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Leseprobe Dr. Yuval Noah Harari Eine kurze Geschichte der Menschheit »Ich habe gerade Yuval Noah Hararis geniale ›Geschichte der Menschheit‹ gelesen. Das wohl beste Buch zum Thema, das je geschrieben wurde – und ich habe jede Menge dazu gelesen.« Henning Mankell Bestellen Sie mit einem Klick für 14,99 € Seiten: 528 Erscheinungstermin: 20. Februar 2015 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Page 1: Eine kurze Geschichte der Menschheit

Leseprobe

Dr Yuval Noah Harari

Eine kurze Geschichte der Menschheit

raquoIch habe gerade Yuval Noah Hararis

geniale rsaquoGeschichte der Menschheitlsaquo gelesen Das wohl beste Buch zum Thema

das je geschrieben wurde ndash und ich habe jede Menge dazu gelesenlaquo Henning Mankell

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1499 euro

Seiten 528

Erscheinungstermin 20 Februar 2015

Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

wwwpenguinrandomhousede

Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Der Mensch Krone der Schoumlpfung oder Schrecken des

Oumlkosystems

Wie haben wir Homo Sapiens es geschafft den Kampf der sechs

menschlichen Spezies ums Uumlberleben fuumlr uns zu entscheiden Warum

lieszligen unsere Vorfahren die einst Jaumlger und Sammler waren sich nieder

betrieben Ackerbau und gruumlndeten Staumldte und Koumlnigreiche Warum

begannen wir an Goumltter zu glauben an Nationen an Menschenrechte

Warum setzen wir Vertrauen in Geld Buumlcher und Gesetze und

unterwerfen uns der Buumlrokratie Zeitplaumlnen und dem Konsum Und hat

uns all dies im Lauf der Jahrtausende gluumlcklicher gemacht

Vor 100 000 Jahren war Homo sapiens noch ein unbedeutendes Tier das

unauffaumlllig in einem abgelegenen Winkel des afrikanischen Kontinents

lebte Unsere Vorfahren teilten sich den Planeten mit mindestens fuumlnf

weiteren menschlichen Spezies und die Rolle die sie im Oumlkosystem

spielten war nicht groumlszliger als die von Gorillas Libellen oder Quallen Vor

70 000 Jahren dann vollzog sich ein mysterioumlser und rascher Wandel mit

dem Homo sapiens und es war vor allem die Beschaffenheit seines

Gehirns die ihn zum Herren des Planeten und zum Schrecken des

Oumlkosystems werden lieszlig Bis heute hat sich diese Vorherrschaft stetig

zugespitzt Der Mensch hat die Faumlhigkeit zu schoumlpferischem und zu

zerstoumlrerischem Handeln wie kein anderes Lebewesen Und die Menschheit

steht jetzt an einem Punkt an dem sie entscheiden muss welchen Weg

sie von hier aus gehen will

Yuval Noah Harari

Eine kurze Geschichteder Menschheit

Aus dem Englischen

von Juumlrgen Neubauer

Pantheon

Die hebraumlische Originalausgabe ist 2011 unter dem Titel

raquoA Brief History of Mankind ndash Kizur Toldot Ha-Enoshutlaquo

bei Kinneret Zmora-Bitan Dvir in Or Yehuda erschienen

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten

so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir

uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren

Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Copyright copy der deutschsprachigen Ausgabe

2013 by Deutsche Verlags-Anstalt Muumlnchen

Copyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag

Neumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Jorge Schmidt Muumlnchen

Karten und Grafiken Peter Palm Berlin

Typografie und Satz Brigitte Muumlller

Printed in Germany

ISBN 978-3-570-55269-8

wwwpantheon-verlagde

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

38 Aulage

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Druck und Bindung GGP Media GmbH Poumlszligneck

Im Andenken an meinen VaterShlomo Harari

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Inhalt

Teil 1 Die kognitive Revolution

1 Ein ziemlich unaufaumllliges Tier 112 Der Baum der Erkenntnis 323 Ein Tag im Leben von Adam und Eva 574 Die Sintlut 85

Teil 2 Die landwirtschaftliche Revolution

5 Der groumlszligte Betrug der Geschichte 1016 Pyramiden bauen 1267 Speicher voll 1528 Die Geschichte ist nicht gerecht 168

Teil 3 Die Vereinigung der Menschheit

9 Der Pfeil der Geschichte 20110 Der Geruch des Geldes 21311 Der Traum vom Weltreich 23112 Das Gesetz der Religion 25313 Das Erfolgsgeheimnis 289

Teil 4 Die wissenschaftliche Revolution

14 Die Entdeckung der Unwissenheit 30115 Wissenschat und Weltreich 33616 Die Religion des Kapitalismus 37417 Das Raumlderwerk der Industrie 40818 Eine permanente Revolution 427

19 Und sie lebten gluumlcklich bis ans Endeihrer Tage 458

20 Das Ende des Homo sapiens 484

Nachwort 507

Karten 509Abbildungen 510Anmerkungen 512

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

Die kognitive Revolution

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 2: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Mehr zum Autor

Zum Buch Der Mensch Krone der Schoumlpfung oder Schrecken des

Oumlkosystems

Wie haben wir Homo Sapiens es geschafft den Kampf der sechs

menschlichen Spezies ums Uumlberleben fuumlr uns zu entscheiden Warum

lieszligen unsere Vorfahren die einst Jaumlger und Sammler waren sich nieder

betrieben Ackerbau und gruumlndeten Staumldte und Koumlnigreiche Warum

begannen wir an Goumltter zu glauben an Nationen an Menschenrechte

Warum setzen wir Vertrauen in Geld Buumlcher und Gesetze und

unterwerfen uns der Buumlrokratie Zeitplaumlnen und dem Konsum Und hat

uns all dies im Lauf der Jahrtausende gluumlcklicher gemacht

Vor 100 000 Jahren war Homo sapiens noch ein unbedeutendes Tier das

unauffaumlllig in einem abgelegenen Winkel des afrikanischen Kontinents

lebte Unsere Vorfahren teilten sich den Planeten mit mindestens fuumlnf

weiteren menschlichen Spezies und die Rolle die sie im Oumlkosystem

spielten war nicht groumlszliger als die von Gorillas Libellen oder Quallen Vor

70 000 Jahren dann vollzog sich ein mysterioumlser und rascher Wandel mit

dem Homo sapiens und es war vor allem die Beschaffenheit seines

Gehirns die ihn zum Herren des Planeten und zum Schrecken des

Oumlkosystems werden lieszlig Bis heute hat sich diese Vorherrschaft stetig

zugespitzt Der Mensch hat die Faumlhigkeit zu schoumlpferischem und zu

zerstoumlrerischem Handeln wie kein anderes Lebewesen Und die Menschheit

steht jetzt an einem Punkt an dem sie entscheiden muss welchen Weg

sie von hier aus gehen will

Yuval Noah Harari

Eine kurze Geschichteder Menschheit

Aus dem Englischen

von Juumlrgen Neubauer

Pantheon

Die hebraumlische Originalausgabe ist 2011 unter dem Titel

raquoA Brief History of Mankind ndash Kizur Toldot Ha-Enoshutlaquo

bei Kinneret Zmora-Bitan Dvir in Or Yehuda erschienen

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten

so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir

uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren

Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Copyright copy der deutschsprachigen Ausgabe

2013 by Deutsche Verlags-Anstalt Muumlnchen

Copyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag

Neumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Jorge Schmidt Muumlnchen

Karten und Grafiken Peter Palm Berlin

Typografie und Satz Brigitte Muumlller

Printed in Germany

ISBN 978-3-570-55269-8

wwwpantheon-verlagde

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

38 Aulage

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Druck und Bindung GGP Media GmbH Poumlszligneck

Im Andenken an meinen VaterShlomo Harari

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Inhalt

Teil 1 Die kognitive Revolution

1 Ein ziemlich unaufaumllliges Tier 112 Der Baum der Erkenntnis 323 Ein Tag im Leben von Adam und Eva 574 Die Sintlut 85

Teil 2 Die landwirtschaftliche Revolution

5 Der groumlszligte Betrug der Geschichte 1016 Pyramiden bauen 1267 Speicher voll 1528 Die Geschichte ist nicht gerecht 168

Teil 3 Die Vereinigung der Menschheit

9 Der Pfeil der Geschichte 20110 Der Geruch des Geldes 21311 Der Traum vom Weltreich 23112 Das Gesetz der Religion 25313 Das Erfolgsgeheimnis 289

Teil 4 Die wissenschaftliche Revolution

14 Die Entdeckung der Unwissenheit 30115 Wissenschat und Weltreich 33616 Die Religion des Kapitalismus 37417 Das Raumlderwerk der Industrie 40818 Eine permanente Revolution 427

19 Und sie lebten gluumlcklich bis ans Endeihrer Tage 458

20 Das Ende des Homo sapiens 484

Nachwort 507

Karten 509Abbildungen 510Anmerkungen 512

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

Die kognitive Revolution

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

13

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

Die kognitive Revolution

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 3: Eine kurze Geschichte der Menschheit

Yuval Noah Harari

Eine kurze Geschichteder Menschheit

Aus dem Englischen

von Juumlrgen Neubauer

Pantheon

Die hebraumlische Originalausgabe ist 2011 unter dem Titel

raquoA Brief History of Mankind ndash Kizur Toldot Ha-Enoshutlaquo

bei Kinneret Zmora-Bitan Dvir in Or Yehuda erschienen

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten

so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir

uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren

Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Copyright copy der deutschsprachigen Ausgabe

2013 by Deutsche Verlags-Anstalt Muumlnchen

Copyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag

Neumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Jorge Schmidt Muumlnchen

Karten und Grafiken Peter Palm Berlin

Typografie und Satz Brigitte Muumlller

Printed in Germany

ISBN 978-3-570-55269-8

wwwpantheon-verlagde

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

38 Aulage

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Druck und Bindung GGP Media GmbH Poumlszligneck

Im Andenken an meinen VaterShlomo Harari

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Inhalt

Teil 1 Die kognitive Revolution

1 Ein ziemlich unaufaumllliges Tier 112 Der Baum der Erkenntnis 323 Ein Tag im Leben von Adam und Eva 574 Die Sintlut 85

Teil 2 Die landwirtschaftliche Revolution

5 Der groumlszligte Betrug der Geschichte 1016 Pyramiden bauen 1267 Speicher voll 1528 Die Geschichte ist nicht gerecht 168

Teil 3 Die Vereinigung der Menschheit

9 Der Pfeil der Geschichte 20110 Der Geruch des Geldes 21311 Der Traum vom Weltreich 23112 Das Gesetz der Religion 25313 Das Erfolgsgeheimnis 289

Teil 4 Die wissenschaftliche Revolution

14 Die Entdeckung der Unwissenheit 30115 Wissenschat und Weltreich 33616 Die Religion des Kapitalismus 37417 Das Raumlderwerk der Industrie 40818 Eine permanente Revolution 427

19 Und sie lebten gluumlcklich bis ans Endeihrer Tage 458

20 Das Ende des Homo sapiens 484

Nachwort 507

Karten 509Abbildungen 510Anmerkungen 512

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

Die kognitive Revolution

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

Die kognitive Revolution

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

Die kognitive Revolution

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 4: Eine kurze Geschichte der Menschheit

Die hebraumlische Originalausgabe ist 2011 unter dem Titel

raquoA Brief History of Mankind ndash Kizur Toldot Ha-Enoshutlaquo

bei Kinneret Zmora-Bitan Dvir in Or Yehuda erschienen

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten

so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir

uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren

Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Copyright copy der deutschsprachigen Ausgabe

2013 by Deutsche Verlags-Anstalt Muumlnchen

Copyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag

Neumarkter Straszlige 28 81673 Muumlnchen

Umschlaggestaltung Jorge Schmidt Muumlnchen

Karten und Grafiken Peter Palm Berlin

Typografie und Satz Brigitte Muumlller

Printed in Germany

ISBN 978-3-570-55269-8

wwwpantheon-verlagde

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

38 Aulage

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Druck und Bindung GGP Media GmbH Poumlszligneck

