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Eine Welt NR. 1 / MÄRZ 2015 DAS DEZA-MAGAZIN FÜR ENTWICKLUNG UND ZUSAMMENARBEIT www.deza.admin.ch Transport Mobilität entwickelt und macht abhängig Burkina Faso: Das Volk steht auf Mit Musik den Krieg verarbeiten

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Eine WeltNR. 1 / MÄRZ 2015DAS DEZA-MAGAZINFÜR ENTWICKLUNG UND ZUSAMMENARBEITwww.deza.admin.ch

TransportMobilität entwickeltund macht abhängig

Burkina Faso: Das Volk steht auf

Mit Musik den Krieg verarbeiten

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Eine Welt Nr.1 / März 20152

Inhalt

D E Z A

F O R U M

TRANSPORT6 Mobilität fördert Entwicklung, Austausch und Abhängigkeit

Während viele ländliche Gebiete in Entwicklungsländern verkehrstechnisch schlecht erschlossen sind, droht in Metropolgebieten der Verkehrskollaps

12 Strassen für Menschen, statt für FahrzeugeDer ugandische Verkehrsexperte Patrick Kayemba im Interview

14 Nepals grüne, soziale und nachhaltige StrassenDie lokale Bergbevölkerung Nepals redet beim Bau von Strassen mit, baut sie selber und übernimmt Verantwortung für den Unterhalt

16 Schiene statt AsphaltDie Eisenbahn erlebt als Transportmittel und Treiberin für regionale Entwicklung neuen Aufschwung

17 Facts & Figures

18 Volksaufstand mit ungewissem AusgangSeit im Oktober die Bevölkerung Burkina Fasos den Präsidenten zum Rücktritt zwang, versucht das Land, sich neu auszurichten

21 Aus dem Alltag von ...Alfred Zongo, Programmverantwortlicher im Schweizer Kooperationsbüro in Ouagadougou

22 Genug ist genug!Martin Zongo über die Gründe des Volksaufstandes der Burkinabè

23 Ein Radio ohne TabusDie DEZA unterstützt in Tunesien die Förderung unabhängiger Medien

24 Mehr Wissen, weniger VerlusteÜber 1000 Pflanzenkliniken und eine Online-Datenbank helfen Kleinbauernbetrieben in 40 Ländern, Ernteverluste zu reduzieren

27 Wenn SMS, Telemedizin oder Facebook Menschen rettenHumanitäre Akteure nutzen bei Krisen und Katastrophen immer häufiger technologische Innovationen

30 Von alten Käfigen und Berner Bären Carte blanche: Der Litauer Marius Ivaškevicius über das Leben am Rand der Freiheit

31 BombenmusikKrieg wurde schon immer auch durch Musik verarbeitet – heute wieder vermehrt

3 Editorial4 Periskop26 Einblick DEZA34 Service35 Fernsucht mit Tom Tirabosco35 Impressum

H O R I Z O N T E

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), dieAgentur der internationalen Zusammenarbeit im EidgenössischenDepartement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), ist Heraus-geberin von « Eine Welt ». Die Zeitschrift ist aber keine offiziellePublikation im engeren Sinn ; in ihr sollen auch andere Meinungen zu Wort kommen ; deshalb geben nicht alle Beiträge unbedingt den Standpunkt der DEZA und der Bundesbehörden wieder.

D O S S I E R

K U L T U R

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Eine Welt Nr.1 / März 2015 3

«Transport ist der Antrieb der Entwicklung» steht indiesem Heft zu lesen. Damit ist natürlich die wirt-schaftliche Entwicklung gemeint, und insoweit hatdiese Aussage auch durchaus ihre Berechtigung.Wer nicht zu Fuss zur Arbeit geht, ist auf Transportangewiesen. Und der Warenhandel, als einer derHauptmotoren der Weltwirtschaft, ist ohne Transportebenfalls nicht denkbar.

Für alle jene, die jeden Morgen auf verstopftenStrassen und in überfüllten Zügen zur Arbeit pendeln,und das dürfte schon bald eine Mehrheit derMenschheit sein, steht Transport aber auch für dieEntwicklung von Abgasen, beziehungsweise vonNeid auf die Glücklichen, die im Zug oder Bus jeweilsnoch einen Sitzplatz ergattert hatten. Abgesehen da-von trägt, wer im Stau oder überfüllten Zug steht,wenig zur wirtschaftlichen Entwicklung bei, selbstwenn das Smartphone heute auch in diesen Situa-tionen eine Illusion der Produktivität zu vermittelnvermag.

Ein Axiom des Verkehrs scheint aber auch zu sein,dass sich dieser stets gemäss den vorhandenenKapazitäten ausdehnt. Noch schnellere Zugsverbin-dungen und breitere Autobahnen erlauben es zwarauch uns Schweizern, gleichzeitig sesshafter undmobiler zu sein. Jedoch reichen die neu gelegtenStrassen und Schienen immer nur vorübergehendaus. Unsere Lebens- und Transportgewohnheitenpassen sich an und rufen schnell nach mehr.

Das Thema Transport zeigt darüber hinaus eineReihe von Gegensätzen und Zielkonflikten auf, wel-che die Entwicklungszusammenarbeit in hohemMass beschäftigen. Denken Sie an die chronischenVerkehrsüberlastungen in urbanen Zentren einerseitsund die gravierende Unterversorgung mit Transport-mitteln in vielen ländlichen Gegenden dieser Weltanderseits. Gemeinsam ist beiden, dass sie entwick-lungshemmend sind.

Am Transport kristallisiert sich auch der potentielleKonflikt zwischen der Armutsbekämpfung mittelswirtschaftlicher Entwicklung und der Erhaltung unse-rer natürlichen Lebensgrundlagen. Die Überwindungdieses Konflikts ist bekanntlich ein zentrales An-liegen der Nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO,respektive der internationalen Staatengemeinschaft.Wirtschaftswachstum bedarf einerseits hinreichen-der Transportkapazitäten zu Land, zur See und in derLuft für die Beförderung von Menschen und Gütern.Infrastrukturprojekte sind deshalb auch ein wichti-ger Bestandteil der Internationalen Zusammenarbeit(wenn insgesamt auch etwas weniger für die DEZA).Anderseits sollten Transportmittel heute nicht nurumweltschonend sein, sondern auch mit älteren,weniger nachhaltigen Technologien wirtschaftlichkonkurrieren können: «Sicher, sauber, erschwinglich»,lautet ein weiteres Schlagwort in diesem Heft.

Eine Realität in vielen ärmeren Ländern der Welt istschliesslich der nur scheinbare innere Widerspruch,dass schlechter Transport kostspieliger ist als guter:So verteuern Waren, die auf schlechten Strassen steckenbleiben und verderben, diejenigen, die an-kommen.

In der Annahme, dass Sie dieses Heft gerade imöffentlichen Verkehr lesen, wünsche ich Ihnen an-genehme Fahrt mit Sitzplatz und spannende Lektüre.

Manuel SagerDirektor der DEZA

Zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit

DEZA

Editorial

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airlightenergy.com

Frank Trimbos/Redux/laif

Inbar

Die Energieblume(gn) Das zehn Meter hohe Gebilde erinnert an eine riesigeSonnenblume: Deren Kopf besteht aus einer Parabol-schüssel, die der Sonne nachgeführt werden kann. Daraufsind Hightech-Solarzellen montiert, die das Licht 2000-fach konzentrieren. Damit diese nicht schmelzen, werdensie mit Wasser gekühlt. So erreicht man nicht nur einehohe Effizienz bei der Stromproduktion, sondern gewinntgleichzeitig – durch das Aufheizen des Wassers – auchthermische Energie. Mit ihren insgesamt 36 Spiegeln solldie Solaranlage im Endausbau bei 10 Stunden Sonnen-schein 12 Kilowatt Elektrizität und 20 Kilowatt Wärme produzieren. Das Ganze wurde mit kostengünstigenMaterialien konstruiert und findet in einem ContainerPlatz, was den Einsatz speziell in Entwicklungsländern ermöglicht. Entwickelt wurde das innovative System vonder Schweizer Firma Airlight Energy, zusammen mit demIBM Labor. Die Hersteller testen in einer nächsten Phasedessen Praxistauglichkeit an verschiedenen abgelegenenOrten in Indien und Marokko, bevor sie 2017 dieSonnenblumen-Anlage auf den Markt bringen wollen.www.airlightenergy.com

wächst sehr schnell, innert dreibis vier Jahren ist er ausgewach-sen. Im Gegensatz zu Bäumenerneuert er sich nach jederErnte spontan. Sein Anbaubremst also die Entwaldung undfüllt die Kohlenstoffspeicher:Bambus vermag mindestens so viel CO2 zu speichern wieBäume. Sein weit verzweigtesWurzelwerk begrenzt ausserdemdie Bodenerosion. MehrereLänder haben die Bambusförde-rung bereits angepackt: Äthio-pien hat ihn sogar ins Zentrumseines Umweltentwicklungs-plans gestellt; Jamaika will ihnin grossem Massstab – als kos-tengünstiges Baumaterial – kul-tivieren; und die Philippinenwollen landesweit ein Vierteldes Schulmobiliars aus der viel-fältig verwendbaren Pflanze fabrizieren.www.inbar.int

Afrikas Krieg gegen Plastik( jls) Minute für Minute werdenweltweit eine Million Plastik-tüten verteilt – und praktischgleich wieder weggeworfen. Für die Umwelt ist dieser nichtabbaubare Abfall eine grosseBelastung, gerade in denEntwicklungsländern; er sam-melt sich auf Strassen, Feldern

Alle 40 Sekunden ein Suizid(bf ) Mehr als 800 000Menschen nehmen sich welt-weit jedes Jahr das Leben.Gemäss dem von der Weltge-sundheitsorganisation WHOveröffentlichten «Welt-Suizid-Report» tötet sich alle 40Sekunden irgendwo auf derWelt ein Mensch. Besondersbetroffen sind gemäss demBericht die verletzlichstenBevölkerungsgruppen:Menschen, die unter Diskrimi-nierung oder Armut leiden.

«Etwa drei von vier Fällen ereigneten sich in ärmerenStaaten», sagte WHO-General-direktorin Margaret Chan beider Präsentation des Berichts.2012 lag die weltweite Suizid-rate bei 11,4 Fällen pro 100000Menschen. Eine Rate von über20 verzeichneten folgendeLänder: Burundi, Guyana,Kasachstan, Litauen, Mosambik,Nepal, Nordkorea, Südkorea, SriLanka, Surinam und Tansania.«Die Staaten sollten diesesgrosse Problem der öffentlichen

Gesundheit angehen», verlangtChan. Zu lange sei Suizid einTabu gewesen. www.who.int (Suicide)

Batterien überwachenWasserqualität(bf ) Forscher der UniversitätMinnesota haben in Zusam-menarbeit mit dem BristolLaboratory der University ofthe West of England einenElektro-Sensor entwickelt, umin Echtzeit die Qualität vonTrinkwasser zu überwachen.Das günstige und zeitsparendeGerät soll vor allem in Ent-wicklungsländern zum Einsatzkommen, um Verunreinigungenunmittelbar festzustellen. DerSensor – einsetzbar in Seen,Flüssen oder Brunnen – enthältBakterien, die elektrischenStrom erzeugen, sobald sie aufNahrung stossen und zu wach-sen beginnen. «Wenn sich dieBakterien in der mikrobiellenBrennstoffzelle ernähren, wan-deln sie chemische Energie inelektrische Energie um, die wirmessen können», erklärt MirellaDi Lorenzo, Dozentin fürChemical Engineering. DieStromstärke sinkt, sobald dieBakterien mit Toxinen imWasser in Kontakt kommen:Der Stromverlust deutet unmittelbar auf verunreinigtesWasser hin. www.brl.ac.uk

Bambus schützt das Klima( jls) Der lange als «Baum derArmen» betrachtete Bambus er-weist sich als effizientes Mittelim Kampf gegen den Klima-wandel. «Noch haben nicht alletropischen Länder, in denen erwächst, sein Potenzial erfasst»,gibt Hans Friederich zu beden-ken, Leiter des InternationalenNetzwerkes für Bambus undRattan (Inbar). Die Pflanze ver-mag Holz zu ersetzen: in derBauwirtschaft, im Möbelbauund als Energiequelle. Bambus

Periskop

Eine Welt Nr.1 / März 2015

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msf.org

und in Flüssen an, lässt Tiereverenden, die die Tüten fressen,verstopft die Kanalisation undführt so zu Überschwemmun-gen. Seit einigen Jahren gehörtAfrika zur Avantgarde in derPlastiktüten-Bekämpfung:Rund zwanzig Länder – vonEritrea über Tansania, dieElfenbeinküste und Maureta-nien bis nach Südafrika – habensowohl die Herstellung als auch

den Vertrieb bereits verboten.Manche Behörden haben alleArten von Plastiktüten ver-bannt, andere nur die dünnsten.Bisweilen bleiben die Gesetzeaufgrund fehlender Sanktionenleider jedoch noch allzu oftwirkungslos. Ruanda ist dasje-nige Land, das ein 2008 verab-schiedetes Verbot bislang am besten und am konsequentestendurchzusetzen vermag, auchwenn auf dem Schwarzmarktimmer noch Plastiktüten ange-boten werden.

Karten retten Leben(gn) Millionen von Menschenleben in Quartieren und Slums,deren Strassen und Winkel aufkeiner Karte erfasst sind. Dieswill die Hilfsorganisation Ärzteohne Grenzen nun ändern: Im

Rahmen einer Grossaktion for-dert sie Bewohnerinnen undBewohner von Slums auf, mitihren lokalen Kenntnissen zurHerstellung detaillierter Kartenbeizutragen. Als Gegenleistungerhalten sie Mobiltelefone, mitdenen sie Details wie Häuser,Brunnen oder Leitungssystemeauf die digitale ÜbersichtskarteOpen Street Map eintragen.Solch lokales Wissen könneLeben retten, sagt ProjektleiterIvan Gayton. So ist es etwa beieinem Ausbruch einer Pandemiewie Cholera wichtig, möglichstschnell herauszufinden, wo sichdie Quelle des infiziertenWassers befindet. Darüber hin-aus kann eine Open Street Map, die sich auf die Mitarbeitvieler Freiwilliger stützt, zurEntwicklung beitragen, ist

Zeichnung von Jean Augagneur

Eine Welt Nr.1 / März 2015

Ramnath Subbaraman von der Harvard School of PublicHealth in Boston überzeugt: Je genauer man den Zustand armer Stadtteile kenne, destobesser könne man sich gezieltfür notwendige Massnahmenzur Verbesserung der Situationeinsetzen. www.openstreetmap.orgwww.msf.org.uk/missing-maps-project

Endlich Entwicklung?

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Mobilität fördert Entwicklung,Austausch und AbhängigkeitGrosse Geldgeber wie die Weltbank, die EU oder China inves-tieren seit Jahren in den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur vonSchwellen- und Entwicklungsländern. Mobilität gilt als Motorfür Entwicklung. Viele ländliche Gebiete sind jedoch bis heuteschlecht erschlossen – gleichzeitig droht in den rasch wach-senden Städten der Verkehrskollaps. Von Gabriela Neuhaus.

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Marie Dorigny/laif

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Transport

Die angejahrten Getreidemühlen im pakistanischenHunza-Tal – hoch oben im Karakorum-Gebirge –stehen still. Die hölzernen Kanäle, die seit Men-schengedenken Gersten- und Buchweizenfeldermit Wasser versorgt und die Mühlräder angetrie-ben haben, sind zerfallen. Getreide baut hier nie-mand mehr an, seit man Mehl mit Lastwagen ausdem Tiefland importieren kann. Vor gut 50 Jahrenhat China den Bau des Karakorum-Highways ini-tiiert. Die höchstgelegene Fernverkehrstrasse derWelt führt über den auf 4700 über Meter gelege-nen Kunjirap-Pass und verbindet die westchinesi-

sche Region Xinjiang mit Islamabad. Damit eröff-nete sich China einen Verkehrsweg zum IndischenOzean.

