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POLYLOGE Materialien aus der Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit Eine Internetzeitschrift für „Integrative Therapie“ (peer reviewed) 2001 gegründet und herausgegeben von: Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückeswagen, Donau-Universität Krems, Institut St. Denis, Paris, emer. Freie Universität Amsterdam In Verbindung mit: Dr. med. Dietrich Eck, Dipl. Psych., Hamburg, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückeswagen Univ.-Prof. Dr. phil. Liliana Igrić, Universität Zagreb Univ.-Prof. Dr. phil. Nitza Katz-Bernstein, Universität Dortmund Prof. Dr. med. Anton Leitner, Department für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Donau-Universität Krems Dipl.-Päd. Bruno Metzmacher, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Düsseldorf/Hückeswagen Lic. phil. Lotti Müller, MSc., Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Stiftung Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Rorschach Dipl.-Sup. Ilse Orth, MSc., Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Düsseldorf/Hückeswagen Dr. phil. Sylvie Petitjean, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Stiftung Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Rorschach Prof. Dr. päd. Waldemar Schuch, M.A., Department für Psychosoziale Medizin, Donau-Universität Krems, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückeswagen Prof. Dr. phil. Johanna Sieper, Institut St. Denis, Paris, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückeswagen © FPI-Publikationen, Verlag Petzold + Sieper Hückeswagen. Ausgabe 10/2012 Gestalttherapeutische und integrative Arbeit mit Märchen * Regine Lückel (1979, Neueinstellung 2012) * Aus der „Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit“ (EAG), staatlich anerkannte Einrichtung der beruflichen Weiterbildung (Leitung: Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, Prof. Dr. phil. Johanna Sieper, Hückes- wagen mailto:[email protected], oder: [email protected], Information: http://www.Integrative- Therapie.de). Erschienen in: Integrative Therapie, Beiheft 1, 1979

Eine Internetzeitschrift für „Integrative Therapie“ (peer ... · Die Idee, mich mit Märchen und mit ihrem Einsatz im therapeutischen Prozeß zu befassen, sprang mich an einem

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POLYLOGE

Materialien aus der Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit

Eine Internetzeitschrift für „Integrative Therapie“ (peer reviewed)

2001 gegründet und herausgegeben von:

Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückeswagen,

Donau-Universität Krems, Institut St. Denis, Paris, emer. Freie Universität Amsterdam

In Verbindung mit: Dr. med. Dietrich Eck, Dipl. Psych., Hamburg, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit,

Hückeswagen Univ.-Prof. Dr. phil. Liliana Igrić, Universität Zagreb

Univ.-Prof. Dr. phil. Nitza Katz-Bernstein, Universität Dortmund Prof. Dr. med. Anton Leitner, Department für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie, Donau-Universität Krems Dipl.-Päd. Bruno Metzmacher, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Düsseldorf/Hückeswagen

Lic. phil. Lotti Müller, MSc., Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Stiftung Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Rorschach

Dipl.-Sup. Ilse Orth, MSc., Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Düsseldorf/Hückeswagen Dr. phil. Sylvie Petitjean, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Stiftung Europäische Akademie für biopsychosoziale

Gesundheit, Rorschach Prof. Dr. päd. Waldemar Schuch, M.A., Department für Psychosoziale Medizin, Donau-Universität Krems, Europäische

Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Hückeswagen Prof. Dr. phil. Johanna Sieper, Institut St. Denis, Paris, Europäische Akademie für biopsychosoziale Gesundheit,

Hückeswagen

© FPI-Publikationen, Verlag Petzold + Sieper Hückeswagen.

Ausgabe 10/2012

Gestalttherapeutische und integrative Arbeit mit Märchen *

Regine Lückel (1979, Neueinstellung 2012)

* Aus der „Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit“ (EAG), staatlich anerkannte Einrichtung der beruflichen Weiterbildung (Leitung: Univ.-Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, Prof. Dr. phil. Johanna Sieper, Hückes-wagen mailto:[email protected], oder: [email protected], Information: http://www.Integrative-Therapie.de). Erschienen in: Integrative Therapie, Beiheft 1, 1979

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INHALTSVERZEICHNIS1

Vorwort ............................................................... ……………..2

I. TEIL

1. Märchen wie Träume .......................................... 3 2. Das Prinzip der Ganzheit und das Märchen

(Das Märchen — Treffpunkt meiner Möglichkeiten) . 4 3. Die Auswahl des Märchens durch den Hörer ..............4 4. Das Erleben ist heilend ............................................. 5 5. Keine Fremddeutung .............................................. 7 6. Märchenfiguren als Projektionsträger ......................... 7 7. Lebenssituation und Situation im Märchen ............... 8 8. Eigengestaltung und tradierte Form des Märchens 9 9. Ort, Verlauf und Ebenen der gestalttherapeutischen

Arbeit mit Märchen .............................................................. 9

II. TEIL

1. Beispiel: Schneewittchen im Sarg .............................. 11 2. Beispiel: Schneewittchen (im Vergleich zum katathymen Bild) 13 3. Beispiel: Schneewittchens Stiefmutter (Gestaltdrama) ............................................................ 16 4. Beispiel: Sterntaler (ein Abend — viele Märchen —

drei Protagonisten .............................................................. 17 5. Beispiel: Dornröschen (Psychodrama) .................... 19

Schluß ......................................................................................... 23 Anmerkungen ............................................................................. 23 Literatur ...................................................................................... 24 Über die Autorin ........................................................................... 25

1 Die Seitenzahlen wurden dem Webformat angepaßt

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Vorwort

Die Idee, mich mit Märchen und mit ihrem Einsatz im therapeutischen Prozeß zu befassen, sprang mich an einem Wochenende in Bonn an. An einem Abend, nachdem tagsüber sehr viel Spannung und zurückgehaltene Aggressivität spürbar geworden war, saß die Ausbildungsgruppe zum Ausklang des Tages bei Getränken und Knabbergebäck teils auf dem Boden, teils auf niedrigen Sesseln, lachlustig und noch vom Tag erregt. - Der Vorschlag, jeder solle sich eine Märchenfigur suchen, mit der er sich identifizieren könne, wurde sofort begierig aufgegriffen. Jeder durchforschte halb lachend, halb ernsthaft seinen Märchenschatz auf der Suche nach einer Figur, mit der er sich bekleiden könne, und als wir uns nur. IH unserer neuen Rolle einander vorstellten, sah ich staunend, daß die Verkleidung nicht etwa, wie vielleicht beabsichtigt, den Spieler verhüllte und tarnte, sondern im Gegenteil enthüllte und offenlegte, was vielleicht ihm und uns verborgen bleiben sollte. Prinz Eugen, Schneewittchen, die 7 Zwerge (einer übernahm gleich alle sieben Rollen), die Seeräuberjenny, der Hans im Glück - schienen nicht zufällige austauschbare Figuren zu sein, sondern die in diesem Moment beim einzelnen Spieler vorherrschenden Bedürfnisse, seine augenblickliche Situation wiederzuspiegeln.-

Für mich selbst löste sich aus dem Hintergrund der vielen, mir gut

bekannten Märchenfiguren das Rumpelstilzchen heraus und trat in den Vordergrund. Der grün-rote, tanzende-stampfende Zwerg mit seinen geheimen und bösen Gedanken, die niemand -nicht einmal ich - kannte, mit seiner Lebenslust und seiner Zerstörungswut - das war meine Figur. - Am nächsten Tag, am Ende einer erregten Sitzung, in deren Verlauf ich eine mir bis dahin unbekannte Wut und meinen Haß erlebte, fand ich mich in der Mitte des Raumes vor, einen stampfenden Tanz tanzend, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend im Takt zu dem Satz: „Ach wie gut, daß jeder weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß." Es war für lange Zeit der befreiendste Satz, mit dem ich lebte. - Damals fing ich an zu ahnen, welche enthüllende, befreiende und heilende

Möglichkeit in der Verwendung des Märchens im therapeutischen Prozeß verborgen liegt. Natürlich merkte ich, sobald ich mich mit dem Thema Märchen und Therapie

zu beschäftigen begann, daß schon jahrzehntelang das Märchen therapeutisch genutzt wird und meine Entdeckung ein „alter Hut" ist. Eine wahre Flut an Literatur über das Märchen aus der Sicht der Tiefenpsychologie kam auf mich zu, verwirrte und entmutigte mich, aber faszinierte mich auch, besonders die Dieckmannschen Arbeiten, in denen er versucht, auffallende Parallelen aufzuzeigen zwischen einer Situation eines Lieblingsmärchens und der Neurose, der die Neurose auslösenden Situation und der vorhandenen Symptomatik des Patienten (Dieckmann, 1967b, S. 202; 1967a, S. 300ff).

Und doch fühlte ich mich beim Lesen der mir zugänglichen Literatur eingeengt - so überzeugend und schlüssig die Tiefenpsychologie das Märchen auch oft deutet. Ich will versuchen, dies an meiner Begegnung mit dem Rumpelstilzchen klarzumachen. 0. Graf Wittgenstein deutet in seinem Buch „Märchen, Träume, Schicksale" das Rumpelstilzchen als das Glied des Mannes, das nicht „als bak-kendes, brauendes und Kinder holendes selbständiges und unheimliches Wesen mißverstanden werden" sollte (Wittgenstein 1973, S. 202). Es mag stimmen, daß man dies Märchen so verstehen kann, daß es in ihm um die Beziehung von Mann und Frau geht (vgl. Freud 1969, S. 50). Für mich hatte an diesem Tag das Rumpelstilzchen eine ganz andere Bedeutung: es war mir als Teil von mir bekannt geworden, als meine böse, zerstörende und herrlich starke Kraft, die ich nicht mehr zu verstecken brauchte. Das war meine Erfahrung mit dem

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Märchen, und jede andere Deutung war mir zumindest in diesem Augenblick fremd und nicht angemessen.

Diesen Ansatz - der eine einmalige nicht auf andere übertragbare Begegnung zwischen Märchen und Hörer sieht - möchte ich in dieser Arbeit ernstnehmen. Ich möchte aufzeigen, welche Möglichkeiten ich sehe, Märchen im Rahmen des gestalttherapeutischen Konzeptes einzusetzen. Ich werde dabei die einschlägige Literatur nur insoweit verwerten, als sie hilfreich sein kann, das Besondere des gestalttherapeutischen Umgangs mit Märchen zu verdeutlichen.