Im Andenken an meinen VaterShlomo Harari

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Inhalt

Teil 1 Die kognitive Revolution

1 Ein ziemlich unaufaumllliges Tier 112 Der Baum der Erkenntnis 323 Ein Tag im Leben von Adam und Eva 574 Die Sintlut 85

Teil 2 Die landwirtschaftliche Revolution

5 Der groumlszligte Betrug der Geschichte 1016 Pyramiden bauen 1267 Speicher voll 1528 Die Geschichte ist nicht gerecht 168

Teil 3 Die Vereinigung der Menschheit

9 Der Pfeil der Geschichte 20110 Der Geruch des Geldes 21311 Der Traum vom Weltreich 23112 Das Gesetz der Religion 25313 Das Erfolgsgeheimnis 289

Teil 4 Die wissenschaftliche Revolution

14 Die Entdeckung der Unwissenheit 30115 Wissenschat und Weltreich 33616 Die Religion des Kapitalismus 37417 Das Raumlderwerk der Industrie 40818 Eine permanente Revolution 427

19 Und sie lebten gluumlcklich bis ans Endeihrer Tage 458

20 Das Ende des Homo sapiens 484

Nachwort 507

Karten 509Abbildungen 510Anmerkungen 512

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

Die kognitive Revolution

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 5: Eine kurze Geschichte der Menschheit

Im Andenken an meinen VaterShlomo Harari

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Inhalt

Teil 1 Die kognitive Revolution

1 Ein ziemlich unaufaumllliges Tier 112 Der Baum der Erkenntnis 323 Ein Tag im Leben von Adam und Eva 574 Die Sintlut 85

Teil 2 Die landwirtschaftliche Revolution

5 Der groumlszligte Betrug der Geschichte 1016 Pyramiden bauen 1267 Speicher voll 1528 Die Geschichte ist nicht gerecht 168

Teil 3 Die Vereinigung der Menschheit

9 Der Pfeil der Geschichte 20110 Der Geruch des Geldes 21311 Der Traum vom Weltreich 23112 Das Gesetz der Religion 25313 Das Erfolgsgeheimnis 289

Teil 4 Die wissenschaftliche Revolution

14 Die Entdeckung der Unwissenheit 30115 Wissenschat und Weltreich 33616 Die Religion des Kapitalismus 37417 Das Raumlderwerk der Industrie 40818 Eine permanente Revolution 427

19 Und sie lebten gluumlcklich bis ans Endeihrer Tage 458

20 Das Ende des Homo sapiens 484

Nachwort 507

Karten 509Abbildungen 510Anmerkungen 512

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 6: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Inhalt

Teil 1 Die kognitive Revolution

1 Ein ziemlich unaufaumllliges Tier 112 Der Baum der Erkenntnis 323 Ein Tag im Leben von Adam und Eva 574 Die Sintlut 85

Teil 2 Die landwirtschaftliche Revolution

5 Der groumlszligte Betrug der Geschichte 1016 Pyramiden bauen 1267 Speicher voll 1528 Die Geschichte ist nicht gerecht 168

Teil 3 Die Vereinigung der Menschheit

9 Der Pfeil der Geschichte 20110 Der Geruch des Geldes 21311 Der Traum vom Weltreich 23112 Das Gesetz der Religion 25313 Das Erfolgsgeheimnis 289

Teil 4 Die wissenschaftliche Revolution

14 Die Entdeckung der Unwissenheit 30115 Wissenschat und Weltreich 33616 Die Religion des Kapitalismus 37417 Das Raumlderwerk der Industrie 40818 Eine permanente Revolution 427

19 Und sie lebten gluumlcklich bis ans Endeihrer Tage 458

20 Das Ende des Homo sapiens 484

Nachwort 507

Karten 509Abbildungen 510Anmerkungen 512

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 7: Eine kurze Geschichte der Menschheit

19 Und sie lebten gluumlcklich bis ans Endeihrer Tage 458

20 Das Ende des Homo sapiens 484

Nachwort 507

Karten 509Abbildungen 510Anmerkungen 512

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 8: Eine kurze Geschichte der Menschheit

TEIL 1

DIE KOGNITIVE

RE VOLUTION

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 9: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Kapitel 1

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Vor rund 14 Milliarden Jahren entstanden Materie Energie Raumund Zeit in einem Ereignis namens Urknall Die Geschichte die-ser grundlegenden Eigenschaten unseres Universums nennen wirPhysik

Etwa 300 000 Jahre spaumlter verbanden sich Materie und Energiezu komplexeren Strukturen namens Atome die sich wiederum zuMolekuumllen zusammenschlossen Die Geschichte der Atome Mole-kuumlle und ihrer Reaktionen nennen wir Chemie

Vor 4 Milliarden Jahren begannen auf einem Planeten namensErde bestimmte Molekuumlle sich zu besonders groszligen und komplexenStrukturen zu verbinden die wir als Organismen bezeichnen DieGeschichte dieser Organismen nennen wir Biologie

Und vor gut 70 000 Jahren begannen Organismen der Art Homosapiens mit dem Aubau von noch komplexeren Strukturen namensKulturen Die Entwicklung dieser Kulturen nennen wir Geschichte

Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei gro-szligen Revolutionen gepraumlgt Die kognitive Revolution vor etwa 70 000Jahren brachte die Geschichte uumlberhaupt erst in Gang Die land-wirtschatliche Revolution vor rund 12 000 Jahren beschleunigtesie Und die wissenschatliche Revolution die vor knapp 500 Jah-ren ihren Anfang nahm koumlnnte das Ende der Geschichte und derBeginn von etwas voumlllig Neuem sein Dieses Buch erzaumlhlt welcheKonsequenzen diese drei Revolutionen fuumlr den Menschen und seineMitlebewesen hatten und haben

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 10: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Menschen gab es schon lange vor dem Beginn der Geschichte Die ers-ten menschenaumlhnlichen Tiere betraten vor etwa 25 Millionen Jahrendie Buumlhne Aber uumlber zahllose Generationen hinweg stachen sie nichtaus der Vielzahl der Tiere heraus mit denen sie ihren Lebensraumteilten Wenn wir 2 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen undeinen Spaziergang durch Ostafrika unternehmen koumlnnten wuumlrdenwir dort vermutlich Gruppen von Menschen begegnen die aumluszligerlichgewisse Aumlhnlichkeit mit uns haben Besorgte Muumltter tragen ihre Babysauf dem Arm Kinder spielen im Matsch Von irgendwoher dringtdas Geraumlusch von Steinen die aufeinandergeschlagen werden undwir sehen einen ernst dreinblickenden jungen Mann der sich in derKunst der Werkzeugherstellung uumlbt Die Technik hat er sich bei zweiMaumlnnern abgeschaut die sich gerade um einen besonders fein gear-beiteten Feuerstein streiten knurrend und mit geletschten Zaumlhnentragen sie eine weitere Runde im Kampf um die Vormachtstellung inder Gruppe aus Waumlhrenddessen zieht sich ein aumllterer Herr mit weiszligenHaaren aus dem Trubel zuruumlck und streit allein durch ein nahe gelege-nes Waldstuumlck wo er von einer Horde Schimpansen uumlberrascht wird

Diese Menschen liebten stritten zogen ihren Nachwuchs auf underfanden Werkzeuge ndash genau wie die Schimpansen Niemand schongar nicht die Menschen selbst konnte ahnen dass ihre Nachfahreneines Tages uumlber den Mond spazieren Atome spalten das Genomentschluumlsseln oder Geschichtsbuumlcher schreiben wuumlrden Die prauml-historischen Menschen waren unaufaumlllige Tiere die genauso vieloder so wenig Einluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas Libellenoder Quallen

Biologen teilen Lebewesen in verschiedene Arten ein Tiere gehouml-ren derselben Art an wenn sie sich miteinander paaren und fort-planzungsfaumlhige Nachkommen zeugen Pferde und Esel haben einengemeinsamen Vorfahren und viele gemeinsame Eigenschaten dochwas die Fortplanzung angeht haben sie kein Interesse aneinanderMan kann sie zwar dazu bringen sich zu paaren doch die Maul-tiere die aus dieser Verbindung hervorgehen sind unfruchtbar Das

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 11: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

ist ein Zeichen dafuumlr dass sie unterschiedlichen Arten angehoumlrenAnders Bulldoggen und Cockerspaniel Sie unterscheiden sich zwaraumluszligerlich ganz erheblich doch sie paaren sich sehr bereitwillig undihr Nachwuchs kann mit anderen Hunden neue Welpen zeugenBulldoggen und Cockerspaniel sind also Angehoumlrige derselben Artnaumlmlich der Hunde

Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren werden ot zu Gattun-gen zusammengefasst Loumlwen Tiger Leoparden und Jaguare sindbeispielsweise unterschiedliche Arten der Gattung Panthera Biolo-gen geben Lebewesen zweiteilige lateinische Namen der erste Teilbezeichnet die Gattung der zweite die Art Der Loumlwe heiszligt zumBeispiel Panthera leo die Art Leo aus der Gattung der Panthera AlsLeser dieses Buchs gehoumlren Sie vermutlich den Homo sapiens an ndashder Art Sapiens (weise) aus der Gattung Homo (Mensch)

Gattungen werden wiederum zu Familien zusammengefasstzum Beispiel den Katzen (Loumlwen Geparden Hauskatzen) Hun-den (Woumllfe Fuumlchse Schakale) oder Elefanten (Elefanten MammutsMastodonten) Alle Angehoumlrigen einer Familie lassen sich auf einengemeinsamen Urahn zuruumlckfuumlhren Alle Katzen vom zahmstenHauskaumltzchen zum wildesten Loumlwen gehen auf einen gemeinsamenKatzenvorfahren zuruumlck der vor rund 25 Millionen Jahren lebte

Natuumlrlich gehoumlrt auch der Homo sapiens einer Familie an Diesescheinbar so banale Tatsache war eines der bestgehuumlteten Geheim-nisse der Geschichte Der Homo sapiens tat naumlmlich lange so alshabe er nichts mit dem Rest der Tierwelt zu tun und sei ein Waisen-kind ohne Geschwister und Vettern und vor allem ohne Eltern Dasist natuumlrlich nicht der Fall Ob es uns gefaumlllt oder nicht wir gehoumlrender groszligen und krawalligen Familie der Menschenafen an Unserenaumlchsten lebenden Verwandten sind Gorillas und Orang-Utans Amallernaumlchsten stehen uns jedoch die Schimpansen Vor gerade ein-mal sechs Millionen Jahren brachte eine Aumlin zwei Toumlchter zur WeltEine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen die andereist unsere eigene Ur-Ur-Ur-Groszligmutter

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

Die kognitive Revolution

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

Die kognitive Revolution

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

Die kognitive Revolution

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 12: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Leichen im Keller

Der Homo sapiens hat aber ein noch viel dunkleres Geheimnis gehuuml-tet Wir haben naumlmlich nicht nur eine Horde von unzivilisiertenVettern Es gab eine Zeit in der wir auch eine Menge Bruumlder undSchwestern hatten Wir nehmen zwar den Namen raquoMenschlaquo fuumlruns allein in Anspruch doch fruumlher gab es auch eine ganze Reiheanderer Menschenarten Menschen waren sie deshalb weil sie derGattung Homo angehoumlrten die vor rund 25 Millionen Jahren auseiner aumllteren Afengattung namens Australopithecus dem raquosuumldlichenAfenlaquo hervorging Vor rund 2 Millionen Jahren verlieszligen dieseUrmenschen ihre urspruumlngliche Heimat in Ostafrika und machtensich auf den langen Marsch nach Nordafrika Europa und AsienUnd da das Uumlberleben in den verschneiten Waumlldern Nordeuropasandere Faumlhigkeiten erfordert als im schwuumllen Dschungel Indonesi-ens entwickelten sich die Auswanderergruppen in unterschiedlicheRichtungen Das Ergebnis waren verschiedene Arten die von Wis-senschatlern mit jeweils eigenen hochtrabend klingenden lateini-schen Namen getaut wurden