Handel mit dem TieflandSeit Fertigstellung des Highways Ende der 1970er-Jahre hat sich das Leben in den Bergtälern des Ka-rakorum drastisch verändert. Der vereinfachte Wa-renaustausch über die Grenze mit China und inspakistanische Tiefland bewirkte einen tief greifen-den sozialen und wirtschaftlichen Wandel. Jahr-hunderte alte bewährte Strategien der Subsistenz-wirtschaft wurden aufgegeben. Nicht nur das Mehl, ein Grossteil der Alltagsgüter kommt heuteaus dem Tiefland. Um sich diese Waren leisten zu können, produzie-ren die Bauern im Hunza-Tal und anderen Tälernentlang der Karakorum-Strasse Saatkartoffeln, diein dieser Höhenlage weniger krankheitsanfällig undauf dem Markt entsprechend begehrt sind. Der Ka-rakorum-Highway ist heute die wichtigste Lebens-ader der Region. Infolge von Felsstürzen, Erdbe-ben oder politischen Unruhen wird sie aber immerwieder für Tage oder Wochen unterbrochen. Diesführt in den Dörfern, die auf die Güter von aus-wärts angewiesen sind, zu prekären Versorgungs-engpässen. Trotzdem wünscht sich niemand die al-ten Zeiten zurück.

Sicher, sauber, erschwinglichDer Verbesserung von Verkehrsinfrastrukturen wirdin der Entwicklungszusammenarbeit ein hoherStellenwert eingeräumt. «Mobilität ist eine Voraus-setzung für wirtschaftliches Wachstum», schreibtzum Beispiel Marc Juhel, Sektormanager Transportbei der Weltbank, in seinem Blog. «Mobilitätbraucht es für den Zugang zu Jobs, Bildung, Ge-sundheit und anderen Dienstleistungen. Wichtig istaber in unserer globalisierten Wirtschaft auch dieMobilität von Gütern, um die Weltmärkte zu ver-sorgen. Zusammenfassend kann man sagen: Trans-port ist der Antrieb von Entwicklung.» Die Weltbank ist seit Jahrzehnten einer der wich-tigsten Geldgeber für den Bau und die Instandstel-lung von Transportinfrastrukturen in Entwicklungs-und Schwellenländern. Bis heute fliessen rund 60Prozent ihrer Investitionen für den Transportsektorjedoch einzig in den Strassenbau. Bereits 1985 forderte das international für eine nachhaltigeTransportpolitik plädierende Institute for Trans-portation & Development Policy eine Abkehr vonder einseitig auf den motorisierten Individualver-

Der Bau des Karakorum-Highways hat das Leben in den Bergtälern zwischen Pakistan und China drastischverändert.

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Daniel van Moll/laif

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Wie hier in Liberia sind bei Regen viele ländliche Regionen in Entwicklungsländern abgeschnitten, weil sie über keinewetterfesten Strassen verfügen.

kehr fokussierten Politik, hin zu einer nachhaltigenMobilität.Die rasante Entwicklung der Megacities und diedaraus erwachsenden Umwelt- und Verkehrspro-bleme führten schliesslich auch bei der Weltbankzum Umdenken: Als oberstes Ziel nennt sie in ih-rer Transportstrategie heute die Förderung eines «sicheren, sauberen und erschwinglichen Trans-

ports». Dabei engagiert sie sich insbesondere für die Entwicklung und gleichzeitig Verbesserung von öffentlichen Transportsystemen in Grossstäd-ten, stellt aber auch Gelder zur Verfügung für Or-ganisationsentwicklung und Gouvernanz im Ver-kehrssektor.

Mobilität ist nicht nachhaltigSo wichtig Transport in der globalisierten Welt ist,so gross sind die damit verbundenen Probleme: Nir-gends nehmen die CO2-Emissionen so stark zu, wieim Verkehrssektor. Der globale Handel sowie die in-ternationale Mobilität sind nur möglich dank nied-riger Erdölpreise. Schiffe, die 90 Prozent des welt-weiten Güterverkehrs transportieren, emittierengemäss einer Untersuchung des Deutschen Luft-und Raumfahrtzentrums jährlich 800 MillionenTonnen CO2 – beim Flugverkehr waren es 2012689 Millionen Tonnen. Innerhalb des Transport-sektors verursacht der Strassenverkehr jedoch mitAbstand am meisten Treibhausgase – Tendenz stei-

Klimaschutz undTransportIm Sommer 2014 beauf-tragte UN-GeneralsekretärBan Ki-moon zwölf Vertre-ter aus Politik, Privatwirt-schaft und Zivilgesellschaftmit der Erarbeitung vonEmpfehlungen für nachhal-tige Transportlösungenund deren Integration inEntwicklungsstrategien,die den Klimaschutz ein-schliessen. Die High-LevelAdvisory Group on Sus-tainable Transport wurdefür drei Jahre einberufenund soll sowohl mit Regie-rungen zusammenarbei-ten, wie auch mit Anbie-tern aus den verschiede-nen Transportsektoren wieFlug- und Schiffsverkehr,Fähren, Eisenbahn, Stras-sen- sowie öffentlicherVerkehr. Generalsekretärder Gruppe ist OlofPersson, CEO der Volvo-Gruppe; als seine Stellver-treterin wurde CarolinaTohá, Stadtpräsidentin vonSantiago de Chile, gewählt.

gend, da die Anzahl von Fahrzeugen mit Verbren-nungsmotor ungebremst zunimmt. Längst steht fest: Mobilität, wie wir sie heute ken-nen und immer noch fördern, ist nicht nachhaltig.«Ein Paradigmenwechsel in der Transportpolitik istunerlässlich, um eine gesellschaftlich und ökolo-gisch tragfähige Mobilität der Zukunft zu errei-chen», schreibt etwa Jürgen Perschon, Geschäfts-

führer des European Institute for Sustainable Trans-port (Eurist). In seinem Policy Paper, das er im Auf-trag der deutschen Friedrich Ebert Stiftung ver-fasst hat, geht er unter anderem auf die besonderenProblemstellungen in Entwicklungs- und Schwel-lenländern ein: Während in ländlichen Regionenein Mangel an Transportmöglichkeiten Mobilitätbeeinträchtigt und Entwicklung hemmt, erstickendie Städte im Verkehr.

Brasilianisches ErfolgsmodellSchlechte Luft und daraus resultierende Umwelt-und Gesundheitsprobleme sind aber nicht die ein-zigen negativen Folgen des überbordenden Stras-senverkehrs. Stau und Verkehrschaos gehören indicht besiedelten Regionen und den rasch wach-senden Städten des Südens zur Tagesordnung. Zu-dem haben in den Entwicklungsländern die tödli-chen Verkehrsunfälle stark zugenommen. Besondersgefährdet sind Fussgänger und Radfahrer in urba-nen Gebieten. Hier braucht es Lösungen, die es

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Scott Dalton/NYT/Redux/laif

David Steets/laif

Eine Welt Nr.1 / März 2015 9

Transport

auch der armen Bevölkerung in Aussenquartierenund Slums ermöglichen, ihre oft weit entferntenArbeitsplätze oder Schulen sicher und zu einem er-schwinglichen Preis zu erreichen.Als kostengünstiges und effizientes Transportmittelhat sich in den letzten Jahren in vielen Städten desSüdens ein von der öffentlichen Hand betriebenesSchnellbussystem BRT (Bus Rapid Transport)

Im Gegensatz zu Lagos/Nigeria (unten), das wie viele Grossstädte im Verkehr versinkt, setzt Bogotá mit dem ebenso kostengünstigen wie effizienten Schnellbussystem TransMilenio auf den öffentlichen Verkehr.

durchgesetzt, dessen Prototyp 1974 in der brasilia-nischen Stadt Curitiba entwickelt wurde: Eine Artoberirdische Metro, bei der Busse eingesetzt wer-den, die auf einem eigenen Trassee fahren und sonicht im Stau stecken bleiben. Den Durchbruch er-langte das Konzept im Jahr 2000 mit der Eröffnungdes TransMilenio in der kolumbianischen Haupt-stadt Bogotá. Parallel zum Bussystem wurden dort

auch Fahrradwege und Fussgängerzonen einge-richtet, womit man die Lebensqualität für die ge-samte Stadtbevölkerung verbesserte, namentlichauch für jene, die nicht-motorisiert unterwegs sind. Das Beispiel macht Schule: Fast 200 Städte auf derganzen Welt verfügen heute über ein solchesSchnellbussystem. In der südchinesischen Stadt Guangzhou etwa, wotäglich eine Million Menschen mit Schnellbussenunterwegs sind, wurden die BRT-Stationen mitdem U-Bahn-System verknüpft. Zudem stehenden Passagieren Veloparkplätze sowie 15 000 Leih-velos zur Verfügung. Wachsender Beliebtheit er-freuen sich auch Luftseilbahnen, die bereits in zahl-reichen Städten Lateinamerikas, aber auch in Afri-ka und Asien Teil des öffentlichen Verkehrs sind.

Fehlende TransportmöglichkeitenWährend in den Städten die Reduktion des Pri-vatverkehrs sowie die Gewährleistung von sicheremund bezahlbarem Transport erste Priorität haben,

Schnelle Wege durchdie LuftTäglich pendeln 440000Menschen zwischen ElAlto (4000 m.ü.M.) und dem bolivianischen Regie-rungssitz La Paz. In derVergangenheit führte dereinzige Weg über die chronisch verstopftenVerbindungsstrassen. Mit der Inbetriebnahme derersten Linie der Luftseil-bahn «Mi Teleférico» imMai 2014 verkürzte sichdie Reise von rund einerStunde auf elf Minuten.Von sozialer Bedeutung istdas neue Transportmittel,weil es für die oft armeBevölkerung in El Alto denArbeitsweg nach La Paznicht nur verkürzt, sondernauch verbilligt. ZahlreicheMegacities verbinden mitdem Bau von Luftseilbah-nen gezielt die Aufwertungvon Slums. So integriertenz.B. die ETH-ArchitektenAlfredo Brillembourg undHubert Klumpner in der ve-nezolanischen HauptstadtCaracas kulturelle, sozialeund administrative Ein-richtungen wie Gemein-schaftszentren oder eineSporthalle in die Seilbahn-stationen.

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Fautre/Le Figaro Magazine/laif

Yann Doelan/hemis.fr/laif

Eine Welt Nr.1 / März 201510

Bananentransport nahe Njundamu in Uganda: Für viele ist das Velo die einzige Möglichkeit, ihre Ernte zur Sammelstellezu bringen.

stehen ländliche Regionen vor ganz anderen He-rausforderungen: Tausende Menschen leben nochimmer mehrere Tagesmärsche entfernt von dernächstgelegenen befahrbaren Strasse. In Afghanistanoder Uganda etwa sind viele Dörfer während derRegenzeit oder im Winter kaum zu erreichen, weilsie über keine wetterfeste Strasse verfügen. DieMenschen sind zu Fuss unterwegs, die meisten ha-ben keine andere Transportmöglichkeit. Öffentli-chen Verkehr gibt es kaum. Besonders problematisch ist die Situation für Kran-ke: In Entwicklungsländern müssen 40 bis 60 Pro-zent der ländlichen Bevölkerung mehr als acht Ki-lometer zurücklegen, bis sie den nächstgelegenenGesundheitsposten erreichen. Ohne Transport-möglichkeit ist dies für Schwangere, Kranke, Kin-der oder Alte kaum zu schaffen. Deshalb suchen vie-le NGOs im Rahmen der Basisgesundheitsversor-gung nach innovativen Lösungen. Dazu gehörtauch der Einsatz von Fahrrädern: Diese ermögli-chen es dem Gesundheitspersonal, abgelegene Dör-fer zu besuchen. Für den Transport von Schwan-geren oder Kranken werden Veloambulanzen ein-gesetzt: Fahrräder mit angehängter Liege, aufwelcher Patienten und Patientinnen transportiertwerden können. Der Mangel an Mobilität in ländlichen Gebietenhat aber nicht nur auf die Gesundheitsversorgungnegative Auswirkungen. Kinder haben oft einensehr weiten Schulweg – weil sie für den Besuch ei-

ner höheren Schule auswärts wohnen müssten, ver-zichten viele auf eine bessere Ausbildung.Ein weiteres Problem ist der schwierige Zugang zuMärkten: Bauern, die ihre Produkte verkaufen wol-len, sind auf Zwischenhändler angewiesen, die überTransportmittel verfügen und naturgemäss schlech-tere Preise zahlen als bei der Direktvermarktung.Eine Studie aus dem Hochland von Kenia zeigt, mitwas für Schwierigkeiten Kleinbauern konfrontiertsind, die ihre Zwiebeln – eine wichtige Verdienst-quelle in der Region – verkaufen wollen: Sie trans-portieren ihre Produkte zu Fuss, mit Eselskarren,Velo oder vereinzelt auch mit Motorradtaxis zurSammelstelle. Das ist zwar teuer und gefährlich, abermangels öffentlicher Transportmöglichkeiten dereinzige Weg, die verderblichen Produkte schnell aufden Markt zu bringen. Hier zeigt sich: Eine Stras-se allein hilft nicht weiter – auch für die ländlicheEntwicklung braucht es verfügbare und erschwing-liche Transportmittel.

Hohe Transportkosten in Afrika Der Zustand der Verkehrsinfrastruktur hat direkteAuswirkungen auf die Transportkosten und somitauf die Produktpreise. In Afrika sind viele Ver-kehrsachsen in so miserablem Zustand, dass Last-wagen tage- und wochenlang stecken bleiben. Fürverderbliche Güter eine Katastrophe. Nebst hohenZeitverlusten infolge schlechter Strassen und lang-wieriger Grenzabfertigungen tragen auch Zollge-

Neue PrioritätenIn der Entwicklungspolitiksteht heute nicht mehr derAusbau von Strassenin-frastruktur zuoberst auf der Transport-Agenda,sondern die Frage, wieMobilität umwelt- und sozi-alverträglich optimiert wer-den kann. Mit dem Motto«Verkehr vermeiden, verla-gern, verbessern» (Avoid,Shift and Improve A-S-I)werden neue Prioritätengesetzt: Vermeiden heisst,dass künftig nach Lösun-gen gesucht werden soll,wie Mobilität eingedämmtwerden kann. Die Verlage-rung auf umwelt- und sozi-alverträgliche Verkehrs-mittel kann über Regulie-rungen und Anreizsystemegefördert werden. Und un-ter Verbesserungen fallenFortschritte technischerArt, die es erlauben, CO2-Emissionen zu reduzieren.

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Eine Welt Nr.1 / März 2015 11

Transport

Hilfe für BinnenländerIm November 2014 verab-schiedete die UNO mit der«Erklärung von Wien» ei-nen Zehnjahres-Entwick-lungsplan für die Be-schleunigung einernachhaltigen Verkehrs-entwicklung in jenen 31Entwicklungsländern, diekeinen Zugang zum Meerhaben. Kasachstan ist von all diesen Ländern mit 3750 Kilometern amweitesten von einemMeereshafen gelegen.Über 2000 Kilometer vom Meer entfernt liegenAfghanistan, Tschad, Niger,Sambia und Simbabwe.Wegen der grossenDistanz, schwierigemGelände und dem schlech-ten Zustand von Strassenund Eisenbahnverbindun-gen sind die Transport-kosten in diesen Ländernbesonders hoch. Um dieinternationalen Wettbe-werbsbedingungen armerBinnenländer zu verbes-sern, sieht der Aktionsplanvon Wien u.a. eine sub-stanzielle Verbesserungder Qualität von Strassen-verbindungen sowie – woimmer möglich – denAusbau von Eisenbahn-linien vor.

bühren und die weitverbreitete Korruption dazubei, dass Gütertransporte in Afrika extrem teuersind. Laut einer Studie der Welthandelskonferenz Unc-tad kostet der Transport einer Tonne Fracht vonDouala in Kamerun nach N’Djamena im Nach-barland Tschad 11 US-Cents pro Kilometer – dop-pelt so viel wie in Westeuropa und das Fünffachedessen, was er in Indien kosten würde. Dies hat zurFolge, dass Importprodukte teurer sind als anders-wo – aber auch, dass afrikanische Produzenten we-gen hoher Transportkosten auf dem internationa-len Markt nicht konkurrenzfähig sind.