I. Teil

1. Märchen wie Träume Märchen und Träume sind miteinander verwandt (Fromm 1957, S. 9). Die

gleichen Bilder und Symbole, die in allen Märchen auftauchen, sind auch in den Träumen vorhanden (Dieckmann 1967a, S. 300). Beide sind in der symbolischen Sprache geschrieben (Fromm S. 8 ff.), einer Universalsprache, die in allen frühen Kulturen und allen Zeiten verstanden worden ist und die auch uns auf-geklärten, von Verstand, sprachlichen Begriffen und von kausalem Denken beherrschten Menschen wieder zugänglich werden kann. Denn wir sprechen diese Sprache noch alle nach wie vor, und zwar überall dort, wo wir identisch und total leben, und das tun wir z.B. im Traum (Petzold 1977, S. 148 ff.). Das tun wir auch, wenn wir uns z.B. einem Bild hingeben. Sowohl der Künstler, der es malt, wie auch der Betrachter, der es aufnimmt, sind eingeweiht in diese Symbolsprache. Und das Gleiche gilt, wenn wir uns auf ein Märchen einlassen. Die Schwierigkeit ist nur die, diese Sprache in unsere Alltagssprache zu übersetzen (Petzold 1977, S. 148). Während im Traum aber nun der einzelne Mensch versucht, das, was ihm in

seinem Leben von der Umwelt und von ihm selbst her begegnet, zu integrieren (Petzold 1977, S. 150), sind die Märchen gewissermaßen eine Art Menschheitsträume (Dieckmann 1966b, S. 52). Der einzelne Träumer hat den Vorteil, der Fülle seiner persönlichen Erfahrungen, Wünsche, Bedürfnisse und Aufgaben im Traum zu begegnen (Fromm 1957, S. 14) und sie (vielleicht) zu inte-grieren. Der Märchenhörer dagegen begegnet im Märchen Lebenssituationen oder Lebensaufgaben, die vor ihm ganze Menschheitsgenerationen bewältigen mußten - so wie er jetzt (Lüthi 1977, S. 8). Er erhält ein Beispiel angeboten, nach dem er wie die Generationen vor ihm die hier anstehende Aufgabe bewältigen kann (vgl. Fromm 1957, S. 12; Dieckmann 1966b, S. 12). Es leuchtet sehr ein, daß in den verschiedensten Zeiten und Zonen der

Mensch auf ähnliche Weise versucht, sein Leben zu mei stern; und daß die Lebensaufgaben auch immer ähnlich waren (Lüthi 1962, S. 104). Und der Gedanke ist faszinierend, daß im Märchen diese Lebenserfahrungen und ihre Bewältigungen ihren Niederschlag gefunden haben, und das in einer Sprache, die in allen Zeiten und allen Kulturen verstanden wird, die wir vom Traum her kennen und oft verstehen auch ohne bewußte Deutung (Fromm 1957, S. 37).

Im Märchen spiegelt sich also meine jetzt akute Situation wider - als eine allgemein menschliche Situation. Das rührt mich an und das ist es, was mich - ob ich nun Kind oder Erwachsener bin - zum Märchen zieht, ohne daß ich das, was mich an diesem Märchen betrifft, sofort begreife. Ich verstehe die Sprache des Märchens - des Traumes meiner Vorväter - aber deutlich und genau, wenn ich mich einreihe in die Reihe der Träumer, deren Erlebnisse schließlich das Märchen schufen, wenn ich den Menschheitstraum zu meinem Traum mache, den ich mit unzähligen Menschen gemeinsam haben mag, der aber in diesem

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Augenblick mein Traum ist. Indem ich das Märchen als meinen eigenen Traum neu erlebe (nicht intellektuell durchleuchte, deute, übertrage), erfahre ich mich in meinem Jetzt. Mir gehen die Auge auf über mich und meine Situation. Oder anders ausgedrückt: Indem ich mich auf das Märchen einlasse, fange ich an, einen vorgegebenen kollektiven Traum zu träumen, und im Träumen werden bestimmte Aspekte des Märchens mein Eigentum. Wenn ich das Märchen wie meinen persönlichen Traum verwerte, gelten für

die Arbeit mit Märchen in der Gestalttherapie dieselben Grundsätze, nach denen Perls und nach ihm weiterführend Petzold (1977, S. 154 ff.) die Traumarbeit angehen.

2. Das Prinzip der Ganzheit und das Märchen (Das Märchen - Treffpunkt meiner Möglichkeiten)

Nach dem Konzept der Gestalttherapie ist der Mensch ein Ganzes. Seine Gedanken und seine Handlungen sind aus demselben Stoff (Perls 1976, S. 33), psychische und körperliche Handlungen sind miteinander vermischt. Dieses Konzept ist eine ideale Voraussetzung für den Einsatz des Märchens im therapeutischen Prozeß. Indem ich eine Märchenrolle übernehme, finden meine Gefühle körperlich Ausdruck. Ich erlebe mich im Handeln, in der Phantasie, im Spiel, im Denken - ich erlebe mich als Leib-Seele-KörperEinheit. Das ist ein faszinierender Gedanke, daß der Mensch nicht zerlegbar ist. Mir ist das ganz klar, wenn ich an „mein" Rumpelstilzchen denke: Als Rumpelstilzchen bin ich beteiligt mit allem, was zu mir gehört. Die Figur, die ich zunächst nur sehe, bin ich. Das bedeutet: Die Märchenfigur, die ich in diesem Augenblick anziehe, ist mein Ausdruck für das, was ich in diesem Augenblick bin 1).

Auch das Märchen ist ein Ganzes. Seine Figuren sind die verschiedenen Seiten einer Gestalt, meiner Gestalt, wenn es mein Märchen ist. Das heißt: Im Märchen begegnen mir integrierte und abgespaltene Teile meiner Person. Die Vielzahl meiner eigenen, mir oft nicht bekannten Möglichkeiten begegnet mir in der Vielzahl der Märchengestalten, ein unausschöpfliches Gebiet. - 3. Die Auswahl des Märchens durch den Hörer

Wie wählt der Klient / Patient das im Augenblick zu ihm passende Märchen aus? Mit dieser Frage wollen wir uns im folgenden beschäftigen.

Nach dem gestalttherapeutischen Ansatz liefert das „ganze Leben eines Menschen den Hintergrund für den gegenwärtigen Augenblick" (Polster) Das ganze Leben eines Menschen besteht aus dem vergangenen Leben mit seinen erledigten und unerledigten Geschäften (s. 46 ff.) und aus dem Fluß der gegenwärtigen Erfahrung (s. 50 ff.). In diesem Augenblick trifft der Ratsuchende - sein ganzes Leben als Hintergrund mit sich führend - auf ein Märchen mit seinen vielen Gestalten, z.B. auf Schneewittchen. Es ist vielschichtig und tief - ein reiches Angebot (Bettelheim 1977, S. 23). Es kann sein, daß in diesem Augenblick das Interesse des Hörers gemäß seinem Bedürfnis beschäftigt ist mit der Frage: Wie kann ich leben, wenn ich mich so verlassen fühle? Aus den Märchenfiguren, die ihm jetzt gerade begegnen, tritt das verlassene Schneewittchen hervor und fordert ihn direkt heraus zur Identifikation. Ist er in diesem Augenblick aber gerade damit beschäftigt, daß er ohne Partnerin leben muß, dann löst sich aus dem geschlossenen Zusammenhang des Märchens vielleicht der jüngste Zwerg heraus, der für ihn die Rolle dessen hat, der nie das begehrte Schneewittchen erreichen wird. Ist er aber gerade damit beschäftigt, daß er sterben muß, dann zieht ihn vielleicht Schneewittchens Stiefmutter an, die ängstlich und verbissen in den Spiegel starrt und ihre Schönheit, ihr Leben, nicht loslassen will. Ich möchte mit diesen Beispielen

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sagen: Die augenblickliche Situation des Klienten lenkt seine Wahrnehmung auf das, was ihm im Märchen in diesem Augenblick angeht.

Es, mag sein, daß er sich gar nicht bewußt ist, welches Bedürfnis bei ihm vorherrscht, daß er es gar nicht riskiert, hinzusehen auf das, was sich bei ihm unerledigt immer wieder in den Vordergrund schiebt. Indem er dem Märchen begegnet, kann er auf das treffen, was ihm im Augenblick verwandt ist, was zu ihm gehört oder darauf drängt, zu ihm zu gehören 2) . Das heißt, der Klient und seine Märchenfigur - „finden" sich. Denn sie sprechen in diesem Augenblick dieselbe Sprache. - Das ist ihm meistens nicht bewußt, denn so wie den Träumer im Traum seine Wahrheit zwar berührt, er sie aber oft nicht mit seinem Alltagsdenken versteht, sondern entschlüsseln muß, so geschieht es ihm auch, wenn er „seinem" Märchen begegnet. Er weiß, was ihn angeht, ohne es zu verstehen (Hellgardt, 1975, S. 179). Oder andes ausgedrückt: Auf der Ebene des Symbolischen haben sich Hörer und Märchen längst getroffen - verstehen werden sie sich aber erst auf der Ebene der Repräsentation, wo die verschlüsselte Symbolsprache im Erleben verständlich wird 3) . Als Therapeut vertraue ich auf diese Begegnung und lenke nicht. Ich biete (selbstverständlich nach warm- up und Einstimmung) nur an: entweder den gesamten Märchenschatz des Klienten oder ein einzelnes Märchen, von dem ich weiß, wie vielschichtig es ist. Die Auswahl der Märchenfigur (oder auch des Märchens) und der Märchensituation trifft der Klient selbst auf Grund seiner jetzigen Lebenssituation.

4. Das Erleben ist heilend Die therapeutisch wirksame Arbeit mit Märchen wird gemäß dem

therapeutischen Ansatz vom Erleben des Klienten ausgehen. Ich möchte an dieser Stelle erklären, was ich mit „Erleben" meine, und möchte

dazu noch einmal auf das Rumpelstilzchen zurückgreifen. Indem ich mich auf das Rumpelstilzchen eingelassen habe, mich mit ihm identifiziert habe, lebte ich für diese Augenblicke als Rumpelstilzchen. Ich habe es mir nicht nur vorgestellt oder es nachgemacht, sondern -ich war es in diesem Augenblick, intensiv, mit allen Fasern meines Körpers, meines Geistes, meiner Seele, dem jetzigen Augenblick hingegeben. Ich war in dem Geschehen involviert, so wie z.B. der Träumer während des Traumes in das Geschehen involviert ist, nicht als Beobachter, sondern als Akteur, durch keinen zeitlichen oder räumlichen oder nur gedanklichen Abstand vom Geschehen getrennt. Wir kennen diese Erlebnisform in der gestaltherapeutischen Arbeit immer dort, wenn der Klient auf der Ebene der Involvierung arbeitet, d.h. (wenn wir auf den Verlauf einer Sitzung sehen) in der Aktionsphase. Dann ist das, was vergangen oder zukünftig war, gegenwärtig gesetzt. Es ist Wirklichkeit. Erleben vollzieht sich also während der Aktionsphase auf der Ebene der Involvierung - oder, wenn wir es im Hinblick auf die Ebenen der Erlebnisrealität betrachten, in der Ebene der Repräsentation oder der Gegenwärtigsetzung.

Die therapeutische Arbeit mit Märchen vollzieht sich - wenn es gelungen ist, den Klienten auf das Märchen einzustimmen -, indem der Klient involviert in seiner Märchengestalt lebt, wie in seiner Wirklichkeit. Er taucht in diese Wirklichkeit ein, indem er sich mit der Märchenfigur identifiziert, ihre = seine Gefühle wahrnimmt und gelten läßt, sie „versteht", - nicht nur mit seinen ratio-nalen Kräften, sondern ganzheitlich, total, als Leib-Seele-KörperOrganismus - und sie auslebt.

Im Erleben vernimmt er und entschlüsselt sich ihm die Symbolsprache seines Märchens. Indem z.B. Margret voll Wut und Angst versucht, als Rotkäppchen ihr

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rotes Käppchen erst zu verstecken, dann wegzuwerfen, schließlich zu zerreißen und zu zerbeißen - das behütende Käppchen, das ihr Mutter und Großmutter aufgesetzt haben - indem Margret diese Situation erlebt und erleidet, „versteht" sie, wo sie steht, wie weit sie (erst) auf dem Weg der Loslösung von ihrer Mutter ist. Durch das Eintauchen in die Märchensituation, das Mitsprechen der Sprache des Märchens, wird für sie ein blinder Fleck deutlich und ansehbar. Indem sie in der Märchensituation involviert lebt, verläßt sie die „Zuschauerbühne und die Unverbindlichkeit des Zuschauers" 4) und „erfährt" sich. Und darin liegt schon der Beginn der Heilung.

Denn wahrzunehmen, was jetzt ist, im bewußten Kontakt zu stehen zu meinem Körper, meinem augenblicklichen Handeln, meinen augenblicklichen Gefühlen, ist der Beginn des Wachstums, der Veränderung. Von diesem Ausgangspunkt aus, an dem ich wahrgenommen habe, total erlebt habe, wer und wie ich jetzt bin , kann ich Schritte machen und reifen zur schließlich guten Gestalt (vgl. Petzold, 1973, S. 34).

