Als ich begonnen habe mich in einschlagiges historisches Material einzulesen war ich aus-gesprochen erstaunt, wie weit dieser Gedanke zuruckreicht. Selbst schriftliche und dinglicheQuellen finden sich in der Antike und sogar weit vor dieser Epoche.Der Grundgedanke jedoch , also der Wunsch subjektives Risiko zu minimieren, ist vermutlichein Grundbedurfnis des Menschen und findet im klassisch, historischen Wunsch, den Dingenihren exakten Ursprung zuzuordnen, wenig Platz. Im Laufe der Jahrtausende erlebten dieNaturwissenschaften, in diesem Sinne auch die Mathematik, einen stetigen Aufwartstrend, welcher Erklarungsmodelle und Lichtung des Nebels um viele Phanomene brachte. Auchdie Versicherungswirtschaft , ob wir die Vorlaufer oder die moderne Versicherungswirtschaftbetrachten, ist fruher weniger , dafur jetzt umso starker, mit der Mathematik als Modellie-rungsoption verbunden und ware ohne diese uberhaupt nicht denkbar.Antike Kulturen, welche ohne die großen wahrscheinlichkeitstheoretischen und statistischenInnovationen der Neuzeit auskommen mussten, versuchten dennoch durch simple Methodenund Schatzungen eine Beschreibung von Risikio zu erhalten.Diese Arbeit soll einen chronologischen Uberblick uber die komplexe Entstehungsgeschichteder Versicherungen liefern und die Geschichte als Gedankenbrucke zu einem Grundcharak-teristikum des Menschen , namlich dem Versuch sich gegen Risiko abzusichern, darstellen,obgleich es phasenweise notwendig sein wird den modernen Versicherungsgedanken, also einRisikotransfer gegen Pramienzahlng, von seinen Grundidealen zu abstrahieren.

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2 Anfange

Die Anfange des Versicherungsgedankens reichen vermutlich bis zu den Ursprungen dermenschlichen Zivilisation zuruck. Der moderne Versicherungsgedanke verspricht eine Risi-koabnahme im Gegenzug einer Pramienzahlung. Dieses mittlerweile bewahrte und nichtmehr wegzudenkende System, musste sich naturlich erst uber die Jahrtausende entwickeln,dennoch strebte die Menschheit immer nach einer Reduktion subjektiven Risikos. Die Artund Weise wie man eine entsprechende Risikoreduktion erwirken konnte, ist erst ab be-stimmten Zeitpunkten durch Quellen , also Texte, Gegenstande oder Tatsachen aus welchenKenntnis uber die Vergangenheit gewonnen werden kann , entsprechend fundiert , doch istsich die Mehrheit der Historiker einig, dass es einfache Versicherungsansatze schon langevorher gab. Wie eben jene ausgesehen haben bleibt naturlich im Raum der Spekulationendoch ist es intuitiv sehr naheliegend, dass es ’ Absicherungen ’ und ’ Versicherungen ’ schonimmer gab.Wir konnen annehmen , dass der Ursprung der Versicherungen auf das fruhe Gemeinschafts-leben zuruckzufuhren ist 1. Das fruhe Gemeinschaftsleben bestand aus Verwandten und derSippe , also Familie und Sippe. Die Unterstutzung seiner Sippe diente, evolutionsbiologischbetrachtet, der Weiterfuhrung und dem Erhalt des eigenen Genmaterials. Der Versicherungs-gedanke entspringt also auch teilweise dem menschlichen Selbst und Arterhaltungs-Trieb.Man stelle sich als illustratives Beispiel eine Familie im Zeitalter des Neolithikums ( ca5500v. Chr. ) vor. In dieser Epoche geschah ein Ubergang vom Jager und Sammlertum zusesshaften Bauern mit domistizierten Tieren und Pflanzen. Es ist denkbar, dass sich Familiendurch andere Familien absicherten , also dass beispielsweise Nahrungsmittel an Drittfamilienabgetreten wurden um in Notfallen deren Unterstutzung zu genießen. Ich mochte anmer-ken, dass es dafur kaum uberlieferte Beweise gibt, doch wirkt jene Uberlegung sichtlich undkonnte ohne weiteres so praktiziert worden sein. Dies soll intuitiv ein Gefuhl dafur schaffen,wie alt denn die Versicherungsidee sein konnte, indem wir den Grundbedurfnischarakter desMenschen als Gedankenbrucke in die tiefe Vergangenheit nutzen und zur Einsicht gelangen,dass sich manche Bedurfnisse niemals geandert haben und vermutlich auch nicht andernwerden.

2.1 Das antike Babylonien

Erste Berichte uber das antike Babylon treten ungefahr im 3. Jahrtausend v. Chr. auf ,allerdings wird Babylon nur als unbedeutende Kleinstadt wahrgenommen. Um Babylon undBabylonien generell geographisch einzugrenzen mochte ich anmerken, dass es sich hierbei umdas Gebiet des heutigen Iraks handelt, wobei die Stadt Babylon ca. 100km vom heutigenBagdad entfernt liegt. Aufgrund seiner Lage im Stromland der Flusse Euphrat und Tigris, war die babylonische Wirtschaft vordergrundig landwirtschaftlich orientiert. 2 Das durchdie beiden Flusse induzierte Schwemmland verhinderte das Anwachsen eines Waldbestandessowie das Vorkommen von Bodenschatzen, welches den Handel als wichtige Notwendigkeithervorbrachte.Der steigende Handel und die damit verbundenen Gefahren fur Handler, Wareetc. waren Veranlassung fur spater folgende wichtige Gesetzesbeschlusse. 3 Babylon erlebteseine Blutezeit unter einem Herrscher, welcher fur uns von besonderer Bedeutung sein wird,namlich Hammurapi I (1792 - 1750 v. Chr. 6 Konig der ersten Dynastie von Babylonien).

1Clemens von Zedtwitz, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Versicherungen ,vdf HochschulverlagAG, 1999

2P.S. Landsdorfer,Die Kultur der Babylonier und Assyrier, Munchen 19133Albert Schug, Der Versicherungsgedanke und seine historsichen Grundlagen

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Hammurapi I fuhrte das unbedeutende Babylon zu einer Großmacht im asiatischen Raumund revolutionierte nicht nur terretoriale Belange , sondern auch gesetzliche. Diese gesetzli-che Revolution sollte den Namen ”Codex Hammurapi ”tragen. Als jenen Codex bezeichnetman eine Sammlung von Rechtsspruchen, welche durch Hammurapi I diktiert wurden undeines der bedeutensten literarischen Werke des antiken Mesopotamiens darstellen. DieserCodex stellt die erste fundierte Quelle fur einen Versicherungsgedanken dar und wird auchdiesbezuglich als erste Quelle von Historikern angefuhrt. Nehmen wir Einsicht in eine Ge-setzesvorschrift : ”Wird eine Karawane uberfallen , so muss der Schaden von allen an derReise Beteiligten getragen werden ”. Wir erkennen, dass es sich hier absolut um die Idee vonRisikotransfer des Einzelnen auf eine Gemeinschaft handelt, aber hier ist naturlich noch kein”moderner”Versicherungsgedanke explizit zu fassen, doch exisistiert in Form dieses Codexeine schriftliche Quelle , welche Basis fur Versicherungen spaterer Epochen schaffen wird.Halten wir also nochmals fest, die erste Quelle datieren wir ca. auf das Jahr 1800 v. Chr.

Obgleich Hammurapi I ausgesprochen fortschrittlich handelte verzeichnen wir versicherungs-technisch kaum Neuerungen oder innovative Gedanken.Erst die , fur das Geschick Europas,immens wichtigen antiken Kulturen, Rom und Griechenland liefern uns in den folgendenJahrhunderten neue Denkanstoße und Modernisierungen in dieser Hinsicht.

3 Das antike Rom

Als romisches Reich bezeichnet man das von den Romern beherrschte Gebiet, zwischendem 8. Jahrhundert v. Chr. und dem 7. Jahrhundert n. Chr. , obgleich man keine exakteAbgrenzung zu vorromischen Epochen treffen kann. Die antike romische Kultur beeinflusstedas Schicksaal Europas speziell naturlich Mitteleuropas maßgeblich und in vielerlei Hinsicht.

Nachstehend die traditionelle Gliederung des romischen Reiches in vier Phasen:

• Romische Konigszeit 753 v. Chr. bis 509 v.Chr.

• Romische Republik 509 v. Chr. bis 27 v. Chr.

• Prinzipat bzw. fruhe Kaiserzeit 27 v. Chr. bis 285 n. Chr.

• Spatantike 285 n.Chr bis 700 n. Chr.