Kein Rezept für EntwicklungEine verbesserte Verkehrsinfrastruktur hat jedochnicht nur positive Auswirkungen auf die lokaleEntwicklung. Verkehrswege sind keine Einbahn-strassen. So gelangt etwa tonnenweise importiertesBilligfleisch aus Europa auf afrikanische Märkte, woes zu EU-subventionierten Tiefstpreisen angebotenwird, bei denen einheimische Kleinbauern mitihren lokal aufgezogenen Hühnern nicht mithal-ten können. Weltweit müssen Handwerker aufge-ben, weil Importware aus China oder Korea ihreProdukte verdrängt. Die Integration in den Weltmarkt fordert ihren Tri-but. Entwicklung braucht Mobilität. Aber nichtjegliche Art von Transportförderung ist der Ent-wicklung zuträglich. Bei der Planung grosser In-

Mangels öffentlicher Transportmöglichkeiten bringen Kleinbauern – hier in Sine Saloum (Senegal) – die Ware zu Fuss odermit Eselskarren zum Markt.

frastrukturprojekte zählen in der Regel nicht dieBedürfnisse der Einheimischen, sondern die Inter-essen multinationaler Firmen, die ihre Produktemöglichst effizient und profitabel in die Entwick-lungsländer exportieren wollen. Und jene der Rohstoffkonzerne, deren Geschäft ebenfalls guteVerkehrswege für den Export erfordert. Für die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung hingegen müssen die Investitionen in eine andereRichtung gelenkt werden: Dienstleistungsein-richtungen wie Gesundheitszentren und Schulensollten prinzipiell dezentral angelegt werden. Eben-so wichtig ist die Förderung einer ressourcenscho-nenden Mobilität. Obschon sich das Leben der Einheimischen imNorden Pakistans seit dem Bau des Karakorum-Highways grundlegend verändert hat, ist die Mehr-heit immer noch bitterarm. Die Produktion vonSaatkartoffeln ist auf den ausgelaugten, überdüng-ten Böden schwierig geworden. Viele Menschen su-chen Arbeit in der Migration. 30 Jahre nach Inbe-triebnahme der Fernstrasse wird nun aber wiedergebaut: Bald soll die Fahrbahn durchgehend as-phaltiert und wintersicher befahrbar sein. An neu-ralgischen Stellen wurden Tunnels in den Berg ge-sprengt – keine Hindernisse sollen künftig die Last-wagentransporte zwischen Pakistan und Chinamehr unterbrechen. Parallel zur Strasse entstehtauch eine Pipeline, durch die künftig Öl aus demIran nach China gepumpt wird. ■

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Bettina Flitner/laif

Eine Welt Nr.1 / März 201512

«Eine Welt»: In ihren Publikationen bezeich-nen Sie Mobilität als wichtigen Baustein füreine gerechtere Welt. Befürworten Sie einMenschenrecht auf Mobilität?Patrick Kayemba: Jeder Staat ist dazu verpflich-tet, seiner Bevölkerung Dienstleistungen zur Ver-fügung zu stellen. Er muss aber auch dafür sorgen,dass diese Dienstleistungen für alle erreichbar sind.Unabhängig von Bildungsniveau oder Einkom-men – jeder Bürger und jede Bürgerin hat dasRecht auf Zugang zu Ämtern, zum Parlament oderzu Spitälern. Deshalb ist Mobilität ein zentraler Faktor für das Funktionieren einer Gesellschaft. Indiesem Sinn gibt es durchaus ein Recht auf Mobi-lität: Wo die entsprechende Infrastruktur fehlt, werden Menschen, die sich keinen Transport leis-ten können, ausgeschlossen. Es darf keine Rollespielen, ob jemand vom Land kommt oder aus derStadt – alle haben das gleiche Recht auf sozialeDienstleistungen.

Was heisst das konkret? Was braucht es, umdieses Recht durchzusetzen?Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und Mo-torisierung haben dazu geführt, dass in unserenStädten viele Einrichtungen für Fahrzeuge bessererreichbar sind als für Menschen. Fussgänger undRadfahrer leben gefährlich auf unseren Strassen. Inden Städten werden Menschen mit geringem Ein-kommen an die Peripherie verdrängt. Jeden Mor-gen legen sie auf der Suche nach Arbeit imStadtzentrum weite Strecken zu Fuss oder mit demFahrrad zurück. Damit sich auch arme Stadtbe-wohner den Weg ins Zentrum leisten können, ma-chen wir uns sowohl für die Förderung des öffent-lichen Verkehrs wie auch für nicht-motorisierteTransportlösungen stark. Indem wir Platz für denLangsamverkehr schaffen, tragen wir gleichzeitigzur Reduktion der Verkehrsunfälle bei. Diese zählenin Afrika nebst Aids und Malaria zu den häufigstenTodesursachen.

Strassen für Menschen, statt für FahrzeugeMobilität ist ein Katalysator für Entwicklung. Meist wird jedochdie Bedeutung des nicht-motorisierten Verkehrs unterschätzt.Der ugandische Verkehrsexperte Patrick Kayemba plädiert imGespräch mit Gabriela Neuhaus für eine integrierte Verkehrs-politik mit besonderer Berücksichtigung von Fussgängern undRadfahrern.

Eine Krankenstation in Kongo: Oft hat die ländliche Bevölkerung nur einen sehr beschränkten Zugang zuGesundheitsdienstleistungen.

Patrick Kayemba lebt in seinem HeimatlandUganda und in Deutsch-land, wo er als Experte fürEntwicklungsfragen zumTeam des EuropeanInstitute for SustainableTransport (Eurist) gehört.In dieser Funktion hält erVorträge und publiziertüber Themen wie nachhal-tige Verkehrsplanung inafrikanischen Städten oderMobilität für alle. Gleich-zeitig ist Kayemba Direktorder afrikanischen NGOFabio in Uganda, die sichfür eine nachhaltige Trans-portpolitik in ganz Afrikaeinsetzt. Über Verkehrs-fragen hinaus engagiertsich Patrick Kayembaauch in der Korruptions-bekämpfung sowie fürEntwicklungsfragen inAfrika. Er ist Vorsitzendervon Transparency Interna-tional in Uganda sowieMitglied des Wirtschafts-,Sozial- und KulturratsEcosocc der AfrikanischenUnion. www.eurist.infowww.fabio.or.ug

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Norbert Enker/laif

fabio.or.ug

Eine Welt Nr.1 / März 2015 13

Transport

Das heisst, es braucht mehr Radwege undFussgängerzonen?Das ist ein Ansatz. Man muss aber auch die Not-wendigkeit für Mobilität reduzieren. Die Men-schen sollen nicht ständig von einem Ort zum an-dern unterwegs sein. Da haben die Kommunikati-onstechnologien schon viel bewirkt: Heute greifenwir zum Handy oder nutzen eine öffentliche Tele-fonkabine, wenn wir mit jemandem, der geradenicht in der Nähe ist, sprechen wollen. Gefordertsind zudem die Stadtplaner. Sie müssen dafür sor-gen, dass sich Einrichtungen wie Schulen, Spitäleroder Märkte in der Nähe ihrer Nutzer befinden.Gute Planung führt zu einer Reduktion der Mo-bilität: Menschen müssen die Möglichkeit haben,sich zum Beispiel für eine Schule in der Nähe zuentscheiden. Dies setzt aber voraus, dass das Bil-dungsangebot dezentralisiert wird. Aktuell befindensich die meisten guten Schulen und Spitäler inStadtzentren, was dazu führt, dass alle dorthin drän-gen. In der ugandischen Haupstadt Kampala liegtder grösste Markt mitten im zentralen Geschäfts-viertel. Wer etwas kaufen oder verkaufen will, mussins Stadtzentrum. Um solche Entwicklungen zuverhindern, brauchen wir unbedingt eine Kombi-nation von Raumplanung und flächendeckendemöffentlichem Verkehr.

Gilt dies auch für ländliche Gebiete?In Afrika sind die meisten Strassen auf dem Landwährend der Regenzeit unpassierbar. Das ist dasHauptproblem. Bei Überschwemmungen gehenBrücken kaputt – andere werden abgebaut, um sievor Hochwasser zu schützen. Dies hat zur Folge,dass Fahrzeuge, die landwirtschaftliche Produkteabholen oder Kranke transportieren sollten, dieDörfer nicht erreichen können. Deshalb setzt sichdie NGO Fabio in Uganda dafür ein, dass die Ge-meinden eigene Fahrräder haben. Weil sich ein

Fahrrad auf jeder Strasse fortbewegen kann – egal,in welchem Zustand sie ist.

Welche Verkehrspolitik braucht es für eineMobilität für alle?Die meisten Strassen in Afrika werden mit Sub-ventionen oder Krediten der Weltbank, der EU oderder Afrikanischen Entwicklungsbank gebaut. Die-se stellen auch Mittel für die Instandstellung beste-hender Verkehrswege zur Verfügung. Es ist höchsteZeit, dass die internationalen Partner ihre Geldermit Konditionen verknüpfen, damit auch in Ein-richtungen für den nicht-motorisierten Verkehr in-vestiert wird. In der Vergangenheit wurden Ingeni-eure bei uns dafür ausgebildet, Strassen für Fahr-zeuge, nicht aber für Menschen zu bauen. UnsereKapazitäten für die Planung von menschenfreund-lichen Verkehrswegen und Städten sind limitiert.Deshalb brauchen wir da einen Transfer von Ex-perten und Wissen aus dem Norden in den Süden.

Weshalb ist es so wichtig, Mobilität zu för-dern und zu gewährleisten? Mobilität ist ein Katalysator für Entwicklung, weilsie den Transfer von Erfahrungen, Waren undDienstleistungen von Ort zu Ort ermöglicht. Diesführt zu einer Zunahme der Produktion, und da-mit auch zum Wachstum der Märkte. Fest steht: Jemehr Leute Zugang zum Markt haben, desto bes-ser läuft die Wirtschaft. Umgekehrt haben Mobi-litätsbeschränkungen zur Folge, dass Leute wenigerausgeben und nicht in der Lage sind, grosse Märk-te zu versorgen. Verbessert man die Mobilität derMenschen, trägt dies langfristig zur wirtschaftlichenEntwicklung eines Landes bei. Dies ist für uns inAfrika besonders wichtig – denn das Ziel ist, eige-ne Absatzmärkte für unsere Produkte aufzubauen. ■

(Aus dem Englischen)

Das Velo hat in Entwicklungsländern einen sehr hohen Stellenwert als Transportmittel – ob als Ambulanz in Uganda oderals Rikscha in Bangladesch.

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Eine Welt Nr.1 / März 201514

(gn) In Gebirgsregionen ist der Bau von Strassen be-sonders schwierig und heikel: Konventionelle Me-thoden mit schweren Maschinen und Felsspren-gungen sind nicht nur teuer, oft lösen sie auch Erd-rutsche und Steinschlag aus und gefährden dieUmwelt. Wo die empfindliche Vegetationsdecke ver-letzt wird, droht Erosion. Schon früh setzte dieDEZA in Nepal deshalb auf umweltfreundlichesVorgehen und die Einbindung der Dorfbevölke-rung, die beim Strassen- und Brückenbau mitbe-stimmt und mitbaut. Der Ansatz wurde mit den Jah-ren laufend verbessert und den sich veränderndenBedürfnissen angepasst: Heute braucht es vermehrtStrassen, die auch dem Gewicht von Lastwagen undBussen standhalten und möglichst ganzjährig be-fahrbar sind.

Fokus auf soziale AspekteIm Rahmen des District Roads Support Program-me DRSP unterstützte die DEZA von 1999 bis

Ende 2014 in sieben Distrikten den Bau und die In-standstellung von rund 600 Strassenkilometern. DieLokalbevölkerung wurde nicht nur in die Planungeinbezogen, sondern erhielt auf den Baustellen eineMöglichkeit, Geld zu verdienen: Bewusst setzte dasProjekt auf Handarbeit mit Hacke und Pickel undgenerierte so für die arme Bergbevölkerung insge-samt fünf Millionen bezahlte Arbeitstage. «Besonders wichtig bei den Strassenprojekten ist dersoziale Aspekt», sagt Renate Lefroy, Nepal-Pro-grammbeauftragte bei der DEZA. Während desStrassenbaus hatten die Beteiligten für rund 90 Tageein gesichertes Einkommen. Bei der Anstellungwurden benachteiligte Bevölkerungsgruppen be-sonders berücksichtigt. Mindestens ein Drittel derStellen war für Frauen reserviert, die den gleichenLohn erhielten wie die Männer. «Dies führte an-fänglich zu heftigen Diskussionen – wurde aberschliesslich akzeptiert und geschätzt», fasst RenateLefroy zusammen.

Strassen für AfghanistanDie Erfahrungen aus Nepallassen sich auch aufAfghanistan übertragen:Seit 2007 finanziert dieDEZA in der Provinz Takharin Nordafghanistan Pro-jekte zur landwirtschaftli-chen Entwicklung. Auchwegen der schwierigenErreichbarkeit – nebenÜberschwemmungen,Erdrutschen und Boden-übernutzung – gehört dieRegion zu den ärmstendes Landes. Ab Frühjahr2015 investiert die DEZAzusätzlich in bessere lokaleVerkehrswege: Im Ein-zugsgebiet zweier Flüssesollen Strassen ausgebautund dadurch ganzjährigbefahrbar werden. Dabeinutzt man die Vorteile desin Nepal erprobten arbeits-intensiven Strassenbaus:Die vierjährige Projektdauerschafft für rund 1500Menschen aus der Regioneine Beschäftigung. DasEinkommen soll helfen, dieZeit zu überbrücken, bislängerfristige landwirt-schaftliche Investitionenwie der Anbau von Obst-und Nussbäumen Ertragabwerfen.

Die Dorfbevölkerung wird beim Bau einer Strasse miteinbezogen, indem sie mitbaut, mitbestimmt und später für derenUnterhalt sorgt.

Nepals grüne, soziale und nachhaltige StrassenIn Nepal engagiert sich die Schweiz seit Jahrzehnten für den Bauvon Brücken und Strassen. Dabei entwickelte sie einen Ansatz,bei dem die lokale Bergbevölkerung nicht nur mitbestimmt,sondern selber baut und künftig auch vermehrt Verantwortungfür den Unterhalt übernimmt.

Jean Mutam

ba Lum

pungu/DEZA

Jean Mutam

ba Lum

pungu/DEZA (2)

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Eine Welt Nr.1 / März 2015 15

Transport

Eine Umfrage bei ehemaligen Strassenbauern zeigt,dass die Erwerbsmöglichkeit – obschon zeitlich be-grenzt – den Betroffenen viel gebracht hat. Ihr Zu-satzeinkommen, sagen sie, hätten sie vor allem zurDeckung von Schulden, für Nahrungsmittel und dieSchule der Kinder ausgegeben – aber auch für denKauf von Land oder die Einrichtung eines Ver-kaufsstands an der neuen Strasse.

Selber Hand anlegenNach der Fertigstellung erleichtern die besserenVerbindungen in abgelegenen Regionen Nepals, wonach wie vor die meisten zu Fuss unterwegs sind,den Weg ins nächste Dorf, in die Schule, auf denMarkt. Wo wetterfeste Strassen den Verkehr vonBussen und Lastwagen ermöglichen, verkürzen sichdie Reisezeiten zusätzlich und der Warentransportzum oder vom Markt wird einfacher und günsti-ger. Darüber hinaus löste der gemeinsame Strassenbauin den beteiligten Dörfern soziale und wirtschaftli-che Veränderungen aus. Naresh Tamang aus Lisan-ku beschreibt in seiner preisgekrönten Geschichteüber den Hasen und die Schildkröte die neue Si-tuation und das neue Lebensgefühl: «Die wirt-schaftlichen Aktivitäten im Dorf sind zahlreich undunterschiedlich – sie reichen vom Kartoffelanbauüber Ziegen- und Bienenhaltung bis zu Obstbäu-men. Der vielleicht wichtigste Unterschied ist aberdie Veränderung von uns allen. Mit dem Bau derStrasse erlangten wir das Gefühl, das Schicksal sel-ber in die Hand nehmen zu können. Wir lernten soviele Fertigkeiten, die uns helfen, unseren Kinderneine andere und bessere Zukunft zu ermöglichen.»