In Europa und Westasien entwickelte sich der Mensch zum Homoneanderthalensis dem raquoMensch aus dem Neandertallaquo oder kurzNeandertaler Dieser Neandertaler war kraumltiger gebaut und mus-kuloumlser als der moderne Mensch und bestens auf das Eiszeitklima inEurasien eingestellt Auf der indonesischen Insel Java lebte dagegender Homo soloensis der raquoSolo-Menschlaquo der besser an das Lebenin den Tropen angepasst war Ebenfalls im indonesischen Archipelauf der kleinen Insel Flores lebten Menschen die in der Presse gernsalopp als raquoHobbitslaquo bezeichnet werden die in der Wissenschatjedoch als Homo loresiensis bekannt sind Diese speerschwingendenZwerge wurden nur einen Meter groszlig und wogen gerade einmal25 Kilogramm Feige waren sie trotzdem nicht Sie machten sogarJagd auf die Elefanten der Insel (wobei man dazusagen sollte dasses sich um Zwergelefanten handelte) Die Weiten Asiens wurden

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 13: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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die wir in der fuumlr uns typischen Bescheidenheit Homo sapiens denraquoweisen Menschenlaquo getaut haben

Einige dieser Menschenarten waren Riesen andere Zwerge Einigewaren gefuumlrchtete Jaumlger andere friedliebende Vegetarier Einige leb-ten auf einer einzigen Insel andere durchstreiten ganze KontinenteAber sie alle gehoumlrten der Gattung Homo an Sie waren Menschen

Lange glaubte man dass diese Arten in einem langen Stamm-baum aufeinanderfolgten Aus dem ergaster ging der erectus her-vor aus dem erectus der Neandertaler und aus dem Neandertalerschlieszliglich wir Diese Vorstellung ist jedoch falsch und erweckt denirrigen Eindruck dass immer nur eine Menschenart den Planetenbevoumllkerte und dass alle anderen Arten nichts anderes waren alsVorlaumlufermodelle des modernen Menschen In Wirklichkeit lebtenzwei Millionen Jahre lang bis vor rund 10000 Jahren gleichzeitigmehrere Menschenarten auf unserem Planeten Warum auch nichtHeute existieren ja auch viele Arten von Baumlren nebeneinanderBraunbaumlren Schwarzbaumlren Grizzlybaumlren Eisbaumlren Vor geraumerZeit gab es mindestens sechs verschiedene Menschenarten DieseVielfalt ist viel weniger erstaunlich als die Tatsache dass wir heuteallein sind Im Gegenteil wenn wir heute die einzige verbliebeneMenschenart sind dann wirt das einige Fragen auf Wie wir gleichnoch sehen werden koumlnnte der Homo sapiens gute Gruumlnde gehabthaben die Erinnerung an seine Geschwister zu verdraumlngen

Der Preis des Gehirns

Bei allen Unterschieden haben die verschiedenen Menschenarteneinige entscheidende Gemeinsamkeiten die sie uumlberhaupt erst zuMenschen machen Vor allem verfuumlgen sie im Vergleich zu anderenTieren uumlber ungewoumlhnlich groszlige Gehirne Saumlugetiere mit einem Koumlr-pergewicht von 60 Kilogramm haben im Durchschnitt ein Gehirnmit einem Volumen von 200 Kubikzentimetern Das Gehirn eines

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

Die kognitive Revolution

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

Die kognitive Revolution

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 14: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Homo sapiens dieses Gewichts misst dagegen stolze 1200 bis 1400Kubikzentimeter Die ersten Menschen die vor 25 Millionen Jahrenlebten hatten zwar noch ein kleineres Gehirn doch im Vergleichzu dem eines Leoparden der etwa genauso viel wog war es sehrgroszlig Im Laufe der Entwicklung sollte dieser Unterschied immergroumlszliger werden

Ruumlckblickend scheint es uns vollkommen logisch dass die Evo-lution immer groumlszligere Gehirne hervorbrachte Weil wir derart inunsere Intelligenz verliebt sind gehen wir davon aus dass mehrHirnpower automatisch besser ist Aber wenn dem so waumlre dannhaumltte die Evolution doch sicher auch Katzen hervorgebracht dieDiferenzialgleichungen loumlsen koumlnnen Warum hat also im gesam-ten Tierreich nur die Gattung Homo einen derart leistungsfaumlhigenDenkapparat entwickelt

Tatsache ist dass ein solch gewaltiges Gehirn auch gewaltige Kratkostet Schon rein koumlrperlich ist es eine Last zumal es in einemschweren Schaumldel herumgeschleppt werden muss Vor allem aberfrisst es Unmengen an Energie Beim Homo sapiens macht dasGehirn zwar nur 2 bis 3 Prozent des gesamten Koumlrpergewichts ausdoch im Ruhezustand verbraucht es sage und schreibe 25 Prozentder Koumlrperenergie Zum Vergleich Bei anderen Afen sind es nurrund 8 Prozent Unsere Vorfahren zahlten einen hohen Preis fuumlr ihrgroszliges Gehirn Erstens mussten sie mehr Zeit mit der Nahrungssu-che zubringen und zweitens bildeten sich ihre Muskeln zuruumlck Wieein Staat der den Militaumlrhaushalt kuumlrzt und in die Bildung investiertlenkte der Mensch seine Energie von Muskelmasse in Hirnschmalzum Dabei war keineswegs klar dass dies in der Savanne eine klugeUumlberlebensstrategie war Ein Homo sapiens kann einen Schimpan-sen zwar an die Wand diskutieren doch der Afe kann den Men-schen auseinandernehmen wie ein Stofpuumlppchen

Es scheint sich allerdings gelohnt zu haben denn sonst haumlttendie Menschen mit ihren uumlberdimensionierten Gehirnen schlieszliglichnicht uumlberlebt Nur wie macht der Zuwachs an Hirn den Verlust

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

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Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 15: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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an Muckis wett Im Zeitalter von Albert Einstein mag diese Fragealbern klingen aber wir sollten nicht vergessen dass Einstein nochein recht junges Phaumlnomen ist Zwei Millionen Jahre lang wuchsdas menschliche Gehirn zwar munter weiter aber abgesehen voneinigen Steinmessern und angespitzten Stoumlcken brachte es den Men-schen recht wenig Aus evolutionaumlrer Sicht ist die Entwicklung desmenschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Ent-wicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirsch-geweihen Wozu der ganze Aufwand

Eine andere menschliche Eigenheit ist der aufrechte Gang Aufzwei Beinen stehend konnten unsere Vorfahren in der Savanne bes-ser nach Futter oder Feinden Ausschau halten Und die Arme dienun nicht mehr zur Fortbewegung gebraucht wurden lieszligen sich zuanderen Zwecken nutzen etwa um Steine zu werfen oder Zeichenzu geben

Nachdem die Haumlnde durch den zweibeinigen Gang frei gewor-den waren lieszligen sie sich zu allen moumlglichen Taumltigkeiten ver-wenden Je mehr sie bewerkstelligen konnten umso erfolgreicherwurden ihre Besitzer weshalb die Evolution eine zunehmendeKonzentration von Nerven und fein aufeinander abgestimmtenMuskeln in Haumlnden und Fingern foumlrderte So kommt es dass wirmit unseren Haumlnden iligranste Taumltigkeiten ausfuumlhren koumlnnen Vorallem koumlnnen wir komplizierte Werkzeuge herstellen und benut-zen Die aumlltesten Hinweise auf den Gebrauch von Werkzeugenreichen 25 Millionen Jahre zuruumlck und wenn Archaumlologen einenneuen Fund machen sind Spuren ihrer Herstellung und Verwen-dung ein entscheidender Hinweis dass es sich tatsaumlchlich umfruumlhe Menschen handelt

Aber auch der aufrechte Gang hatte seine zwei Seiten Unsereaumlischen Vorfahren hatten uumlber Jahrmillionen hinweg ein Skelettentwickelt das fuumlr den Gang auf vier Beinen ausgelegt war und nureinen relativ leichten Kopf zu tragen hatte Die Umstellung zum auf-rechten Gang stellte eine beachtliche Herausforderung dar zumal

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

Die kognitive Revolution

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

das Gestell einen immer schwereren Schaumldel tragen musste DerPreis fuumlr die bessere Sicht und leiszligige Haumlnde waren Ruumlckenschmer-zen und steife Haumllse

Die Menschenweibchen kam die Umstellung noch teurer zu ste-hen Der aufrechte Gang verlangte schmalere Huumlten und damiteinen engeren Geburtskanal ndash und das obwohl gleichzeitig die Koumlpfeder Saumluglinge immer groumlszliger wurden Daher liefen sie zunehmendGefahr die Geburt ihres Nachwuchses nicht zu uumlberleben DieWeibchen die ihre Jungen zu einem fruumlheren Zeitpunkt zur Weltbrachten als der Kopf noch verhaumlltnismaumlszligig klein und formbar waruumlberlebten eher und bekamen mehr Nachwuchs Auf diese Weisesorgte ein Prozess der natuumlrlichen Auslese dafuumlr dass die Kinderimmer fruumlher geboren wurden Im Vergleich zu anderen Tieren sindmenschliche Saumluglinge Fruumlhgeburten Sie kommen halbfertig zurWelt wenn uumlberlebenswichtige Systeme noch unterentwickelt sindEin Fohlen steht kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen und einKatzenjunges faumlngt im Alter von wenigen Wochen an seine Umweltzu erkunden Menschenjunge sind dagegen bei Geburt voumlllig hillosund muumlssen von ihren Eltern uumlber Jahre hinweg ernaumlhrt beschuumltztund aufgezogen werden

Dieser Tatsache verdankt die Menschheit ihre auszligergewoumlhn-lichen Faumlhigkeiten aber auch viele der fuumlr sie typischen Schwierig-keiten Alleinerziehende Muumltter sind kaum in der Lage die Nah-rung fuumlr sich und ihren Nachwuchs heranzuschafen waumlhrend sieihre quaumlkenden Kinder im Schlepptau haben Die Aufzucht derSproumlsslinge erfordert konstante Unterstuumltzung von Verwandtenund Nachbarn Zur Erziehung eines Kindes ist ein ganzer Stammerforderlich Daher hat die Evolution diejenigen bevorzugt die inder Lage waren starke soziale Beziehungen einzugehen Da Men-schen in einem fruumlhen Entwicklungsstadium geboren werden sindsie auszligerdem formbarer als alle anderen Lebewesen Die meistenanderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib wiegebrannte Toumlpfe aus einem Ofen Jeder Versuch sie zu veraumlndern

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

Die kognitive Revolution

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 17: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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wuumlrde sie zerbrechen Menschliche Saumluglinge kommen dagegeneher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen sie lassen sich nocherstaunlich gut ziehen drehen und formen Deshalb koumlnnen wirunsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten Kapitalistenoder Sozialisten Kriegern oder Paziisten erziehen

Wir gehen wie selbstverstaumlndlich davon aus dass ein groszliges Gehirnder Gebrauch von Werkzeugen verbesserte Lernfaumlhigkeit undkomplexe gesellschatliche Strukturen automatisch einen gewalti-gen Uumlberlebensvorteil darstellen Aus heutiger Sicht scheint es unsvollkommen ofensichtlich dass der Mensch seinen Aufstieg zummaumlchtigsten Tier der Erde nur diesen Eigenschaten verdankt Dochtrotz dieser Vorteile blieben die Menschen zwei Millionen Jahrelang schwache und unaufaumlllige Geschoumlpfe Zwischen Indonesienund der spanischen Halbinsel lebten nicht einmal eine MillionMenschen und das mehr schlecht als recht Sie lebten in dauernderAngst vor Raubtieren erlegten selten groszlige Beute und ernaumlhrtensich vor allem von Planzen Insekten Kleintieren und dem Aas dasgroumlszligere Fleischfresser zuruumlckgelassen hatten