Der Gedanke, besser die Idee, subjektives Risiko auf eine Gruppe oder eine Vielzahl anPersonen aufzuteilen war schon im antiken Babylonien vorhanden. Der wirklich innovativeSchritt gelang den Romern in der Klassifikation der entsprechenden ”Versicherungssparten”, obgleich diese Klassifikation eventuell unbewusst von statten ging, so geschah sie dennochund unterschied erstmals zwischen Sach und Personenversicherung, naturlich mussen wirdiese Begriffe abstrahiert von zeitgemaßer Bedeutung betrachten , sie dienen lediglich zurbesseren Kategorisierung.Um dies zu fundieren betrachten wir nun einige Beispiele aus dem romischen Alltag :

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3.0.1 Begrabnisvereine im antiken Rom

Die finanziellen Aufwendungen fur ein Begrabnis und die Gestaltung der damit verbundenenFeierlichkeiten hangen von der gesellschaftlichen Stellung und dem sozialen Status des Ver-storbenen sowie der Verwandschaft ab. Die romische Kultur nahm allerdings von ”primitiverEntsorgung ”der biologischen Uberreste Abstand und tendierte zu wesentlich kultivierterenBestattungsritualen als die meisten Kulturen davor. Um das Offensichtliche zu erfassen seigesagt, dass Familien aus besseren Standen also Patrizier, reiche Kaufleute und hohe Poli-tiker keine Probleme hatten entsprechende Kosten fur solche Begrabnise zu decken.Familien, welche armeren Verhaltnissen entstammten waren oftmals nicht in der Lage inTodesfallen aus ihren Reihen die Begrabniskosten alleine zu tragen und so entschied mansich zu einer durchaus guten Maßnahme, namlich der Bildung von Begrabnisvereinen. Die-se Gefahrengemeinschaft trug den Namen ”Collegia funeratica ”. Die Collegia Funeraticadiente zur Splittung der Zeremonienkosten, auf eine großere Gruppe von Personen undminimierte somit maßgeblich die Einzelbelastung.Die Mitgliedschaft wurde gegen Zahlungeines Einmalbetrages verliehen. Oftmals war ein Beitritt nur bis zu einem bestimmten Altermoglich - an dieser Stelle wirkt es naheliegend, die Aufmerksamkeit auf die Risikokalkulationder Romer zu richten. Die Altersbeschrankung bei Begrabnisvereinen diente der Ausgaben-beschrankung, denn auch damals war man sich der hoheren Sterbewahrscheinlichkeit mitzunehmenden Alter bewusst.Neben der Einmalzahlung wurden von den Mitgliedern auchmonatliche Beitrage entrichtet , welche in ein gemeinsames Budget flossen. Im Gegenzugwurden aus diesem Budget, im Todesfall eines Mitglieds, entsprechende Geld und Natural-leistungen abgetreten. Im Normalfall wurde den Hinterbliebenen ein Begrabnisfeld ausbe-zahlt ( daher ruhrt auch der Name funeratica ) , welches die Begrabniskosten decken sollteund die Familienmitglieder ebenfalls wirtschaftlich unterstutzen sollte. Dieses ”funeraticum”war also so bemessen, dass es auch eine abgeschwachte Art einer Lebensversicherung dar-stellte ( Lebensversicherung ist hier mit Vorsicht zu genießen - dies soll Platzhalter fur denZweck der wirtschaftlichen Unterstutzung sein, die der Todesfall induziert ). Ein , fur dieGeschichte des Versicherungsrechts , wichter Aspekt war die Einklagbarkeit jener Leistun-gen. Wir konnen festhalten, dass diese romischen Sterbekassen oder Begrabnisvereine einebereits gut ausgepragte Fruhform der Versicherungen waren, deren religiose Komponenteimmer mehr in den Hintergrund gedrangt wurde und die wirtschaftliche Komponente, alsodie Versorgung der Mitglieder, immer mehr und mehr in den Vordergrund trat.

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3.0.2 Die romische Legion als Vorbild

Einen maßgeblichen Beitrag zum Einfluss des romischen Reiches leisteten die Legionen undihre , fur damalige Verhaltnisse, ausgepragte Ordnung und Struktur.Eine romische Legion war eine militarische Großeinheit, also ein militarischer Verband, deraus ca. 3000 - 6000 Soldaten bestand. Als historisches Detail sei angemerkt, dass sich dieromischen Legionen ofters in Zusammenstellung, Truppenstarke und Ausrustungen anderten- die klassische Legion wurde um 107 v. Chr. durch die Heeresreform des Gaius Mariusgepragt. Eine romische Legion war wie folgt eingeteilt :

• Legion = 10 Kohorten

• Kohorte = 3 Manipel

• Manipel = 2 Zenturien

• Zenturie = kleinste Einheit.

Eine romische Legion war ublicherweise sehr straff organisiert - auch in finanzieller Hin-sicht. Es gab eine Legionskassa und entsprechend 10 Kohortenkassen. Jeder Legionar wargezwungen einen Teil seines Soldes in Abhangigkeit seines Verdienstes (also in Abhangigkeitseines militarischen Ranges ) je nach Kommandant, entweder in die Legions oder Kohor-tenkasse einzahlen. Es lasst sich unschwer erkennen, dass es sich hierbei um eine Pflichthandelt - jeder Legionar musste diesen Beitrag leisten. Diese Kassen wurden unter Aufsichtverwahrt , zumeist waren es extra dafur abgestellte Soldaten. Sinn und Zweck war es nunim Todesfall eines Legionars aus dieser Kasse gewisse Zahlungen zu leisten wie etwa: Be-grabniskosten, Zeremonienkosten aber auch Zahlungen an die Familien und Angehorigenwurden in gewissen Fallen geleistet , man konnte als sagen, dass sich hier der Ansatz einer(Pflicht)-Lebensversicherung versteckte.

3.0.3 Lex rhodia de iactu

Der antike Seehandel war aufgrund der noch unentwickelten Schiffstechnik und der starkausgepragten Seepiraterie sehr anfallig fur Verluste. Es war nicht unublich , dass der Kapitanbefahl Waren und Guter uber Bord zu werfen um das Schiff, im Interesse der Belegschaft,zu retten.Um 200 n. Chr. lassen sich im griechischen Seerecht erstmals gesetzliche Bestimmungenerfassen, nach denen der entstandene Schaden durch alle Beteiligten zu tragen war. DieRomer ubernahmen diese gesetzlichen Grundsatze und uberfuhrten sie als ”Lex rhodia deiactu ın das romische RechtDie ”Lex rhodia de iactu ”war also eine bestimmte gesetzliche Regelung zur Verteilung dermit dem Handelsverkehr verbundenen Risiken. 4

”Lege Rhodia cavetur , ut, si levandae navis gratia iactus mercium factus est, omniumcontributione sarciatur quod pro omnibus datum est ”5

Die Lex rhodia de iactu fand aber nicht nur bei einem Schiff bzw dessen Ladung Anwendung, sondern auch in folgenden Fallen

4Buchner , Winter , Grundriss der Individualversicherung S. 225Durch das Rhodische Gesetz ist bestimmt, dass , wenn zu Erleichterung eines Schiffs Waren ausgeworfen

worden sind, durch Beitrage Aller ersetzt werde, was fur Alle hingegeben worden ist.

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• wenn ein Teil der Ladung auf ein kleineres Schiff umgeladen wurde und dieses dadurchsank

• falls eine Beschadigung des Schiffes eintrat oder notwenig war (beispielsweise kappendes Mastes )

• beim Loskauf von Piraten und

• Bei Beschadigung des verbliebenen Gutes durch das uber Bord werfen eines anderenGutes. 6

Mit der Lex Rhodia war also ein Instrument geschaffen, welches als Absicherung fur Schiffs-und Ladungsinteressenten diente und vollstandige Vermogensverluste durch , von den Seege-fahren induzierte , Phanomene verhinderte. Der Schiffseigentumer als auch der Ladungsinha-ber hatten die Sicherheit, dass sie bei Aufgabe des Transport und Ladungsgutes entsprechendentschadigt wurden. 7

6vgl. Albert Schug, Der Versicherungsgedanke und seine historischen Grundlagen S.1137Ders. a.a.O

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4 Das antike Griechenland

Die griechische Geschichte begann mit der Einwanderung der Ionier und Aolier (1.850 - 1600v.Chr.) und den großen Siedlungsbewegungen von 1200 v. Chr. bis 1000 v. Chr.Nahere Beschreibungen uber wirtschaftliche , politsche und gesellschaftliche Zustande liegenaus jenen Zeitraumen aber nicht vor. 8 Wir wissen, dass sich im Laufe der Zeit an bestimmtenOrten beziehungsweise in bestimmten Regionen Handwerks und Gewerbezweige ausbildeten,welche in spatere Folge das Fundament der beruhmten ”Polis ”(Stadt) bildeten. 9 Man trifftfolgende Einteilung des antiken Griechenlands :

• archaische Zeit (ca. 700-500 v.Chr.)

• klassischer Zeit (um 500–336/323 v. Chr.)

• hellenistische Zeit (336–30 v. Chr.)

• Teil des Romischen Reiches bis zum Ausgang der Antike

Als angehender Mathematiker finde ich es interessant, auf die herausgragenden griechischenMathematiker zu verweisen die in der Antike lebten.In der archaischen Zeit wirkten beispielsweise : Pythagoras, Thales, Anaxagoras, Demokritund Hippokrates , welche nicht nur fur die damalige Zeit revolutionares bewirkten, sondernderen mathematisches Vermachtnis noch heute gegenwartig ist.Dies gilt naturlich auch fur jene der klassischen Zeit : Platon, Aristoteles, Theaitetos, Eu-doxos von Knidos und Menaichmos.In hellenischter Zeit und bis ca 300 n. Chr. sind noch erwahnenswert: Euklides, Aristar-chos, Archimedes, Eratosthenes, Nikomedes, Apollonios , Hipparchos, Menelaos, Heron vonAlexandria, Ptolemaus, Diophant von Alexandrien und Pappos.

Ahnlich wie bei den Romern hatten auch die Griechen einen , fur antike Verhaltnisse, bereitsrelativ gut ausgepragten Versicherungscharackter. Da wir uns den Gedanken der Seeversi-cherung bereits am Beispiel der romischen lex rhodia de iactu zu Gemute gefuhrt habenwollen wir jene griechischen Gesetze und Verordnungen nicht nochmals diskutieren.

4.1 Krankenversicherung

4.1.1 Stadt und Gemeindearzte

Die Griechen erkannten, dass Krankheit nicht nur ein existentielles Risiko im Sinne vonletal oder nicht beeinhaltet, sondern das Risiko einer immanenten Arbeitsunfahigkeit undReduktion der Zukunftschancen. Das griechische System hatte offentlich angestellte Stadtund Gemeindearzte zur Verfugung, welche primar zur Bekampfung von Epedemien und zurTherapie von Kriegsinvaliden ins Leben gerufen wurden. (Sie behandelten aber nicht nurdiese Falle)Als offentlich Angestellte bezogen sie ihr Gehalt also von der ”offentlichen Hand ”, alsoihre Entlohnung wurde von den Stadten oder Gemeinden ubernommen. Die notwendigen

8H. Kloft, die Wirtschaft der griechisch - romischen Welt, Darmstadt 19929Ebd. a.a.O.