50 000 Kilometer Wege gebautDie Methode des arbeitsintensiven Strassenbauswird mittlerweile von weiteren Entwicklungsagen-turen sowie von der nepalesischen Regierung prak-tiziert. Mit ihren neuen Strasseninfrastruktur-Pro-

Preisgekrönt Die Erzählung «Der Haseoder die Schildkröte – werhatte die richtige Durch-haltetaktik?» gewann 2003beim DEZA-Wettbewerbzu Geschichten überNachhaltigkeit. NareshTamang beschreibt darin,wie der von den Behördenimplementierte Strassen-bau im Nachbardorf zuerstschnell vorankam, schliess-lich aber scheiterte. ImGegensatz dazu musstendie Bewohner seinesDorfes im Rahmen desDEZA-Projekts selberHand anlegen, was an-fänglich gar nicht gut an-kam. Der Bau ging viellangsamer voran. DieseStrasse funktionierte aberschliesslich und brachtedas Dorf auch sonst weiter.Dieses District RoadsSupport Programme der DEZA gewann 2011 den Innovationspreis derInternational Road Federa-tion IRF für Strassentrans-port in Entwicklungslän-dern in der Kategorie«ländlicher Transport».www.agridea-internatio-nal.ch (The Hare or theTortoise)

Der gemeinsame Strassenbau ermöglicht nicht nur den Weg ins nächste Dorf oder auf den Markt, er löst in den beteilig-ten Dörfern konkrete soziale und wirtschaftliche Veränderungen aus.

jekten entwickelt die DEZA das Konzept weiter:Der erfolgreiche Ansatz soll künftig systematisch fürden Unterhalt der Verkehrsinfrastruktur in abgele-genen Regionen eingesetzt werden. Von den rund 50 000 Kilometern lokaler Verkehrs-wege, die in Nepal seit den 1990er-Jahren gebautwurden, sind heute rund die Hälfte nicht oder nurzeitweise passierbar. Damit die Verbindungen auch

während der Regenzeit genutzt werden können,braucht es vielerorts zusätzliche Hangbefestigungen,härtere Beläge und verbesserte Entwässerungssyste-me.

Handarbeit der LokalbevölkerungDas neue Projekt unterstützt die Distrikte dabei, jeeigene Masterpläne für den Ausbau und vor allemfür den Unterhalt ihrer Verkehrsnetze zu erstellenund umzusetzen. Die Arbeiten sollen wiederummöglichst von der lokalen Bevölkerung in Hand-arbeit geleistet werden. Damit schafft man nicht nurim Strassenbau, sondern auch im Unterhalt Er-werbsmöglichkeiten. Wer auf der Baustelle Erfah-rungen gesammelt hat, soll diese zertifizieren lassenund sich künftig als qualifizierte Arbeitskraft aus-weisen können. Das neue DEZA-Programm Local Roads Impro-vement hat einen Zeithorizont von voraussichtlich14 Jahren. Aus guten Gründen: Gebaut seien Stras-sen schnell einmal – auch mit dem arbeitsintensi-ven Ansatz, sagt Renate Lefroy: «Die partizipativePlanung jedoch braucht viel Zeit. Vor allem abermuss man Verständnis für die Bedeutung des Un-terhalts wecken und dafür langfristig die notwendi-gen Kapazitäten sicherstellen – sonst macht es kei-nen Sinn, in Strassenprojekte zu investieren.» ■

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Francesco Zizola/Noor/laif

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(gn) Im Frühjahr 2014 erfolgte in Westafrika derStartschuss für ein ehrgeiziges Projekt: Die Eisen-bahnstrecke zwischen Nigers Hauptstadt Niamey indie gut 1000 Kilometer entfernte Hafenstadt Co-tonou in Benin soll bis 2016 fertiggestellt werden.Die Strecke ist ein zentrales Teilstück eines umfas-senderen Eisenbahnnetzwerks, mit dem eine Rei-he weiterer westafrikanischer Zentren miteinanderverbunden werden sollen. Das Projekt stammt ursprünglich aus dem 19. Jahr-hundert, erste Teilstrecken wurden noch währendder Kolonialzeit gebaut. Danach war es lange stillum die Eisenbahnverbindung zwischen dem Bin-nenland Niger und Benin am Golf von Guinea. EinGrund dafür sind die hohen Investitionskosten – derBau und Unterhalt von Eisenbahn-Infrastruktur istteuer und übersteigt die finanziellen Möglichkeitenvieler Entwicklungsländer. Finanziert wird das Mil-liardenprojekt denn auch in erster Linie vom pri-vaten französischen Mischkonzern Bolloré. Der In-vestor verbindet mit dem Bau dieser Strecke hand-feste wirtschaftliche Interessen: Niger exportiertjährlich 4000 Tonnen Uran über den Hafen von Co-tonou, hinzu kommt der Abbau weiterer Rohstof-

fe wie Gold oder Eisen. Mit der Verlegung desTransports dieser Exportprodukte von der Strasse aufdie Schiene, wird die Reisezeit bis in den Hafenmassiv verkürzt.

Gute Trümpfe gegenüber StrasseDie Revitalisierungs- und Ausbaupläne des Schie-nennetzes in Westafrika ist nur gerade ein Beispielunter vielen: Nachdem in den letzten Jahrzehntendie Strasse vielerorts die Eisenbahn verdrängt hatte,setzt man heute wieder vermehrt auf die unbestrit-tenen Vorteile der Schiene: Insbesondere der Trans-port schwerer Güter über weite Strecken ist mit demZug schneller, zuverlässiger und somit auch günsti-ger als auf den Strassen, die oft in schlechtem Zu-stand sind. Mit der Verlegung von Eisenbahnlinien werdenTransportkorridore geschaffen, die sich positiv aufdie Entwicklung der regionalen Wirtschaft auswir-ken können. Dies ist aber nur der Fall, wenn nebstdem internationalen Rohstoffgeschäft auch lokaleProduzenten und die breite Bevölkerung die neu-en Verbindungen nutzen und von ihnen profitierenkönnen. ■

Sowohl in Afrika (oben Kenia) wie Asien sind neue Eisenbahnlinien in Planung: Erfahrungsgemäss wirken sie sich positivauf die regionale Entwicklung aus.

Schiene statt AsphaltDie Kolonialmächte investierten einst in grossem Stil in Schie-nennetze, um Rohstoffe aus dem Landesinnern in die Häfen zubefördern. Heute erlebt die Eisenbahn als Transportmittel undTreiberin für regionale Entwicklung einen neuen Aufschwung.

Ausbau undModernisierung Der Bau von Eisenbahnenboomt vorab in Entwick-lungs- und Schwellenlän-dern: Netzausbauten ingrossem Stil erfolgen rundum den Persischen Golf,im Maghreb sowie imsüdlichen Afrika. Treiben-de Kraft dabei ist China,das in den letzten Jahrennicht nur sein eigenesEisenbahnnetz massivausgebaut hat, sondernweltweit in Revitalisierungund Neubau von Schie-nenverbindungen inves-tiert. Das Projekt einespanasiatischen Bahn-netzes etwa hat zum Ziel,den regionalen Güter-transport anzukurbeln undgrenzübergreifend einenintegrierten Markt aufzu-bauen. China investiertnicht nur in mehr Schie-nenkilometer, aber auch in innovative Technologie:Schnellzüge mit Ge-schwindigkeiten von biszu 350 Kilometern proStunde sind ebenso fürChina selber bestimmtwie für den Export sowiedie Verbindung durchZentralasien bis nachEuropa.

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Naftali Hilger/laif

Schlüsselzahlen• In Afrika sind 90 Prozent der ländlichen Bevölkerung zu Fuss unterwegs.

• Jährlich sterben 1,2 Millionen Menschen bei Strassenunfällen, 92% in Schwellen- und Entwicklungsländern, davon fast die Hälfte in städtischen Gebieten. Obschon nur 2% der weltweit zugelassenen Fahrzeuge in Afrika verkehren, sterben dort schätzungsweise jedes Jahr 200000 Menschen bei Verkehrs-unfällen – dies entspricht 16% der globalen Verkehrstoten.

• In Nigeria müssen Kinder des ärmsten Fünftels der Bevölke-rung im Durchschnitt fünfmal so weit reisen bis zur nächsten Primarschule wie jene, die dem wohlhabendsten Fünftel angehören.

• Seit 2002 hat die Weltbank den Bau und die Instandstellung von über 260000 Strassenkilometern unterstützt.

• Der Anteil des Verkehrs am weltweiten CO2-Ausstoss beträgt

aktuell 23%. Rechnet man Strassenbau und Autoherstellung dazu, sind es 30%. Geht die Entwicklung gleich weiter wie bisher, werden 2050 80% der CO

2-Emissionen durch Verkehr

verursacht.

Durchschnittliche Strassendichte pro 100 km2 der GesamtflächeAfrika 6,8 km Asien 18 kmLateinamerika 12 kmSchweiz 173 km

Eine Welt Nr.1 / März 2015 17

Transport

Facts & Figures

LinksInternational Forum for Rural Transport and Development –IFRTDDie Organisation engagiert sich für die Verbesserung der Mobilität der armen Bevölkerung auf dem Land. Heute unterhältsie ein breites Netzwerk von Mitgliedern, vor allem im Süden. Die DEZA gehört zu den wichtigsten Gebern des IFRTD-Netz-werks. www.ifrtd.org

Institute for Transportation & Development Policy – ITDPDie Organisation geht auf die US-amerikanische Bewegung«Fahrräder statt Bomben» (Bikes Not Bombs) zurück, die in den 1980er-Jahren Velos nach Nicaragua schickte, um dort dieGesundheits- und Bildungsarbeit zu unterstützen. Seither ent-wickelte sich das ITDP zu einer der wichtigsten Institutionen bezüglich der Entwicklung von nachhaltigem Transport in denStädten. www.itdp.org

European Institute for Sustainable Transport – EuristDie NGO mit Sitz in Hamburg setzt sich weltweit für eine bessere Nachhaltigkeit von Transport und Mobilität ein. Dazugehören das Aufzeigen von Zusammenhängen zwischen Trans-port und CO

2-Emissionen, Armutsbekämpfung, Umweltschutz,

Verkehrssicherheit und Frachtgut. www.eurist.info

Rural Access Indicator – der Index gibt an, wieviele Menschen in einem Radius von zwei Kilometern von ihremWohnort entfernt Zugang zu einer «Allwetterstrasse» haben. Insgesamt über einer Milliarde Menschen fehlt dieserZugang – dies entspricht einem Drittel der ländlichen Bevölkerung weltweit.

0-32

33-49

50-70

71-86

87-100

unbekannt

RAI (%)

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Axel Krause/laif

Eine Welt Nr.1 / März 201518

Ein Schulzimmer in der afrikanischen Provinz. Anrohen Holzpulten sitzen bunt gekleidete Mädchenund Buben auf einfachen Holzbänken. Eine Schü-lerin steht vor der grauen Schreibtafel an der Stirn-wand und liest die mit weisser Kreide schön ge-schriebenen Sätze mit schwacher Stimme und mit-unter etwas stockend vor. Eine Schulszene, wie eszahllose auf dem ganzen Kontinent gibt. Doch etwas ist hier anders als in anderen afrikani-schen Klassenzimmern. Auf der Tafel stehen nicht

Noch immer besuchen in Burkina Faso mehr Knaben als Mädchen die Schule.

nur Sätze in der offiziellen Verwaltungssprache undSprache der ehemaligen Kolonialmacht, in diesemFall Französisch, sondern auch solche in Moore, ei-ner einheimischen Sprache Burkina Fasos. Wir sindim Dorf Sakoinsé, eine knappe Autostunde von derHauptstadt Ouagadougou entfernt. Unter seinenetwa 7000 Einwohnerinnen und Einwohnern gibtes wie im ganzen Land viele, die nie zur Schule gin-gen, weder schreiben noch lesen und auch nichtFranzösisch gelernt haben.

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Volksaufstand mit ungewissem Ausgang Burkina Faso galt lange als Hort der Stabilität in Westafrika. Präsident Blaise Compaoré war es gelungen, zu einem Partnerwestlicher Länder in Politik und Entwicklungszusammenarbeitzu werden. Seine autoritäre Führung liess jedoch keine wirkli-che Mitbestimmung der Bevölkerung zu. Ende Oktober 2014 entlud sich der Volkszorn der Burkinabè in einem Aufstand, derCompaoré zum Rücktritt zwang. Von Ruedi Küng*.

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Pep Bonet/Noor/laif

Eine Welt Nr.1 / März 2015 19

Burkina Faso

Vor neun Jahren hätten sie von einer lokalen Or-ganisation erfahren, dass es in ihrem Land einenneuen Schultypus für Kinder und Jugendliche gebe,die den Eintritt in die Primarschule verpasst haben,erklärt der Chef du Village, Soulli Félix – auf Fran-zösisch. Dabei können 9- bis 16-Jährige dank desUnterrichts in der Muttersprache die sechsjährigePrimarschule in vier oder fünf Jahren nachholen.Aus diesem Grund hätten die Eltern für ihre Kin-der, die nicht zur Schule gingen – es sind mehrereHundert – die Einrichtung einer solchen Schule inSakoinsé gewünscht, berichtet Soulli Félix. Und

dies trotz des Umstandes, dass sie pro Kind und Jahr1500 Francs CFA (2.75 Fr.) bezahlen müssen, waswenig scheint, die Familienbudgets jedoch schwerbelastet. Eine weitere Bedingung sei die Bildung ei-ner Elternvereinigung gewesen, die sich regelmäs-sig versammelt und den Schulbetrieb begleitet. DieSchule besteht nun schon seit bald acht Jahren, 2011konnte eine zweite eröffnet werden. Für die Leute von Sakoinsé sind Versammlungen inzwischen zur Gewohnheit geworden. Sie finden

Burkina Faso inKürze

NameBurkina Faso («Land deraufrichtigen Leute»)

HauptstadtOuagadougou

Fläche274 200 km2

Einwohner17 Millionen

SprachenAmtssprache Französisch;insgesamt über 60 Um-gangssprachen

Durchschnittsalter17 Jahre

LebenserwartungFrauen 57 Männer 53

ReligionenMuslime 60% Christen 25% Einheimische 15%

SchulbildungNur ein Drittel aller über15-Jährigen und knapp40% der 15-24-Jährigenkönnen lesen und schrei-ben. DurchschnittlicheKlassengrösse: 48

Wirtschaft90% der Bevölkerung betreibt Subsistenz-Landwirtschaft. DieBaumwollproduktion gene-riert ein Drittel des BIP, die Goldförderung 13%.

ExportprodukteBaumwolle, Tierprodukte,Gold

Burkina Faso

Ghana

Nigeria

Benin

Mali

Die schwache Alphabetisierung der erwachsenen Bevöl-kerung bremst das Land stark in seiner Entwicklung.

Elfenbeinküste

im Freien unter grossen Néré-Bäumen statt, die die drückende Hitze etwas mildern. Dennoch glän-zen Schweisstropfen auf den Gesichtern der Män-ner und Frauen, die gesondert auf den Holzbänkender Schule sitzen. Die Zungen sind gelöst, man hältmit der eigenen Meinung nicht zurück. Die Elternsind mit der Schule zufrieden, übersetzt der Dorf-vorsteher die Voten der Anwesenden. Leider abergenügten die zwei Spezialschulen bei weitem nicht für alle Jugendlichen, die die Primarschuleverpasst oder vorzeitig verlassen hätten. Die Eltern beantworten bereitwillig Fragen: Ja, esgingen mehr Knaben als Mädchen zur Schule, sagtein Vater. Nein, er sehe darin kein Problem, von sei-nen drei Kindern habe er einer Tochter und demSohn den Schulunterricht ermöglichen können.Mädchen und Knaben sollten gleichermassen zurSchule gehen können, meint eine Mutter. Tatsäch-lich aber erhalten in Burkina Faso noch immer vielmehr Knaben als Mädchen eine Schulbildung.