Die Steinwerkzeuge verwendeten sie uumlbrigens hauptsaumlchlich umKnochen zu knacken und an das Mark in deren Inneren zu gelan-gen Einige Wissenschatler meinen dies sei unsere oumlkologischeNische gewesen Genau wie sich die Spechte darauf spezialisierthaben Insekten aus der Baumrinde herauszupicken verlegten sichdie Menschen darauf das Mark aus den Knochen zu pulen Aberwarum ausgerechnet Knochenmark Ganz einfach Stellen Sie sichvor Sie beobachten wie ein Loumlwenrudel eine Girafe zur Streckebringt und sich daran guumltlich tut Sie warten geduldig ab bis sichdie Raubkatzen den Magen vollgeschlagen haben und dann sehensie zu wie sich die Hyaumlnen und Schakale (mit denen Sie sich aufkeinen Fall anlegen wollen) uumlber die Reste hermachen Erst dann

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

Die kognitive Revolution

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 18: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

wagen Sie sich mit Ihrer Horde aus der Deckung schleichen sichan die verbleibenden Knochen heran und suchen nach den letztenFetzchen von essbarem Gewebe

Dies ist auch ein Schluumlssel zum Verstaumlndnis der menschlichenGeschichte und Psyche Bis vor Kurzem befand sich die GattungHomo irgendwo in der Mitte der Nahrungskette Jahrmillionen langjagten Menschen kleinere Tiere und aszligen was sie eben bekommenkonnten waumlhrend sie gleichzeitig auf dem Speisezettel von groumlszligerenRaumlubern standen Erst vor 400 000 Jahren begannen einige Men-schenarten damit regelmaumlszligig auch groumlszligeren Beutetieren nachzu-stellen Erst in den vergangenen 100 000 Jahren mit dem Aufstiegdes Homo sapiens schate die Gattung Mensch den Sprung an dieSpitze der Nahrungskette

Dieser spektakulaumlre Aufstieg hatte weitreichende AuswirkungenDie Menschen waren es nicht gewoumlhnt an der Spitze der Nah-rungskette zu stehen und konnten nicht sonderlich gut mit dieserneuen Rolle umgehen Andere Raubtiere wie Loumlwen oder Haie hat-ten sich uumlber Jahrmillionen hinweg hochgebissen und angepasstDie Menschen dagegen fanden sich fast von einem Tag auf denanderen an der Spitze wieder und hatten kaum Gelegenheit sichdarauf einzustellen Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichtelassen sich mit dieser uumlberhasteten Entwicklung erklaumlren ange-fangen von der Massenvernichtung in Kriegen bis hin zur Zerstouml-rung unserer Oumlkosysteme Die Menschheit ist kein Wolfsrudel dasdurch einen ungluumlcklichen Zufall Panzer und Atombomben in dieFinger bekam Die Menschheit ist vielmehr eine Schaherde diedank einer Laune der Evolution lernte Panzer und Atombombenzu bauen Aber bewafnete Schafe sind ungleich gefaumlhrlicher alsbewafnete Woumllfe

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

Die kognitive Revolution

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

Die kognitive Revolution

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 19: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Das kochende Tier

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskettewar die Baumlndigung des Feuers Wir wissen nicht genau wann wound wie Menschen dies schaten Doch vor rund 300 000 Jahrenscheint das Feuer fuumlr viele zum Alltag gehoumlrt zu haben Damithatten sie eine verlaumlssliche Licht- und Waumlrmequelle und eine wir-kungsvolle Wafe gegen die lauernden Loumlwen Damals starteten dieMenschen ihre ersten groszligangelegten Unternehmungen die gezielteBrandrodung von Waumlldern Nachdem die Feuer erloschen warenwanderten die Steinzeitunternehmer durch die Asche und sammel-ten geroumlstete Tiere Nuumlsse und Wurzeln ein Ihnen folgten die erstenLandschatsplaner Mit einem sorgfaumlltig gelegten Buschfeuer lieszligsich ein undurchdringliches Dickicht in eine Steppe verwandeln aufder es von Beutetieren nur so wimmelte Aber das Beste am Feuerwar dass man damit kochen konnte

Die Kochkunst erschloss der Menschheit neue Regalreihen imSupermarkt der Natur Planzen die der menschliche Magen in roherForm nicht verwerten konnte ndash zum Beispiel Weizen Reis oder Kar-tofeln ndash wanderten ploumltzlich auf die Liste der GrundnahrungsmittelDas Feuer veraumlnderte jedoch nicht nur die Chemie der Nahrungsmittelsondern auch ihre Biologie Die Hitze toumltete Bakterien und Parasitenab und machte traditionelle Leckerbissen wie Fruumlchte Nuumlsse Insektenund Aas leichter kau- und verdaubar Waumlhrend Schimpansen fuumlnfStunden am Tag damit zubrachten auf ihrer Rohkost herumzukauenreichte den Menschen mit ihren gekochten Mahlzeiten eine Stunde

Dank dieser Erindung konnten die Menschen eine groumlszligereBandbreite von Nahrungsmitteln zu sich nehmen sie sparten Zeitbeim Essen und kamen mit kleineren Zaumlhnen und kuumlrzeren Daumlr-men aus Einige Wissenschatler sehen einen direkten Zusammen-hang zwischen der Entdeckung des Kochens der Verkuumlrzung desDarms und dem Wachstum des Gehirns Da lange Daumlrme genausogroszlige Energiefresser sind wie groszlige Gehirne ist es kaum moumlglich

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

Die kognitive Revolution

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

beide gleichzeitig zu unterhalten Weil das Kochen jedoch eineVerkuumlrzung des Verdauungstrakts und damit Energieeinsparungenermoumlglichte bereitete es ganz nebenbei den gewaltigen Gehirnendes Neandertalers und des Homo sapiens den Boden1

Das Feuer riss auszligerdem einen ersten Graben zwischen den Men-schen und dem Rest der Tierwelt auf Die Staumlrke eines Tiers haumlngt inder Regel direkt mit seinen koumlrperlichen Eigenschaten zusammenzum Beispiel seiner Muskelkrat seiner Fluumlgelspannweite oder derGroumlszlige seiner Zaumlhne Obwohl Tiere in der Lage sind Lut- oder Was-serstroumlmungen fuumlr sich zu nutzen stellen ihre koumlrperlichen Anlagenimmer eine Obergrenze dar die sie nicht uumlberwinden koumlnnen Adlersind zwar imstande aufsteigende Warmlut zu erkennen und sichvon der hermik nach oben tragen zu lassen Aber sie koumlnnen dieseLutsaumlulen nicht nach Belieben an- und abschalten und die Kratmit der sie ihre Beute abtransportieren koumlnnen haumlngt immer vonihrer Fluumlgelspannweite ab

Als die Menschen das Feuer baumlndigten erlangten sie dagegen dieKontrolle uumlber eine willige und potenziell grenzenlose Krat Andersals die Adler konnten sie frei entscheiden wann und wo sie ein Feuerentzuumlndeten und sie konnten dieses neue Werkzeug fuumlr eine ganzeReihe von Taumltigkeiten einsetzen Vor allem aber war die Macht des Feu-ers nicht vom menschlichen Koumlrperbau abhaumlngig Mit einem Feuer-stein oder einem Reibholz bewafnet konnte eine einzelne Frau inner-halb weniger Stunden einen ganzen Wald abfackeln Die Baumlndigungdes Feuers war ein erster Hinweis auf das was noch kommen sollte Ingewisser Hinsicht war es der erste Schritt auf dem Weg zur Atombombe

Der Huumlter unserer Bruumlder

Wann kam der erste Homo sapiens zur Welt und wo lebte er Aufdiese Frage gibt es keine eindeutige Antwort nur einige heorienDie meisten Wissenschatler sind sich jedoch einig dass in Ostafrika

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

Die kognitive Revolution

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 21: Eine kurze Geschichte der Menschheit

Die kognitive Revolution

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vor 150 000 Jahren die ersten raquoanatomisch modernen Menschenlaquolebten Wenn heute ein Pathologe einen dieser Menschen auf demSeziertisch vor sich haumltte dann wuumlrde ihm nichts Besonderes aufal-len Wissenschatler sind sich auszligerdem einig dass der Homo sapishyens vor rund 70 000 Jahren von Ostafrika nach Arabien wanderteund sich von dort aus rasch uumlber weite Teile Europas und Asiensausbreitete

Als der Homo sapiens nach Arabien kam lebten in Europa undAsien jedoch schon andere Menschenarten Was passierte mit denen

Karte 1 Der Homo sapiens erobert die Welt

Pazischer Ozean

IndischerOzean

AtlantischerOzean

AtlantischerOzean

Nordpolarmeer

Nordpolarmeer

Bering-meer

Homo sapiens vor 100000 Jahren

Die Zahlen bezeichnen vor wie vielen Jahren

der Homo sapiens dort angekommen ist

Neandertaler vor 100000 Jahren

Andere Menschenarten vor 100000 Jahren

Europa45000

Afrika150000

Australien45000

Ostasien60000

70000

Alaska16000

Amerika14000

Suumldamerika12000

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Dazu gibt es zwei widerstreitende heorien Die raquoVermischungshy-potheselaquo erzaumlhlt eine pikante Geschichte von gegenseitiger Anzie-hung Vermischung und Sex Wenn man dieser heorie glaubt trie-ben es die afrikanischen Migranten auf ihren Wanderungen mit allendie ihnen uumlber den Weg liefen Daher verdankten die verschiedenenGruppen von Homo sapiens in aller Welt ihre Gene und damit ihrekoumlrperlichen und geistigen Eigenschaten zum Teil auch den Ange-houmlrigen aumllterer Menschenarten

Die zweite heorie die raquoVerdraumlngungshypotheselaquo zeichnet einganz anderes Bild von Unvertraumlglichkeit gegenseitiger Ablehnungund vielleicht sogar Voumllkermord Nach dieser heorie fanden dieNeuankoumlmmlinge aus Afrika die alteingesessenen Menschen allesandere als attraktiv Und selbst wenn es hier und da zu Paarun-gen gekommen sein sollte sei aus diesen Verbindungen kein fort-planzungsfaumlhiger Nachwuchs hervorgegangen weil der genetischeGraben zwischen beiden Arten bereits zu groszlig gewesen sei Odervielleicht schlachteten die Einwanderer ihre fremd aussehendenKonkurrenten ganz einfach ab Nach dieser Hypothese verschwan-den die aumllteren Menschenarten ohne genetische Spuren im moder-nen Menschen zu hinterlassen Wenn diese heorie stimmt gehenalle heute lebenden Menschen ausschlieszliglich auf Vorfahren zuruumlckdie vor 70 000 Jahren in Ostafrika lebten

In der Diskussion zwischen diesen beiden Hypothesen stehteiniges auf dem Spiel Aus evolutionaumlrer Sicht sind 70 000 Jahreein relativ kurzer Zeitraum Wenn die Verdraumlngungshypothesestimmt haben alle Menschen mehr oder weniger dasselbe geneti-sche Material und die Unterschiede zwischen den verschiedenenethnischen Gruppierungen von heute sind vernachlaumlssigbar Wenndagegen die Vermischungshypothese stimmt koumlnnte es zwischenAfrikanern Europaumlern und Asiaten beachtliche genetische Unter-schiede geben die Hunderttausende von Jahren zuruumlckreichenRassisten wuumlrden es sicher gern houmlren dass Indonesier einmalige

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 23: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

muumlssen Doch als der Homo sapiens in ihren Lebensraum vordrangwichen sie zuruumlck und verschwanden schlieszliglich ganz Die letztenNeandertaler von denen wir Kenntnis haben (weil wir ihre Knochengefunden haben) lebten vor 30 000 Jahren in Suumldspanien ndash aus Sichtder Evolution ist das so als waumlre das noch gestern Abend gewesen