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finanziellen Mittel wurden durch eine Arztesteuer lukriert 10. Alle griechischen Burger hat-ten dadruch eine medizinische Versorgung, die von der Allgemeinheit getragen wurde unddie die Erreichung , der von den Burgern gesteckten zukunftigen Ziele, erleichterte. DiesesCharakteristikum erfullt den Bestand der Risikominimierung einer einzelnen Person undden Ubertrag auf viele Schultern. Im soziologischen Sinne lag damit also eine Versicherungvor. 11

4.1.2 Staatliche Versorgung

Das moderne Sozialsystem sieht es vor, dass Personen, welche infolge einschneidender Er-eignisse invalide bzw. nicht mehr im Stande sind zu arbeiten und damit erwerbslos waren,dauerhaft zu unterstutzen. Wir werden sehen, dass sich das Wort modern hierbei relativierenlasst.

Burger des antiken Griechenlands erhielten Sozialleistungen im oben genannten, modernenSinn. Im Falle der Invaliditat durch ein kriegerisches Ereignis , durch Alter oder infolgeeines korperlichen Gebrechens sah es das griechische Versorgungssystem vor, diese staatlichzu unterstutzen. Dies war eine Rechtssicherheit und nicht nur eine manchen zukommendeHoflichkeit. Jeder griechische Burger hatte darauf einen , von Rechtswegen gesicherten, An-spruch.Kriegswaisen erhielten bis zur Volljahrigkeit finanzielle Unterstutzung sowie Aufsichtund Erziehung. 12. Das durch den Staat ubernommene Risiko stellte eine feste Bezugsgroßezur Kalkulation fur zukunftige Planungen dar, tragt zur Risikominimierung bei und erfulltwiederum den Versicherungsgedanken.

Neben der Unterstutzung, der durch oben genannte Grunde betroffenen Burger, bot das an-tike, griechische Sozialsystem weitere Leistungen. Menschen , deren Existenz durch verschie-dene Umstande bedroht war, erhielten , um die Existenzbedrohung zumindest zu lindern,Geld oder Naturalspenden. 13 Einrichtungen , die jene ’ Sozialleistungen ’ durchfuhrten,wandelten sich im Laufe der Zeit zu Instituten , die nicht nur Bedurftige unterstutzten,sondern die das Leben eines griechischen Burgers angenehmer gestalten sollten. 14

4.1.3 Eranosvereine

Im Kapitel uber die Romer haben wir uns mit Sterbekassen und Begrabnisvereinen beschaftigt.Solche Vereine sind stark angelehnt an die griechischen Eranosvereine.Eranosvereine waren Versorgungsinstitutionen , welche sich nicht auf bestimmte Falle wieKrankheit oder Tod beschrankten , sondern Hilfestellungen in Notlagen boten. Die Mit-glieder zahlten einen Betrag ein , dieser konnte laufend oder in manchen Fallen auch nureinmal erstattet werden , um in Notsituationen den Mitgliedern helfen zu konnen (zumeistnaturlich durch Geldleistungen). Manche dieser Vereine fungierten auch als Kreditgeber.Man konnte sich unter bestimmten Umstanden , welche vollig verschieden sein konnten, ausder gemeinsamen Vereinskasse ein Darlehen entnehmen.Eranosvereine dienten also der Risikoaufteilung auf eine , durch Geldeinlagen selektierten,

10Marina Elisabeth Pfeffer, Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und romischen Antike,Berlin 1969, S.80

11M.E.Pfeffer, a.a.O. S. 62 ff.12Da gehort noch der Autor rein13M.E. Pfeffer, a.a.O. S. 76 ff.14Albert Schug, der Versicherungsgedanke und seine historischen Grundlagen

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Gemeinschaft, zur Erhaltung geschaffener und zum Wiederaufbau , durch Notsituationenverlorengegangener , Werte oder Guter. 15

Risikobewertung

Eine , fur uns Mathematiker entscheidende Frage ist jene, nach der Moglichkeit Risiko zubeschreiben und zu modellieren. Das moderne Versicherungs und auch Finanzwesen ist stark”mathematisiert”. Man versucht mit Methoden der Statistik , Wahrscheinlichkeitstheorie ,Okonomie , Optimierung und vielem mehr den Versicherungsmarkt zu beschreiben und Risi-ko zu klassifizieren. Das mathematisch dazu notige Handwerkszeug lieferten uns großtenteilsdie statistisch und wahrscheinlichkeitstheoretischen Innovationen, welche allerdings erst lan-ge nach den antiken Griechen die Feder gelehrter Personen verließen.

Ich erwahne an dieser Stelle , dass sich nachfolgende Erkenntnisse auf antike Kulturen imAllgemeinen beziehen.Bereits in der Antike stellte man grundlegende Gedanken uber Zufall an. Wir wissen, dassbeispielsweise die Romer eine Vorliebe zu diversen Wurfelspielen hatten. Heute ist man inder Lage Wurfelspiele ausgezeichnet durch die Wahrscheinlichkeitstheorie zu beschreiben.Betrachten wir als Beispiel einen klassischen (idealen) Wurfel mit den folgenden Auspragungender Zufallsvariable X : x1 = 1, x2 = 2, ..., x6 = 6 - da es sich um einen idealen Wurfel handeltist die Wahrscheinlichkeit fur jede Auspragung gleich , also 1

6. Ganz allgemein handelt es

sich also um eine diskrete Gleichverteilung, der diskreten Zufallsvariable X.Die Romer und Griechen wussten sehrwohl uber die Wahrscheinlichkeit intuitiv bescheid.Man versuchte Wurfel zu nehmen, welche moglichst gut gleichwahrscheinliche Ausgangeliefern : polyedrische Wurfel oder beispielsweise besonderns gleich geformte Knochen. Wirsehen, dass man sich auf jeden Fall Gedanken uber Fairness machte und wusste, dass Wurfelbestimmter Beschaffenheit wesentlich fairer waren als andere. Aristoteles pflegte oft zu sagen: ”Wahrscheinlich ist, was sich meist ereignet ... ”. Obgleich all dieser Tatsachen versuchteman in der Antike nicht Zufalle mathematisch, also wahrscheinlichkeitstheoretisch zu be-schreiben, uber das warum und wieso lassen sich nur Mutmaßungen anstellen - eine gangigeThese ist, dass in der Antike vieles durch den Willen der Gotter erklart wurde und dadurchmathematische Maßnahmen uberflussig waren. Die Romer und Griechen benotigten aber zueiner vernunftigen Risikoschatzung nicht zwangslaufig mathematische Methoden, sondernsie benutzten als Grundlage dieser Risikobemessung den Fundus ihrer Erfahrungen und derGenerationen davor. Wir uberlegen leicht, dass Jahrhunderte der praktizierten Seefahrt zueiner Verbesserung der Kenntniss der Gefahren und der Verhaltnisse fuhren - seien diese wet-tertechnischer Natur oder Gebiete in denen es haufiger zu Ubergriffen durch Piraten kommt.Zusammenfassend vermerken wir , dass man sich auch in der Antike Gedanken zum Termi-nus Risiko machte und wusste, dass Risiko variabel und somit eine zu uberdenkende Positionbeim Abschluss von Seevertragen oder, wir erinnern uns an die romischen Begrabnisvereine, auch bei der Aufname von Mitgliedern ist.

15Ders.

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5 Das Mittelalter

Der Begriff Mittelalter bezeichnet die Epoche zwischen dem Ende der Antike und demBeginn der Neuzeit (ca 600-1500 n.Chr.). Nach dem Untergang des westromischen - Reiches476 n.Chr. entstanden eine Vielzahl neuer Reiche, welche von slawischen, romanischen undgermanischen Bevolkerungsgruppen gepragt wurden. In dieser Epoche verschwand der, inder Antike vorherrschender, Polytheismus und wurde fast ganzlich durch das Christentumersetzt. In dieser Epoche erlebten auch die Vorlaufer unserer Versicherungen einen großenAufwartstrend, der nun etwas genauer diskutiert werden soll.

5.1 Gilden

Aus heutiger Perspektive verstehen wir unter Gilden einen aus wirtschaftlichen Interessengeschaffenen , mittelalterlichen Zusammenschluss von Kaufleuten und Handlern.Der Zugang zu einer Gilde wurde seit dem 6/7 Jhdt. jenen gewahrt, welche bereit wareneinen Eid zu leisten und dadurch einer, nach außen hin abgegrenzten, Gemeinschaft bei-zutreten. 16 Bevor die Gilden, Zusammenschlusse von Personen mit bestimmten Berufenwaren , setzten sie sich aus Laien zusammen, welchen auch Priester und andere Klerikerangehorten.17 In erster Instanz und in den Anfangen war das Ziel dieser Laien, eine gegenseite genossen-schaftliche Hilfe. In Abhangigkeit der Gilden-Statuten waren die Mitglieder aufgerufen undverpflichtet ihre Eidgenossen bei einer Vielzahl von Notlagen zu unterstutzen wie Brand,Schiffbruch, Krankheit, Hilfe vor Gericht, Verarmung und Gefangenschaft. Vorlaufer derGilden waren Bruderschaften, welche sich durch einen Eid zu einer bruderlichen Gemein-schaft zusammenschlossen. 18. Erstmals wurde im Jahre 779 n.Chr. in einer Capitulare Karlsdes Großen von Gilden gesprochen. Davor gibt es keine durch Quellen fundierten Berichteuber die Existenz von Gilden.Gilden waren eigenstande Gemeinschaften (Vereine ware ein ebenfalls passender Terminus),die sich selbst verwalteten und eine eigenstandige Verfassung hatten. 19 Ab 700 n. Chr. wareine Gilde also ein durch einen Schwur besiegelter Zusammenschluss, welcher festgeschriebe-ne Statuten und Gesetze zu Grunde liegen hatte. Aufgrund des Schwures und der besonderenStellung der Gildenmitglieder zueinander, hafteten sie nach außen hin als Ganzes oder esbestand die Zahlungsverbindlichkeit fur jedes Mitglied, einzeln bemessen an der Zahl derMitglieder. Im Laufe der Jahrhunderte nahmen Gilden viele Risiken auf. Diese waren:Krankheit,Arbeitslosigkeit,Raub, Waren, Schiffbruch, Brand, Begrabniskosten, Beschlag-nahme von Waren, Losegeld, Seewurf, Renten (Erlebens, Invaliditats, Hinterbliebenen), Ar-beitsunfall und Arbeitgeberhaftpflicht. 20