Über 100 zweisprachige SchulenDie ersten zweisprachigen Schulen wurden in Bur-kina Faso 1994 von der Organisation Solidar Suis-se eröffnet. 2007 übernahm die Regierung diezweisprachige Ausbildung in die offizielle Bil-dungspolitik und spielte damit eine Pionierrolle inWestafrika. Die Vorteile der zweisprachigen Aus-bildung sind mittlerweile allgemein anerkannt undwerden kaum mehr bestritten. Statt in der ihnenvöllig fremden Sprache Französisch erhalten dieKinder zuerst in ihrer Muttersprache Primarschul-unterricht und lernen erst später Französisch, dasals Amtssprache und solche der höheren Ausbildungseine Bedeutung hat. Der Lernerfolg wird durch diese Methode markanterhöht. Es gibt bis heute weit über 100 zweispra-chige Schulen in Burkina Faso, der grösste Teil da-von staatliche, rund ein Dutzend sind katholisch,einige wenige privat. Angesichts der über 11000Schulen im Land ist dies aber noch immer wenig,wie die zuständige Erziehungsministerin KoumbaBoly-Barry im Gespräch einräumt.

Jugend wird für Arbeitslosigkeit ausgebildet...Die Bildungssituation insgesamt ist trotz dieserFortschritte nach wie vor prekär, was im UNO-In-dex der menschlichen Entwicklung HDI zum Ausdruck kommt. Burkina Faso gehörte 2014 mitRang 181 von 187 zu den am wenigsten ent-wickelten Ländern. Dabei wiegt von den drei Kom-ponenten des HDI – Lebenserwartung bei Geburt,Bruttoinlandprodukt pro Kopf sowie das Ausbil-dungsniveau – letzteres bei Burkina Faso amschwersten. Die Alphabetisierung der erwachsenen

Niger

Togo

Ouagadougou

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Legnan Koula/Keystone

Eine Welt Nr.1 / März 201520

Die grüne BrigadeMan muss vor vier Uhrfrüh aufstehen, wenn manihnen begegnen will. Mitgrünen Arbeitsblusen undfarbigen Kopftüchern be-kleidet, ausgerüstet mitBesen, Schaufeln undBecken, kehren mehrheit-lich ältere Frauen noch vor dem morgendlichenStossverkehr die Strassender Hauptstadt Ouaga-dougou. Sie tun dies seit1995, aufgerufen vomlangjährigen BürgermeisterSimon Compaoré.Anfänglich wenige Hun-dert «Frauen von Simon»,beseitigen heute mehr als2000 Frauen den allge-genwärtigen Staub undden Unrat von denStrassen und Wegen –und mitunter auch dasUnkraut daneben. Die«Grüne Brigade», so ihrneuer Name, wurde mitPreisen ausgezeichnetund in afrikanischenKapitalen nachgeahmt.Gross war die Freude derFrauen, als 2013 der neueBürgermeister ihr beschei-denes Salär von monatlich25 auf 75 Franken erhöhte.

Vom Wirtschaftswachstum, das sich insbesondere in Bauprojekten und im Strassenbau in Ouagadougou äussert, profitiert nur eine kleine Elite.

Bevölkerung ist schwach und die Fortschritte beider Einschulung der grossen Mehrheit der Kinderwerden dadurch zunichte gemacht, dass nur einkleiner Teil der Primarschulabgänger die Sekund-arschule besucht, wie der UNO-Repräsentant fürBurkina Faso, Pascal Karorero, erläutert. Noch brisanter beurteilt der BildungsfachmannPaul Ouédraogo aus Ouagadougou die Situationseines Landes. «Wir haben das Problem einer Ju-gend, die für die Arbeitslosigkeit ausgebildet wird»,sagt er. Für die Schulabgänger in den Städten sei esäusserst schwierig, eine geregelte Arbeit zu finden.Und wer das Glück habe, eine zu finden, müsse sichmit einem Salär zwischen umgerechnet 150 und200 Franken zufriedengeben. Ein Handwerkermüsse mit etwa 70000 FCFA (knapp 130 CHF) imMonat eine siebenköpfige Familie ernähren, einPrimarlehrer erhalte gerade mal 15000 FCFA, soviel koste ein Sack Reis! Sehr viele Menschenkönnten sich nicht mehr jeden Tag, sondern nurnoch alle zwei Tage eine Mahlzeit leisten. Für die grosse Mehrheit der Bevölkerung des Sa-hellandes, die auf dem Land lebt und unter zuneh-mend schwierigeren klimatischen Bedingungeneine einfache Landwirtschaft für den Eigenbedarfbetreibt, ist die Lage nicht besser. Über 40 Prozentvon ihnen leben unter der Armutsschwelle.

Erstaunliches WirtschaftswachstumEinen anderen Eindruck vermittelt die Wirt-schaftsstatistik. Burkina Faso verzeichnete in denvergangenen Jahren ein erstaunliches Wirtschafts-wachstum (2013: 6.9%, 2012: 9%). Dazu trug in ers-ter Linie das «Weisse Gold» bei, die Baumwolle, dieeinen beträchtlichen Teil des Bruttoinlandproduktserwirtschaftet. Die eigentliche Goldproduktion ist auch von Be-deutung, litt jedoch an Preiseinbussen auf demWeltmarkt. Dass Burkina Fasos Regierung übermehr Einnahmen verfügt, wird etwa am regenStrassenbau in der Hauptstadt, dem Bau der luxu-

riösen Neustadt Ouaga2000 oder dem Kauf russi-scher Kampfjets für umgerechnet 700 MillionenFranken offensichtlich. All dies kommt bei vielenLeuten nicht gut an, die einen immer grösseren Teilihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müs-sen. Vom Wirtschaftswachstum profitiere nur einekleine Elite, meint Paul Ouédraogo, auf den Tellernder Leute komme davon nichts an. Die Kluft zwi-schen Arm und Reich vertiefe sich.

Volkszorn entlädt sich auf der StrasseSo erstaunt es nicht, dass die Burkinabè in der jün-geren Vergangenheit mit Präsident Blaise Compa-oré immer unzufriedener geworden sind. Er regiertdas Land seit seiner gewaltsamen Machtübernah-me 1987. Proteste und Meutereien gegen ihn gabes schon in früheren Jahren. Im Jahr 2011 waren sieso schwer, dass der Präsident seinen Posten nur ret-ten konnte, indem er die Führung der Armee undGendarmerie auswechselte, eine neue Regierungbildete und ein paar Zugeständnisse machte –höheren Sold für die unzufriedenen Soldaten unddie rebellierende Präsidialgarde, sowie Gesprächemit der Opposition. Die letzte Hoffnung für die Unzufriedenen, Com-paoré loszuwerden, verhiess Artikel 37 der Verfas-sung, der den bereits zweimal Gewählten von ei-ner weiteren Präsidialwahl ausschloss. Als Compa-oré diesen Artikel durch willfährige Regierungs-mitglieder aushebeln lassen wollte, lief das Fass desVolkszorns über. Die Menschen protestierten in sol-chen Massen auf der Strasse, dass der Präsident nachzähem Widerstand Ende Oktober 2014 seinenRücktritt erklären musste. Die Zukunft des Sahel-landes ist ungewiss. ■

*Ruedi Küng war während zwölf Jahren Afrikakor-respondent des Schweizer Radios und arbeitet heute mitInfoAfrica.ch als Afrikaspezialist.

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CAGCT

Eine Welt Nr.1 / März 2015 21

In einem Land, in dem die Lebenserwartung ge-rade mal 55 Jahre erreicht, kann ich von Glück re-den: Ich bin 60 geworden und habe das offizielleRentenalter für leitende Angestellte erreicht. EndeDezember habe ich mich deshalb von meinenDEZA-Kollegen verabschiedet, nachdem ich ei-nem von ihnen meine Dossiers, nämlich Grund-und Berufsbildung, übergeben hatte.

Im Kooperationsbüro bin ich seit 1998 und habemich seither mit Programmen in allen Einsatzbe-reichen der DEZA beschäftigt. Oft war ich unter-wegs, um unsere Projekte zu begleiten; fast überallwar ich «der Mann mit dem weissen Haar». Da-ran erkennt man mich seit Langem. Schon mit 45Jahren hatte ich kein einziges schwarzes Haar mehr.

Während meiner Besuche vor Ort pflegte ichabends informelle Kontakte mit den lokalen Pro-jektverantwortlichen oder mit den Begünstigten.Wir plauderten an einer Bar oder in einer Beiz beieiner Kalebasse Dolo, dem hiesigen Hirsebier. Die-se ungezwungenen Gespräche haben mich viel ge-lehrt. So haben mir Bauern eines Tages erklärt, wiesie es geschafft hatten, dass in ihrem Dorf ein Brun-nen gegraben wurde. Sie hätten ja gewusst, dass dieSchweizer Zusammenarbeit die Bedürfnisse derFrauen sehr wichtig nehme und diese deshalb be-auftragt, das Problem der DEZA vorzulegen undum finanzielle Unterstützung zu bitten. Ihre Stra-tegie ist aufgegangen, wir haben dem Antrag statt-gegeben. Das Dorf verfügt heute über einen Brun-nen.

Aus dem Alltag von ... Alfred Zongo, Programmverantwortlicher im Schweizer Kooperationsbüro in Ouagadougou

Allerdings wollten nicht alle Partner etwas mit mirtrinken gehen. Viele mochten mich nicht beson-ders, weil ich den Ruf hatte, die Rechenschafts-berichte kompromisslos zu analysieren. Ich kon-trollierte die Verwendung der DEZA-Gelder sehrgenau. Manche sagten: «Bei Zongo kann man nichteinen Franken der Schweizer Zusammenarbeitunterschlagen.»

Unter dem Strich bin ich besonders stolz darauf,was wir in der informellen Bildung erreicht ha-

DEZA

Von Weidewirtschaft bisDezentralisierungIn Burkina Faso engagiertsich die Schweizer Zu-sammenarbeit vor allem in vier Bereichen. Einer davon ist die ländlicheEntwicklung: Die DEZA ist seit 1974 im Land undunterstützt Ackerbauernund Viehzüchter bei derModernisierung ihrerBetriebe, damit sie ihrEinkommen verbessernund Lebensmittelkrisenbesser überstehen kön-nen. Eine weitere Inter-ventionsachse ist dieStaatsreform: Die DEZAunterstützt den Dezentra-lisierungsprozess, stärktdie Position der lokalenAkteure und fördert dieBürgermitbeteiligung. ImBereich der Grund- undBerufsbildung geht es ins-besondere darum, denAnalphabetismus auszu-merzen. Das Staatssekre-tariat für Wirtschaft (Seco)konzentriert sich auf dieVerwaltung der Staatsfi-nanzen. www.deza.admin.ch/burkinafasowww.cooperation-suisse.admin.ch/burkinafaso

Burkina Faso

ben. In diesem Bereich hat die DEZA eine Pio-nierrolle gespielt. Vor 30 Jahren finanzierte nur sieUnterricht für Analphabeten und jugendlicheSchulabbrecher. Dank diesem Anstoss haben auchandere Geber begonnen, diese Bildung zu unter-stützen, und die Burkiner Behörden haben sieschliesslich in ihre Bildungspolitik integriert.

Ganze Arbeit haben wir auch in der Weidewirt-schaft geleistet: Wir haben die Schaffung einesWanderweidewirtschaft-Gesetzes unterstützt. Da-mit liessen sich im Osten des Landes, wo sich Vieh-züchter und Ackerbauern immer wieder in dieQuere kamen, Wanderweide-Korridore und Wei-dezonen definieren. Verwaltungskomitees solltendie Einhaltung der Regelungen überwachen. Lei-der funktionieren sie nicht mehr, seit keine DEZA-Mittel mehr fliessen. Der Ackerbau hat wieder aufdie Viehzuchtflächen übergegriffen. Dass erneutKonflikte ausbrechen, ist unvermeidlich – mir zer-reisst es das Herz.

Nach 35 Jahren in Ouagadougou bin ich auf denRuhestand hin wieder in mein Heimatdorf Poazurückgekehrt. Bereits habe ich ein paar Frucht-bäume neben das Haus gepflanzt und will auchHühner halten. Neben diesen Aktivitäten bleibtmir Zeit, um die Dorfgemeinschaft zu unterstüt-zen. Der Gemeinderat von Poa braucht Beratung,vor allem für die Dezentralisierung und bei derFrage, wie man die Bevölkerung zu mehr Mit-wirkung bewegen kann. ■

(Aufgezeichnet von Jane-Lise Schneeberger; aus demFranzösischen)

«Nicht alle Partner wollten mit

mir etwas trinken gehen.»

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Goran Basic/Keystone

Eine Welt Nr.1 / März 201522

In der reichen mündlichen Überlieferung BurkinaFasos kennen wir den Sinnspruch: Die Butterschläft, sie ist nicht tot. Der Spruch redet nicht nurder Geduld und der Leidensfähigkeit das Wort,sondern auch der Möglichkeit des Aufwachens,Ausbrechens und Explodierens. Die verschiedenenEigenschaften der Karité-Butter lassen sich auch aufdas burkinische Volk übertragen: Der Aufstand vomvergangenen Herbst veranschaulicht die Metapherbestens.

Doch was hat die eingefrorene Butterzum Auftauen, Verflüssigen, Sieden ge-bracht – und schliesslich dazu, am 30.und 31. Oktober 2014 eine Spur derVerwüstung zu hinterlassen? Bestimmtmehrere Gründe auf einmal. Aus unse-rer Perspektive lassen sie sich jedoch ineinem Wort ausdrücken: Exzess.

Das beste Beispiel dazu ist sicherlich dieArt und Weise, wie die Verfassung im-mer wieder zugunsten des Präsidentenund seines Clans manipuliert wurde.Artikel 37 des Burkiner Grundgesetzesstipulierte, der Staatschef werde für einsiebenjähriges Mandat gewählt, welcheseinmal erneuert werden kann. DieseBestimmung liess Blaise Compaoréohne nennenswerte Opposition wäh-rend vierzehn Jahren unbehelligt schal-ten und walten.

Zur ersten Manipulation kam es in sei-ner zweiten Amtszeit: Artikel 37 wur-de abgeändert und damit die Amtszeit-beschränkung aufgehoben, so dass der Präsident sich nun beliebig oft der Wiederwahl stellen konnte. Zugleichwurde alles getan, um protestierendeStimmen und Bestrebungen des Volkeszum Schweigen zu bringen: Drohun-gen, Einschüchterung, ja sogar Mord an Opposi-tionellen wie etwa an Professor Oumarou Clément

Genug ist genug!

Stimme aus ... Burkina Faso

Ouédraogo und am Enthüllungsjournalisten Nor-bert Zongo, Herausgeber der Wochenzeitung «L’Indépendant». Dieser letzte, 1998 verübte Mord,führte zu einem landesweiten Aufstand, der dasRegime fast in die Knie zwang.

Der Rat der Weisen schlug als Weg aus der Kriseunter anderem vor, das Präsidentenamt wieder auffünf Jahre und eine Wiederwahl zu beschränken.

Diese nicht rückwirkende Bestimmungtrat 2005 zum Ende der beiden erstensiebenjährigen Amtszeiten von BlaiseCompaoré in Kraft. Dieser wurde 2005denn auch für ein drittes, diesmal fünf-jähriges Mandat wiedergewählt und2010 für ein viertes und letztes. Ende2015 wäre Compaoré insgesamt 28Jahre an der Macht gewesen. Er undseine Mitstreiter hielten dies jedochnicht für genug. Sie versuchten mitihren Machenschaften, die Verfassungein weiteres Mal abzuändern undihrem Präsidenten nochmals 15 JahreHerrschaft zu sichern.

Genug ist genug, war die Antwort desVolkes. Trotz zersetzender, fremder Le-bensweisen, welche unsere Bevölke-rung entfremden, insbesondere die Ju-gendlichen, haben die beiden histori-schen Tage im Oktober 2014 gezeigt,dass die Burkinabè ein standhaftes Fun-dament aus ethisch-moralischen Wer-ten bewahrt haben. Diese begründen,schützen und erhalten ihren Ruf als in-tegre Menschen, pflegen Toleranz, Ver-gebung, Respekt vor der Hierarchieund Friedfertigkeit – allesamt Werte,die es Blaise Compaoré ermöglicht ha-ben, trotz etlicher Turbulenzen 27 Jah-re lang zu regieren. Sie verabscheuendagegen Durchtriebenheit, Unredlich-

keit, Wirtschaftskriminalität, Bluttaten und Wort-bruch.