Nach der Vermischungshypothese kreuzten sich Sapiens undNeandertaler bis die beiden Arten ineinander aufgingen Solltendie Vertreter dieser heorie Recht haben verschwand der Neander-taler also nicht ndash vielmehr tragen die heutigen Europaumler und Asia-ten den Neandertaler in sich Vertreter der Verdraumlngungshypothesewidersprechen dem jedoch Ihrer Ansicht nach unterschieden sichSapiens und Neandertaler nicht nur hinsichtlich ihres Koumlrperbaussondern auch hinsichtlich ihres Paarungsverhaltens und ihres Koumlr-pergeruchs Daher haumltten sie vermutlich kaum Gefallen aneinandergefunden Selbst wenn ein Neandertaler-Romeo und eine Sapiens-Julia sich unsterblich ineinander verliebt haumltten oder wenn einSapiens-Pascha sich einen Harem von Neandertaler-Frauen gehal-ten haumltte dann waumlren ihre Kinder vermutlich unfruchtbar gewesenVielmehr haumltten die beiden Arten nebeneinander gelebt und als dieNeandertaler ausstarben oder ausgerottet wurden verschwandenihre Gene mit ihnen

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Forschung von derVerdraumlngungshypothese beherrscht Sie schien durch archaumlologi-sche Beweise untermauert zu werden und vor allem war sie politischkorrekt (die Wissenschatler hatten kein Interesse daran ein rassis-tisches Fass aufzumachen und von groszligen genetischen Unterschie-den unter den modernen Menschen zu sprechen) Das aumlnderte sichjedoch im Jahr 2010 als nach vierjaumlhriger Arbeit Teile des Nean-dertalergenoms entschluumlsselt worden waren Genforscher hatten

In der Folge verwende ich fuumlr die Angehoumlrigen der Art Homo sapiens die verein-fachte Bezeichnung raquoSapienslaquo (und zwar fuumlr Singular und Plural da das raquoslaquo amEnde des lateinischen Worts nicht fuumlr einen Plural steht) Wenn ich die Art alsGanze meine verwende ich weiter die kursiv gedruckte lateinische Bezeichnung

Die kognitive Revolution

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

Die kognitive Revolution

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

Die kognitive Revolution

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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ausreichende Mengen von intaktem Erbgut aus den Fossilien vonNeandertalern gesammelt um einen Vergleich zwischen modernenMenschen und ihren staumlmmigen Vorlaumlufern anstellen zu koumlnnenDie Ergebnisse verbluumlten die Fachwelt Es stellte sich heraus dass4 Prozent aller Gene der modernen Menschen in Europa und demNahen Osten von Neandertalern stammen So bescheiden das klin-gen mag ist es gar nicht wenig Eine zweite Uumlberraschung folgteeinige Monate spaumlter als sich herausstellte dass der Besitzer des ver-steinerten Fingers aus der Denissowa-Houmlhle sogar 6 Prozent seinesErbguts mit den Genen der heutigen Ureinwohner von Melanesienund Australien gemeinsam hatte

Aber wie koumlnnte die biologische Beziehung zwischen SapiensNeandertalern und Denissowern ausgesehen haben Ofenbarwaren es keine grundsaumltzlich verschiedenen Arten wie zum BeispielPferde und Esel Aber es handelte sich auch nicht einfach um ver-schiedene Unterarten derselben Art wie Doggen und CockerspanielDie biologische Wirklichkeit ist selten so eindeutig Zwei Arten dieaus einem gemeinsamen Vorfahren hervorgehen wie Pferde undEsel waren irgendwann einmal einfach Varianten wie Doggen undCockerspaniel Im Laufe der Evolution wurden die Unterschiedeimmer groumlszliger bis die beiden getrennte Wege gingen Es muss einenPunkt gegeben haben an dem sich die Arten zwar schon deutlichunterschieden aber hin und wieder noch zeugungsfaumlhige Nachkom-men hervorbringen konnten Zwei oder drei Genmutationen spaumlterwurde die Verbindung dann fuumlr immer gekappt

An diesem Punkt muumlssen sich Sapiens Neandertaler und Denis-sower vor etwa 50 000 Jahren befunden haben Wie wir im kommen-den Kapitel sehen werden unterschieden sich die Sapiens damalsnicht nur genetisch und koumlrperlich sondern auch hinsichtlich ihrerkognitiven und sozialen Faumlhigkeiten erheblich von ihren VetternTrotzdem konnten sie in seltenen Faumlllen noch Nachwuchs mit ihnenzeugen Die Arten verschmolzen also nicht ndash es gelang lediglichein paar Neandertalergenen als blinde Passagiere auf den Sapiens-

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

Die kognitive Revolution

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

Express aufzuspringen Es ist ein aufregender aber auch beunruhi-gender Gedanke dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage warenmit Angehoumlrigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen

Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingenwarum sind sie dann verschwunden Es kann durchaus sein dassdie Neandertaler ausstarben weil sie der Konkurrenz durch denHomo sapiens nicht gewachsen waren Stellen Sie sich vor eineGruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan das seitHunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird DieNeuankoumlmmlinge jagen Wild und sammeln Nuumlsse und Beerendie auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen Dank ihreruumlberlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiensbessere Jaumlger und Sammler und vermehren sich rasch Die wenigergeschickten Neandertaler inden dagegen immer weniger Nahrungihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus

Es ist allerdings durchaus denkbar dass der Konkurrenzkampfin Gewalt und Blutvergieszligen ausartete Der Homo sapiens ist nichtgerade fuumlr seine Toleranz bekannt In der Geschichte der Art reichteot schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe Dialekt oder Reli-gion damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete Warumsollten die fruumlhen Sapiens mit einer gaumlnzlich anderen Menschen-art zimperlicher umgesprungen sein Es ist gut moumlglich dass dieBegegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten undgruumlndlichsten raquoethnischen Saumluberunglaquo der Geschichte endete

Was auch immer passiert sein mag die Neandertaler bieten Anlasszu faszinierenden Gedankenspielen Stellen Sie sich vor was passiertwaumlre wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens uumlberlebthaumltten Welche Kulturen Gesellschaten und politischen Struktu-ren waumlren in einer Welt entstanden in der mehrere Menschenartenfriedlich nebeneinander existierten Wie haumltten sich beispielsweisedie Religionen entwickelt Koumlnnten wir heute in der Bibel lesendass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte Waumlre Jesusauch fuumlr die Suumlnden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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Der Baum der Erkenntnis

zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Wuumlrde der Koran allen Rechtglaumlubigen einen Platz im Paradies ver-sprechen egal welcher Art sie angehoumlren Haumltten die Neandertalerin den Legionen des Roumlmischen Reichs und in der ausuferndenBuumlrokratie der chinesischen Kaiser gedient Haumltte Karl Marx dieProletarier aller Arten aufgerufen sich zu vereinigen Wuumlrde dieErklaumlrung der Menschenrechte fuumlr alle Angehoumlrigen der GattungHomo gelten

In den vergangenen 30 000 Jahren haben wir Sapiens uns der-art daran gewoumlhnt die einzige Menschenart zu sein dass es unsschwerfaumlllt uns eine andere Moumlglichkeit auch nur vorzustellenOhne Bruumlder und Schwestern iel es uns leichter zu glauben wirseien die Krone der Schoumlpfung die durch einen unuumlberwindlichenAbgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei Als Charles Darwinerklaumlrte der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten waren seineZeitgenossen empoumlrt Selbst heute weigern sich viele diese Tat-sache anzuerkennen Aber wuumlrden wir uns auch dann noch fuumlrein auserwaumlhltes Wesen halten wenn die Neandertaler uumlberlebthaumltten Vielleicht war das ja der Grund warum unsere Vorfahrendie Neandertaler ausrotteten Sie waren zu aumlhnlich um sie zu igno-rieren und zu anders um sie zu dulden

Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben moumlgen ndash woimmer sie autauchten verschwanden die einheimischen Men-schenarten Die letzten Angehoumlrigen des Homo soloensis segnetenvor 50 000 Jahren das Zeitliche der Homo denisova folgte 10 000Jahre spaumlter Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund30 000 Jahren und die Zwergmenschen von der Insel Flores gin-gen vor 12 000 Jahren dahin Zuruumlck blieben ein paar Knochen undSteinwerkzeuge eine Handvoll Gene in unserem Genom und eineMenge unbeantworteter Fragen Einige Wissenschatler hegen dieHofnung sie koumlnnten eines Tages in den unberuumlhrten Tiefen des

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

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Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 27: Eine kurze Geschichte der Menschheit

Ein ziemlich unaufaumllliges Tier

indonesischen Urwalds auf eine Gruppe von Liliputanern trefenLeider sind wir dazu einige zehntausend Jahre zu spaumlt dran

Was war das Erfolgsgeheimnis des Sapiens Wie gelang es unsso schnell so unterschiedliche und raumlumlich so weit auseinanderliegende Lebensraumlume zu besiedeln Wie haben wir es geschatalle anderen Menschenarten zu verdraumlngen Warum uumlberlebte nichteinmal der muskuloumlse intelligente und kaumllteresistente Neander-taler unseren Ansturm Die Debatte daruumlber verlaumlut hitzig Diewahrscheinlichste Antwort ist jedoch genau das Instrument mitdem diese Debatte gefuumlhrt wird Wenn der Homo sapiens die Welteroberte dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 28: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Kapitel 2

Der Baum der Erkenntnis

Die Sapiens die vor 100 000 Jahren in Ostafrika lebten waren reinaumluszligerlich nicht von uns zu unterscheiden und hatten schon genausogroszlige Gehirne Aber dachten und sprachen sie auch wie wir Ver-mutlich nicht Sie verwendeten noch keine sonderlich ausgefeiltenWerkzeuge vollbrachten keine aufaumllligen Leistungen und hattengegenuumlber anderen Menschenarten kaum einen Vorteil Im Gegen-teil als sich einige von ihnen vor rund 100 000 Jahren in den NahenOsten vorwagten in dem damals die Neandertaler lebten konnten siesich dort nicht lange halten Wir wissen nicht ob sie von ihren feind-seligen Vettern dem unguumlnstigen Klima oder unbekannten Parasi-ten vertrieben wurden Tatsache ist jedenfalls dass sich die Sapienswieder zuruumlckzogen und die Levante den Neandertalern uumlberlieszligen

Das Scheitern dieser Unternehmung laumlsst darauf schlieszligen dasssich das Gehirn der damaligen Sapiens strukturell ganz erheblich vonunserem Gehirn unterschied Sie sahen zwar aumluszligerlich so aus wie wirdoch ihre kognitiven Faumlhigkeiten ndash ihre Lernfaumlhigkeit ihr Gedaumlcht-nis und ihre kommunikative Kompetenz ndash waren noch vergleichs-weise begrenzt Es haumltte vermutlich wenig Zweck diesen Ur-Sapienseine moderne Sprache beibringen sie in einer Religion unterweisenoder ihnen die Evolutionstheorie erklaumlren zu wollen Umgekehrtwuumlrde es uns wahrscheinlich genauso schwerfallen ihr Kommuni-kationssystem zu lernen oder uns in ihren Kopf zu versetzen

Aber eines Tages irgendwann vor 70 000 Jahren begann der Homosapiens erstaunliche Leistungen zu vollbringen Damals verlieszligen

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 29: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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lernen und wir ihre Wir koumlnnten ihnen unser Wissen vermitteln ndashvon Alice im Wunderland bis zur Wunderwelt der Quantenmecha-nik ndash und sie koumlnnten uns erklaumlren wie sie die Welt sehen