16Otto Gerhard Oexle, Die mittelalterlichen Gilden , Berlin/New York 197917Ders. a.a.o18Albert Schug, Der Versicherungsgedanke und seine historischen Grundlagen19P.Blickle, Die politische Karriere einer lokalen Geschaftsformation20D. Schewe, Geschichte der sozialen und privaten Versicherung im Mittelalter in den Gilden Europas,

2000

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5.2 Zunfte

Zunfte waren standische Korperschaften von Handwerkern, welche zur Wahrung und Ver-wirklichung gemeinsamer Interessen geschlossen wurden. Vorlaufer der Zunfte lassen sich be-reits im romischen Reich erkennen, wo sich Handwerker zu Kollegschaften zusammenschlos-sen - der lateinische Ausdruck dieser Zusammenschlusse war demnach ”collegium ”.Die Entstehung mittelalterlicher Zunfte datiert man auf ca. 1100 n.Chr. (als nachweislichalteste Zunft gilt die der Wormser Fischer 1106 n.Chr.) . Sie folgten , in zeitlicher Reihen-folge betrachtet, den Gilden.Zunfte bildeten sich , im Gegensatz zu Gilden, nur in Stadten , weshalb ihre Entwicklungstark mit der Entwicklung der Stadte korrelierte , also mit politischen und wirtschaftlichenVerhaltnissen der betreffenden Stadt. Mitglieder einer Zunft waren die Meister ihres Hand-werks, also nur jene die einen Meisterbrief vorweisen konnten. Vollwertige Mitglieder einerZunft, also die Meister, hatten gegen Zahlung eines regelmaßigen Beitrags in ein gemein-sames Budget , die Moglichkeit aktiv mitzuwirken und zu gestalten. Die Gesellen, welchezwar als vollstandig ausgebildete Handwerker galten, wurden als Angehorige der Meisterfa-milie gewertet , aber nicht als Stimm-berechtigtes Mitglied, obgleich sie zu Beitragsabgabenverpflichtet waren.21

5.3 Einige Beispiele

5.3.1 Leistungen im Brandfall

Der Gedanke sein Hab und Gut durch einen Brand zu verlieren war im Mittelalter ahnlicherschreckend wie heute. Um sich gegen dieses Risiko zu versichern war die Hilfestellung imBrandfall eine der ersten Leistungen, die mittelalterliche Gilden erbrachten. Brandhilfenlassen sich schriftlich bis in das Jahr 779 n.Chr. zuruckverfolgen.footnoteAlbert Schug, der Versicherungsgedanke und seine historischen Grundlagen. DieZugehorigkeit zu einer Gilde implizierte direkt den Anspruch auf Hilfe im Schadensfall, dader Zusammenschluss der Gilde mit allen Rechtsfolgen und Wirksamkeiten geschah. Gilden,welche das Brandrisiko ubernahmen , waren in beinahe ganz Europa anzutreffen:

• Schweden

• Deutschland

• Italien

• Island

• Danemark

• England

• Norwegen

21Sigrid Frohlich, Die soziale Sicherung bei Zunften und Gesellenverbanden, Diss. ,Koln 1974

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5.3.2 Leistungen bei Gefangennahme

Da Gilden in ihren Statuten haufig von christlichen Idealen geleitet wurden beeinhaltetendiese zumeist die Unterstutzung in Alltagssituationen aller Art, welche auch die Zahlung ei-nes Losegeldes bei Gefangennahme eines Mitgliedes inkludiert. 22. Die Losegeldversicherungverschaffte also den Gildenmitgliedern die Gewissheit, dass sie , im Falle einer Gefangen-nahme, wieder die Freiheit durch Losegeldzahlung erlangen wurden.

5.3.3 Leistungen im Todesfall

Auch in diesem Fall reguliert der christliche Gedanke eine Vielzahl der Leistungen. Im To-desfall war die Gilde fur

• (a) das Begrabnis

• (b) das Seelenheil

• (c) die Bezahlung der Begrabniskosten an Kirche und Priester

• (d) die Heimholung Toter

• (e) das Aufstellen von Kerzen 23

zustandig.

5.3.4 Leistungen bei Unfall und Krankheit

Es ist gewiss, dass jede Gilde eigenwillige Regelungen hatte und diese sich auch im Laufe vonFruh , Mittel und Spatmittelalter veranderten. Ziel war es jedoch bei allen Fallen von Unfalloder Krankheit die Mitglieder so gut wie eben moglich zu unterstutzen (meist bestand daraufauch ein Anspruch). Fur den Fall der Krankheit bestand konkret die Pflicht Krankenwachezu halten , also den betreffenden zu pflegen und nach Moglichkeit zu schutzen. Sollte einMitglied seiner Pflicht nicht nachkommen so musste er ein Bußgeld entrichten (auch hier istbeispielsweise die Hohe des Bußgeldes abhangig von der entsprechenden Gilde. EinheitlicheRegelungen gab es keine).Alle hatten jedoch gemein, im Falle einer Krankheit und damit verbunden einer drohendenVerarmung ihren ’Gildenbruder’ zu unterstutzen - sei es durch finanzielle Leistungen oderdurch personliche Leistungen wie Pflege oder Krankenwacht.

22D. Schewe, Die Erfindung der Versicherung und die Bedingungen fur ihre Entwicklung in den letzten150 Jahren

23bezogen auf a-d : D.Schewe , a.a.O

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5.3.5 Alters und Hinterbliebenenvorsorge

Da die Alters und Hinterbliebenenvorsorge ein Kernbereich des modernen Sozialstaates ist,sei an dieser Stelle noch ein kurzer Einblick in jene des Mittelalters gegeben.Konkrete Institutionen zur Sicherung der Hinterbliebenen und zur Altersvorsorge tauchtenerst im Hochmittelalter (ca. 1050-1250 n.Chr.) in den Statuten der Zunfte und Gilden auf.Bis zu diesem Zeitpunkt sicherte man lediglich das Risiko der Verarmung 24 , aber konkre-tisierte diesen Terminus noch nicht naher.Nach den Statuten der Zunfte war es beispielsweise vorgesehen , dass , sofern der Meisteraufgrund von Alter oder korperlichen Gebrechen nicht mehr sein Handwerk ausuben konn-te , ihm ein Geselle von einem anderen Meister der Zunft zur Verfugung gestellt wurde. Inspaterer Folge handelten die Zunfte sogar Vertrage mit Spitalern aus. Dem Krankenhaus oderder Krankeninstitution wurden regelmaßig Beitrage aus dem Budget der Zunft uberwiesenund dieses verpflichtete sich im Gegenzug zur Pflege und den notwendigen medizinischenLeistungen.

5.4 Weitere Leistungen

Weiters wurden Leistungen in folgenden Fallen zugesichert:

• Prozesshilfe

• Warenverlust durch Seewurf

5.5 Schatzbarkeit von Risiko im Mittelalter

Auch in dieser Epoche interessiert uns abermals , wie und ob Gilden und Zunfte versuchtenRisiko zu bewerten.

• ad Brandfall: Im Mittelalter verfugte man prinzipiell uber gutes Wissen der verwende-ten Bausubstanzen. Weiters war man sich auch bewusst, dass regionale Unterschiedein der Brandgefahr auftraten (Trockene Gebiete in Italien im Gegensatz zu kalt, feuch-ten in Norwegen.) Aufgrund dieser Erfahrungen und aufgrund dieses Wissenstandeswar man in der Lage das Brandrisiko relativ gut einzuschatzen.

• ad Todesfall: Wir haben ja bereits von der Tatsache Kenntnis erlangt, dass auchpersonliche Leistungen wie etwa das Halten von Totenwache zu den Aufgaben derGildenmitglieder gehorten. Es liegt naturlich auf der Hand, dass man dafur keineRisikokalkulation oder Schatzbarkeit benotigte, da diese Leistungen nicht direkt diewirtschaftliche Lage der Mitglieder beeinflussten. Anders naturlich wenn es um Natu-ral oder Geldleistungen ging.Auch in diesem Fall konnte man Risiko aufgrund der Erfahrungen und Umstandeschatzen. Man wusste naturlich um die erhohte Sterbewahrscheinlichkeit alterer Men-schen , aber man beachtete bei jenen Uberlegungen auch die globalen Umstande(Epedemien wie die Pest udgl.), welche die Sterblichkeitsrate und Wahrscheinlichkeiterhohten.

24D.Schewe, a.a.O

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• Unfall und Krankheit: Es bestand eine auf empirischer Erfahrung beruhende Schatzbarkeit.

• Hinterbliebenenvorsorge: Man wusste, dass der Tod einer Person,die Haupttragenderdes Einkommens war (normalerweise der Mann), die wirtschaftliche Existenz seinerAngehorigen gefahrdete. So war es in den Statuten der Zunfte geregelt, dass eine Wit-we einen Gesellen zur Verfugung gestellt bekam um beispielsweise den Handwerksbe-trieb aufrecht zu erhalten. 25 Die Risikokalkulation bemisst sich naturlich an jener desTodesrisikos, welches wie schon vorher erwahnt, versucht wurde zu schatzen.