Die masslose Anhäufung dieser politischen Lasterhat den Brand entfacht. Er hat die burkinische But-ter zum Schmelzen und schliesslich zum Sieden ge-bracht. Sie schlief, aber tot war sie nicht, wie dieMachthaber wähnten, welche der ungestüme Aus-bruch Ende Oktober gestürzt hat.

Und à propos Butter: Hoffen wir, dass das BeispielBurkina auch anderswo Wirkung zeigt! ■

(Aus dem Französischen)

Martin Zongo studierte

an der Universität

Ouagadougou moderne

Philologie und unterrich-

tete danach an verschie-

denen Gymnasien und an-

deren Schulen in Burkina

Faso und an der Elfen-

beinküste Französisch.

Gleichzeitig übernahm er

politische Verantwortung,

war von 1984 bis 1986

Hochkommissar der

Provinzen Nahouri und

Boulgou und von 1987

bis 1991 Generalsekretär

der Burkiner Unesco-

Kommision. Seit 2003 lei-

tet der heute 58-Jährige

das Kulturzentrum

Carrefour international de

théâtre de Ouagadougou

(Cito).

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Fondation Hirondelle

23Eine Welt Nr.1 / März 2015

Auf nordafrikanischeUmwälzung reagiertBis zum Ausbruch der ara-bischen Revolutionen wardie DEZA in Nordafrikakaum aktiv, ist sie doch inder Regel in Ländern mitweit grösserer Armut tätig.Angesichts der starken politischen Umwälzungenentschied die SchweizerRegierung im Jahr 2011 jedoch rasch, die betroffe-nen Länder bei ihrem de-mokratischen Wandel zuunterstützen und ihre wirt-schaftliche Entwicklung zufördern. Die DEZA arbeitetdabei eng mit zahlreichenweiteren Bundesstellen zu-sammen (siehe «Eine Welt»1/2013). Die Schweiz undTunesien haben ausser-dem eine umfassendeKooperationsvereinbarungim Bereich Migration. www.eda.admin.ch (DEZA,Länder, Nordafrika)

(mw) Die Lausanner Stiftung Hirondelle ist auf dieFörderung unabhängiger Medien in Krisengebie-ten spezialisiert. Finanziert von der DEZA, unter-stützt sie seit Juni 2011 Radio Gafsa, einen von fünfRegionalsendern von Radio Tunisienne, dem öf-fentlichen nationalen Radio. «Diese Zusammenar-beit hat vieles verändert», sagt Hela Saoudi, ehe-malige Programmdirektorin des Senders, «RadioGafsa hat heute mehr Lokalkorrespondenten, unddank einer Umfrage wissen wir mehr über die Be-dürfnisse der Hörerinnen und Hörer.» Unter an-derem führte dies zu einer Neustrukturierung desWochenprogramms und zur zeitlichen Verschie-bung von Nachrichtensendungen.«Zu Beginn des Projekts hat die Fondation Hiron-delle kurzzeitig mit allen Sendern von Radio Tu-nisienne gearbeitet», erklärt Souhaib Khayati, Pro-grammbeauftragter der Abteilung internationaleZusammenarbeit der Schweizer Botschaft in Tu-nis. Dies mit dem Ziel, im Vorfeld der Wahlen vomOktober 2011 möglichst ausgewogen zu infor-mieren. «Schon nach wenigen Wochen», erinnertsich Khayati, «konnte man ein neues journalisti-sches Verhalten feststellen.» Die grosse Meinungs-vielfalt auf den Sendern stellte nach der Abschaf-

fung des Einparteiensystems ein Novum dar. Dankdieses Erfolgs und der vielversprechenden Ent-wicklung von Radio Gafsa wurde das Projekt mitt-lerweile nicht nur auf zwei Regionalsender aus-geweitet, es wird gar der Einbezug weiterer Sen-der diskutiert.

Ungewisse Zukunft«Früher waren Politik, Religion und soziale The-men tabu», sagt Hela Saoudi. «Heute berichtetman offener und bemüht sich, allen Bürger-schichten eine Stimme zu geben. Wir versuchenaber auch, Lösungen für abgelegene Gebiete zu fin-den, die kaum Radioempfang und keinen Stromhaben.» Wie schnell sich solche Ziele umsetzen las-sen, ist offen. Auch die Zukunft von Radio Gafsa ist teilweiseungewiss. Für drei Jahre noch unterstützt dieSchweiz Radio Tunisienne, danach ist die Finan-zierung der Lokalkorrespondenten Sache des Ra-dios selber. Souhaib Khayati ist zuversichtlich, dassdieser Übergang klappen wird: «Das Bewusstsein,dass Informationssendungen nicht nur mit Inhal-ten aus Tunis gefüllt werden können, ist mittler-weile gross.» ■

DE

ZA

Ein Radio ohne TabusAuf dem Weg zu einem ausgewogeneren Programm und mehrProfessionalität unterstützt die DEZA seit dem Sturz des tune-sischen Präsidenten Ben Ali 2011 die einst staatlich kontrol-lierten Sender von Radio Tunisienne. Die Neuausrichtung desRegionalsenders Radio Gafsa diente dabei als Pilotprojekt.

Mehr Themen, grössere Meinungsvielfalt: In Tunesien unterstützt die Schweiz mehrere Regionalsender von RadioTunisienne.

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Cabi

24 Eine Welt Nr.1 / März 2015

Von der Insektenkundezur internationalen NGODie Anfänge von CABI, derTrägerorganisation vonPlantwise, liegen im kolo-nialen England. 1910wurde das EntomologicalResearch Committee ge-gründet, um in AfrikaInsektenkunde zu betrei-ben. Dies mit dem Ziel,Schädlinge von Kultur-pflanzen zu bekämpfen. ImLaufe der Zeit kamen zahl-reiche wissenschaftlicheFachrichtungen und Aus-bildungsprogramme hinzu.Heute ist CABI eine Mit-gliederorganisation, dievon über 48 Ländern ge-tragen wird. Aktuell arbei-tet CABI in rund 70 Län-dern und beschäftigt rund400 Mitarbeitende. DerHauptsitz liegt nach wievor in England, hinzu kommen elf weitere CABI-Zentren. Eines davon be-findet sich seit über 50Jahren im jurassischenDelsberg. www.cabi.orgwww.plantwise.org/know-ledgebank

(mw) Dass Menschen in Gotteshäusern nach Hei-lung suchen, gehört auf allen Erdteilen zur Kulturund überrascht niemanden. In zahlreichen TempelnSri Lankas ist allerdings seit rund zwei Jahren eineneue, überaus spezielle und unübliche Art Patientzu beobachten: Reisschösslinge, Teeblätter, Kokos-nüsse oder Chili – also Nutzpflanzen. Ein- bis vier-mal pro Monat beraten speziell ausgebildete Land-wirtschaftsexperten – sogenannte Pflanzendokto-ren – die Bauern und Bäuerinnen bei der Be-kämpfung von Schädlingen, Krankheiten oderNährstoffmängeln. «In anderen Ländern werden Pflanzenkliniken oftauf lokalen Märkten eingerichtet, bei uns befindensich die meisten in einem Tempel», sagt PalithaBandara, leitender Mitarbeiter in Sri Lankas Land-wirtschaftsdepartement. Einen besonderen Grund

für diese Ortswahl gebe es nicht, es habe sich ein-fach so ergeben.Sri Lanka beteiligt sich am Programm Plantwise,das von der internationalen NGO CABI durch-geführt wird. Dieses setzt sich zum Ziel, bis Ende2016 in 40 Entwicklungs- und Schwellenländernüber 1000 Pflanzenkliniken zu schaffen, um so dieErnährungssicherheit zu erhöhen.

Epidemieausbruch vermeidenIn Entwicklungsländern gibt es laut der Ernäh-rungs- und Landwirtschaftsorganisation der Ver-einten Nationen (FAO) rund 500 Millionen Klein-farmen. CABI schätzt, dass diese aufgrund vonPflanzenschädlingen und Krankheiten jedes Jahrrund 30 bis 40 Prozent ihrer Ernte verlieren. Vie-le dieser Bäuerinnen und Bauern haben keine

Mehr Wissen, weniger VerlusteFür die rund 500 Millionen Kleinbauernbetriebe in Entwick-lungsländern sind Missernten fatal. Nun sollen in 40 Ländernüber 1000 Pflanzenkliniken entstehen, wo sich Bauern und Bäue-rinnen Rat holen können. Ergänzt wird das Projekt durch eineOnline-Datenbank, in der das Wissen über Pflanzenschädlingeund Pflanzenkrankheiten gesammelt und global zur Verfügunggestellt wird.

Dank der Aufklärungskampagne von Plantwise erhalten in Kongo bereits Kinder viel Hintergrundwissen über Pflanzenund Schädlinge.

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Cabi (2)

Eine Welt Nr.1 / März 2015 25

landwirtschaftliche Ausbildung abgeschlossen undkaum Zugang zu Beratungsstellen. Lokal veran-kerte Pflanzenkliniken bieten ihnen nun dieseMöglichkeiten.Plantwise arbeitet jeweils mit den staatlichen Be-ratungsdiensten zusammen, und die Pflanzendok-toren werden vom Staat finanziert. Für den lang-fristigen Erfolg sei dies wichtig, erklärt CarmenThönnissen, Programmbeauftragte beim Global-programm Ernährungssicherheit der DEZA: «Dieöffentliche Hand gilt als vertrauenswürdige Ver-mittlerin. Im Gegensatz zu Privaten hat sie kein In-teresse, den Bauern etwas zu verkaufen.» Zudemsei eine gute Vernetzung mit staatlichen Organisa-tionen zentral, um rechtzeitig Massnahmen gegenEpidemien zu ergreifen. So wurde etwa 2014 inRuanda mit Hilfe von Plantwise die Maiskrank-heit Maize Lethal Necrosis entdeckt, welche sehrschnell auf andere Gräser übergreift und fatale Fol-gen haben kann.

Qualität vor QuantitätNeben Kenia und Ghana besitzt auch Sri Lankagute Voraussetzungen, um rasch flächendeckendmit Pflanzenkliniken versorgt zu werden. «UnsereRegierung ist in fast allen 25 Distrikten mit Land-wirtschaftsinstruktoren vor Ort und verfügt dortpraktisch überall über Labore», erklärt Bandara. Ins-gesamt 700 Instruktoren werden nun zu Pflan-zendoktoren ausgebildet. Bandara schätzt, dass esnoch rund eineinhalb Jahre dauern wird, bis diesesämtliche Ausbildungsmodule absolviert haben.Dazu gehören neben biologischen Themen auchlogistische Fragen zum Betrieb und zur Qualitäts-sicherung einer Pflanzenklinik.«Wir von CABI haben unsere Schulungen in SriLanka bereits abgeschlossen», sagt PressesprecherinJulia Dennis. Mittlerweile konnten einheimischeExperten die Ausbildung der Pflanzendoktorenübernehmen. Die Expertise von CABI ist nurnoch punktuell gefragt, beispielsweise dann, wenn

in einer Pflanzenklinik eine unbekannte Krankheitauftaucht.

Fokus auf die Qualität der BeratungIn anderen Ländern ist das Programm noch nichtsoweit, befindet sich aber auf guten Wegen: ImHerbst 2014 zählte Plantwise 720 Kliniken in 33Ländern und mehr als 2000 ausgebildete Pflan-zendoktoren. Das rasche Wachstum kommt laut derAgronomin Thönnissen nicht von ungefähr: «Dieinvolvierten Länder sehen, dass diese Kliniken gros-ses ökonomisches Potenzial haben. Daher wollensie so viele wie möglich.» Quantität sei allerdingsnicht das primäre Ziel. Wichtiger sei es, die Qua-lität der Beratung sicherzustellen. Diese wird un-ter anderem dadurch gewährleistet, dass der Pflan-zendoktor für jede erfolgte Beratung ein Formu-lar ausfüllt und an eine Fachstelle zur Überprüfungweitergibt. Ein weiterer Pluspunkt des Programms ist die On-line-Datenbank von Plantwise, auf der das Wissenüber Krankheiten und Schädlinge fortlaufend ge-sammelt und global abgerufen werden kann. «Esist schön zu sehen, wie diese neue Form von Netz-werk und Arbeitsweise auch Leute beflügelt, diebereits seit Jahrzehnten für das Landwirtschaftsde-partement arbeiten», erzählt Julia Dennis. Ganz neu ist das Konzept der Pflanzenklinikennicht. In Bolivien oder Uganda hat CABI bereitsvor rund zehn Jahren solche Beratungsstellen insLeben gerufen. «Nach diesen positiven Erfahrun-gen», so Dennis, «wollten wir einen Gang höherschalten und ein globales Programm starten.» MitUnterstützung der DEZA erarbeitete CABI eineentsprechende Strategie. Heute zählen neben derSchweiz auch England, Irland, Holland, die EU,China und Australien zu den Gebern – bis 2020soll das Programm weiter ausgebaut werden. ■

PflanzendoktorinnenGemäss der Welternäh-rungsorganisation FAOsind über 40 Prozent derweltweit in der Landwirt-schaft BeschäftigtenFrauen. Sie produzieren 60 bis 80 Prozent derNahrungsmittel, besitzenjedoch weniger als zweiProzent der Ländereien.Um solchen Diskrepanzenentgegenzuwirken, verfolgtCABI in allen Programmeneine Gender-Strategie.Diese beinhaltet beiPlantwise beispielsweiseeine geschlechterspezifi-sche Datenanalyse der er-folgten Beratungen oderdie Anstrengungen, auchFrauen zu Pflanzendokto-ren auszubilden, was jenach Land sehr unter-schiedlich gelingt. In Sri Lanka etwa liegt derFrauenanteil bei 25 Pro-zent, in Burma, wo dieLandwirtschaft traditionelleine Frauendomäne ist,fast bei 100 Prozent.Insgesamt sind bisher rundein Viertel der Pflanzen-doktoren Frauen.

Pflanzenklinik in Indien: Bäuerinnen und Bauern lassen ihre Pflanzen auf deren Gesundheitszustand untersuchen.