Die Entstehung neuer Denk- und Kommunikationsformen in demZeitraum der vor rund 70 000 Jahren begann und vor etwa 30 000Jahren endete wird als kognitive Revolution bezeichnet Was warder Ausloumlser dieser Revolution Die gaumlngigste heorie geht davonaus dass zufaumlllige Genmutationen die Kabel im Gehirn des Sapiensneu verschaltet hatten und dass sie deshalb lernen konnten in nochnie dagewesener Weise zu denken und mit einer voumlllig neuen Formvon Sprache zu kommunizieren Diese Veraumlnderung koumlnnte manals raquoBaum der Erkenntnislaquo-Mutation bezeichnen Aber warum pas-sierte sie nur in den Genen des Homo sapiens und nicht im Erbgutdes Neandertalers Soweit wir das heute beurteilen koumlnnen war dasreiner Zufall Aber es ist viel interessanter sich die Folgen dieserMutation anzusehen als nach ihren Ursachen zu suchen Was wardenn so besonders an der neuen Sprache des Homo sapiens dass sieuns die Eroberung der Welt ermoumlglichte

Es war schlieszliglich nicht das erste Kommunikationssystem JedesTier kann sich verstaumlndigen Selbst Insekten wie Bienen und Amei-sen verwenden ausgekluumlgelte Kommunikationssysteme um sichuumlber Futterquellen zu verstaumlndigen Es war noch nicht einmal daserste Kommunikationssystem mit Lauten Viele Tiere kommuni-zieren mithilfe von Lauten darunter alle Afenarten Gruumlnmeerkat-zen warnen sich beispielsweise gegenseitig mit unterschiedlichenSchreien vor Gefahren Einen dieser Schreie uumlbersetzen Afenfor-scher als raquoVorsicht Adlerlaquo und einen anderen der etwas andersklingt mit raquoVorsicht Loumlwelaquo Als die Forscher einer Gruppe vonGruumlnmeerkatzen eine Tonbandaufnahme des ersten Schreis vor-spielten hielten die Tiere inne und spaumlhten aumlngstlich in den HimmelUnd als dieselben Afen eine Aufnahme der Loumlwenwarnung houmlrtenkletterten sie eilig den naumlchsten Baum hinauf Sapiens koumlnnen deut-lich mehr unterschiedliche Laute hervorbringen als Gruumlnmeerkat-

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

Die kognitive Revolution

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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zen doch Wale und Elefanten haben ein aumlhnlich beeindruckendesRepertoire wie wir Papageien koumlnnen saumlmtliche Laute nachahmendie wir von uns geben und obendrein eine schier endlose Vielfaltanderer Geraumlusche wie klingelnde Telefone zuschlagende Tuumlrenoder heulende Sirenen imitieren Was ist also das Besondere anunserer Sprache

Eine moumlgliche Antwort ist die extreme Flexibilitaumlt Mit einerbegrenzten Zahl von Lauten und Zeichen koumlnnen wir eine unend-liche Zahl von Saumltzen mit ihrer jeweils eigenen Bedeutung produ-zieren Damit koumlnnen wir gewaltige Mengen an Information uumlberunsere Umwelt aufnehmen speichern und weitergeben Eine Gruumln-meerkatze kann ihren Artgenossen zurufen raquoAchtung Loumlwelaquo Aberein Mensch kann seinen Stammesgenossen berichten dass er heuteMorgen in der Naumlhe der Flussbiegung einen Loumlwen gesehen hat dereine Buumlfelherde beobachtete Er kann den Ort genau beschreibenund erklaumlren wie man dorthin kommt Mit dieser Information kanndie Gruppe gemeinsam uumlberlegen ob sie sich zum Fluss aufmachtum den Loumlwen zu vertreiben und die Buumlfel zu jagen

Eine zweite heorie geht ebenfalls davon aus dass sich unsereSprache entwickelte um Informationen uumlber die Umwelt auszu-tauschen Doch nach dieser heorie ging es den Menschen nichtdarum sich uumlber Loumlwen und Buumlfel zu unterhalten sondern uumlberihre Artgenossen Mit anderen Worten dient unsere Sprache vorallem der Verbreitung von Klatsch und Tratsch Der Homo sapiensist ein Herdentier und die Kooperation in der Gruppe ist entschei-dend fuumlr das Uumlberleben und die Fortplanzung Dazu reicht es nichtaus zu wissen wo sich Loumlwen und Buumlfel auhalten Es ist viel wich-tiger zu wissen wer in der Gruppe wen nicht leiden kann wer mitwem schlaumlt wer ehrlich ist und wer andere beklaut

Es ist ganz erstaunlich wie viel Information man aufnehmen undim Kopf haben muss um das sich staumlndig veraumlndernde Beziehungs-gelecht zwischen einigen Dutzend Personen im Blick zu behalten(In einer Gruppe von 50 Menschen gibt es allein 1225 Zweierbezie-

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 31: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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hungen und eine schier unuumlberschaubare Vielzahl von Dreiecks-Vierecks- und anderen Uumlber-Eck-Beziehungen) Saumlmtliche Afen-arten haben groszliges Interesse an sozialen Informationen aber keinekann so gut klatschen wie wir Neandertaler und die ersten Sapienswaren vermutlich noch nicht besonders geuumlbt darin hinter vor-gehaltener Hand uumlber andere zu reden ndash eine Faumlhigkeit die in letzterZeit etwas in Misskredit geraten ist obwohl sie eine entscheidendeVoraussetzung fuumlr die Zusammenarbeit in groumlszligeren Gruppen istMit der neuen Sprachkompetenz die der moderne Homo sapiensvor rund 70 000 Jahren erwarb konnte er dagegen stundenlang uumlberandere tratschen Mit Hilfe von verlaumlsslichen Informationen uumlberzuverlaumlssige Mitmenschen konnten die Sapiens ihre Gruppen starkerweitern enger miteinander zusammenarbeiten und komplexereFormen der Zusammenarbeit entwickeln1

So witzig die Klatsch-heorie vielleicht klingen mag sie wird vonvielen Untersuchungen bestaumltigt Machen wir uns nichts vor unsereE-Mails Telefongespraumlche oder Zeitungsberichte bestehen bis heutezum groumlszligten Teil aus Klatsch Dass er uns so leicht uumlber die Lippenkommt laumlsst vermuten dass sich die Sprache tatsaumlchlich zu diesemZweck entwickelt haben koumlnnte Sie glauben doch nicht etwa dasssich Geschichtswissenschatler beim Mittagessen nur uumlber histori-sche Ereignisse austauschen oder dass Physiker ihre Kafeepausemit der Eroumlrterung von Quarks zubringen Natuumlrlich nicht Sieunterhalten sich uumlber die Professorin die ihren Mann mit eineranderen erwischt hat uumlber den Streit zwischen dem Fachbereichs-leiter und der Dekanin oder uumlber das Geruumlcht dass sich ein Kol-lege von den Forschungsgeldern der Studienstitung einen Mercedesgekaut hat Klatsch beschaumltigt sich vor allem mit Fehltritten Dieersten Journalisten waren Klatschbasen die den Rest der Gruppevor Betruumlgern Hochstaplern und Schnorrern warnten

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Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

Die kognitive Revolution

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 32: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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Der Baum der Erkenntnis

Beide Hypothesen ndash die Klatsch-heorie und die Loumlwe-am-Fluss-heorie ndash haben einiges fuumlr sich Doch das wirklich Einmalige anunserer Sprache ist nicht dass wir damit Informationen uumlber Men-schen und Loumlwen weitergeben koumlnnen Das Einmalige ist dass wiruns uumlber Dinge austauschen koumlnnen die es gar nicht gibt Soweitwir wissen kann nur der Sapiens uumlber Moumlglichkeiten spekulierenund Geschichten erinden

Legenden Mythen Goumltter und Religionen tauchen erstmals mitder kognitiven Revolution auf Viele Tier- und Menschenartenkonnten raquoVorsicht Loumlwelaquo rufen Aber dank der kognitiven Revo-lution konnte nur der Sapiens sagen raquoDer Loumlwe ist der Schutzgeistunseres Stammeslaquo Nur mit der menschlichen Sprache lassen sichDinge erinden und weitererzaumlhlen Man koumlnnte sie deshalb als raquoik-tive Sprachelaquo bezeichnen

Nur der Mensch kann uumlber etwas sprechen das gar nicht exis-tiert und noch vor dem Fruumlhstuumlck sechs unmoumlgliche Dinge glau-ben Einen Afen wuumlrden Sie jedenfalls nie im Leben dazu bringenIhnen eine Banane abzugeben indem Sie ihm einen Afenhimmelausmalen und grenzenlose Bananenschaumltze nach dem Tod verspre-chen Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein Aber warumist diese iktive Sprache dann so wichtig Sind Fantasiegeschichtennicht gefaumlhrlich und irrefuumlhrend Ist es nicht pure Zeitverschwen-dung sich Legenden uumlber Einhoumlrner auszudenken und wuumlrden wirunsere Zeit mit Jagen Kaumlmpfen und Voumlgeln nicht viel besser nutzenGefaumlhrdet es nicht sogar unser Uumlberleben wenn wir uns den Kopfmit Maumlrchen fuumlllen

Aber mit der iktiven Sprache koumlnnen wir uns nicht nur Dingeausmalen ndash wir koumlnnen sie uns vor allem gemeinsam vorstellen Wirkoumlnnen Mythen erinden wie die Schoumlpfungsgeschichte der Bibeldie Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythender modernen Nationalstaaten Diese und andere Mythen verlei-hen dem Sapiens die beispiellose Faumlhigkeit lexibel und in gro-szligen Gruppen zusammenzuarbeiten Ameisen und Bienen arbeiten

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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zwar auch in groszligen Gruppen zusammen doch sie spulen starreProgramme ab und kooperieren nur mit ihren GeschwisternSchimpansen sind lexibler als Ameisen doch auch sie arbeitennur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen die sie gut ken-nen Sapiens sind dagegen ausgesprochen lexibel und koumlnnen miteiner groszligen Zahl von wildfremden Menschen kooperieren Undgenau deshalb beherrschen die Sapiens die Welt waumlhrend Ameisenunsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoosund Forschungslabors herumhocken

Die Peugeot-Legende

Unsere naumlchsten Verwandten die Schimpansen leben in kleinenGruppen mit wenigen Dutzend Artgenossen Sie plegen engeFreundschaten und kaumlmpfen Seite an Seite gegen Paviane Gepar-den und feindliche Schimpansen Ihre Rudel sind hierarchisch orga-nisiert und das Leittier fast immer ein Maumlnnchen wird als raquoAlphalaquobezeichnet Andere Maumlnnchen und Weibchen demonstrieren die-sem Alphamaumlnnchen ihre Unterwuumlrigkeit indem sie sich vor ihmducken und dabei Grunzlaute ausstoszligen ndash fast wie menschlicheUntertanen die sich vor dem Koumlnig auf den Boden werfen DasAlphamaumlnnchen ist darum bemuumlht die Harmonie in der Horde zuerhalten Wenn sich zwei Schimpansen in die Haare bekommengeht er dazwischen und trennt die Streitenden In seinen wenigersozialen Momenten beansprucht er die besten Leckerbissen fuumlr sichund hindert seine maumlnnlichen Untergebenen daran sich mit denWeibchen zu paaren

Wenn sich zwei Maumlnnchen um die Alpha-Position streitenschmieden sie in der Regel groszlige Allianzen von maumlnnlichen undweiblichen Unterstuumltzern innerhalb der Gruppe Die verbuumlndetenFamilienmitglieder plegen ihre Beziehung in taumlglichem und inti-mem Kontakt indem sie einander umarmen beruumlhren kuumlssen und

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Der Baum der Erkenntnis

lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 34: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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lausen Sie erweisen sich gegenseitig Gefaumllligkeiten und helfen ein-ander aus der Patsche Normalerweise setzt sich das Alphamaumlnn-chen nicht deshalb an die Spitze des Rudels weil es das Staumlrkere istsondern weil es sich ein groszliges und stabiles Unterstuumltzernetzwerkaufgebaut hat