5.6 Bemerkung

Es gabe naturlich noch eine Vielzahl an interessanten Details : von der Gestaltung der ent-sprechenden Satzungen , Statuten und Vertrage angefangen, bis zu den rechtlichen Formenund der Gerichtsbarkeit im Mittelalter. Dieses Thema ist allerdings so umfangreich, dass esden Rahmen dieser Arbeit sprengen wurde und ich verweise an dieser Stelle fur den interes-sierten Leser auf Literatur zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung von Versicherungen.

25vgl. S.Frohlich

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6 Neuzeit

Wir sind nun im unfangreichsten Kapitel der historischen Entwicklung angelangt.Den Beginn der Neuzeit datieren wir auf das Jahr 1500 n.Chr. , welches aber nicht eine radi-kale Anderung in den Strukturen der europaischen Gesellschaft einleitete. Am Ende des Mit-telalters begannen in Europa muhselige Machtkampfe zwischen den großen Konigshausern, welche sich erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts legten. Der Wandlungsrozess wurdeuberwiegend durch die Erfindungen und Innovationen der Neuzeit stetig vorangetrieben undbrachte dann die großen uns bekannten Umbruche in Wirtschafts und Sozialpolitik.Die Zugehorigkeit zu einem Nationalstaat war zu Beginn der Neuzeit nicht das Kriterium, welches zur Unterscheidung der Menschen herangezogen wurde, sondern man teilte dieMenschen , wie auch im Mittelalter, in Stande ein. Diese sind der Klerus, der Adel und dieBauern. Dieser , im Mittelalter entstandene, Gedanke , dass es sich bei dieser Einteilungum eine gottliche Ordnung handle, hemmte soziale Umbruche leider noch lange Zeit. Einewesentliche und auch wichtige Veranderung zu Beginn der Neuzeit war die Distanzierungvon Grundherrn , die im Mittelalter das bauerliche Leben maßgeblich beeinflussten unddiktierten. Es entstanden neue, burokratische Einrichtungen. Die Stadt und das Wohnen inder Stadt wurden eine immer zentraler werdende Rolle und es kristallisierte sich langsamdas Burgertum , also eine Art ’ Mittelschicht ’ heraus.Im spaten Mittelalter gewann die Seefahrt immer mehr an Bedeutung. Grund dafur warenzweifelsohne die vielen Entdeckungen und die Erschließung der Welt durch die Portugiesenund Spanier. Die Erschließung Amerikas und die Entdeckung der direkten Seeroute nachOstasien intensivierten die Bedeutung des Seehandels.

6.1 Uberlegungen zur Pravention

Bereits zu Beginn der Neuzeit stellte man Uberlegungen an, welche Auswirkungen eine Meh-rung des Wohlstandes auf die Steuerkraft der Bevolkerung haben konnte.Relativ rasch kam man zu dem Schluss, dass Wohlstand der ’breiten Masse’ und Steuervo-lumen in direkten Zusammenhang stehen. Nun galt es also den Wohlstand der Bevolkerungzu mehren, um das Steueraufkommen zu maximieren , was sich dann als direkter Vor-teil fur den Fursten oder den entsprechenden Herrscher erwies. Die Vermehrung des Wohl-standes sollte indirekt uber Sicherheit erreicht werden. Als besonders wichtiger Faktor fursubjektiven Wohlstand gilt naturlich das Intaktsein der Immobilienwerte. Es galt also dieVermogenswerte abzusichern um somit eine Sicherheit zu induzieren, welche der Bevolkerungwirtschaftliches Wachstum ermoglichte.Der großte Risikofaktor, welcher personliche Vermogensgegenstande bedrohte war Feuer.Um diese Gefahr zu minimeren errichtete man im 16. Jahrhundert staatliche Brandgilden.Die erste neuzeitliche Brandgilde wurde 1537 in Suderau (Schleswig - Holstein) gegrundet.Neben den Brandgilden, die sich von Schleswig - Holstein und dann Hamburg ausbreiteten,entwickelte man in der Neuzeit einen bewussten Begriff von Risiko und Versicherung undsetzte diese Erkenntnisse ein, um uber den genossenschaftlichen Versicherungsbereich hin-auszukommen.

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6.2 Exkurs : Liste bedeutender Mathematiker

Ein wichtiger Trager der Neuzeit sind die großen mathematischen Fortschritte, die nicht nurdie Moglichkeit Risiko zu klassifizieren brachten, sondern auch viele andere Entwicklungenbegunstigten, welche indirekt maßgeblich Einfluss auf diese Entwicklung hatten. Nachste-hend mochte ich einige bedeutende Mathematiker namentlich erwahhnen.

• Gerolamo Cardano: (1501-1576) machte wichtige Entdeckungen zur Wahrscheinlich-keitstheorie sowie zum Losen kubischer Gleichungen (Cardanische Formeln).

• Francois Vieta (1540-1603) fuhrte Buchstaben als Variablen in der mathematischenNotation ein. Leistete Vorarbeit fur die Infinitesimalrechnung. (Satzgruppe von Vieta)

• Johannes Kepler(1571-1630) entwickelte die Keplersche Fassregen, welche naherungsweisenumerische Integration erlaubt. Seine bedeutenste Leistung war die Beschreibung derPlanetenbewegungen in Ellipsenbahnen mit der Sonne als Brennpunkt (KeplerscheGesetze)

• Pierre de Fermat (1607-1665) lieferte wichtige Beitrage zur Wahrscheinlichkeitsrech-nung und der Differentialrechnung sowie Zahlentheorie. Fermat gilt als einer der Be-grunder der Wahrscheinlichkeitsrechnung. (Briefwechsel Fermat - Pascal)

• Blaise Pascal (1623-1662) errang fundamentale Erkenntnisse. Sein Hauptforschungs-gebiet war die Wahrscheinlichkeitsrechnung besonders Wurfelspiele.

• Jakob I. Bernoulli (1655-1705) lieferte wesentliche Beitrage zur Wahrscheinlichkeits-theorie.

• Gottfried Wilhelm Leibniz(1646-1716) konstruierte eine Rechenmaschine, die multi-plizieren , dividieren und Quadratuwurzeln ziehen konnte. Er schuf die Grundlage furdie Infinitesimalrechnung. Auf ihn geht das Integralzeichen und die ublcihe Differnti-alschreibweise dy

dxzuruck. Er lieferte auch bei der Untersuchung konvergenter Reihen

bedeutende Beitrage (Leibnitz-Kriterium).

• Leonhard Euler:(1707-1783)war einer der bedeutensten Mathematiker uberhaupt(verfasstemehr als 800 Publikationen).

• Pierre-Simon Laplace (1749-1827) : war einer der bedeutensten Mathematiker im Be-reich der Wahrscheinlichkeits und Spieltheorie. Ein kleines Detail am Rande: Laplacewar zur Zeit Napoleons Innenminister Frankreichs.

• Carl Friedrich Gauß (1777-1855): war ein deutscher Mathematiker. Gauß war einer dergroßten und wichtigsten Mathematiker der Geschichte. Seine Arbeiten und Publika-tionen revolutionierten viele Gebiete der Mathematik.

• Augustin-Louis Cauchy (1790-1868) : war ein Pionier der Analysis , welcher viele Aus-sagen erstmals formal bewies.

• Karl Weierstraß(1815-1897) : war ein deutscher Mathematiker, welcher am Gebiet derAnalysis forschte.

• Georg Cantor(1845-1918) :war Begrunder der Mengenlehre.

• Henri Poincare(1854-1912) : Begrunder der algebraischen Topologie.

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• David Hilbert:(1862-1943) schuf fundamentale Theorien fur viele Bereiche der Mathe-matik. Seine Arbeiten begrundeten ganze Forschungsbereiche. Er stellte eine Liste mit23 ungelosten mathematischen Problemen vor.

• Felix Hausdorff (1868-1942): Mitbegrunder der modernen Topologie. Lieferte wichtigeBeitrage zur Maßtheorie.

• Henri Leon Lebesgue(1875-1941): er erweiterte den Integralbegriff und begrundete da-mit die Maßtheorie.

• Stefan Banach (1892-1945) : war ein polnischer Mathematiker. Er gilt als Begrunderder modernen Funktionalanalysis.

• Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow (1903-1987): war einer der bedeutensten Mathe-matiker auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie. Er axiomatistiere diese.

6.3 Versicherungsbeispiele aus der Neuzeit

6.3.1 Seeversicherung

Wie wir bereits erwahnt haben , war die Seefahrt ,durch die zunehmende Kolonialisierungder Welt, wirtschaftlich von immenser Bedeutung.Die Entwicklung der Seeversicherung war in Europa von einigen Faktoren abhangig:

• dem Land und der damit verbundenen Bedeutung der Seefahrt,

• der Distanz und den damit verbundenen Gefahren durch Witterung und Piraterie. 26

Die Seeversicherung wurde spatestens gegen Ende des 16. Jahrhunderts zur Notwendig-keit. Im Jahre 1568 brach der Spanisch - Niederlandische Krieg aus , welcher als Endresultatdie Unabhangigkeit der Niederlande hervorbrachte (Westfalischer Friede 1648). Der Krieginduzierte jedoch neue Risikofaktoren auf See und brachte durch hollandische Kaufleute auchdie Seeversicherung nach Hamburg(Deutschland) 27 und in den mitteleuropaischen Raum.Das 17. und 18. Jahrhundert verlief nicht friedlicher und somit erzwangen die vielen krie-gerischen Auseinandersetzungen die Einrichtung der Convoyschifffahrt. Auch in den kurzenFriedenszeiten war es zur See nicht sicherer, allerdings waren in diesen Perioden afrikanischePiraten dafur verantwortlich.Die Lage wurde dermaßen bedenklich, dass man Handelsschiffe mit Kriegsschiffen eskortierenmusste. Die Seeversicherung allein, bot den Kaufleuten nicht mehr die entsprechende Sicher-heit und das Risiko fur Schiff und Fracht wurde zunehmend hoher und uneinschatzbarer.28