Das scheint in der Sicht der Psychoanalytiker anders zu sein. . Dort scheint die rationale Deutung und Entschlüsselung der Symbole vor dem Erleben zu stehen.Als Beispiel dafür möchte ich hier Hanns Dieckmann kurz referieren. Nach ihm vollzieht sich die Heilung darin, daß die magische Sprache des Märchens übersetzt wird in die rationale Sprache des Patienten. Nachdem dem Patienten das im Märchen enthaltene Material bewußt ist, verläßt er diesen Bereich und wendet sich anderen Problemen zu (Dieckmann, 1968, S. 208). Dieckmann fügt allerdings hinzu, daß auch ein emotionaler Bezug zum Märchen bestehen mag, der besseren Zugang verschaffen kann, als jede rationale Erklärung es vermag. Nach Jung sind Märchen „die Darstellung eines innerseelischen Dramas" (Lüthi, 1969, S. 391; 1962, S. 103). Auch wenn ich mich auf diese Sichtweise einlasse, möchte ich das Märchen vom Erleben her angehen. Der Klient muß dieses Drama selber spielen, erleiden, erleben, wenn es sein Drama mit seiner Lösung werden soll 5). Also im Erleben liegt die Heilung, und zwar einmal deshalb, weil im Erleben

die Symbolsprache entschlüsselt wird. Damit erfährt der Klient, wo er ist. Er nimmt seine Situation jetzt wahr. Hier und jetzt wird verfügbar, was an Trauer oder Schmerz, an Angst oder Freude aus dem Lebenshintergrund in die Gegenwart hineinragt (vgl. Petzold, 1977, S. 154). Noch einen zweiten, sehr bedeutenden Grund für die Wichtigkeit und

Heilkraft des involvierten Erlebens möchte ich nennen: Ich kann im Erleben der Märchensituation Erlebnisse nachholen, die mir bis dahin verschlossen waren. Ich kann im Spiel reale Erfahrungen machen, die auf mein ganzes Leben ausstrahlen. Bärbel, eine 35jährige Frau, die als Kleinkind einige Jahre im Kinderheim zubringen mußte, wählte sich Däumelinchen als ihr Märchen aus, und zwar befand sie sich (wir sind das Märchen psychodramatisch angegangen) als Däumelinchen in der Walnußschale.

Sie erfuhr liebevollste zarteste Zuwendung von ihrer Märchenmutter, sie wurde gestreichelt und geküßt, lallte und sang mit ihrer Mutter zusammen - und kam regelrecht gesättigt zurück in die Alltagswirklichkeit. Im emotionalen Erlebnis des psychodramatischen Märchenspiels hatte sie bekommen, was ihr in Wirklichkeit nicht zuteil geworden war. Die Zuwendung, die sie als Däumelinchen erfahren hatte, galt ihr, der Bärbel, und spürbar war ihr Hunger gestillt. Diesen Vorgang nennen wir in der Gestalttherapie das Schließen einer Gestalt.

Indem Bärbel in der Identifikation mit der Märchenfigur, involviert im phantasievollen Spiel, die damals entbehrte Zuwendung erfährt, schließt sich für sie die von damals her offen gebliebene Situation. Zu ihrem Lebenshintergrund gehört ab jetzt stützend das Gefühl: Ich bin geliebt - ich Bärbel-Däumelinchen bin geliebt. Damit wird die Tatsache nicht weggewischt, daß sich damals über das Bettchen des zweijährigen kleinen Mädchens kein

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liebevolles Muttergesicht beugte.- Aber indem sie das versäumte Gefühl, zu beglücken und beglückt zu werden, nachholt, kann sie die damalige, sie heute noch quälende Situation beenden (vgl. Polster, 1975, S. 47; Petzold, 1973, S. 88). Ich sehe nach diesen beiden Beispielen zwei Möglichkeiten, das Märchen im

therapeutischen Prozeß einzusetzen. Einmal hat es die Funktion, den Klienten in Kontakt zu bringen mit seinen geheimen Gefühlen, es entschlüsselt ihm also seinen Hintergrund. Danach kann das Märchen verlassen und der bewußt gewordene Konflikt direkt angegangen werden. So ist Margret, nachdem sie in Kontakt zu ihrer Situation gekommen war, aus der Rolle des Rotkäppchens herausgetreten und hat sich in der anschließenden Sitzung „direkt" mit ihrer Mutter auf dem hot-seat auseinandergesetzt.

Die andere, mich persönlich sehr viel mehr bewegende Möglichkeit ist die, den gesamten Prozeß im Rahmen der Märchenrolle zu durchleben - so wie Bärbel es tat -. Erst in der Integrationsphase wird dann der Bezug zum Leben des Klienten von ihm selbst aufgezeigt. Wenn ich das Märchen so, wie eben dargestellt, einsetzen will, verbietet sich also z.B. die Frage: Woher kennst du das? oder: woran erinnert dich das? Eine solche Frage führt den Klienten heraus aus seiner erlebten Identifikation mit seiner Rolle. - Dagegen haben diese Fragen ihren Sinn dort, wo ich das Märchen nur solange einsetzen möchte, bis der Klient emotionalen Zugang zu seinem Konflikt hat.

6. Keine Fremddeutung Indem ich im Eigenerleben des Klienten eine Grundlage der ge-

stalttherapeutischen Arbeit sehe, verbietet sich jede Außendeutung, und läge sie für den Beobachter noch so nahe. Es ist sehr verlockend, die Symbolsprache des Märchens zu übersetzen, so zu übersetzen, wie die Forschung - von der Tiefenpsychologie bestimmt - die Symbolsprache entschlüsselt hat. Aber eine Deutung, die am Erlebnishintergrund des Klienten vorbeigeht, stört und ärgert den Klienten und ist sinnlos (Petzold, 1977a, S. 321). Ja, jede Fremddeutung raubt dem Klienten seine eigenen Möglichkeiten und seine Eigenverantwortung. Er selbst wird sich im Märchenspiel in seiner Gegenwart erfahren, wird erleben, was sein Spiel bedeutet, und sich verstehen lernen. Dieses „selbst" darf niemand dem zu sich selbst wachsenden Klienten rauben (vgl. Perls, 1976, S. 33).

Ich muß aber sagen, daß es mir eine große Freude bereitete, wenn ich in der Literatur eine Übersetzung fand, die sich mit dem Erleben des Klienten deckte. Häufig entschlüsselte sich allerdings das Märchenmotiv oder die Gestalt in einer nur diesem Klienten entsprechenden Weise. Für Margret war, wie gesagt, das rote Käppchen das Symbol für ihre Abhängigkeit von der Mutter. Für Erich Fromm (1957, S. 225) ist es dagegen das Sinnbild der Menstruation. Es ist deutlich, wie unangemessen diese Fremddeutung für Margret gewesen wäre.

6. Märchenfiguren als Projektionsträger

Im Umgang mit den Märchenfiguren projiziert der Hörer auf die sich anbietenden Figuren seine Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Verhaltensweisen und alles das, was er an sich selbst nicht akzeptiert. Um diese Projektionen zurückzuholen, sich wieder zu eigen zu machen, fordere ich den Klienten zur Identifikation mit diesen so besetzten Figuren auf - wie auch sonst in der gestalttherapeutischen Arbeit Projektionen durch Identifikation reintegriert werden (Petzold, 1973, S. 30). Märchen bieten sich direkt als Projektions-empfänger an, denn sie sind gewissermaßen mit viel freiem Raum ausgestattet, den der Hörer mit seinen Projektionen füllen kann. Denn im Märchen sind alle

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Situationen vereinfacht, Einzelheiten werden nicht erzählt, es sei denn, sie wären wichtig, die Handlung ist einfach, die Charaktere sind nicht einmalig, sondern typisch, sie sind nicht ambivalent, sondern sie haben nur eine Eigenschaft − gut oder böse, dumm oder klug, jung oder alt (Bettelheim, 1977, S. 14; Bühler, 1958, S. 27, 46; Dieckmann, 1966a, S. 53). Die somit fast leeren Figuren können nun in der Begegnung mit dem Material des Hörers gefüllt werden. Dieses wird dadurch zunächst anschaubar und durch die Identifikation gewissermaßen heimgeholt.

Die Identifikation erstreckt sich natürlich nicht nur auf die vom Klienten gewählte Figur, sondern auch auf die zu dieser Figur in Beziehung stehenden anderen Gestalten. Sie sind ebenfalls, wie z.B. im Einzeltraum (vgl. Petzold, 1977, S. 83; Polster, 1975, S. 248) - wie ich schon unter Punkt 1 aufzeigte - Teile meines Ganzen (vgl. Bettelheim, S. 83).

Dieckmann (1966a, S. 52) schreibt dazu von seinem psychoanalytischen Ansatz her folgendes: „Die Figuren und Gestalten wie auch die Handlungen des Märchens werden .... als Personifikation von inneren seelischen Bildungen und Verläufen" erlebt. „Sie sind Symbole und nehmen stellvertretend den Platz ein für etwas, - was sich im Menschen an seelischer Dynamik abspielt..." In der Sprache der Gestalttherapie sagen wir: Auf die positiven und negativen Figuren seines Märchens projiziert der Klient/Patient seine eigenen von ihm nicht akzeptierten Gefühle, Vorstellungen, Haltungen. Sie erschließen sich ihm durch Identifikation (vgl. Petzold, 1973, S. 29; Lüthi, 1962, S. 103). Den Zugang dazu gewinne ich durch die Technik des Dialogs (Petzold, 1977, S. 162). D.h.: Ausgehend von der spontan zur Identifikation gewählten Figur gelangt der Klient im dialogischen Rollenspiel oder im Dialog, der in der Phantasie vollzogen wird, auch dazu, sich selbst in der Gegenfigur oder Beifigur wiederzufinden. (vgl. dazu S. 32 ff)

7. Lebenssituation und Situation im Märchen Die Figuren des Märchens sind im ständigen Wandel begriffen entsprechend

ihren Reifungsschritten (Bilz, 1958, S. 108). Es ist entsprechend legitim, daß der Klient sich die Situation im Märchen aussucht, die seinem Jetzt entspricht, bzw. die der unabgeschlossenen Situation entspricht, die sich jetzt in den Vordergrund drängt. Es mag sein, daß er in einer anderen Sitzung sich an eine andere Stelle des Märchens begibt, entsprechend seinem Reifungsschritt. Wertungsfrei muß ich es dem Klienten überlassen, sich dort im Märchen zu bewegen, wo er auch im Augenblick ist - ohne ungeduldig zu erwarten, daß er den Reifungsprozeß des Helden nachvollzieht. Dies scheint mir eine therapie-hinderliche Fehlerwartung des Psychoanalyter zu sein (vgl. Kienle, 1969, S. 50f.). Der Gewinn für den Klienten besteht (wie ich schon unter Abschnitt 4 aufzeigte) darin, zu erfahren, wo er jetzt steht. Von hier aus kann er weiter gehen in eine Richtung, die ihm gemäß ist. Von hier aus kann er wachsen. „Veränderung geschieht dann, wenn jemand zu dem wird, was er ist, und nicht, wenn er versucht, etwas zu werden, was er nicht ist"(Beisser, zit. nach Petzold, 1973, S. 34). Von hier aus auch kann er seine Möglichkeiten erleben - die ganz anders aussehen können als in der tradierten Märchenhandlung. Während z.B. im Grimmschen Märchen Rotkäppchen sein Mützchen liebt und nichts anderes mehr tragen möchte (Grimm, S. 144), will Margret es loswerden. Oder während im Grimmschen Märchen der Froschkönig der jüngsten Königstochter nachhopst und schließlich am Ende erlöst wird (Grimm, S. 9), kann Erwin als Froschkönig sich nicht vom schützenden, bergenden Brunnenrand loslösen. Aber er kann üben, indem er sich an dieser Stelle des Märchens umsieht und bewegt, sich schrittchenweise vom Brunnen wegzutasten bis hin zu den in der

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Nähe spielenden Kindern. Ich will damit sagen: Wenn ich dem Klienten die Möglichkeit einräume, sich dort im Märchen zu bewegen, wo er gerade seinen Standort hat, wird er auch dort handeln, neues Verhalten einüben, seinen Bereich erweitern. Aber wie immer in der gestalttherapeutischen Arbeit verbietet sich auch hier jedes „pushen" (Petzold, 1977a, S. 322). Daß Erwin zaghaft und mit Angst es riskiert, als Froschkönig ein paar Meter weit den Brunnen zu verlassen, ist für ihn entscheidender, als wenn ich ihn mit Geschick und Ungeduld an die königliche Tafel gedrängt hätte.