Gruppen die uumlber diese intimen Buumlndnisse zusammengehaltenwerden koumlnnen eine bestimmte Groumlszlige nicht uumlberschreiten Wennsie funktionieren sollen muumlssen sich die einzelnen Angehoumlrigengut kennen Zwei Schimpansen die einander nie gesehen nie mit-einander gekaumlmpt und einander nie die Laumluse aus dem Pelz gesuchthaben wissen nicht ob sie einander uumlber den Weg trauen koumlnnenob es sich lohnt dem anderen zu helfen oder welcher der beiden inder Rangordnung uumlber dem anderen steht Mit zunehmender Groumlszligeder Gruppe wird die soziale Bindung immer schwaumlcher bis sichirgendwann eine Untergruppe abspaltet und ein eigenes Rudel bildet

In der Natur besteht eine Schimpansenhorde aus zwanzig bisfuumlnfzig Tieren Groumlszligere Gruppen sind instabil und nur in weni-gen Faumlllen haben Zoologen in freier Wildbahn Rudel mit mehr alshundert Tieren gesichtet Die verschiedenen Gruppen arbeiten nurselten zusammen und konkurrieren eher um Territorien und Fut-ter Forscher haben sogar Kriege zwischen verschiedenen Hordenbeobachtet und beschreiben regelrechte raquoVoumllkermordelaquo wenn eineHorde eine andere systematisch ausrottete2

Das Sozialleben der Fruumlhmenschen sah ganz aumlhnlich aus unddie ersten Homo sapiens waren keine Ausnahme Auch Menschenhaben soziale Instinkte und dank ihrer konnten unsere Vorfah-ren Freundschaten knuumlpfen Hierarchien aubauen und gemein-sam jagen und kaumlmpfen Wie bei den Schimpansen waren diesesozialen Instinkte der Fruumlhmenschen nur auf kleine und intimeGruppen ausgelegt Wenn eine Gruppe zu groszlig wurde verlor siean Zusammenhalt und teilte sich irgendwann auf Selbst wenn es ineinem besonders fruchtbaren Tal genug Nahrung fuumlr fuumlnhundertMenschen gab konnten unmoumlglich so viele Fremde zusammenleben

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Die kognitive Revolution

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Wie sollten sie sich auf einen Rudelfuumlhrer einigen wer sollte wojagen wer durte sich mit wem paaren

Nach der kognitiven Revolution lernten die Menschen mit Hilfedes Klatsches groumlszligere und stabilere Gruppen zu bilden Aber auchder Klatsch hat seine Grenzen Soziologen haben in Untersuchungenherausgefunden dass eine raquonatuumlrlichelaquo Gruppe die nur von Klatschzusammengehalten wird maximal aus 150 Personen bestehen kannMit mehr Menschen koumlnnen wir keine engen Beziehungen plegenund uumlber mehr Menschen koumlnnen wir nicht efektiv tratschen Dasist bis heute die magische Obergrenze unserer natuumlrlichen Orga-nisationsfaumlhigkeit Bis zu einer Groumlszlige von 150 Personen reichenenge Bekanntschaten und Geruumlchte als Kitt fuumlr GemeinschatenUnternehmen soziale Netzwerke und militaumlrische Einheiten ausund es sind keine Rangabzeichen Titel und Gesetzbuumlcher noumltigum Ordnung zu halten3

Beim Militaumlr kann ein Zug mit dreiszligig oder eine Kompanie mithundert Soldaten auf der Grundlage von engen Beziehungen funk-tionieren und benoumltigt nur ein Minimum von Befehl und GehorsamEin erfahrener Feldwebel kann zur raquoMutter der Kompanielaquo werdenund sogar ranghoumlhere Oiziere houmlren auf ihn Ein kleines Familien-unternehmen kann auch ohne Aufsichtsrat Vorstandsvorsitzendenund Finanzvorstand ein Vermoumlgen verdienen Aber sobald die magi-sche Grenze von 150 uumlberschritten ist funktioniert dieses Prinzipnicht mehr Eine Division mit 10 000 Soldaten laumlsst sich nicht so fuumlh-ren wie eine Kompanie Erfolgreiche Familienunternehmen geratenin eine Krise sobald sie expandieren und mehr Personal einstellenmuumlssen ndash wenn sie sich nicht neu erinden koumlnnen gehen sie pleite

Aber wie gelang es dem Homo sapiens diese kritische Schwelle zuuumlberwinden Wie schate er es Staumldte mit Zehntausenden Einwoh-nern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu gruumlndenSein Erfolgsgeheimnis war die iktive Sprache Eine groszlige Zahl vonwildfremden Menschen kann efektiv zusammenarbeiten wenn allean gemeinsame Mythen glauben

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Der Baum der Erkenntnis

Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

Die kognitive Revolution

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Jede groszligangelegte menschliche Unternehmung ndash angefangen voneinem archaischen Stamm uumlber eine antike Stadt bis zu einer mittel-alterlichen Kirche oder einem modernen Staat ndash ist fest in gemeinsa-men Geschichten verwurzelt die nur in den Koumlpfen der Menschenexistieren Glaubensgemeinschaten basieren auf diesen kollektivenMythen Zwei Katholiken die einander nie zuvor begegnet sindverstehen einander ohne lange Erklaumlrungen weil beide glaubendass es einen Gott gibt der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatund dass dieser sich kreuzigen lieszlig um die Menschheit von ihrenSuumlnden zu erloumlsen Zwei Serben die einander nicht kennen verste-hen sich problemlos weil sie beide an die Existenz der serbischenNation des serbischen Territoriums und der serbischen Flagge glau-ben Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschatlichen MythenZwei Mitarbeiter von Google die einander noch nie gesehen habenkoumlnnen um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten weil siean die Existenz von Google Aktien und Dollars glauben Rechtsstaa-ten fuszligen auf gemeinsamen juristischen Mythen Zwei wildfremdeAnwaumllte koumlnnen efektiv kooperieren weil sie an die Existenz vonRecht Gesetz und Menschenrechten glauben

Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten die wirMenschen erinden und einander erzaumlhlen Goumltter Nationen GeldMenschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht ndash sie existieren nurin unserer kollektiven Vorstellungswelt

Dass raquoprimitive Staumlmmelaquo ihre Gesellschat zusammenhaltenindem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer her-umtanzen verstehen wir sofort Dabei uumlbersehen wir gern dassdie fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschatkeinen Deut anders funktionieren Ein gutes Beispiel fuumlr diese Aumlhn-lichkeit sind die Groszligkonzerne Im Grunde sind Unternehmer undAnwaumllte gar nichts anderes als maumlchtige Zauberer Die Geschichtendie sich moderne Juristen erzaumlhlen sind sogar noch viel sonderba-rer als die der alten Schamanen Warum das so ist verraumlt uns dieLegende von Peugeot

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 37: Eine kurze Geschichte der Menschheit

Die kognitive Revolution

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Auf vielen Straszligen von Paris bis Sydney kann man eine Ikone bewun-dern die entfernt an den Loumlwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel erinnert Es ist die Kuumlhlerigur von Autos der Marke Peugeoteiner der aumlltesten und groumlszligten Kratfahrzeughersteller in EuropaPeugeot begann als kleiner Familienbetrieb im Tal von Valentigneydas rund 300 Kilometer von der Stadel-Houmlhle entfernt im Westenvon Frankreich liegt Heute beschaumltigt der Konzern weltweit rund200 000 Mitarbeiter von denen sich die wenigsten je persoumlnlichbegegnet sind Diese wildfremden Menschen arbeiten derart efektivzusammen dass Peugeot im Jahr 2008 mehr als 15 Millionen Fahr-zeuge baute und einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro machte

Aber in welcher Form existiert dieses Unternehmen Peugeoteigentlich Es gibt zwar viele Fahrzeuge von Peugeot aber die sindnatuumlrlich nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Peugeots derWelt von einem Tag auf den anderen verschrottet und eingestamptwerden verschwindet das Unternehmen nicht Es produziert wei-ter neue Autos und legt jedes Jahr eine Bilanz vor Das Unterneh-men besitzt Fabrikhallen Maschinen und Ausstellungsraumlume undbeschaumltigt Flieszligbandarbeiter Buchhalter und Sekretaumlrinnen aberauch diese sind zusammengenommen nicht das UnternehmenPeugeot Wenn eine Katastrophe saumlmtliche Flieszligbaumlnder und Buumlro-gebaumlude zerstoumlren und saumlmtliche Peugeot-Mitarbeiter ausloumlschenwuumlrde dann koumlnnte das Unternehmen Kredite aufnehmen neueMitarbeiter anstellen neue Fabrikhallen bauen und neue Flieszligbaumln-der anschafen Peugeot hat Manager und Aktionaumlre aber auch diesind nicht das Unternehmen Selbst wenn alle Manager gefeuert undalle Aktien verkaut werden sollten wuumlrde das Unternehmen selbstnach wie vor existieren

Aber das bedeutet noch lange nicht dass Peugeot unverwundbaroder unsterblich waumlre Wenn ein Gericht heute die Zerschlagungdes Unternehmens anordnen wuumlrde dann blieben die FabrikenArbeiter Buchhalter Manager und Aktionaumlre zwar erhalten aberPeugeot waumlre von einem Moment auf den anderen verschwunden

Die kognitive Revolution

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

Page 38: Eine kurze Geschichte der Menschheit

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nellsten Erindungen der Menschheit Der Homo sapiens kam unge-zaumlhlte Jahrtausende lang ohne diese Konstruktion aus Bis vor relativkurzer Zeit konnten nur Menschen aus Fleisch und Blut Eigentumerwerben Wenn Jean im Frankreich des 13 Jahrhunderts eine Werk-statt zum Bau von Fuhrwerken gruumlndete dann war er das Unterneh-men Wenn ein Fuhrwerk das Jean gebaut hatte eine Woche nachdem Verkauf auseinanderiel dann machte der veraumlrgerte Kunde ihnhoumlchstpersoumlnlich dafuumlr verantwortlich Wenn sich Jean 1000 Gold-muumlnzen geliehen hatte um seine Werkstatt zu eroumlfnen und nunpleiteging dann musste er diesen Kredit zuruumlckzahlen indem ersein privates Eigentum verkaute sein Haus seine Kuh und seinenAcker Vielleicht musste er sogar das eine oder andere Kind in dieKnechtschat verkaufen Und wenn er seine Schulden damit immernoch nicht begleichen konnte dann wurde er in den Schuldturmgesteckt oder von seinen Glaumlubigern in die Sklaverei verkaut Jeanmusste fuumlr saumlmtliche Verplichtungen seiner Werkstatt haten undzwar bis zum letzten Pfennig

Zu Jeans Zeiten haumltten Sie es sich vermutlich reilich uumlberlegt eheSie ein Unternehmen gegruumlndet haumltten Tatsaumlchlich schreckte dieserechtliche Situation viele ab sich als Unternehmer zu betaumltigen Diemeisten Menschen hatten Angst dieses wirtschatliche Risiko aufsich zu nehmen Die Gefahr war einfach zu groszlig damit sich undihre ganze Familie ins Elend zu stuumlrzen

Daher stellten sich die Menschen kollektiv ein Unternehmen vordas nur noch raquobeschraumlnkte Hatunglaquo uumlbernahm Dieses Unterneh-men war rechtlich unabhaumlngig von den Menschen die es gruumlnde-ten leiteten oder inanzierten In den vergangenen Jahrhundertenwurden Unternehmen dieser Art zu den wichtigsten Protagonis-ten der Wirtschat und inzwischen haben wir uns so sehr an siegewoumlhnt dass wir voumlllig vergessen haben dass sie nur in unsererFantasie existieren Im Gesetz werden diese Unternehmen auch alsraquoKoumlrperschatenlaquo bezeichnet was eigentlich ironisch ist denn dieseBezeichnung kommt vom Wort raquoKoumlrperlaquo und genau den haben