26vgl. Albert Schug, a.a.O.27F.Buchner, Art.Geschichte28vgl. W.Heyn, Die Geschichte des hamburgischen Versicherungswesens

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6.3.2 Sterbe , Witwen und Waisenkassen

Der Unterschied zu fruheren Epochen liegt in der Tatsache, dass man Gilden und Zunftsta-tuten auflockerte und den Versicherungsgedanken fur Burger, obgleich des gleichen Berufsoder Standes , zuganglich machte. Es bildeten sich Sterbekassen , welche nicht den gleichenBeruf als Voraussetzung hatten. Das Sterbegeld war durch die Satzung genau bestimmt. ImTodesfall wurde ein vorher festgelegter Betrag dem Erben ausbezahlt. Das Mitglied hatte al-so die Gewissheit, dass eine fixe Summe an den Erben ausbezahlt wurde (Sinn war naturlich,dass die Begrabniskosten gedeckt werden konnen).Erstmals bemuhte man sich auch um eine staatliche Unterstutzung von Witwen und Waisen.Es wurden ”Fondsauf Anordnung des Landsherren eingerichtet um im Notfall entsprechendeAuszahlungen zur Versorgung leisten zu konnen. Die Mitglieder mussten lediglich geringeBeitrage zahlen, der Rest wurde durch die Landstande beigesteuert. Diese staatliche Un-terstutzung war primar fur bestimmte Klassen bestimmt (Beamte, Klerus) , welche einerBeitrittspflicht unterlagen ( ’Pflichtversicherung ’). 29 Es gab aber auch Privatkassen, welchediese Leistungen boten, naturlich gegen Zahlung von Beitragen und Einlagen. 30 Bei Pri-vatkassen wurde , ahnlich wie bei den staatlichen Kassen, im Todesfall den Hinterbliebeneneine laufende Rente ausgezahlt. 31

6.3.3 Leistungen bei Immobilienschaden

In der Neuzeit war man bemuht Vermogenswerte zu schatzen, um die Pramie diesen anzu-passen.”Die Tatigkeit von Brandversicherungen liegt in der Erhaltung des in einem Haus enthalte-nen Wertes ”32 Eine Immobilie und die darin lagernden Guter sind meist von solchem Wert,dass man sie kaum ersetzen kann. In erster Instanz richtete sich die Schatzung nach demWert des Gebaudes. Fur Personen , die keine eigenen Immobilien hatten, also welche bei-spielsweise zur Untermiete wohnten, waren die hochsten Werte naturlich das bewegliche Habund Gut. Der Verlust des beweglichen Habe bedeutete fur jene ebenso den wirtschaftlichenund finanziellen Ruin wie der Verlust von Immobilien fur die Eigentumer. Dadurch erfulltauch das Risiko fur bewegliche Sachen den Begriff der Versicherung und insofern nahm mandies auch in die Statuten der Versicherungen auf.Die ”Versicherer ”, welche ursprunglich nur gegen Feuer versicherten , sahen sich nun vor dasProblem gestellt , dass sie mehr und mehr Risiken aufnehmen ”mussten ”. Diese Tatsachebrachte einige Neuerungen bei der Risikokalkulation hervor. Man versuchte die Schadenshohedurch eine genauere Untersuchung der Immobilie und der beweglichen Sachen exakter zuschatzen. Das Risiko wurde eingeschrankt : 33

• die Zahl der an einem Ort versicherten Risiken wurde limitiert (Man wusste, dass esrisikoreicher war drei Hauser nebeneinander zu versichern, als nur eines).

• gewisse Wagnisse wurden ganz ausgeschlossen ,

• die Entfernung zwischen zu versichernden Immobilien wurde genau vorgegeben.

Wir erkennen also, dass man sich in der Neuzeit bereits fundierte Gedanken zur Risikomi-nimierung machte.

29Heinrich Braun, Geschichte der Lebensversicherung und der Lebensversicherungstechnik, Berlin 1925.30H. Braun, a.a.O.31Ders.32Albert Schug, a.a.O.33Ders.

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Bemerkung: Im Laufe der Zeit wurde die rechtliche Durchsetzbarkeit immer weiter verfeinert.Es gab in der Neuzeit kaum noch Institutionen , welche lediglich einen Schwur oder Eid alsBindungspflicht anerkannten, sondern es wurde mehr und mehr auf schriftliche VertrageWert gelegt. Dies implizierte naturlich noch mehr Sicherheit fur den Versicherungsnehmerund erleichterte die rechtliche Durchsetzbarkeit , falls es zum Falle der Einklagenotwendigkeitkam.

6.4 Industriezeitalter

Eine Sub-Epoche der Neuzeit ist das um ca. 1750 einsetzende Industriezeitalter.Bis zu diesem Zeitpunkt wurde die Wirtschaft großtenteils vom Primarsektor (Argrar undLandwirtschaft) beherrscht und war relativ statisch. Das erwirtschaftete Kapital war gering.Im Industriezeitalter trieben die technischen Innovationen, sowie die Innovationen betreffendden Verwaltungsapparat, die Wirtschaft maßgeblich voran. Eine weitere wichtige Triebfederwar die Anerkennung neuer Wirtschaftskonzepte (z.B. Liberalismus) und der Wettbewerbs-idee. 34

Neben diesen Faktoren begunstigte noch der Gesinnungswandel und eine ”philosophische -Revolution ”den Fortschritt. Man distanzierte sich von einer rein religiosen Sicht und ver-suchte mehr und mehr mit Naturwissenschaften und logischen Erkenntnissen die Welt zuerklaren. Descartes ist hier als wichtiger Rationalist und Vorreiter herauszustreichen.Es sei bemerkt, dass sich bereits hier die Grundzuge spaterer Wirtschaftsformen, wie freierMarktwirtschaft oder beispielsweise kommunistischer Planwirtschaft bildeten.Die Philosophen machten den Versicherungsgedanken mehr und mehr zu einem zentralenAspekt (ohne sich dessen dezidiert bewusst zu sein). In ihren Werken und Abhandlungenerwahnten sie immer die Wichtigkeit von Sicherheit, den Anspruch auf Hilfe, die Notwendig-keit von Hilfe, den Begriff der sozialen Gerechtigkeit und der Umverteilung.Johann GottliebFichte (1762-1814) und seine Erorterungen gelten als wichtige , gedankliche Grundlage derSozialversicherung. 35 Ebenfalls Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) griff die Not-wendigkeit der Versicherungen auf, indem er das System der Zunfte hervorhob und diesenGedanken neu und durch Verbindung mit Sittlichkeit konkretisierte. 36 Einige weitere Phi-losophen entwickelten den Gedanken weiter und es kam dazu , dass man versuchte allemoglichen Risiken durch Absicherungen abzudecken. In erster Instanz war dies ein Wunschder Wirtschaft, doch lieferten hier Naturwissenschaft und Philosophie das entsprechendeFundament.Die Betrachtunsgweise veranderte sich und bildet annahernd ein Aquivalent zu heutiger:die Zukunft und das zukunftige Risiko bleibt weitestgehend ungewiss und eine exakte Pro-gnostizierung ist niemals moglich, dennoch waren die Moglichkeiten zukunftiges Risiko zuschatzen bereits wesentlich besser und man versuchte einen aufgeschlossenen Umgang mitzukunftiger Gefahr zu praktiziernen.In der modernen Wirtschaft werden beabsichtigt Risiken eingegangen um Effekte zu erzie-len, die den Wohlstand verbessern sollen. Die Ubernahme dieser Risiken steht proportionalzu dem verbleibenden oder intendierten Gewinn. Ruckblickend hat man niemals Risikenubernommen, welche in ihrer Qualitat Systemzusammenbruchen gleichen(Naturkatastrophenudgl.) - heute tut man das.

34I.Mieck, Wirtschaft und Gesellschaft Europas von 1650-185035Hans Schmitt Lehrmann, Der Versicherungsgedanke in der deutschen Staatsphilosophie der Romantik,

ZVW 196236Albert Schug, a.a.O

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Wir konnen beobachten , dass das stetig steigende Realeinkommen, entlang der Zeitlinieder Neuzeit , die Nachfrage nach Lebensversicherungen , Haushaltsversicherungen und vie-len anderen immer weiter ansteigt. Wir betrachten nun die Entwicklung im 19. und 20.Jahrhundert.

6.5 19. und 20. Jahrhundert

6.5.1 Die Haftpflichtversicherung

Die stetig wachsende Modernisierung und in spaterer Folge auch Motorisierung loste , ingroßen Teilen der Bevolkerung, das Bedurfnis nach Versicherungen aus, welche, durch an-dere induzierte Schaden decken sollte.Zu Beginn war die Haftpflichtversicherung nicht als reine Versicherung erkennbar , sondernwar Teil einer , mehrere Risiken deckenden, Unfallversicherung fur Arbeiter. 37

Um ca. 1860 boten belgische und franzosische Versicherer eine Kollektiv-Unfallversicherungfur Arbeiter an, welche eine Brucke zwischen Haftpflichtversicherung und Unfallversiche-rung war.38 Ende des 19.Jahrhunderts distanzierte sich die Haftpflichtversicherung mehrund mehr von der Unfallversicherung und strebte ihre Eigenstandigkeit an. In den folgendenJahrzehnten breitete sich diese Versicherungsart auf weite Teile des beruflichen und privatenLebens aus. 39

Der entscheidende Durchbruch gelang der Haftpflichtversicherung im 20. Jahrhundert. Dieausgeprochen rasch fortschreitende Mobilisierung durch die Automobilindustrie erforderteeine entsprechende Moglichkeit , im Schadensfall , die Forderungen durch einen Versichererubernehmen zu konnen.