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Johann Spanner/NYT/Redux/laif

Luc Forsyth/NYT/Redux/laif

Laurent Cocchi

Einblick DEZA

zeit engagiert diskutiert – auchin der Schweiz, welche alsZentrum des weltweitenRohstoffhandels gilt. In vielenLändern, die Öl, Gas undMineralien fördern, fehlen zu-friedenstellende Transparenz-Standards betreffend derTätigkeit von Firmen undRegierungen. Die DEZA weitetihre Aktivitäten in diesemBereich aus: In Bolivien, Mali,Burkina Faso, Mosambik,Afghanistan und der Mongoleisetzt sie sich gemeinsam mitdem international tätigen, inden USA basierten NaturalRessource GovernanceInstitute für eine stärkereRechenschaftspflicht undgrössere Transparenz in der Rohstoffindustrie ein.Beispielsweise, indem sie dieErstellung von Verträgen undVorschriften unterstützt unddas Verfassen von globalenTransparenznormen voran-treibt.Projektdauer: 2014-2017Volumen: 1,5 Millionen CHF

technisch befähigt werden,die Rechte und Bedürfnisseder Bevölkerung besser wahr-zunehmen. Das PIC ist eineNGO, die der Volksvertretungdabei hilft, ihre demokratischeRolle zu übernehmen, insbe-sondere durch Fach- undVerwaltungswissen. Darüberhinaus organisiert sie Ausbil-dungen für die Volksvertreter. Projektdauer: 2014-2016Volumen: 2,5 Millionen CHF

Berufsbildung in Myanmar(bm) Seit 2011 erlebtMyanmar eine Phase politi-scher und wirtschaftlicher Öff-nung. Die DEZA unterstütztdie Entwicklung einer hoch-stehenden und dem Markt an-gepassten Berufsbildung, umdem Fehlen qualifizierterArbeitskräfte entgegenzuwir-ken. Dank einer Partnerschaftmit der Schweizer Hotellerieund Fachleuten können sichJugendliche im boomendenHotelfach ausbilden. Ein an-derer Teil des Projekts hat innovativen Charakter: dieEntwicklung mobiler Berufs-bildungseinheiten für mittel-lose Landbewohner. Der politi-sche Dialog mit den BehördenMyanmars soll überdies zurEinführung eines Systemsführen, das diese Ausbildun-gen anerkennt und zertifiziert.Projektdauer: 2014-2018Volumen: 19 Millionen CHF

Sanitärinstallateure für die Ukraine(bbq) Das SchweizerSanitärunternehmen Geberit

entwickelt – im Rahmen einerPublic Privat DevelopmentPartnership mit der DEZA –gemeinsam mit einer ukraini-schen Nichtregierungsorgani-sation einen neuen Lehrplanfür Sanitärinstallateure in der Ukraine. Die sanitäreBerufsbildung hat sich dortwährend der letzten zwanzigJahre wenig verändert undentspricht nicht mehr den in-ternationalen Standards. Jetztwird ein dreijähriger Lehrgangausgearbeitet, der sodann insechs Schulen eingeführt wirdund den Absolventen einekonkurrenzfähige Basis fürden Arbeitsmarkt bietet.Projektdauer: 2014-2018Volumen: 400000 CHF

Weniger CO2in Indien

und Kuba(jah) Das hohe Wirtschafts-wachstum und die Verstädte-rung der Schwellenländer las-sen die Zementnachfrage indie Höhe schnellen. Gleich-zeitig ist die Produktion diesesBaumaterials für fünf Prozent

Transparente Budgets in Mazedonien(byl) Im Rahmen der Dezen-tralisierung in Mazedonienwurden den LokalbehördenKompetenzen – insbesondereim Finanzbereich – übertra-gen. Doch um zu überprüfen,ob die Budgets auch profes-sionell verwaltet werden, fehltden Stadträten das nötigeWissen. Nun sollen, mithilfeeines DEZA-Programms,Effizienz und Autonomie erhöht werden. Dieses unter-

stützt die Volksvertreter darin,ihre Supervisionsfunktion vollausüben und die Interessender Bürger verteidigen zu können. Lokalbehörden undBürgermeister wiederum sol-len damit zu mehr Transpa-renz und zur Wahrung ihrerRechenschaftspflicht gegen-über der Bevölkerung ange-halten werden. Projektdauer: 2015-2019Volumen: 10 Millionen CHF

Starkes Parlament inKambodscha(bm) Trotz hohem und kon-stantem Wachstum in denletzten Jahren bleibt Kam-bodscha ein fragiles Land mit grosser Ungleichheit undstarken gesellschaftlichenSpannungen. Im laufendenDemokratisierungsprozess unterstützt die DEZA – inZusammenarbeit mit denSchweizer Parlamentsdiens-ten – das ParlamentaryInstitute of Cambodia (PIC).Damit soll das kambodschani-sche Parlament finanziell und

Eine Welt Nr.1 / März 2015

der weltweiten, von Men-schenhand verursachten CO

2-

Emissionen verantwortlich.Zusammen mit wissenschaftli-chen Instituten auf Kuba undin Indien hat nun die ETHLausanne «ökologischen»Zement auf Basis eines Lehm-Kalk-Gemischs entwickelt, beidessen Herstellung 40 Prozentweniger CO

2anfallen. Um die

negativen Auswirkungen desKlimawandels einzudämmen,

setzt sich die DEZA für des-sen breite Vermarktung ein.In einem nächsten Schrittsoll nun das Produkt stan-dardisiert werden, um späterauf dem Markt bestehen zukönnen.Projektdauer: 2014-2017Volumen: 4 Millionen CHF

Standards imRohstoffsektor(hnj) Fragen im Zusammen-hang mit Abbau und Handelvon Rohstoffen werden der-

DEZA

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Murat Tueremis/laif

Eine Welt Nr.1 / März 2015

Wenn SMS, Telemedizin oder Facebook Menschen rettenHumanitäre Akteure nutzen bei Krisen und Katastrophen immerhäufiger technologische Innovationen. Mobiltelefonie, sozialeNetzwerke, Telemedizin und kollaborative Kartografie erhöhendie Effizienz und verändern die Arbeitsweise vor Ort. Dem Nut-zen der neuen Instrumente sind jedoch auch Grenzen gesetzt.Von Jane-Lise Schneeberger.

In humanitären Notlagen können InformationenLeben retten. Werden Bewohner von Risikoge-bieten frühzeitig vor Wirbelstürmen gewarnt, kön-nen sie sich an geschützte Orte zurückziehen.Bricht eine Epidemie aus, lässt sich deren Aus-breitung mit dem Kommunizieren geeigneter Verhaltensregeln bremsen. Seit einigen Jahren set-zen die Akteure der humanitären Hilfe dafür aufMobiltelefonie und SMS, ja sogar auf soziale Netz-werke. Als ebenso unentbehrlich erweisen sich die Infor-mationen aus der Bevölkerung. Das Welternäh-rungsprogramm (WFP) beispielsweise erhebt viaMobiltelefon und SMS Stichproben zum Ab-schätzen des Nahrungsmittelbedarfs. Insbesonderein drei von Ebola betroffenen Ländern Westafrikasnutzte man diese Vorgehensweise. «Die Methode

ist um einiges schneller und vor allem viel siche-rer, als von Haus zu Haus zu gehen: Unsere Er-mittlerinnen und Ermittler laufen dabei nicht Ge-fahr, das Virus zu übertragen oder davon angestecktzu werden», erläutert WFP-Sprecherin ElisabethByrs.

Flut von Tweets und SMSDank rascher Verbreitung der Neuen Informati-ons- und Kommunikationstechnologien (NIKT)ist die Bevölkerung in Entwicklungsländern im-mer stärker vernetzt. Im Katastrophenfall setzen dieOpfer unzählige SMS-, Mail-, Facebook- undTwitter-Nachrichten ab. Sie bitten um Hilfe, tei-len mit, wo sie sich befinden, oder beschreiben dieSchäden in ihrem Quartier. Für die Hilfsorganisa-tionen bilden diese oft von Fotos oder Videos be-

Schneller und sicherer helfen: Seit einiger Zeit verwendet die humanitäre Hilfe – hier ein Notspital in Banda Aceh(Indonesien) nach dem Tsunami von 2004 – vermehrt technologische Innovationen.

FO

RU

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RMA/projet Icarus

Lucien Blandenier

Eine Welt Nr.1 / März 201528

formationsaustausch unter den Helfern rasch ver-bessert», stellt Mario Simaz von der HumanitärenHilfe der DEZA fest. Bei Alarmstufe Rot regis-trieren sich die Helferteams auf dieser Plattformund informieren sich gegenseitig über ihrenHilfseinsatz.Auch zur Verbesserung der internen Kommunika-tion werden NIKT eingesetzt. «Teams, die vor 40Jahren im Einsatz standen, hatten praktisch kein-erlei Kontakt mehr zum Hauptsitz», sagt ClotildeRambaud von Ärzte ohne Grenzen (MSF)Schweiz. «Dank Internet und Satellitenübertra-gung sind sie je länger je weniger isoliert.» MSF

gleiteten Nachrichten ein Füllhorn von Informa-tionen. Da die Helfergemeinschaft die Datenlawine nichtselbst analysieren kann, zieht sie die seit kurzem imInternet aufgetauchten «digitalen Freiwilligen» bei.Tausende von Engagierten wurden erstmals 2010nach dem Erdbeben von Haiti aktiv. Von zu Hau-se aus, irgendwo auf der Welt, sammelten, filtertenund analysierten sie Informationen aus verschie-densten Quellen. Sie kombinierten diese mit Sa-tellitenbildern und erstellten interaktive Karten, diedas Ausmass der Zerstörung und den Unterstüt-zungsbedarf wiedergaben. Seither sind auch in an-dern humanitären Bereichen solche Krisenkartenentstanden.

Technologie hat GrenzenManche Akteure verwenden sogenannte «kollabo-rative» Karten allerdings nur zögerlich, weil sienicht völlig verlässlich sind: Es ist schlicht unmög-lich, die Glaubwürdigkeit aller von der Bevölke-rung verschickten Nachrichten zu überprüfen.Der Einsatz neuer Technologien kann denn auchein Vertrauensproblem schaffen, da die Übermitt-lung via Internet ungeschützt ist. Besonders exponiert sind Organisationen wie dasInternationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK),das Opfer bewaffneter Konflikte unterstützt. «Inunserem Einsatzbereich sind die Informationenviel sensibler als bei Naturkatastrophen. Das Risi-ko von Manipulation oder Hacking ist gross. Hiermüssen wir gut aufpassen», sagt IKRK-SprecherJean-Yves Clemenzo. «Wir sind neuen Technolo-

gien gegenüber sehr offen, solange sie uns helfen,unsere Einsätze zu verbessern, ohne die Begüns-tigten zu gefährden.» In einem kürzlich erschienenen Bericht weist dieInternationale Föderation der Rotkreuz- und Rot-halbmond-Gesellschaften auf ein weiteres mitNIKT verbundenes Problem hin: Wer keinen Zu-gang hat, wird nicht gehört und ist noch stärkerisoliert. Sie warnt deshalb: «In der humanitären Ar-beit muss man aufpassen, die Ungleichheiten mitdem Technologieeinsatz nicht zu akzentuieren.»

Schneller, koordinierter und gezielterDie neuen Technologien haben auch die Art derKommunikation humanitärer Organisationen un-tereinander verändert. Das Global Disaster Alertand Coordination System (GDACS) kündigt überInternet praktisch sofort alle Erdbeben, Tsunamis,Überschwemmungen und Vulkanausbrüche anund gibt Intensität, Auswirkungen und Unterstüt-zungsbedarf bekannt. Mit der Schaffung desGDACS 2004 haben sich die Schnelligkeit der In-tervention, die Koordination der Hilfe und der In-

Kenianische Techniker installieren Sonden zur Kontrolledes Grundwasserspiegels unter dem FlüchtlingslagerDadaab. Die Daten werden anschliessend via GPRS-Netzin die Schweiz übermittelt.

Letztes Jahr konnten bei Überschwemmungen in Bosniendurch den Einsatz von Drohnen Dammbruchstellen undfortgeschwemmte Minen ausfindig gemacht werden.

Hypervernetzte WeltInzwischen gibt es auf der Erde fast gleich vieleMobiltelefon-Anschlüssewie Einwohner, was jedochnicht bedeutet, dass jederMensch ein Mobiltelefonhat, da viele Nutzer übermehrere Anschlüsse verfü-gen. In den Entwicklungs-ländern wächst die Mobil-telefonie enorm. Ende2014 soll die Verbreitungs-rate in Afrika 69 Prozentund im asiatisch-pazifi-schen Raum 89 Prozenterreicht haben. Andernortsübersteigt sie 100 Prozent.Ausserdem sind immermehr Nutzer über einSmartphone oder einentragbaren Rechner mitdem Internet verbunden.Die Anzahl mobiler Breit-bandabonnemente ist inden Entwicklungsländern,wo sich der Internetzugangoft auf diese Technologiebeschränkt, merklich ge-stiegen: Die Verbreitungs-rate beträgt 21 Prozent gegenüber 84 Prozent inden entwickelten Ländern.

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emergency.lu

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hat insbesondere eine Telemedizinplattform zurUnterstützung der Teams vor Ort eingerichtet.Stösst ein Arzt auf ein Diagnose- oder Behand-lungsproblem, loggt er sich auf der Plattform ein,beschreibt den Befund und stellt Fragen. Antworterhält er von Spezialisten aus aller Welt. Das Beispiel veranschaulicht, wie entscheidend esist, in Krisensituationen kommunizieren zu kön-nen. Und wenn die ganze Infrastruktur am Bodenzerstört ist? Luxemburg hat sich dazu eine Lösungeinfallen lassen: Es stellt den humanitären Organi-sationen ein mobiles Satellitenkommunikations-System zur Verfügung. Ein Ballon von 2,4 mDurchmesser dient als Antenne, ist in weniger alseiner Stunde einsatzbereit und stellt eine drahtlo-se Internetverbindung für die Helferinnen undHelfer bereit.

Grundwasserspiegel in Kenia wird vonNeuenburg aus überwachtDie faktisch weltweite Ausbreitung der Mobilte-lefonie erlaubt einen Datenaustausch auch mit ab-gelegenen Gebieten. Hydrogeologen der Univer-sität Neuenburg etwa überwachen aus der Ferneden Grundwasserspiegel von Dadaab in Kenia, wo450 000 Flüchtlinge die Süsswasserreserven zuübernutzen drohen. Zwanzig Brunnenschächte wurden mit Sensorenzur Messung von Wasserstand und Salzgehalt aus-gerüstet. Sie sind mit einer SIM-Karte und einerkleinen Antenne versehen und senden die Daten

Neue Technologien verändern VerhaltenMehrere kürzlich erschie-nene Publikationen be-leuchten den Einfluss derNeuen Informations- undKommunikationstechnolo-gien auf das Verhalten der Bevölkerung und derhumanitären Helfer inNotsituationen. Die Inter-nationale Föderation derRotkreuz- und Rothalb-mond-Gesellschaften hatihren «World DisastersReport 2013» dem Themagewidmet. Das UNO-Koordinationsbüro für hu-manitäre Angelegenheitenzeigt in «Humanitarianismin the Network Age» auf,dass sich die humanitärenHelfer auf mehr Partizipa-tion der Begünstigten ein-stellen müssen. Die Agen-tur hat auch den Bericht«Disaster Relief 2.0» ko-produziert, welcher die bis anhin nicht bekannteZusammenarbeit huma-nitärer und digitaler Helferbeim Erdbeben von Haitianalysiert. www.worlddisasters-report.orgwww.unocha.org/hinawww.unocha.org (DisasterRelief 2.0)

Mobile Internetverbindung für humanitäre Helfer: Die aufblasbare Antenne ist überall in Krisengebieten, wie hier 2012 imSüdsudan, innert einer Stunde einsatzbereit.

via GPRS-Netz an einen Server in der Schweiz.«Es ist das erste Mal, dass ein solches Telemetrie-system in einem Flüchtlingscamp getestet wird.Können wir dessen Funktionstüchtigkeit nach-weisen, lässt es sich in einem andern humanitärenKontext erneut verwenden», unterstreicht EllenMilnes, die Verantwortliche des von der DEZA unterstützten Pilotprojekts.

Beschränkt einsetzbare DrohnenAndere technische Neuerungen haben für huma-nitäre Einsätze ebenfalls ein hohes Potenzial. Soetwa die Drohnen, welche sehr tief fliegen und sehrpräzise Luftaufnahmen machen können; damit las-sen sich leichter Opfer lokalisieren und Schädenbesser evaluieren. «Die humanitären Helfer habenderen Vorteile erkannt. Die Herausforderung istnun nicht mehr eine technische, sondern einerechtliche: Kein Land lässt fremde Drohnen freiüber sein Territorium fliegen», sagt Geert De Cub-ber. Der belgische Ingenieur koordiniert das eu-ropäische Projekt Icarus, das Roboter und unbe-mannte Geräte für Such- und Rettungsoperatio-nen entwickelt. Letztes Jahr erhielt Icarus dieBewilligung, bei den Überschwemmungen in Bos-nien eine Drohne zu verwenden. Der kleine Qua-dricopter wurde insbesondere eingesetzt, umDammbrüche aufzuspüren und die Verschiebungvon Minen durch Wassermassen zu beobachten. ■

(Aus dem Französischen)

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Maurizio Borgese/hem

is.fr/laif

November. Markus, mein Über-setzer, und ich sind gestern inBern angekommen und habenin einem imposanten Kellermeinen Roman präsentiert. Vor beeindruckend wenigZuschauern, nämlich fünf.Heute Morgen rechneteMarkus die Verluste durch und ich machte mich auf zurStadterkundung.