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

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Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Der Baum der Erkenntnis

diese Unternehmen ja gerade nicht Trotzdem behandelt das Gesetzsie so als handele es sich um Menschen aus Fleisch und Blut

Diese Unternehmen gab es auch schon im Frankreich des Jahres1896 Damals beschloss Armand Peugeot die elterliche Eisengieszlige-rei in der Federn Saumlgen und Fahrraumlder hergestellt wurden zu einerAutomobilfabrik umzubauen Dazu gruumlndete er eine Gesellschatmit beschraumlnkter Hatung Er taute das Unternehmen zwar aufseinen Namen doch es existierte unabhaumlngig von ihm Wenn einesseiner Autos liegen blieb konnte der Kunde das Unternehmen Peu-geot verklagen aber nicht Armand Peugeot persoumlnlich Wenn dasUnternehmen Peugeot Millionen von Franc aufnahm und pleite-ging dann schuldete Armand Peugeot den Glaumlubigern nicht eineneinzigen Franc Den Kredit hatte schlieszliglich das UnternehmenPeugeot aufgenommen nicht der Sapiens Armand Peugeot DerGruumlnder starb im Jahr 1915 Das Unternehmen Peugeot existiertbis heute

Aber wie genau schuf der Mensch Armand Peugeot das Unter-nehmen Peugeot Ungefaumlhr so wie franzoumlsische Dorfpfarrer imkatholischen Nachbardorf jeden Sonntag aus Brot den Leib Christierschufen Im Grunde ging es in beiden Faumlllen um Geschichten unddarum andere Menschen von der Wahrheit dieser Geschichten zuuumlberzeugen In der Geschichte des Pfarrers ging es um das Lebenund Sterben eines Mannes namens Jesus Christus wie es von derkatholischen Kirche erzaumlhlt wird Wenn ein Priester mit all seinenheiligen Gewaumlndern und geweihten Geraumltschaten im richtigenMoment die richtigen Worte sprach verwandelten sich gewoumlhn-liche Oblaten in den Leib Christi und gewoumlhnlicher Wein in dasBlut Christi Der Priester sprach die lateinische Formel raquoHoc estcorpus meumlaquo (zu Deutsch raquodas ist mein Leiblaquo) und Hokuspokuswurde das Brot zu Fleisch Und nachdem der Priester alle noumltigenFormeln gesprochen hatte waren auch die Glaumlubigen uumlberzeugtdass es sich tatsaumlchlich nicht mehr um Brot und Wein sondern umden Leib und das Blut Christi handelte und sie behandelten sie mit

Die kognitive Revolution

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Der Baum der Erkenntnis

Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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einer Ehrfurcht die sie einer Oblate und einem Schluck Wein nieentgegengebracht haumltten

Im Falle des Unternehmens Peugeot stand die entscheidendeGeschichte im franzoumlsischen Gesetzbuch wie es vom franzoumlsischenParlament verabschiedet worden war Nach diesem Gesetz mussteein Notar nur die richtigen juristischen Rituale zelebrieren dieerforderlichen buumlrokratischen Zauberspruumlche und Eide auf ein mitSchnoumlrkeln verziertes Papier schreiben sein Siegel darunter setzenund Hokuspokus schon war ein neues Unternehmen gegruumlndetNachdem der Notar alle noumltigen Formeln gesprochen hatte glaub-ten auch die Nachbarn von Peugeot dass es nun zwei Peugeots gabihren Nachbarn Armand und dessen neues Unternehmen die Peu-geot AG Letztere behandelten sie nun mit der Ehrfurcht wie sie einrichtiges Unternehmen verdient hat

Es ist allerdings gar nicht so einfach wirkungsvolle Geschichtenzu erzaumlhlen Zauberer und Priester muumlssen die Maumlchte Zustaumln-digkeiten und Launen der verschiedenen Goumltter Geister undDaumlmonen gut kennen Wenn Trockenheit herrscht und der Zau-berer Regen heraubeschwoumlren will muss er genau wissen welchesuumlberirdische Wesen fuumlr Niederschlaumlge zustaumlndig ist Kann zumBeispiel auch der Gott des Meeres Regen bescheren oder ist dafuumlrausschlieszliglich der Gott des Sturms verantwortlich Genauso mussein Anwalt wissen was eine Gesellschat mit beschraumlnkter Hatungtun kann und was nicht Die Antwort auf diese Frage indet er inGeschichten die von der Gesellschat erfunden wurden ndash in die-sem Fall in den reichlich sproumlden Geschichten die wir raquoUnterneh-mensrechtlaquo nennen Anwaumllte die sich auf das Unternehmensrechtspezialisiert haben analysieren diese Geschichten tagaus tageinmit der Lupe und diskutieren mit ihren Kollegen und Gegnerndaruumlber welche Eigenschaten ein bestimmtes Unternehmen nungenau mitbringt Kann ein Unternehmen uumlber ein Land herrschenKann es Kriege fuumlhren Kann es in einer Branche eine Monopol-stellung haben

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Der Baum der Erkenntnis

Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

Die kognitive Revolution

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Heute wird zum Beispiel hetig daruumlber gestritten ob ein Unter-nehmen Patente und Urheberrechte an DNA-Sequenzen besitzenkann Im Jahr 1990 rief die amerikanische Regierung das raquoHumanGenome Projectlaquo ins Leben das die gesamte DNA des Homo sapiensentschluumlsseln sollte Acht Jahre spaumlter wurde ein Privatunternehmennamens Celera gegruumlndet das denselben Zweck verfolgte Obwohldie amerikanische Regierung einen groszligen Vorsprung hatte undviel Geld investierte war Celera schneller und entschluumlsselte alsErste das menschliche Genom Sofort kam die Frage auf ob Celeradie Urheberrechte an den DNA-Sequenzen hatte und Gebuumlhren vonallen kassieren durte die dieses Wissen verwenden wollten Mitanderen Worten Kann eine juristische Fiktion Eigentuumlmer unseresGenoms sein Heute beantworten die Gerichte diese Frage mit NeinAber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Das alles wurde nur durch die Erindung der iktiven Sprache moumlg-lich mit der wir uns Dinge vorstellen und beschreiben koumlnnen diees in der physischen Realitaumlt gar nicht gibt Der Loumlwenmensch Peu-geot und Celera bestehen weder aus Atomen noch aus Proteinensondern aus Geschichten Im Laufe der Jahrhunderte haben wir einunglaublich komplexes Netz von solchen Geschichten gesponnenIn diesem Netz existieren Fantasieprodukte wie Peugeot nicht nursondern sie sind sogar ungeheuer maumlchtig Sie haben mehr Machtals jeder Loumlwe und jedes Loumlwenrudel Doch in Wirklichkeit gibt essie nur in unseren Geschichten Wenn wir ploumltzlich nicht mehr inder Lage waumlren uumlber Dinge zu sprechen die es gar nicht gibt wuumlrdePeugeot auf der Stelle verschwinden und mit ihm AktienmaumlrkteReligionen Staaten Geld und Menschenrechte

Akademiker bezeichnen diese Dinge die wir in Mythen undGeschichten erinden als raquoFiktionenlaquo raquosoziale Konstruktelaquo oderraquoerfundene Wirklichkeitlaquo Aber Vorsicht Eine erfundene Wirklich-

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

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Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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keit ist keine Luumlge Ich luumlge wenn ich behaupte dass ich am Flusseinen Loumlwen gesehen habe obwohl ich genau weiszlig dass das garnicht stimmt Luumlgen sind nichts Besonderes Auch Schimpansenund Gruumlnmeerkatzen koumlnnen luumlgen Afenforscher haben beispiels-weise Gruumlnmeerkatzen dabei beobachtet wie sie raquoAchtung Loumlwelaquorufen obwohl weit und breit kein Loumlwe zu sehen ist Mit diesem Rufwollen die Luumlgner lediglich einen Artgenossen aufschrecken dergerade eine Banane entdeckt hat um sie sich selbst einzuverleiben

Anders als eine Luumlge ist eine erfundene Wirklichkeit etwas andas alle glauben Und solange alle daran glauben hat die erfundeneWirklichkeit ganz reale Macht in der wirklichen Welt Der Kuumlnstlerder Stadel-Houmlhle glaubte vermutlich ehrlich an die Existenz einesGeistes in Form eines Loumlwenmenschen Einige Zauberer sind zwarScharlatane doch die meisten sind fest davon uumlberzeugt dass es ihreGoumltter und Daumlmonen wirklich gibt Die meisten Millionaumlre glaubenan die Existenz des Geldes und der Gesellschaten mit beschraumlnkterHatung Die meisten Menschenrechtsaktivisten glauben an die Exis-tenz der Menschenrechte Niemand log als die Vereinten Nationenim Jahr 2011 Libyen ermahnten die Menschenrechte einzuhaltenobwohl die Vereinten Nationen Libyen und die Menschenrechtenichts anderes sind als Produkte unseres Erindungsreichtums

Am Genom vorbei

Die Faumlhigkeit mit Hilfe von bloszligen Worten eine Wirklichkeit zuerschafen machte es moumlglich dass groszlige Gruppen von wildfrem-den Menschen efektiv zusammenarbeiteten Sie bewirkt jedochnoch etwas anderes Da menschliche Zusammenarbeit in groszligemMaszligstab auf Mythen basiert kann man die Form der Zusammen-arbeit neu gestalten indem man die Mythen veraumlndert und neueGeschichten erzaumlhlt Unter den richtigen Umstaumlnden koumlnnen sichdiese Mythen sogar sehr schnell aumlndern Im Jahr 1789 schalteten die

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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Franzosen beispielsweise quasi uumlber Nacht vom Mythos des raquoGot-tesgnadentums der Koumlnigelaquo auf den Mythos der raquoHerrschat desVolkeslaquo um Nach der kognitiven Revolution war der Homo sapiensdaher in der Lage sein Verhalten schnell um- und auf neue Beduumlrf-nisse einzustellen Damit wechselte er auf die Uumlberholspur der kul-turellen Evolution und konnte am Stau der genetischen Evolutionvoruumlberrasen Schon bald duumlste er an allen anderen Menschen- undTierarten voruumlber und entwickelte seine erstaunliche Faumlhigkeit zurZusammenarbeit

So intelligent und erindungsreich Schimpansen und Elefantenauch sein moumlgen sie sind nicht in der Lage ihre Gesellschatenvoumlllig umzukrempeln Schimpansen haben eine genetisch program-mierte Vorliebe in Gruppen von wenigen Dutzend Individuenzusammenzuleben und sich einem Alphamaumlnnchen unterzuordnenDie eng verwandten Bonobos bevorzugen ebenfalls gemischte Grup-pen auch wenn diese meist von einem Weibchen angefuumlhrt werdenElefantenkuumlhe leben mit ihren Jungen in einer Herde von Weibchenzusammen waumlhrend die Elefantenbullen allein durch die Savannestreifen Die Gene sind zwar keine Alleinherrscher und das Ver-halten der Tiere wird auch durch Umweltfaktoren und individuelleBesonderheiten bestimmt Doch in einer stabilen Umwelt verhaltensich die meisten Angehoumlrigen einer bestimmten Art sehr aumlhnlichSpuumlrbare Veraumlnderungen des Sozialverhaltens sind in der Regel nurHand in Hand mit einer Mutation der Gene moumlglich Schimpansen-weibchen koumlnnen sich kein Vorbild an den Bonoboweibchen neh-men und eine Frauenbewegung gruumlnden Schimpansenmaumlnnchenkoumlnnen keine Volksversammlung einberufen in der sie das Amtdes Alphamaumlnnchens abschafen und die Freiheit Gleichheit undBruumlderlichkeit aller Schimpansen verkuumlnden Derart dramatischeVeraumlnderungen des Verhaltens waumlren ohne Veraumlnderungen im Erb-gut der Schimpansen voumlllig undenkbar

Deshalb kannten die Urmenschen auch keine RevolutionenSoweit wir das heute beurteilen koumlnnen waren Veraumlnderungen

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