6.5.2 Lebens und private Krankenversicherung

Nachstehend findet sich eine Schilderung der Situation in Deutschland, die osterreichischeSozialversicherung wird auf der Folgeseite behandelt.Im 18. Jahrhundert gab es zwar , wie wir bereits vorher bedacht haben, Sterbe, Witwen undWaisenkassen , doch gab es keine eigentliche , reine Lebensversicherung.Im 19. Jahrhundert bestand vor allem fur die Gruppe der freiberuflich tatigen Personen(Arzte, Anwalte, Steuerberate etc.) die Notwendigkeit eine Altersvorsorge und Vorsorgefur die Hinterbliebenen zu treffen. Zumeist fehlte den freiberuflich Tatigen der Ruckhaltdurch liquide Mittel (aquivalent zu heute: am Beginn eines Unternehmens sind die Mittelimmer knapp). Den freiberuflich Tatigen fehlte aber eine , wie sie beispielsweise Handwer-ker genossen, Einbettung in entsprechende soziale Einrichtungen und Gemeinschaften. Die-ser Umstand ließ den Ruf nach Lebensversicherungsunternehmen lauter werden und fuhrteschließlich zu ihrer Schaffung. Der Abschluss einer Lebensversicherung , ob Erleben oderAbleben, sicherte den Betroffenen eine Finanzleistung fur einen zukunftigen Zeitpunkt zu.

Trotz der Zerschlagung der Zunftprivilegien durch die Gewerbeordnung 1845 erfolgte keinVerbot der entsprechenden Versicherungsleistungen, d.h. Handwerker waren weiterhin bezuglichdes Risikos der Krankheit und den damit verbundenen Kosten versichert.Die anderen Bevolkerungsgruppen hatten hierbei eher weniger Gluck und so kam es , dassder Mittelstand bis zum ersten Weltkrieg de facto nicht versichert war. 40 Die Kosten fur

37vgl. K.Sieg, Ausstrahlungen der Haftpflichtversicherungen Drittgeschadigter, Hamburg 195238A.Schug, a.a.O.39Ders.40Ders.

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arztliche Fursorge und Behandlung musste privat getragen werden, ebenso die Kosten furMedikamente. Dieser Umstand forderte naturlich große Unsicherheit und Angst, da Kranken-hausaufenthalte und Arztkosten Familien in den Ruin treiben konnten. Der erste Weltkrieganderte dies jedoch. Nach Ende des Krieges gab es viele Kriegsinvalide, welche standige oderhaufige arztliche Behandlung benotigten. Außerdem forderte die stetig steigende Inflationdie Verpflichtung den Mittelstand zu entlasten und somit wurden gesetzliche Krankenver-sicherungen geschaffen, deren Mitglieder die Moglichkeit hatten , sollten sie es wunschen,eine zusatzliche private Krankenversicherung abzuschließen.

6.5.3 Sozialversicherung

Die Sozialversicherung ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit. Ihr kommteine Tragerrolle unseres heutigen Wohlstandes zu , welche sofern sie nicht existieren wurde,ein , so wie wir es kennen, gut funktionierendes Sozialsystem unmoglich machen wurde.

Im Jahre 1887 verabschiedete das Abgeordnetenhaus des osterreichischen Reichrates einGesetz betreffend der Arbeiter-Unfallversicherung, welches 1889 , gemeinsam mit dem 1888beschlossenen Gesetz uber die Arbeiter-Krankenversicherung in Kraft trat. Sinn dieses Ge-setzes war eine freie Zuganglichkeit zu medizinischer Versorgung zu schaffen. Am 1.August1889 trat also das Gesetz in Kraft welches nachstehende Bestimmungen enthielt:

• Bestimmungen zur arztlichen Hilfe und Krankengeld,

• das Krankengeld lag bei 60% der ortsublichen Lohnes,

• auf den tatsachlichen Verdienst wurde keine Rucksicht genommen,

• die Dauer dieser Leistungen war mit 20 Wochen vom Beginn der Krankheit begrenzt

• es gab keine Bestimmungen fur Leistungen betreffend Familienangehoriger.

weitere wichtige Fortschritte:

• 1917 kam es dann zum Ubergang auf das noch heute bestehende Lohnklassensystem.Es wurden also die Bestimmungen betreffend der Hohe des Krankengeldes geandert.

• In den 20er-Jahren wurde eine Trennung des Begriffes Arbeiter und Angestellte durch-gefuhrt

• Wahrend des Zweiten Weltkrieges galten in Osterreich die Bestimmungen der deut-schen Reichsversicherungsordnung

• Große Ubergangsprobleme in den Jahren 1945-1947,

• im Jahre 1947 wurde das Sozialversicherungs-Uberleitungsgesetz verabschiedet, wel-ches das Funktionieren der gesetzlichen Krankenversicherungsanstalten gewahrleistete

• im Jahre 1956 kam es zu einer umfassenden Erneuerung durch das Allgemeine So-zialversicherungsgesetz (ASVG) , welches den Leistungsbereich erweiterte und dieselbstandig Erwerbstatigen einer einheitlichen Regelung unterwarf.

• 1965 Verabschiedung des Bauern-Krankenversicherungsgesetzes

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6.6 Abschließende Bemerkung zur Historie und Ausblick

Wir haben nun einen Blick in die Vergangenheit der Versicherung geworfen, welcher vor demBeginn der Antike ansetzte und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reicht.Der folgende Teil der Arbeit ist ein rein mathematischer, welcher einen Einblick in denVergleich von Risiko gewahren soll. Er ist bewusst straff gehalten um das Volumen dieserArbeit im Rahmen zu halten.

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7 Risikovergleich

7.1 Ein kurzes Vorwort

Zu welchen Bedingungen sich ein Versicherungstrag vollzieht steht in Abhangigkeit zu vielenFaktoren.Die Gestaltungsmoglichkeiten der Vertrage werden nicht nur durch gesetzliche Bestimmun-gen begrenzt , wie etwa Versicherungsrecht und entsprechende Aufsichtsbehorden, sondernauch durch den wirtschaftlichen Wettbewerb.Fur den Versicherungsungsnehmer, aber speziell fur das Versicherungsunternehmen spieltdie Pramie eine zentrale Rolle. Die Pramie bemisst sich an der Hohe des Risikos , zwarnicht ausschließlich , aber Risiko und Pramie hangen eng zusammen. Das Versicherungsun-ternehmen sieht sich also mit der Aufgabe konfrontiert Risiko zu bewerten und durch denVersicherungsvertrag angebotene Risiken mit anderen zu vergleichen.Beim Vergleich von Risiken sind speziell die Wahrscheinlichkeit , dass bestimmte Schadens-werte nicht uberschritten werden , als auch die entsprechenden Verteilungen von großemInteresse.Auf den folgenden Seiten soll ein kurzer , aber lohnender Einblick in jene Thematik gewon-nen werden.

7.2 Stochastische Ordnung

Bevor wir in die stochastische Ordnung Einsicht nehmen mochte ich ein paar essentielleBegriffe voranstellen.

Definition 1 (Ordnungsrelation) Eine Ordnungsrelation ist eine Relation T ⊂ M ×Mauf einer Menge M wenn sie reflexiv, antisymmetrisch und transitiv ist. Das heißt:reflexiv : x ≤ xtransitiv : x ≤ y ∧ y ≤ z ⇒ x ≤ zantisymmetrisch : x ≤ y ∧ y ≤ x⇒ x = y

Definition 2 (Uberlebensfunktion) Fur eine Zufallsvariable aus der Familie der diskre-ten Zufallsvariablen mit X(Ω) ⊆ N0 wird die Uberlebensfunktion (engl. Survival Function)ublicherweise mit S bezeichnet. SX : R→ [0, 1]mit:

SX(t) = P (X > t)

Anmerkung: Setzen wir A(N0) als die Familie der diskreten ZV (Zufallsvariablen) X mitX(Ω) ⊆ N0 fest.

Anmerkung: Die Uberlebensfunktionen unserer ZV X bestimmt deren Verteilung.Nun stellt sich die Frage nach der Vergleichbarkeit zweier ZV X, Y .

Definition 3 Wir sagen zwei ZV X, Y ∈ A(N0) seien vergleichbar , also X ≤0 Y , oderX ≤st Y (es finden haufig beide Schreibweisen Anwednung ),falls ∀t ∈ R

P (X > t) ≤ P (Y > t)⇔ SX(t) ≤ SY (t)

gilt. Aquivalent ware dazu noch:

X ≤st Y ⇔ E[f(X)] ≤ E[f(Y )]

fur monoton wachsende Funktionen f ∈ Ct(R)

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Es ware naturlich nun wunschenswert, wenn diese Relation X ≤st Y eine Ordnungsrelationim Sinne von Definition 1 ist.

Satz 1 X ≤st Y ist eine Ordnungsrelation.

Beweis 41 Wir mussen nun Reflexivitat , Transitivitat und Antisymmetrie zeigen:(1) Fur X ∈ A(N0) gilt ∀t ∈ R:

P (X > t) ≤ P (X > t)

also ist ≤st reflexiv.(2)Fur X, Y, Z ∈ A(N0) mit PX ≤ PY ∧ PY ≤ PZ gilt fur alle t ∈ R:

P (X > t) ≤ P (Y > t) ≤ P (Z > t)

damit also X ≤st Z. Daher ist ≤st transitiv(3)Fur X, Y, Z ∈ A(N0) mit PX ≤ PY ∧ PY ≤ PX gilt ∀t ∈ R

P (X > t) ≤ P (Y > t) ≤ P (X > t)

und somit

P (X > t) = P (Y > t)

Somit also X = Y. ≤st ist eine Ordnungsrelation

Im Folgenden nehmen wir Einsicht in ein Beispiel der Binomialverteilung 42

Beispiel 1 (Binomial-Verteilung) PX bezeichne die Verteilung von X, gleiches gilt naturlichfur Y und Z

PX = B(2, 12)

PY = B(3, 13)

PZ = B(3, 12)

so ist damit

k P (X = k) P (X ≤ k) P (X > k)0 1

414

34

1 24

34

14

2 14

1 03 0 1 0

und

41in Anlehnung an Klaus D. Schmidt , Versicherungsmathematik42entommen :Ders. , Versicherungsmathematik

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k P (X = k) P (X ≤ k) P (X > k)0 8

27827

1927

1 1227

2027

727

2 627

2627

127

3 127

1 0

und

k P (X = k) P (X ≤ k) P (X > k)0 1

818

78

1 38

48

48

2 38

78

18

3 18

1 0

Das Beispiel lehrt uns, dass bzgl. der stochastischen Ordnung der Vergleich von Verteilungenvon zwei ZV nicht notwendigerweise vernunftig ist.Es gilt namlich PX ≤st PZ ∧ PY ≤st PZ aber nicht PX ≤st PY ∨ PY ≤st PX

In der Praxis tritt haufig das Problem auf, dass die Uberlebensfunktion nicht in geschlos-sener Form dargestellt werden kann. Dies legt das Bestreben nahe nach Moglichkeiten zusuchen sodass wir dennoch uber die Vergleichbarkeit von Verteilungen in der stochastischenOrdnung eine Aussage erhalten.