8. Eigengestaltung und tradierte Form des Märchens

Eng mit dem eben gesagten verbunden ist folgender Gedanke: Märchen kommen auf uns in einer in Jahrhunderten gewachsenen festen Form zu. In der therapeutischen Arbeit geht es uns aber nicht darum, diese festgefügte Form zu erhalten. Es kommt überhaupt nicht auf die getreue Wiedergabe des Märchens an, sondern darauf, wie der Klient jetzt die Figur aufnimmt und ihr Schicksal zu Ende spielt. Mein Rumpelstilzchen lebt, weil es sich selbst enthüllt. Es zerreißt sich nicht und stirbt nicht - wie im Märchen vorgeschrieben (vgl. Grimm, S. 96). Ich fordere deshalb auch die Klienten auf, ihr Märchen von dort aus, wo sie es betreten haben, zu Ende zu träumen, zu leben, zu schreiben - so wie es ihnen entspricht.

Das schließt nicht aus, daß ich hin und wieder, wo es angezeigt ist, den Klienten mit der tradierten Form konfrontiere. Das kann dazu führen, daß der Klient wahrnimmt, wie einseitig; unvollständig oder manipulativ er sich verhält (vgl. Hellgardt, 1975, S. 190f.). Ich erhebe aber nicht den Anspruch, daß die tradierte Form die für das Leben einzig richtige sei.

9. Ort, Verlauf und Ebenen der gestalttherapeutischen Arbeit mit Märchen. Für den Klienten ist es oft leichter, seine unerledigte Situation im Märchen

anzugehen, als direkt auf dem hot-seat. So erscheint es zunächst leichter, die böse Stiefmutter in der Märchenhandlung zu töten, als die „eigene" Mutter (etwa auf dem leeren Stuhl) zu bedrohen (Bettelheim, 1977, S. 68). Ich setze die Arbeit mit dem Märchen deshalb dort ein, wo eine Gruppe oder ein einzelner auf der Stelle tritt, blockiert ist, keinen Zugang zu seiner jetzigen Situation findet. Wo der Klient konfliktbewußt ist, kann er das, was für ihn im Vordergrund steht, direkt mit den Mitteln der Gestalttherapie -sei es nun hot-seat-Arbeit, Rollenspiel, Psychodrama, Tagtraumtechnik - bearbeiten. Den vergleichsweise zeitaufwendigen Weg über das Märchen wähle ich nur dort, wo der Zugang zur anstehenden Problematik versperrt erscheint (vgl. Franzke, 1968, S. 233).

Wie für alle gestalttherapeutische Arbeit gilt auch für die Arbeit am Märchen, daß der tetradische Prozeß eingehalten wird. Auf die Initialphase (meist Körperwahrnehmung mit anschließender Einstimmng in das Märchen) folgt die Aktionsphase, in der vom Erleben ausgehend durch Identifikation und Dialog das Gefühl ausgelebt wird und das den ganzen Menschen teffende „Evidenz"- bzw. „Aha-Erlebnis" sich ereignet. In der Integrationsphase wird die gewonnene Erfahrung vom Klienten selbst überdacht und in Bezug zu seinem Leben gebracht, wobei die Gruppe durch Sharing und Feedback stützend und auch konfrontierend ihren Beitrag leistet. Die Phase der Neuorientierung sollte zumindest eingeleitet werden, wenngleich sie sich auf die darauffolgenden Tage und Wochen erstrecken wird (vgl. Petzold, 1977, S. 156).

Die Arbeit mit Märchen vollzieht sich; wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der therapeutischen Tiefung betrachten, vorwiegend auf der 2. Ebene der Vorstellungen und Affekte, in der der Klient die Bilder der Märchen unter zunehmender emotionaler Beteiligung auf sich zukommen läßt, und auf der 3.

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Ebene der Involvierung. Hier hat das Geschehen Wirklichkeitscharakter, die ge-samte Persönlichkeit ist betroffen (Petzold, 1977a, S. 335f.), die Identifikation mit der Märchenfigur ist vollzogen. Der Zuschauer ist als Akteur in das Märchen hineingetreten (vgl. das bewegungslose Schneewittchen, S. 23, das um sich schlagende Dornröschen, S.32). Auf Ebene 4, der Ebene der autonomen Körperreaktionen habe ich selbst im Zusammenhang mit der Arbeit am Märchen noch keinen Klienten erlebt. Ich kann mir aber vorstellen, daß auch diese Ebene erreicht wird, wenn das Imaginationsgeschehen Gedächtnisspuren aus der frühesten Kindheit aktiviert (Petzold, 1977a, S. 337). Selbstverständlich gehört zur Arbeit mit Märchen auch die Ebene 1, d.h. die Ebene der Reflexion. Sie mag am Anfang der Arbeit stehen (Fragen wie: Was hat dies Märchen mit mir zu tun -warum wähle ich ausgerechnet diese Figur? sind Fragen, die auf diese Ebene führen). Sie sollte immer am Ausgang der Arbeit in der Integrationsphase und in der Neuorientierungsphase die Ebene sein, auf der der Klient sein Werk abschließt.

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II. Teil Ich möchte an dieser Stelle den mehr theoretisch orientierten Teil meiner Arbeit

beenden und in einem 2. Teil an Hand von Beispielen aufzeigen, wie ich mit Märchen umgehe. An diese Beispiele möchte ich Gedanken und Erfahrungen anschließen, die sich in diesem Zusammenhang für mich ergaben. Dabei mag es sein, daß Überlegungen, die ich schon angesprochen habe, noch einmal wie-derholt werden, wenn sie sich aus den Beispielen ergeben. Die Arbeit mit Märchen kann verschieden aussehen. Das Märchen kann

gespielt werden wie ein Psychodrama oder wie ein Gestaltdrama, wo der Einzelne alle Rollen übernimmt (Petzold, 1973, S. 50). Es kann geträumt werden - vergleichbar einem katathymen Bild - und es kann mit Hilfe des heißen Stuhls durch Identifikation auf der Phantasieebene aufgearbeitet werden.

1. Beispiel: Schneewittchen im Sarg In diesem Fall begann ich damit, die Gruppenteilnehmer einzuladen, „Kontakt

zu ihrem Körper aufzunehmen". Damit wird der Einzelne wach und aufmerksam für das, was jetzt im Augenblick in ihm vorgeht und ihn betrifft. Mit zunehmendem Kontakt zu Beinen, Rumpf, Kopf und Armen, stellt sich häufig eine zunehmende Ernsthaftigkeit ein, dem eigenen Erleben gegenüber. Der Klient wird bereit, auf sich selbst zu hören, seine eigenen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen und anzunehmen.

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In diese Haltung hinein erzähle ich den Anfang eines Märchens. Ich lese das Märchen nicht vor, denn nicht die schriftlich tradierte Fassung des Märchens ist es, die uns interessiert, sondern das, was der Klient aus ihr macht. Der Anfang könnte so aussehen:

Es war einmal ein König und eine Königin, die wünschten sich von Herzen ein Kind. Eines Tages sitzt die Königin am Fenster. - Ich sehe sie da sitzen - sie hat ein weißes, feines Tuch in der Hand. Sie näht. Sie schaut zum Fenster hinaus, über den Schloßhof, in den Wald. Es schneit. Der dunkle Ebenholzrahmen des Fensters hebt sich deutlich ab vom weißen Schnee. Die Königin sitzt und näht und träumt von dem Kind, das sie erwartet, und indem sticht sie sich in den Finger. - „Mein Kind soll sein so rot wie Blut, so weiß wie Schnee, so schwarz wie Ebenholz -" und über eine Weile bekommt sie ein Kind - so rot wie Blut, so weiß wie Schnee und so schwarz wie Ebenholz, und sie nennen es Schneewittchen. Und dann

Hier mache ich eine Pause und fordere die Gruppe auf, sich das Märchen im Stillen allein zu Ende zu erzählen. Den Zeitwechsel aus der Vergangenheit in die Gegenwart im 2. Satz des Märchens nehme ich bewußt vor. Die Gegenwartsform bringt das Geschehen dichter in den Raum. Daß ich den Anfang des Märchens so erzähle, wie es sich für mich gerade ergibt, ermutigt die Gruppe, sich auch die Freiheit herauszunehmen, den tradierten Wortlaut des Märchens zu verlassen und sich ihrerseits so auf das Märchen einzulassen, wie es sich dem einzelnen in seiner jetzigen Situation darbietet. Wenn ich annehmen kann, daß jeder Teilnehmer den Ablauf des Märchens vor Augen hat, fordere ich ihn auf, sich eine Person oder einen Gegenstand aus dem Märchen genauer anzusehen.

Welche Person aus dem Märchen möchte ich sein? Ich lasse die Gestalten noch einmal vor meinem Auge vorbeiziehen und wähle aus. Wer bin ich in diesem Märchen? Wo bin ich gerade? Was tue ich gerade? Wie fühle ich mich dabei?

Je besser es gelingt, den Klienten in das Märchenerleben hineinzuführen, umso intensiver wird dann seine therapeutische Erfahrung sein.

In dieser Gruppe, die ich im Augenblick vor Augen habe, identifizierten sich zwei Teilnehmer mit Schneewittchen, zwei mit Schneewittchens Mutter, einer mit der Stiefmutter, einer mit dem Jäger, einer mit dem siebenten Zwerg, einer mit dem ältesten Zwerg und einer mit dem König. Dies zeigt deutlich: Das Angebot an alle Teilnehmer war das eine Märchen. Aber jeder suchte sich die seiner Situation angemessene Rolle.

Die Gruppenmitglieder tauschten zunächst aus, was sie erlebt und gesehen hatten und welche Rolle ihnen im Märchen zugefallen war. Die weitere Arbeit erfolgte personzentriert als hot-seat-Arbeit. Die Klientin - eine ältere, schüchterne, kontaktarme Frau -wollte sich gerne ihr Schneewittchen näher ansehen. Ich forderte sie auf, noch einmal in das Märchen einzutauchen und an die Stelle zu gehen, die ihr am deutlichsten vor Augen steht. Sie schließt die Augen und berichtet in der Gegenwart. (Ich gebe einen Ausschnitt wieder)

FRAU G.: Ich bin Schneewittchen. Ich bin sehr blaß. Ich liege im Sarg, im gläsernen Sarg. Ich kann alles sehen, die Zwerge, die Rehe, das Gras.... TH.: Und wie geht es dir in dem Sarg? FRAU G.: Ich bin ruhig, sehr ruhig. Ich kann ja alles sehen, auch den Prinzen kann ich sehen. Aber niemand kann zu mir herein. Ich bin ganz allein in meinem Sarg. - Aber das ist nicht schlimm, denn ich kann ja alles sehen. TH.: Erzähl mehr von dem, was du siehst.

FRAU G.: Ich seh die Zwerge - sie sind gar nicht so klein - sie stehen dicht zusammen gedrängt - alle rechts neben meinem Sarg. Sie tuscheln miteinander.

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TH.: Kannst du hören, was die draußen über dich reden. FRAU G.: Ja, Sie sagen: Sie ist tot. Sie hört uns nicht mehr_ - Sie sehen sehr traurig aus. - TH.: Und wie ist das für dich? FRAU G.: Ich bin ja nicht tot. Ich weiß das ja besser. Ich brauchte nur mit meinen Händen den Deckel anzuheben, ich könnte das tun - er ist nicht schwer. TH.: Willst du es versuchen? FRAU G.: Ach nein, nein, lieber nicht. Ich bleibe lieber unter dem Deckel. Da kann ich alles gut sehen, und so kann keiner zu mir herein ...............................

In der nachfolgenden Integrationsphase zog die Klientin selbst Parallelen zu ihrem sonstigen Verhalten im Leben und in der Gruppe. Sie fühle sich oft nicht angenommen, alleingelassen, sie hätte dann dasselbe Gefühl wie im Glassarg. Jetzt hätte sie das Gefühl, daß sie in den Beziehungen zu anderen von sich aus keine Bewegung mache, den Deckel nicht anheben wolle. Bisher hätte sie immer gedacht: Die anderen wären schuld - jetzt sähe sie, sie verhielte sich wie ihr Schneewittchen im Sarg. Später fiel ihr noch dazu ein, daß ihr Nachname ja das Wort Glas enthielte - als ob sie sich durch den Namen schon hätte verführen lassen, hinter Glas zu leben.

Von da an begann Frau G. aktiver auf die anderen Gruppenmitglieder zuzugehen und berichtete auch von einer Annäherung an ihre Schwägerin, neben der sie völlig beziehungslos gelebt hätte.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr der wahre Verlauf des Märchens zurücktritt hinter das Erleben der Klientin. Das tradierte Märchen war nur Auslöser für die eigene Geschichte von Frau G.

Ich möchte hier kurz etwas einschieben über die Bedeutung, die Hedwig von Beit (1977) an dieser Stelle dem Märchen gibt: Sie sieht in ihm wie in jedem Märchen eine Selbstdarstellung des Unbewußten. Nach ihr versinnbildlicht der gläserne Sarg die Unzugänglichkeit der Anima für das Bewußtsein (I, S. 277). Der Mensch hinter der Glaswand ist gefühlsmäßig abgetrennt vom Objekt, trotz der Durchsichtigkeit geht nichts hindurch. Der Kontakt ist abgebrochen (I. S. 712). Wenn ich das richtig verstehe, meint H. von Beit, daß Schneewittchen im Sarg Symbolfigur für den Menschen ist, der keinen Kontakt hat zu den kostbarsten innersten Seiten seiner Existenz.

So ihr Innerstes betreffend hat Frau G. das Märchen Schneewittchen nicht aufgenommen. Sie erlebte sich als Schneewittchen im Sarg in ihrer Beziehungslosigkeit zu anderen Menschen. Vielleicht hat Hedwig von Beit mehr und Tieferes im gläsernen Sarg gesehen als wir in unserer therapeutischen Gruppensitzung. Ich kann aber nicht sehen, wie ihr Wissen therapeutisch nutzbar gemacht werden kann (vgl. Lüthi, 1969, S. 402). Für mich wurde deutlich: Therapeutischer Gewinn geht vom Märchen dort aus, wo ich auf jede Fremddeutung - und sei sie noch so tiefsinnig und fein - verzichte und genau dort bleibe, wo der Klient selbst sich und seine Situation im Märchen erkennt. D.h. in diesem Fall: Die Erfahrung, sich selbst im Sarg zu sehen und darüber hinaus zu erleben, daß sie selbst es ist, die sich daran hindert, aus dem Sarg aufzu(er)stehen und echten Kontakt zu haben, - diese Erfahrung brachte für Frau G. eine wichtige. Veränderung in ihrem Leben (vgl. Franzke, 1977. S. 127).

2. Beispiel: Schneewittchen (im Vergleich zum katathymen Bild) Ich möchte noch ein weiteres Schneewittchenbeispiel bringen, um zu zeigen,

wie unterschiedlich zwei Personen, die mit demselben Märchen konfrontiert werden und auch noch von den gleichen Rollen ergriffen werden, dies Märchen als Spiegel ihrer Situation benutzen. Dies zweite Schneewittchen ist ein dickes, achtzehnjähriges junges Mädchen. Sie frißt Teilchen und Süßigkeiten in sich hinein, um sich, wie in vorangegangenen Sitzungen deutlich wurde, an ihrer

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Mutter zu rächen für die vielen Augenblicke ihres Lebens, in denen sie sich von ihr nicht angenommen fühlte. Gleichzeitig benutzt sie ihre Unförmigkeit, um sich ihrer Ambivalenz jungen Männern gegenüber, deren Annäherung sie ersehnt und zugleich fürchtet, nicht stellen zu müssen. Ihre Unförmigkeit hält ihr die ersehnten Männer vom Leibe. Ihrem Vater macht sie den Vorwurf, sich immer auf die Seite der Mutter zu schlagen und nie wirklich zu ihr gehalten zu haben. Dieses Mädchen also sucht sich auch Schneewittchen aus als die zu ihr passende Figur.

Sie sieht sich als 14jähriges fröhliches Schneewittchen an der Hand des ihr vertrauten Jägers über den Schloßhof in den Wald gehen. „Der Jäger trägt keinen Bart, aber ich kenne ihn. Er sieht heute böse aus und spricht nicht." Es gelingt ihr als Schneewittchen - wie im vorgegebenen Märchen -, den Jäger umzustimmen und statt ihrer ein Tier zu töten. Der Preis, den sie zahlen muß, ist der, niemals wieder zurückzukehren, denn, so sagt der Jäger: „Schließlich habe ich Frau und Kinder und kann es mir nicht erlauben, deinetwegen in Schwierigkeiten zu geraten." Alleingelassen sitzt Schneewittchen im Wald im Schneidersitz auf dem Boden und rührt sich nicht. „Meine Mutter will mein Herz fressen, mein Jäger hat mich alleingelassen, was soll ich noch," klagt Schneewittchen und ist nicht imstande, ihre Mutlosigkeit und Bewegungslosigkeit abzuschütteln. _

Dies war zu diesem Zeitpunkt Martinas Situation, die sie als Schneewittchen sehr plastisch und identisch wahrnehmen konnte. Es fiel mir nicht leicht, Martina nun dort stehen zu lassen, wo sie ist, sie nicht vorwärts zu locken in eine Bewegung hinein, die ihr noch nicht angemessen ist. Ich mußte mir bewußt vor Augen führen, daß jede Veränderung nur dort einsetzen kann, wo der tatsächliche Ausgangsort ist (Petzold, 1977a, S. 323), und dies war im Augenblick Schneewittchens/Martinas Bewegungsunfähigkeit. Ich wollte sie aber nicht allein darin lassen und ihr ein Signal geben, daß wir beide zusammen wieder und wieder an diesen Punkt zurückkehren würden, bis sie ihn verändern kann.

Ich schlug deshalb dem im Schneidersitz erstarrten Schneewittchen vor, ich würde jetzt im Wald vorbeikommen und eine Photographie von ihr machen. Das Bild würden wir behalten und es uns immer wieder angucken, wann sie nur wolle. Daraufhin konnte sie - zögernd - das Schneewittchen im Wald lassen und wieder zurück in den Raum kommen.

Bei dieser Arbeit lagen Deutungen sehr nahe. Nun mag eine Deutung eine Erklärung liefern für mein Verhalten und damit vielleicht sogar eine Entschuldigung dafür, daß ich mein Verhalten beibehalte. Veränderung aber setzt dort ein, wo ich wahrnehme, wie ich lebe und wie ich daran leide. Und das hat Martina als Schneewittchen gesehen.

Ich habe in der sich anschließenden Phase der Integration nur sehr behutsam Parallelen von Martina selbst finden lassen zwischen ihrem Schneewittchenerleben und ihrem realen Erleben. Martina selber war sich wohl bewußt, daß der Jäger (auch wenn er keinen Bart hatte) im Märchen dieselbe Rolle spielte, wie ihr Vater im Leben. Auf eine „direkte" Auseinandersetzung mit ihrem Vater mochte sie sich aber zu diesem Zeitpunkt nicht einlassen. Deutlich war für sie die Erkenntnis, sich im Leben genauso bewegungslos zu fühlen wie im Märchen.

„Ich gehöre nicht mehr nach Hause, aber ich kann mich nicht entschließen, herauszufinden, was ich eigentlich will und wohin ich will." Und nach einer Pause: „Immerhin, Schneewittchen ist schon im Wald, ja schon halb durch - ich weiß ja auch, was sie tun wird. Sie wird ja aufstehen und gehn - aber ich kann das noch nicht."

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Martina wurde noch lange Zeit von dem Märchen begleitet. Sie hat in den darauffolgenden Sitzungen für sich das Märchen in Abschnitten zu Ende geträumt mit einem völlig anderen als dem tradierten Schluß.

Ihre Fortsetzung sieht so aus: Schneewittchen bricht schließlich auf. Im Wald findet sie einen jungen, weinenden Wolf,

den sie zu sich nimmt. Zu zweit ziehen sie weiter in ein Dorf, wo sie leben dürfen, bis der Wolf groß und gefährlich wird. Erneut vertrieben finden die beiden einen Ort, wo sie leben können: Im Wald in einer Hütte, bei einem alten guten Mann.

Diesen Schluß verändert sie nach etwa 3 Wochen noch einmal:

In diese Ruhe bricht die böse Königin ein und vergiftet Schneewittchen mit einem Apfel. Der Wolf tötet die Königin und wird dabei in einen Felsen verwandelt. Schneewittchen erwacht und der alte Mann verwandelt sich in einen jungen. Bei ihm bleibt Schneewittchen. Sie sucht den Wolf, ohne ihn zu finden. Niemals wird sie erfahren, daß er sein Leben für das ihre gab. –

Ich habe bei Martina das Märchen wie ein katathymes Bild eingesetzt. Deshalb

möchte ich an dieser Stelle die Parallelen aufzeigen, die mir zwischen dieser Arbeit am Märchen und dem katathymen Bilderleben, wie wir es von Leuner her kennen, aufgefallen sind. Im katathymen Bild werden Bildmotive wie Wiese, Bach, Waldrand, Haus

vorgegeben (Leuner, 1970, S. 32). In unserem Fall steht die von Martina gewählte Märchensituation am Eingang. Sie handelt in ihr wie in einer zweiten Welt. So geschieht es auch im katathymen Bild (S. 9). Die Ausgangssituation ihres Märchens wandelt sich gemäß dem Strom der sich wandelnden Gefühle (S. 11). Im dauernden Rapport (S. 13) berichtet sie über das, was sich vor ihrem inneren Auge, in ihrem Erleben abspielt. Wie im KB ist sie in ihrer äußeren Situation - bei mir - geborgen, während sie in ihrer Märchenhandlung eigenverantwortlich aktiv wird. Und der therapeutische Prozeß vollzieht sich, wie im KB, indem sie in ihrer Märchenhandlung übt, was geübt werden muß (S. 25). Also: Martina bricht als Schneewittchen schließlich auf und hat hier etwas geübt, was in ihren Alltag hineinwirkt. Ihr Gefühl, verlassen und bewegungslos zu sein, formiert sich wie im KB (S. 25ff.) zu einem an-schaubaren Bild bzw. Photo (das im Schneidersitz sitzende Schneewittchen), das sich immer wieder betrachten läßt, bekannt wird und schließlich überwunden wird. Der Wolf, von Martina als Beschützer erlebt, begleitet sie insgeheim - auch außerhalb der Sit-zungen - in die Schule, in die Discothek. Sie ist sich sehr wohl bewußt, daß er Teil von ihr ist, ein Teil ihrer Kraft, der Fähigkeit sich zu wehren - und doch ist dies Gefühl in der Gestalt des Wolfes an-schaubar und deshalb leichter für sie verfügbar. Sie kann sein Bild aufsteigen lassen, wenn sie Kraft braucht - und sie tut das auch solange, bis ihr ihre eigene Kraft zu eigen ist, verfügbar, ohne die Hilfe des Wolfsbildes. Der Wolf stirbt, als sie merkt, ich werde erwachsen. Es ist, als ob sie jetzt auf seine anschaubare Hilfe verzichten kann, nachdem er die Königin - die ihr ans Leben will - getötet hat. Das fortschreitende Geschehen in Martinas Märchen entspricht der fortschreitenden Veränderung von Martinas Lebensgefühl. Denn wie im KB zeigen sich die Bilderlebnisse im Märchen als „Projektionen der individuellen Erlebnisse" (Leuner, 1970, S. 25). Der Verlauf der weiteren Beratung zeigt, wie wichtig das therapeutische