Beispiel 2 (Binomial-Verteilung 2) Seien X,Y,Z Zufallsvariablen mit:

PX = B(1, 13)

PY = B(3, 12)

PZ = B(5, 12)

Wir mochten nun eine Vergleichbarkeit durch die entsprechenden Wachstumsfunktionen ξerreichen.Fur eine ZV X ist die Funktion ξX : N→ R+ mit

ξX(k) :=

P (X=k)

P (X=k−1) P (X = k − 1) 6= 0

0 P (X = k − 1) = 0

die Wachstumsfunktion von X.

Uber diese Wachstumsfuntion konnen wir im Falle der Binomialverteilung B(a, η) - ξXdefinieren als (aufgrund der Zugehorigkeit zur Panjer -Klasse):

ξX(k) =(a+ 1− k)+

k

η

1− η

Dies Wissen angewandt auf Beispiel 2 liefert :

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ξX(k) = (2−k)+2k

ξY (k) = (4−k)+k

ξZ(k) = (6−k)+k

Nun gilt also : ξX(k) ≤ ξZ(k) ∧ ξY (k) ≤ ξZ(k) und dies impliziert die Vergleichbarkeit derentsprechenden Verteilungen ∗ und damit der ZV selbst. Es kann in diesem Falle allerdingsnichts uber die Vergleichbarkeit der Verteilungen von X und Y ausgesagt werden.∗ Um diese Aussage zu verifzieren sei nun an dieser Stelle kurz angemerktX, Y seinen ZV. Gilt fur alle k ∈ N

P (X = k) = ξX(k)P (X = k − 1)

P (Y = k) = ξY (k)P (Y = k − 1)

sowie

ξX(k) ≤ ξY (k)

so gilt dann PX ≤st PY43

Im Falle dass X Poisson oder oder negativ binomial-verteilt ist fuge ich an dieser Stelle nochentsprechende Formeln fur die Wachstumsfunktion hinzu:44

Fall: X ist Poisson-verteilt , X v P (γ)

ξX(k) =γ

k

Fall: X ist negativ-binomialverteilt , X v NB(α, ν)

ξX(k) =α− 1 + k

Bemerkung 1 Stochastische Ordnung ist auch uber Momente der Zufallsvariablen charak-terisierbar , allerdings mochte ich keine genauere Ausfuhrung davon liefern. Es soll bemerktsein , dass:Fur X, Y ∈ A(N0) folgende Aussagen gleichwertig sind:(1)PX ≤st PY

(2)E[f(X)] ≤ E[f(Y )] fur alle f : N0 → R+, f monoton wachsend.

43vgl. Klaus D. Schmidt , Versicherungsmathematik S.23344vgl. K.D.Schmidt a.a.O.

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8 Stop-loss Ordnung

Die Stop-loss Ordnung (stop-loss order) ist ein wichtiges Beispiel fur eine Integralordnungin der Versicherungsmathematik. Sie wird von der Klasse der Funktionen WX : R →R+ erzeugt. W ist hier eine eher unubliche Bezeichnung, da man von der integriertenUberlebensfunktion spricht und diese ublicherweise mit S kennzeichnet. Haufig findet manin der Literatur die Schreibweise S1.

Definition 4 Fur eine ZV X ∈ A(N0) bezeichne die Funktion WX : R→ R+ mit

WX(t) := E[(X − t)+]

die integrierte Uberlebensfunktion.

Integrierte Uberlebensfunktion deshalb weil:

(1) E[(X − t)+] =

∫ ∞t

P (X > z)dz

Bemerkung 2 Die Verteilung von X ist durch die integrierte Uberlebensfunktion von Xbestimmt 45

Zeigen wir , dass die stop-loss-order eine Ordnungsrelation i.Z. ≤1 oder ≤sl ist.

Behauptung 1 Die stop-loss Ordnung ist eine Ordnungsrelation

Beweis Wir zeigen wieder, dass die Relation ≤1 reflexiv, transitiv und antisymmetrisch ist.(1)Fur X ∈ A(N0) und alle t ∈ R+ gilt

E[(X − t)+] ≤ E[(X − t)+]

damit PX ≤ PX . ≤1 ist reflexiv.(2)Fur X, Y, Z ∈ A(N0) mit PX ≤1 PY ∧ PY ≤1 PZ gilt ∀t ∈ R+

E[(X − t)+] ≤ E[(Y − t)+] ≤ E[(Z − t)+]

(3)Fur X, Y ∈ A(N0) mit PX ≤1 PY ∧ PY ≤1 PX gilt ∀t ∈ R+

E[(X − t)+] ≤ E[(Y − t)+] ≤ E[(X − t)+]

alsoE[(Y − t)+] = E[(X − t)+]

somit gilt PX = PY und damit ist ≤1 antisymmetrisch und damit ist ≤1 eine Ordnungsre-lation. 46

45vgl. (Auch in Bezug auf Def. 4) K.D.Schmidt, Versicherungsmathematik46In Anlehnung an K.D.Schmidt a.a.O

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8.1 Vergleich durch die Wachstumsfunktion47

Auch in der stop-loss Ordnung spielt die Wachstumsfunktion eine entscheidende Rolle. Ei-nige Bedingungen zur Vergleichbarkeit zweier Verteilungen beruhen auf dem Vergleich derWachstumsfunktionen.

Erinnern wir uns an Beispiel 1 , welches uns keine Klarsicht im Vergleich von PX ∧ PY ge-bracht hat. Sehen wir uns jenes Beispiel erneut an und versuchen Eine Aussage zu gewinnen.

Beispiel 3 Seien X, Y, Z ZV und

PX = B(2, 12)

PY = B(3, 13)

PZ = B(3, 12)

Wir haben ja bereits gesehen , dass PX ≤st PZ ∧ PY ≤st PZ , aber konnten nichts bezuglichPX ≤st PY ∨ PY ≤st PX verifizieren. Nun gilt aber :

ξX(k) =(3− k)+

k, ξY (k) =

(4− k)+

2k

Und damit:ξX(k) ≥ ξY (k) , k ≤ 2

undξX(k) ≤ ξY (k) , k ≥ 2

Damit gilt PX ≤1 PY (?)

Obiges Resultat (?) verwendet nachstehden Satz:

Satz 2 Fur zwei ZV X, Y mit E[X] ≤ E[Y ] Es gilt :

PX ≤1 PY

aber nur wenn ∀k ∈ N0

P (X = k) = ξX(k)P (X = k − 1)P (Y = k) = ξY (k)P (Y = k − 1)

gilt und ein k0 so existiert dass:

ξX(k) ≥ ξY (k) , falls k ≤ k0ξX(k) ≤ ξY (k) ,falls k0 < k

Der Beweis dieses Satzes wird hier nicht gezeigt.

47vgl. K.D.Schmid , Versicherungsmathematik

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8.2 Schlusswort

Es gabe noch einige interessante mathematische Methoden, Risiko zu klassifizieren und zuvergleichen. Ebenso konnten nicht alle Details von stochastischen Ordnungsrelationen be-sprochen werden. Vergleichbarkeit uber Momente oder auch die Betrachtung von verschie-denen Modellen (individuelles und kollektives) wurden hier nicht erfasst.Ich denke dennoch , dass sowohl der historischer Teil als auch der mathematische, inter-essante Aspekte beherbergen und den ein oder anderen Leser dieser Arbeit dazu verleitensich in diese Materie selbst einzulesen.Mir bleibt noch zu sagen, dass ich bei den Uberlegungen und Nachforschungsarbeiten vielFreude hatte und die Werke , welche ich im Literaturverzeichnis anfuhre nur empfehlenkann.

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9 Literaturverzeichnis

• Klaus D. Schmidt, Versicherungsmathematik 3.Auflage, Springer Verlag 2009

• Albert Schug, Der Versicherungsgedanke und seine historischen Grundlagen in: Bei-trage zur Grundfragen des Rechts, V&Runipress 2011

• Clemens von Zedtwitz, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Versicherungen, vdfHochschulverlag AG 1999

• P.S. Landsdorfer, die Kultur der Babylonier und Assyrer, Munchen 1913

• Franz Buchner, Gerrit Winter , Grundriss der Individualversicherung , Hamburg 1986

• H.Kloft, Die Wirtschaft der griechisch - romischen Welt, Darmstadt 1992

• M.E. Pfeffer, Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und romischenAntike, Berlin 1969

• Otto Gerhard Oexle, Die mittelalterlichen Gilden, Berlin/New York 1979

• D.Schewe, Geschichte der sozialen und privaten Versicherung im Mittelalter in denGilden Europas, 2000

• Sigrid Froglich, Die soziale Sicherung bei Zunften und Gesellenverbanden, Diss. Koln1974

• Heinrich Braun , Die Geschichte der Lebensversicherung und der Lebensversicherungs-technik , Berlin 1925

• Hans Schmitt Lehrmann , Der Versicherungsgedanke in der deutschen Staatsphiloso-phie der Romantik, ZVW 1962

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