Geschehen im Märchen für Martina war: In die Zeit, in der der Wolf stirbt, fällt eine Sitzung, in der Martina mir das „Du" anbietet, weil sie das Gefühl hat, sie

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wäre jetzt groß. Kurz darauf fährt sie nach England, wo sie ihr Märchen noch einmal aufschreibt und mir zuschickt. Zurückgekehrt schlägt sie vor, nur noch alle vier Wochen zur Sitzung zu kommen. Sie wolle ausprobieren, ob sie jetzt nicht allein gehen könne.

3. Beispiel: Schneewittchens Stiefmutter (Gestaltdrama) Ich möchte noch ein drittes Beispiel anführen, das wieder das Märchen

Schneewittchen zum Ausgangspunkt hat. Diesmal geht es um eine etwa fünfundvierzigjährige vitale Frau (Renate), die sich zu ihrer eigenen Verblüffung Schneewittchens Stiefmutter als Figur erwählte und nun wissen wollte, welche Botschaft diese Figur für sie bereit hielt. Recht arglos begab sie sich im Rahmen des nun folgenden Gestaltdramas in die Rolle der Königin hinein.

R.: Ich bin die Königin. Ich bin sehr schön. Ich sitze vor meinem Spiegel und schaue mich an. Ich schaue, ob ich Falten habe - aber noch sehe ich keine. TH.: Wie geht es dir vor deinem Spiegel. R.: Och - sehr vertraut - hier sitze ich ja oft. TH.: Dann sprich jetzt zum Spiegel. R.: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? TH.: Wer ist die Schönste im ganzen Land? Horch noch mal nach, wie ist das für dich? R.: Na ja - ich hoffe, daß ich immer noch die Schönste bin - und nicht dieses Schneewittchen, dieses dumme Ding. - - Eigentlich müßte ich ja wohl etwas unruhig sein. Bin ich aber nicht. Ich bin die Königin und damit basta. TH.: Gut - dann sei jetzt der Spiegel. - RSP.: Tja, Frau Königin, Ihr seid nicht mehr die Schönste. Das ist nun vorbei. Ihr werdet alt, liebste Frau Königin, und bald wird es jeder sehn - Ihr auch. (Rollentausch) TH.: Wie ist das jetzt für dich? RKO.: Ich bin erschrocken, unruhig - TH.: Wo fühlst du das? RKO.: Hier (sie weist auf den Bauch) - ich bin beinahe erschrocken. Es klingt so höhnisch - (zum Spiegel) Wie redest du mit mir. Weißt Du nicht mehr, wer ich bin. - RSP.: Königin hin, Königin her - das nützt euch nichts. Ihr werdet alt -guckt nur genau her, dann seht Ihr es. RKO.: Ich will nicht alt werden - (sie tritt kurz nach dem Spiegel) TH.: Wie ist das jetzt für dich. RKO.: Ich bin jetzt wirklich erschrocken. Mir ist ganz heiß. TH.: Und die Hände? RKO.: Die sind ganz unruhig und feucht. TH.: Kannst du nochmal zum Spiegel sprechen. RKO.: (Leise und etwas zittrig) Du machst mir Angst - ich will nicht alt werden. TH.: Ich will nicht alt werden. RKO.: Nein, ich will nicht alt werden, ich will nicht alt werden - Ich will nicht - ich will nicht sterben. (Sie schreit, weint und schlägt auf den Spiegel ein. Schließlich löst sich ihr Toben in ein langes Weinen) Ich will nicht sterben. TH.: (als sie aufhört, zu weinen) Kannst Du jetzt noch einmal auf den Spiegel hören? RSP.: Du tust mir leid - (sie weint weiter, anders, weich) du tust mir leid, weil du so eine Angst hast. Du tust mir leid, weil du sterben mußt. Aber es ist so - (Sie legt ihren Kopf auf den Stuhl der R Kö, streichelt ihn mit ihren Händen, während sie sagt:) Du tust mir leid. TH.: (Nach einer geraumen Weile) Kannst Du dich jetzt einmal hier im Raum umsehen. R.: Ja, ich sehe dich - etwas fern - aber ich bin jetzt wieder hier im Raum. TH.: Kannst du zurückschauen auf das, was du erlebt hast. R.: Ja. Ich habe nicht gewußt, daß mir Altwerden soviel ausmacht und daß ich so eine Angst vor dem Sterben habe. Das habe ich gar nicht an mich rankommen lassen. Ich habe einfach nicht

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daran gedacht. Jetzt weiß ich es. Aber ich bin jetzt auch irgendwie getröstet - ich werde noch oft daran denken. Ich glaube, immer wenn ich in einen Spiegel sehe. Ich werde mir dann zunicken und sagen: Nicht wahr, wir beide, wir wissen Bescheid.

Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil sich an ihm einiges verdeutlichen läßt, was für die therapeutische Arbeit mit Märchen wichtig ist. Zunächst läßt sich gut sehen, in welchen Ebenen Renate arbeitet. Am Anfang sehen wir sie in der Ebene der Reflexion. Sie möchte ergründen, was die Königin mit ihr zu tun hat. Die anfängliche Begegnung mit dem Spiegel vollzieht sich auf der Ebene der Affekte. Sie ist mit Gefühl beteiligt, weiß aber noch genau, daß sie spielt - sie schaut sich gewissermaßen noch zu, obwohl es durchaus ihre Angelegenheit ist, die hier verhandelt wird. Als sie kurz - fast ohne es selbst zu merken - nach dem Spiegel tritt, verläßt sie diese Ebene und das nachfolgende Geschehen ereignet sich auf der Ebene der Involvierung. Hier scheidet sie nicht mehr zwischen Märchenfigur und ihrer Person. Hier ist sie total betroffen mit ihrer Angst vor Alter und Tod. Vom Verlauf der Sitzung her gesehen gehört der Anfang der wiedergegebenen Arbeit noch in die Initialphase - und geht dann mit zunehmender Involvierung in die Aktionsphase über. In der Integrationsphase arbeitet Renate das Erlebte reflektierend und einordnend auf, also wieder auf der Ebene 1. Ganz kurz schaut sie auch auf das, was sie in Zukunft tun will. Damit ist die Phase der Neuorientierung zumindest begonnen.

Deutlich ist an dieser Sitzung auch zu sehen, daß sowohl Königin wie Spiegel

Projektionsträger sind. Auf diese beiden Figuren überträgt Renate ihre Art, mit Alter und Tod umzugehen. Durch Identifikation und Dialog zwischen Königin und Spiegel, mit zwei ihr bis dahin nicht bewußten und deshalb von ihr nicht gehörten inneren Stimmen kommt Renate an ihre Todesangst und zu einem Stück Bewältigung. Sie hat die ganze Arbeit als Königin und als Spiegel getan, aber nahtlos wird ihr klar, daß es nicht um Märchenfiguren, sondern um sie und ihre eigenen widerstreitenden und sich versöhnenden Gestalten geht. Damit hat eine bis jetzt offene Situation begonnen, sich zu schließen.

4. Beispiel: Sterntaler (ein Abend - viele Märchen - drei Protagonisten) In den bisherigen Beispielen hat der einzelne Protagonist in der Auseinandersetzung mit seinen Märchenbildern alle Rollen selbst übernommen, wobei höchstens der leere Stuhl ihm als Partner diente. - In dem nun folgenden Beispiel möchte ich zeigen, wie die Arbeit aussehen kann, wenn Gruppenteilnehmer sich verschiedene Märchen aussuchen und sich gemeinsam in das „Spiel" begeben. Im Handeln werden dann Erkenntnisse gewonnen und Reifungsschritte vollzogen (vgl. E. Franzke, 1977, S. 123). In dieser Sitzung hatte jeder nach einer Einstiegsphase die Aufgabe

bekommen, sich ein Märchen nach seiner Wahl zu suchen, sich selbst den Ablauf des Märchens vor Augen zu führen und sich eine Figur auszusuchen, die ihm nahestand. Ich lud dann die Gruppenteilnehmer dazu ein, ihre Figuren, wenn sie Lust dazu hätten, darzustellen. Die an diesem Abend problemlose und heitere Gruppe ließ sich spielbereit auf die Aufgabe ein, und die ver-schiedensten Märchenfiguren, verteilten sich - nachdem sie sich einander vorgestellt hatten - im' Raum. Dies ist eine sehr vielschichtige Situation, und ich war froh, daß wir zu zweit die Gruppe leiteten, so daß wir die einzelnen

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Teilnehmer besser im Auge behalten konnten. Ich möchte von den Prozessen einen herausgreifen. Es geht dabei um Gerda,

eine 40jährige hübsche blonde Frau, verheiratet, Mutter von 4 kleinen Kindern. Sie lebt auf dem Land, mit Schwiegereltern zusammen in einem schönen Haus mit gepflegtem Garten. Sie kommt zur Gruppe, weil sie das Gefühl hat, in ihrem Leben zu kurz zu kommen, obwohl es ihr doch - wie sie selber sagt - so gut geht.

Gerda hat sich das Märchen Sterntaler ausgesucht. Sie geht langsam mit gesenktem Kopf und

freudlosem Ausdruck durch den Raum und verschenkt an die ihr begegnenden Märchenfiguren, was sie hat. Das Baummädchen, das stumm in seiner Baumhütte sitzt und aus Brennesseln Hemden für die verzauberten Brüder näht, bekommt die Mütze und das Röckchen. Es nimmt, was ihm gegeben wird, und legt es stumm auf die Seite. Hans im Glück erhält das letzte Stückchen Brot. Er ist zwar etwas verwundert, aber um nicht unhöflich zu sein, nimmt er dankend an. Gerda-Sterntaler, die nun alles verschenkt hat, sitzt im Wald - (mitten im Zimmer) und wartet auf den Sternenregen - und der kommt nicht. Sie sitzt zusammengekauert und scheint überhaupt nicht wahrzunehmen, was sonst noch um sie her vorgeht. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und sinkt noch mehr zusammen. TH.: Was tust du hier? GERDA: Ich warte und warte. TH.: Willst du erzählen, worauf du wartest. GERDA: Ich habe alles weggegeben und ich bekomme nichts. - Ich bekomme nichts, keine Sterne - und auch sonst nichts. (Sie weint) - So ist das immer. Ich tue und mache und gebe und strenge mich an, und ich kriege nichts, keine Sterne, nichts. TH.: Kannst du das einmal den Sternen sagen, was dich jetzt so bewegt. GERDA: Ja - ich warte hier (anklagend),- warum kommt ihr nicht zu mir? TH.: Sei jetzt die Sterne und antworte. GERDA-ST.: Wir sind die Sterne. Wir funkeln. Wir sind weit weg. – Wir kommen nicht zu dir. - Du brauchst uns überhaupt nicht. - Du wirfst ja weg, was du hast. - (Rollentausch) GERDA: - verstummt - TH.: Kannst du mal schauen, ob das stimmt, was die Sterne sagen. GERDA: guckt sich langsam um, sieht das Baummädchen immer noch im Baum nähen, sieht den Hans im Glück, der gerade mit der schönen Königstochter charmeurt, stutzt und sagt: Ich habe mich beeilt, alles loszuwerden. Ich glaube, der Hans braucht mein Brot gar nicht und die Bärbel (das Baummädchen) - ich weiß nicht - die näht immer noch. Ich habe die Sachen ja nur abgegeben, um hier in den Wald zu kommen, um meine Sterntaler zu kriegen. TH.: Kannst du dich an das andere Sterntalermädchen erinnern - an das aus dem Märchen. GERDA: 0 ja - das wurde ja mit Talern überschüttet, und es hatte doch gar nicht damit gerechnet. - Das gab aber auch alles weg, ohne was zu wollen. TH.: Und du - GERDA: Ich will was haben - und nur darum gebe ich alles weg. - Ich weiß jetzt - so bin ich - so mach ich das immer. Nur um was zu kriegen, streng ich mich an. Und ich dachte, ich wäre gut.

Im Nachgespräch klärt Gerda für sich, was sie in ihrem Leben bekommen möchte und daß es für sie andere direktere Wege gibt, ihre Wünsche zu erfüllen, als den, sich - oft unnütz und freudlos -aufzuopfern. Sie erkennt, daß sie sich manches nehmen kann, manches erbitten kann und manches auch nie bekommen wird.

In der folgenden Zeit riskierte Gerda, für sich anspruchsvoller zu werden. Diese neue Haltung verunsichert die Familie - vor allem ihren Mann - zuerst sehr. Es ist ja auch für die Umwelt nicht gleich angenehm, wenn das praktische, wenn auch freudlose Stemtalermädchen verschwindet und eine Gerda zu sehen ist, die für sich Ansprüche stellt. Statt den Rock zu verschenken, kauft sie einen neuen; statt ihre gesamte Zeit und Energie in die Familie zu stecken, nimmt sie sich Zeit zum Gammeln - für sich. Nicht, daß sie jetzt zur rücksichtslosen „Hoppla-jetzt-komm-ich-Figur" wird, aber es gelingt ihr öfter, ihr vermeintlich selbstloses

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Verhalten einzutauschen gegen eine Haltung, die ihr selbst offen etwas Gutes gönnt.

Ich möchte an diesem Beispiel 4 Dinge zeigen. Einmal: über das Handeln im

Märchen„spiel" kam Gerda sich auf die Schliche. Sie erkannte am Handeln, wie manipulativ und erfolglos ihr „aufopferndes" Verhalten ist.

Zweitens: In diesem Fall haben wir die von Gerda dargestellte Fassung mit der tradierten Fassung verglichen, und der Vergleich brachte ihr die Erkenntnis, die der Auslöser für ihre veränderte Haltung wird (vgl. Dieckmann, 1967b, S. 291).

Drittens: Ein großer Teil der Arbeit erfolgte auf der Ebene der Reflexion. Gerda bleibt zwar beteiligt in der Märchenhandlung, reflektiert aber, den Vorwurf der Sterne aufnehmend, ihr Tun und zieht daraus Schlüsse für ihr Verhalten. Sie bleibt auch im Vergleich ihrer Darstellung mit dem tradierten Sterntalerschicksal in der Rolle des Stemtalermädchens, erarbeitet sich aber auf der RE - flexionsebene die Erkenntnis, daß ihr selbstloses Handeln lediglich ein Umweg - und dazu ein oft vergeblicher - zur eigenen Wunscherfüllung ist. Ich betone das deshalb, weil ich sagen möchte, daß auch - was vielleicht verkannt wird - die Arbeit auf dieser Ebene im Märchenspiel möglich und therapeutisch sinnvoll ist. -

Viertens: Gerda machte ziemlich früh den Ansatz, die Märchensituation zu verlassen und ihre Alltagssituation wahrzunehmen ( so ist das immer). Ich nahm diesen Ansatz nicht auf, weil ich öfter in anderer Arbeit mit ihr erlebte, daß sie im Klagen verharrt, ohne weitere Schritte gehen zu wollen. Indem ich sie an die Sterne verwies, blieb sie in der Märchenhandlung und konnte ein Stück Auseinandersetzung vornehmen. Denn wie schon gesagt, die Auseinandersetzung mit widerstreitenden Gefühlen, Gedanken, Erlebnissen fällt dem Klienten oft ihm Rahmen einer Märchenhandlung leichter als in der Konfrontation mit seinem realen Leben. Die Übertragung ins Alltagsleben erfolgte dann aber nahtlos am Ende der Arbeit, („ich weiß jetzt - so bin ich .... ich dachte, ich wäre gut

Ich möchte hier noch den weiteren Verlauf des Abends skizzieren, der ja durch die Vielzahl der aufeinandertreffenden Märchenfiguren sein Gesicht bekam. Noch zwei weitere Protagonisten schoben sich in den Vordergrund. Das war einmal der Hans im Glück. Der erlebte, daß er immer, wenn es schwierig wird, heim zu Muttern läuft und auf diesem Heimweg verliert, was ihm schon ge-hört - an Kraft und Größe. Er bricht als Erwachsener auf, der was gelernt hat und was kann, und kommt als kleiner Junge zuhause an. Der andere war der König, der in sich den großen Ratgeber sieht. Er erfährt in der Begegnung mit anderen Märchenfiguren, daß sein Rat und seine Hilfe abgelehnt wird. Er erfährt, daß seine Art, andere stützen und schützen zu wollen, die Funktion hat, vor ihm zu verschleiern, wie rat- und hilflos er selber ist.

Ich möchte diese beiden Arbeiten nicht ausführlich darstellen. Ich erwähne sie nur, um zu zeigen, daß ausgelöst durch ein gemeinsames „Spiel" mehrere Teilnehmer in Kontakt zu ihrer Problematik kamen. Alle Gruppenmitglieder waren an diesem Abend sehr bewegt und mit sich beschäftigt. Es ist ein Nachteil, daß nicht alle aufarbeiten konnten, was angeklungen ist, sondern nur im sharing sich mitteilen konnten. Aber wie immer in der Gruppenarbeit wird der zum Protagonisten, der am dichtesten „dran" ist.

5. Beispiel: Dornröschen (das Märchen als Psychodrma) Im letzten Beispiel nun möchte ich aufzeigen, wie man das Märchen

psychodramatisch mit deutlicher Ausrichtung auf einen Protagonisten unter Mitarbeit der Gruppe einsetzen kann. Ich möchte an dieser Stelle nur grob

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referieren, was ein Psychodrama ausmacht.

Zwei Jahrzehnte bevor Perls die Gestalttherapie entwickelte, in der es um „die Dramatisierung innerpsychischer Konflikte im Hier und Jetzt geht" (Petzold, 1976, S. 184), führte Moreno das Psychodrama in die Erwachsenentherapie ein. Psychodrama ist ein spontanes, schöpferisches Spiel, das den ganzen Menschen erfaßt, seine Spontaneität und Kreativität weckt und erweitert und die Fähigkeit zur Begegnung mit mir und dem anderen entwickelt. Diese Begegnung kann dazu führen, daß gestäute und verdrängte Affekte sich kathartisch entladen (Straub, 1975, S. 9). Außer dem Protagonisten sind im Psychodrama immer einzelne Gruppenmitglieder oder auch die ganze Gruppe beteiligt. Der Protagonist übernimmt in seiner Szene eine Rolle, spielt aber die anderen Rollen seines Dramas an, so daß sich die Gruppenmitglieder auf die ihnen vom Pro-tagonisten zugeteilten Rollen einstimmen können. Immer wieder wird zur Verdeutlichung und Richtigstellung ein Rollentausch vorgenommen. Einmal wird damit erreicht, daß die Gruppenmitglieder die von ihnen übernommenen Rollen deutlicher sehen, zum anderen erweitert der Protagonist selbst, indem er die verschiedensten Rollen übernimmt, sein eigenes Rollenrepertoir und entwickelt die Fähigkeit der gegenseitigen Einfühlung. „Gespielt" werden unerledigte, bedrängende Situationen aus der Gegenwart oder aus der Vergangenheit. Im Hier und Jetzt werden sie ein „wahres zweites Mal" (Straub,S. 11) erlebt, erlitten und zum Abschluß gebracht.

Zu den Techniken des Psychodramas gehört u.a. außer dem Rollentausch noch der leere Stuhl und das Doppeln. Beim Doppeln tritt dem Protagonisten oder auch seinem Gegenspieler ein HilfsIch zur Seite, d.h. der Trainer oder ein Gruppenmitglied übernimmt es, unausgesprochene Gedanken, Gefühle des Akteurs auszusprechen. Er steht dabei hinter oder seitlich neben dem Betroffe-nen. Es kommt vor, daß eine ganze Gruppe sich in die eine oder andere Seite des Geschehens so einfühlen kann, daß alle als Doppelgänger eingesetzt sind. Das ist ein Vorteil insofern als der Protagonist offensichtlich stellvertretend ein Problem der ganzen Gruppe bzw. vieler Teilnehmer bearbeitet. Es ist auch eine Gefahr, insofern als Fremdmaterial in die Arbeit des Einzelnen einfließen kann.

Eine sehr wichtige Rolle beim Einsatz des Psychodramas spielt das warm-up. Seine Aufgabe ist (in erster Linie) der Abbau von Angst, der Aufbau von Vertrauen - so daß der Klient es wagen kann, sich in der Gruppe seinen Problemen zu stellen (Straub, S. 3). Es gehört außerdem zur Aufwärmphase, daß Gefühle aufwallen. Es geht nun darum, eine diesen Gefühlen entsprechende Situation aufzusuchen, und damit beginnt das eigentliche Psychodrama. Der Klient wird aufgefordert, die Situation darzustellen. Dieses Aufsuchen der prägnanten Situation verlangt viel Aufmerksamkeit vom Therapeuten. Häufig ist die angegangene Szene nur der Vorläufer des eigentlichen Dramas - insofern als während des „Spiels" dem Protagonisten einfällt, daß er genau diese Situation, die er mit seinen jetzigen Partnern erlebt, schon aus seiner Vater-Mutter-Ge-schwister-Beziehung her kennt. In so einem Fall wird dann die Szene „umgebaut", und die unabgeschlossene Situation der Vergangenheit wird neu durch gelebt.

Indem der Protagonist nun anfängt, den Raum seines Geschehens einzurichten, begibt er sich schon, wenn auch noch tastend in das Erleben hinein. Durch das Handeln und Erleben werden im Psychodrama belastende und deshalb verdrängte Ereignisse wieder aktuell und können ausgelebt werden. Eine andere heilende Möglichkeit dieser Therapieform besteht darin, im Psychodrama das zu tun, wozu der Klient in der Realität noch nicht den Mut

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hat (Straub, S. 8). Eine dritte Möglichkeit ist der Versuch, Alternativ-Lösungen zu finden und auszuprobieren. Ich habe bewegende Sitzungen miterlebt, in denen Gruppenmitglieder, die in einem alten Verhalten festgefahren werden, neue Wege im Psychodrama versuchten und zu beglückenden, Hunger stillenden Lösungen gelangten. Viele Psychodramatiker verzichten auf ein Reflektieren des Erlebten und sehen

in der Katharsis das Wesentliche, das den Protagonisten in seinem Selbst- und Umwelterlebnis verändert (Straub, S. 11). Im von Petzold konzipierten tetradischen Psychodrama schließt sich die Integrationsphase an, in der durch Sharing und Feedback der Gruppe rationale Einsicht gewonnen wird. In einer zweiten Phase werden dann neue Verhaltensweisen eingeübt in verhaltenstherapeutischem Rollenspiel (Petzold, 1973, S. 52). Die Gestalttherapie hat eine Reihe Psychodramatechniken übernommen und ist

dadurch wesentlich bereichert worden (Petzold, 1976, S. 184). Perls lehnte es allerdings ab, Fremdpersonen in die Arbeit des Klienten eintreten zulassen. Bei ihm werden also nicht Gruppenmitglieder zum Doppeln oder zur Rollenübernahme herangezogen, damit ihr Eigenmaterial sich nicht mit dem Material des Protagonisten vermischt. Bei Perls spielt der Klient alle Teile seines Dramas selber (vgl. Petzold, 1973, S. 50). Als Beispiel für ein Gestaltdrama können wir Schneewittchens Stiefmutter (S. 24) ansehen.

Wird das Märchen psychodramatisch aufgearbeitet, mag es durchaus

vorkommen, daß auch hier das handelnde Spiel Vergessenes oder Verdrängtes hochkommen läßt, das dann in einer Szene neu verarbeitet wird. Statt der Märchenszene wird dann eine deutlich ins Bewußtsein getretene Szene aus der Vergangenheit (oder auch aus der Gegenwart) des Klienten in den Raum gebracht. Genausogut aber kann das Durchleben des Märchens selbst - in der Gestalt, die der Klient ihm gibt - das Schließen einer unabgeschlossenen Situation bewirken. Ich erinnere an die oben kurz wiedergegebene Däumelinchenszene, in der Däumelinchen durch seine Psychodramamutter bekommt, was die Protagonistin als Kind verpaßt hat.

Im folgenden Beispiel möchte ich nun den Verlauf einer Arbeit mit Märchen

wiedergeben, in der psychodramatisch vorgegangen wurde. Es geht um das Märchen vom Dornröschen. Silvia, ein sehr schönes, ruhiges

junges Mädchen, das von sich sagt, eigentlich interessiere sie nichts wirklich, überall fühle sie sich etwas fremd - hat sich diese Rolle ausgesucht. Sie richtet ihre Szene ein:

Hier ist das Bett, ein großes breites Bett. Rundum wächst eine Rosenhecke. Sie ist noch klein. Sie

hat Dornen und Rosen. -Einige Gruppenmitglieder - später sind es alle - übernehmen den Part der Rosenhecke. Sie hocken im weiten Kreis um ihr Dornröschen. Das liegt auf seinem Bett und schläft. Es fühlt sich ganz entspannt und ruhig, niemand will etwas von ihm, für nichts ist es zuständig. Es genießt den Zustand des Nichts-tun-müssens, nicht-Zuständig-seins. Silvia spricht als Dornröschen aus, wie es ihr geht, und ich doppele, wo es nötig ist. Die Gruppen-Hecke fängt aber nun - im Laufe der „Jahre" - an zu wachsen. Sie wird dichter und enger und höher. GRUPPE: Wir wachsen, wir werden dicht. Bald kannst du nicht mehr heraussehen. S.: Ja, ich sehe es. Die Hecke wächst wirklich. Das ist ein bißchen unheimlich. TH.: Was mach ich jetzt? Ob ich aufstehe? S.: Ja, ich könnte aufstehen. Ach nein, ich finde, es ist ja auch so schön hier. Ich bleibe hier liegen, ich schlaf noch etwas. - Sie räkelt sich -TH.: Ich bleib noch liegen - so geschützt und so warm.

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Im Verlauf der Szene mit fortschreitendem Wachstum der Hecke erfährt Dornröschen zunehmend angstvoll das Gefühl, abgeschnitten zu werden von der Außenwelt, nicht teilhaben zu können am Leben. Sie flüchtet in denSchlaf, um nicht sehen zu müssen, wie die Hecke wächst, die sie von allem, was draußen ist, trennt. Immer wieder erwacht sie und überprüft ihr Eingeschlossensein, ohne etwas daran ändern zu können, zu wollen. Sie verpaßt - verschläft - den Moment, wo die Gruppe als Hecke sich undurchdringlich um sie schließt. Sie erfährt die Angst, eingeschlossen zu sein, erlebt das Gefühl der Ohnmacht, das zugelassen zu haben; verstummt, resigniert, schreit plötzlich auf, schlägt um sich und kämpft sich unter Einsatz körperlicher Kräfte heftig durch die Hecke hindurch. Die während der Darstellung zum Feind gewordene, jetzt aufgebrochene Gruppenhecke steht anerkennend, den erkämpften Raum re-spektierend vor Dornröschen. Im Bewußtsein der soeben erfahrenen Kraft kann Silvia sich zum Ausgang des Märchenspiels an einer kleinen, niedrigen Hecke, die ihr nur den Rücken schützt, ausruhen. Auf diesen Schutz möchte sie nicht verzichten. Sie weiß sich aber für Wachstum, Größe und Dichte der kleinen Hecke verantwortlich, und die beiden Gruppenmitglieder, die diese kleine Hecke darstellen, verspüren keinen Ansporn mehr zu wuchern.

In der folgenden Integrationsphase hat Silvia selbst den Bezug zu ihrem bisherigen

Lebensgefühl hergestellt. Sie erlebe sich oft, vor allem im Umgang mit ihrer Mutter, aber auch wenn sie ganz allein wäre, so unentschieden, dumpf, interesselos. Jetzt fühle sie sich klar und deutlich, und genauso nähme sie auch die Gruppe wahr. Im Feedback der Gruppe erfuhr sie, wie ihre bislang abwartende, zulassende, keine Stellung beziehende Haltung sie für die Gruppe verschlossen, unzugänglich und unklar gemacht hatte.

In den folgenden Sitzungen erlebten wir Silvia lebhaft und humorvoll, aggressiv und weich und

sehr deutlich in der Zuwendung und Abgrenzung den Männern der Gruppe gegenüber. Sie riskierte ganz kurze Zeit später eine Auseinandersetzung mit dem dominierendsten Gruppenmit- glied und wurde im Laufe der Zeit zum lebendigen Herzstück dieser Gruppe. Ich möchte zum Abschluß dieser Arbeit noch einmal einen Blick hinüberwerfen

auf das, was wir aus der Sicht der Tiefenpsychologie über das Märchen Dornröschen erfahren. Nach Hedwig von Beit (1977, I. S. 695) ist in diesem Märchen ein Beispiel dafür gegeben, wie die negative Mutterbindung bei der Frau zu einem. völligen Erlöschen ihres Wesens führt. Nach Bettelheim (1977, S. 223) ist Dornröschen ein Pubertätsmärchen. Vor der mit dem Erwachsenwerden verbundenen Gefahr zieht sich der junge Mensch von der Welt und dem Leben zurück. Das aber führt zu einer gefährlichen todesähnlichen Existenz. „Die Welt wird nur für den lebendig, der für sie erwacht." Silvia hat auf ihre Weise erlebt, daß sie erlischt, daß sie sich vom Leben abschneidet, indem sie für sich keine Verantwortung übernimmt. Sie hat mit ihrem Körper, mit ihren Sinnen und Gefühlen und mit ihrem Verstand erlitten, was sie sich antut, wenn sie sich in ihrer Hecke einschließt, und sie hat sich den Zugang zum Leben wiedererkämpft. Sie hat allerdings nicht nach den Ursachen gefragt (wie Beit und Bettelheim). Das entspricht dem gestalttherapeutischen Ansatz, der nicht fragt: Warum ist das so? sondern: Wie erlebe ich mich. Mich berührt bei diesem Vergleich, daß sowohl die tiefenpsychologische

Forschung, die das Märchen deutet, indem sie motivähnliche Märchen der Völker zu Hilfe nimmt (Lüthi, 1969, S. 391), als auch Silvia, die sich mit ihrem Erleben in das Märchen hineinbegibt, ähnliche Mitteilungen durch das Märchen erhalten.

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Schluß Das Märchen spricht zu uns, und mich erfüllt dieser Gedanke mit großer

Dankbarkeit. Es kommt mir vor wie ein Geschenk vergangener Zeiten - wie ein vergessenes Heilkraut, das beharrlich und still vor sich hin blüht, bis wir es finden und seine Heilkraft nutzen.

Ein Märchen - Eine Gestalt tritt auf mich zu - und spricht: Ich kenne dich - ich bin wie du - schau mich an - Ich weiß etwas über dich - willst du es wissen - schau mich an - Ich bin uralt - und so alt wie du - komm herüber zu mir -Ich rede mit dir - sprich du mit mir - komm herüber zu mir - Sie winkt - und ich folge ihr dem Ritter Reginald - der Jorinde -oder dem 'Rumpelstilzchen.

Anmerkungen 1) Vgl. dazu Die ckmann , 1966a, S. 53: „In den verschiedenen Figuren des Märchens

verkörpern sich die im Kind innewohnenden Probleme." 2) V gl.Dieckmann (1967a, S. 300), der fast immer überraschende Analogien zwi-

schen der Problematik des Patienten und seinen Lieblingsmärchen enteckt. 3) Vgl.die vier Ebenen der Erlebnisrealität bei Petzold, 1977, S. 155. 4) Als Zuschauer sieht Josephine Bilz(1958, S. 82) den Hörer des Märchens. 5) Clauser (1959, S. 108) spielt ja auch mit seinen Patienten, allerdings nach

vorgegebenen, von anderen zugewiesenen Rollen. Ihn beschäftigt die Frage, ob die Spieler ihre Wirklichkeit oder ihren Wunschtraum dargestellt haben.

Zusammenfassung: Gestalttherapeutische und integrative Arbeit mit Märchen Die Arbeit von Regine Lückel von 1979 wird immer wieder nachgefragt. Sie wird deshalb neu eingestellt. Der Text befasst sich mit der therapeutischen Arbeit mit Märchen als Methoden integrativer Therapie und Gestalttherapie. Märchentexte, die individuell von Patienten und Klienten ausgesucht und gestaltet werden, werden in ihrem Bedeutungsgehalt für die persönliche Biographie mit Hilfe von Gestalttherapie und Psychodrama aufgeschlüsselt. Die Figuren der Märchen werden zum Ausdruck individueller Probleme, aber auch zum Hinweis auf Lösungsmöglichkeiten, auf neue Wege der Selbstentdeckung und Selbstverwirklichung. In lebendiger Darstellung und unter Verwendung zahlreicher Prozessbeispiele gibt die Autorin eine überzeugende Darstellung von den therapeutischen Möglichkeiten kreativer Therapie. Schlüsselwörter: Märchentherapie, Gestalttherapie, Integrative Therapie, Kreative Medien, Projektive Methoden

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Summary: The Use of Fairy Tales in Gestalt Therapy and Integrative Therapy This text of Regine Lückel has often been asked for. Therefore it is placed here anew. The text is dealing with the therapeutic use of fairy tales as methods of Integrative Therapy and Gestalt Therapy. The text of the tales is selected and formed by each patient or client. Its significance for the personal biography is explored in respect to its meaning by Gestalt Therapy and Psychodrama. The characters of the tale are becoming an expression of personal problems, but they are also a hint to solutions, to new pathway of self-exploration and self-realization. By a vivid presentation and by using of many examples from processes with patients the author offers a convincing presentation of the therapeutic potential of creative therapy. Keywords: Fairy Tales, Gestalt Therapy, Integrative Therapy, Creative Media, Projective Methods

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Anschrift der Autorin: Regine Lückel, Johannistal 42a, 4800 Bielefeld.

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