Sonntag. Das am sonnigenHerbstmorgen in buntenFarben leuchtende Bern wirktfriedlich und träge. Entspannt.Nach einem Spaziergang durchdie Gassen der Altstadt kommeich zum Fluss – zu denberühmten Berner Bären. Dielebenden Stadtsymbole wirkenverhätschelt, geniessen dieSchweizer Novembersonne.Mutter und Kind liegen untereinem Baum, der Vater trottetträge durch das umzäunteTerritorium und reibt sich hinund wieder mit seinem Pelz aneinem Baum oder tritt zumSpass mit der Pfote an die he-rumliegenden Baumstämme.Eine veritable Tieridylle, die

Von alten Käfigen und Berner Bären

Marius Ivaškevicius ist Vertreter der jüngstenSchriftstellergeneration Litauensund gilt als einer der bedeu-tendsten Gegenwartsautorenseines Landes. Bisher erschie-nen acht Bücher, von denen ei-nige in verschiedene Sprachenübersetzt wurden, darunter seinRoman «Die Grünen» (AthenaVerlag, Oberhausen 2012). Der42-Jährige ist als Journalist,Prosa- und Drehbuchautor verschiedener Kurzfilme, Dra-matiker, Dokumentarfilmer undRegisseur tätig. Sein neusterFilm «Santa», bei dem er dasDrehbuch geschrieben hat undselber Regie führte, gelangte2014 in die Kinos. MariusIvaškevicius lebt und arbeitet in Vilnius.

Carte blanche

Bären sichtlich satt und zufrie-den, mit privatem Strandbereichund Pool...

Auch mir fehlt es an nichts, ichbetrachte sie und geniesse dasLeben. Schon seit einer gutenhalben Stunde trottet Vater Bärin stetigem Rhythmus von ei-nem Rand seines Territoriumszum anderen, Runde umRunde. Und plötzlich spüre ich,sein Trotten birgt eine rätsel-hafte Unruhe. Auch ihm rätsel-haft. Er reibt sich nicht nur somit dem Pelz an den Bäumen,er will sie wegschieben. Und er tritt nicht zum Spass an dieBaumstämme, er will sie weg-schleudern. Er hat alles: Familie,Luxusappartement, fristgerech-tes Essen und Zuschauer – einVielfaches von denen bei mei-ner Lesung... Der wahrschein-lich reichste Bär der Welt spürt,dass ihm etwas fehlt. Doch erbegreift nicht, was...

Gerade zu jener Zeit beginnendie Unruhen in der Ukraine.Die friedliche und träge Weltbleibt in der Schweiz, während

sich in Litauen, wo ich lebe, dasschon einigermassen stabileSicherheitsgefühl augenblicklichverflüchtigt. Die Freiheit, dieunleugbar und für die Ewigkeiterkämpft schien, ist wieder zer-brechlich und ruft nach Schutz.Mit einem Mal stellt sich he-raus, es gibt Menschen, die ihrernicht bedürfen. Nicht nur zweioder drei, sondern Millionen.Andere sind in Unfreiheit gebo-ren, wie jener Berner Bär –wissen nicht, was Freiheit ist,kicken die Hindernisse aus dem Weg und suchen mit demKörper Wände zu verschieben,um wenigstens symbolisch dasTerritorium ihres Käfigs zu er-weitern.

Noch vor einem Jahr hätte mansich eine Wiedererrichtung dervor über zwanzig Jahren zerfal-lenen UdSSR nur schwer vor-stellen können. Wenn nicht inder Realität, so im Kopf und imHandeln von Millionen. Unddoch ist es geschehen und wirleben nun in unmittelbarerNachbarschaft dieser schwerverständlichen Massenverstan-destrübung. Weniger als 50Kilometer von der Stadt, in derich wohne, ist eine längst beer-digte Geisterwelt wiederaufge-taucht. Eine furchtbare, unge-rechte, grausame – so habe ichsie in Erinnerung. Eine, dieRedefreiheit, Menschenrechte,Demokratie von der Handweist. Noch vor kurzem klangdas Wort «Freiheit» schon wieein Klischee aus veraltetenLosungen. Freiheit war keineMangelware. Droht aber denWerten Gefahr, erkennst du sieals echte Werte, als Teil deinerselbst, ohne die du nicht duselbst sondern jemand andererwärst.

Heute leben wir in Litauen so-zusagen am Rande der Freiheit.Der Grund, auf dem wir stehen,

ist instabil – er wankt. ImGegenzug spüren wir, woraufwir stehen. Wo die Freiheit festwie Fels ist, ist sie nur Stein, inDenkmäler gemeisselt, von nie-mandem mehr beachtet.

Ich glaube den Berner Bärenbesser als vor einem Jahr zu verstehen, genauer gesagt, waser nicht begreift. Auch ich binin einem Käfig geboren, ver-brachte meine ersten 18Lebensjahre dort. Eines aberweiss ich genau – lebend wirdniemand mich dorthin zurück-stecken. ■

(Aus dem Litauischen)

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BombenmusikIhre Biographien lassen sich nicht vergleichen, und doch verarbeiten sie alle dasThema Krieg: Ludwig van Beethoven und andere Komponisten, Grime-Produ-zenten aus London, Experimentalmusiker aus Beirut, Metal-Musiker aus Syrienund Angola, und Rapper aus afrikanischen Ländern. Das wirft auch ethische Fragen auf. Ein Überblick von Thomas Burkhalter*.

Fast jede Musik, fast jedesGeräusch, fast jeder Sound istheute mit ein paar wenigenMausklicks verfügbar. AkustischeEreignisse lassen sich speichernund einfacher denn je mit digitaler Musiksoftware aufComputer, iPad oder Smart-phone bearbeiten und manipu-

lieren. So etwa auch dasStreufeuer von Maschinen-gewehren, die Detonation vonBomben und Handgranatenoder das Rattern von Kampf-helikoptern.

Krieg aus der DatenbankProduzenten aus der Grime-Bewegung Grossbritannienssampeln Gewehrschüsse aus

Datenbanken und legen sie ein-zeln frei: Der Rapper Novelistmischt auf seinem Track«Sniper» Gewehrschüsse mitSynthesizer-Sounds. In «State ofWar» mischt Lemzly Dale Krachvon Kriegswaffen mit elektroni-schen String-Sounds. HarteKriegssounds treffen im Track

«Hit Somebody» von Plasticianauf tiefe Bässe. Dieses Spiel mitKriegssounds hat vor allem ein Ziel: Die Grime-Produzen-ten wollen einen War-Dub-Wettbewerb gewinnen. Alle stellen dazu gleichzeitig einenTrack online: Gewinner ist, wer am meisten «Likes» erhält –was extrem, krass oder obskurist, funktioniert auf sozialen

Medienplattformen wie Face-book. Im Sommer 2014 waren laut derUNO 50 Millionen Menschen

auf der Flucht vor Gewalt, soviele wie seit dem ZweitenWeltkrieg nicht mehr. Sind sol-che «War Dub»-Wettbewerbe daethisch und moralisch verwerf-lich, mag man sich als Hörer fra-gen. Tatsache ist, das Spielen mitKrieg ist angesagt: Die britisch-tamilische Sängerin und Künst-lerin M.I.A lässt in ihremschockierenden Videoclip «Born

Free» rothaarige junge Männervon einer brutalen Armee exe-kutieren und in die Luft spren-gen. Der Soundtrack dazu ist ein

Gewirr von Schreien, aggressi-vem Sprechgesang und einemdröhnenden Krachteppich.

Vertonte SchlachtDer britische Elektronika-Musiker Matthew Herbertverarbeitet Aufnahmen einerdetonierenden Bombe ausdem Libyen-Krieg in seinemAlbum «The End of Silence»zu einer abstrakten Musik. Wirhören sechs Sekunden aus derSchlacht um Ras Lanuf, aufge-nommen vom Kriegsfotogra-fen Sebastian Meyer: einGewirr aus Stimmen, ein Pfiff,ein Flugzeug oder Helikopter,eine Detonation. Aus diesensechs Sekunden konstruiertHerbert dann ein ganzesAlbum. Er streckt das Kriegs-material auf seine 500-facheLänge und manipuliert es mitFiltern und Effekten. «Ichwollte die Pausentaste drückenund in der stillstehendenGeschichte herumgehen»,

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erklärt Matthew Herbert in einem Interview.

Krieg als HörerfahrungDas Interesse an Krieg ist nichtneu. Im frühen 20. Jahrhundertwar der italienische KomponistLuigi Russolo fasziniert vomKrach des Krieges. Für ihn undviele Futuristen zeigte Krieg dieMenschheit in ihrer ganzenLeidenschaft und Wirklichkeit.Ludwig van Beethoven insze-nierte Krieg in seiner Kompo-

sition «Wellingtons Sieg» (1813),und viele weitere Beispiele fürVertonungen heroischerSchlachten liessen sich finden. Im Nahen Osten äussern sichMusikerinnen und Musiker oftverärgert über diese Faszination.Viele Musiker der aufstrebendenSubkulturszenen in Beirut ha-ben ihre ersten fünfzehn Jahreim libanesischen Bürgerkrieggelebt; Parolen, Gewehrsalvenund Bomben haben ihren akus-tischen Alltag derart einschnei-dend mitgeprägt, dass sie noch

heute Kriegswaffen an derenSound erkennen. Sie begreifenmit dem Ohr ebenso Ur-sprungsort als auch Zielrichtungeiner Rakete. Ihr Gehör wurdezudem von den 200 Radiosen-dern geschärft, die während desKrieges nonstop sendeten undgehört wurden.

Dokumentarfilme zu Musik im KriegDas Gehör spielte im Krieg eine wichtige Rolle. «Deine

Trompetensounds klingen wieMaschinengewehre undHelikopter», meinte der öster-reichische Trompeter FranzHautzinger zu seinem BeiruterKollegen Mazen Kerbaj. Seitherdenkt dieser über die Verknüp-fungen zwischen seiner Biogra-phie und seiner Musik nach –ein letztlich nicht durchblickba-res komplexes Geflecht. Sein Musikfreund Raed Yassinschafft derweil Medienkollagenmit Radiojingles, Nachrichten-sprechern und Propagandamusik

aus dem Bürgerkrieg. Yassinbetont, dass er all dieReferenzen genau und ausErfahrung kennte, die er verar-beite – darin unterscheidet ersich von Musikern, dieKriegssamples ausDatenbanken greifen. Auch Mazen Kerbaj weiss, dass sein Nachdenken über dieKriegseinflüsse auf seine Musikbei europäischen Journalisten,Kuratorinnen und Hörern aufInteresse stösst. Von diesem

Interesse am Krieg zeugen viel-leicht auch all die Dokumentar-filme, die zu diesem Thema pro-duziert werden – meistens vonEuropäern und US-Amerika-nern. Im Film «Warchild» bei-spielsweise verfolgen wir dietraumatische Geschichte desRappers Emmanuel Jal. Dieserwar einst Kindersoldat bei derSudanesischen Volksbefreiungs-armee und erinnert sich in seinen Stücken an all diePropagandalieder, mit denen er gross geworden ist:

«Wir sind KommandosJawohlWir sind gesundJawohlWir sind alle jungJawohlWir sind die JugendJawohlFeuert, FeuertZündet an, zündet anErschiesst, erschiesst»

Jal hat im Krieg seine ganzeFamilie verloren. «Der Schmerz,den ich in mir trage, ist nichtauszuhalten», rappt er in seinerMusik. In Arbeit ist derzeit auch das

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lud sie auf seinem Internet-Bloghoch – und schon bald riefen siealle an: CNN, BBC und andereMedien. Nach dem Krieg wurde Kerbajvor Ort dann heftig kritisiert. Erhabe Krieg benutzt, um seineKarriere voranzubringen. Kerbajwiderspricht: «Mal ehrlich.Drinnen auf dem Sofa wäre ichverrückt geworden, da spielte

erschütternde Filmportrait syrischer Heavy Metal-Musikerin Homs. Der GrafikdesignerMonzer Darwish hat seineFreunde mit einer ausgeliehenenKamera und seinem Handy imKrieg gefilmt. Die Musiker spre-chen – so Darwish – mit ihrerradikalen Musik ungeschminktan, wie man im Krieg überlebt.

Faszination KriegIn Beirut werden Kriegsinsze-nierungen heftig diskutiert.2006, im Krieg zwischen Israelund Hizbullah, stellte sichMazen Kerbaj auf seinen Balkonund improvisierte mit seinerTrompete zum Krach der ein-schlagenden Bomben. Er nanntedie Aufnahme «Starry Night»,

ich lieber Trompete auf demBalkon. Ich konnte mich so sel-ber überlisten: Bomben wurdenplötzlich zu Sounds.» Die lokaleKritik zielte aber noch weiter:Mazen Kerbaj kommt aus einerEliten-Familie. In seinemStadtteil fielen keine Bomben.Sie schlugen einige Kilometerweiter ein, im vom Hizbullah

dominierten Südbeirut. Einfache Antworten offeriertder Krieg nie: Kerbaj wurde un-ter Stress auch zum Aktivisten.Er wollte seine Stimme erhebenfür seine Stadt. «Krieg istHorror», sagt der Beiruter DeathMetal-Musiker Garo Gdanianund erstickt jegliche Faszinationim Keime: «Menschen werdengetötet. Du und deine Familie

wollen leben. Du willst weiter-kommen. Aber du siehst keineZukunft. Du steckst einfach nur fest.» ■

*Thomas Burkhalter lebt als Musik-ethnologe, freischaffender Musikjour-nalist und Kulturschaffender in Bern.Er ist Gründer des Netzwerks- undOnline-Magazin Norient.com

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Die Sängerin Aziza Brahimmacht auf den seit mehr alsvierzig Jahren schwelenden undvon der Welt fast vergessenenKonflikt um die von Marokkobesetzte Westsahara aufmerksam.Geboren und aufgewachsen ineinem Flüchtlingslager derSahrauis in der algerischenWüste, hielt sie sich studienhal-ber in Kuba auf und lebt nun im spanischen Exil, in Barcelona.Die 38-Jährige sieht sich alsAktivistin für ihr Volk, was sichim Titel ihrer zweiten CD«Soutak» (Deine Stimme) mani-festiert. Es ist ein besondererDesert Blues, der mit Ausnahmedes E-Basses ohne Stromgitarrenakustisch dargeboten wird. FeineAnklänge an Flamenco Pattern,Latin Jazz und Mali Folkloresind spürbar. Die traditionellePerkussion (u. a. die Hand-trommel Tabal) betont rhyth-misch die erhebende Leichtig-keit des Gesangs, dessen Wortein ihrer engagierten Aussage fürsich sprechen.Aziza Brahim: «Soutak»(Glitterbeat/Irascible)

Einzigartige Mixtur(er) Seine Pistas, so nennt manin Buenos Aires die in denKlubs gespielten Tracks, habeneine weltweite Fangemeinde ge-

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Hauptbahnhof Kairo(bf ) Melodram und Krimi,Sozialdrama und Liebesge-schichte in einem, ist der 1958entstandene meisterliche Spiel-film «Cairo Station» des ägypti-schen Regisseurs YoussefChahine ganz auf dem Bahn-hofsgelände angesiedelt. «Hinterden 7 Gleisen» sozusagen aufArabisch, packend inszeniertund frisch wie am ersten Tag.Der alte Madbouli ist Kiosk-besitzer am Hauptbahnhof vonKairo, der eines Tages den halbverhungerten Bauern Kenawikennenlernt und ihn als fliegen-den Zeitungsverkäufer anstellt.Bei seiner Arbeit begegnetKenawi täglich der lebensfrohenHanouma und entschliesst sich,sie zu heiraten – doch sie weistihn zurück. Der erste Grosser-

folg von Youssef Chahine ist ineiner schönen Box in der edi-tion trigon-film erschienen, die neben einem reichhaltigenBonus auch die beiden Spiel-filme «Der Sperling» und «DieRückkehr des verlorenenSohnes» enthält. Also nicht nurein packendes Stück aus dem

Alltag auf einem guten altenBahnhof, auch Einblick insÄgypten der vergangenenJahrzehnte. Alle Filme im arabi-schen Original mit Untertitelnin Deutsch und Französisch. Bestellung: www.trigon-film.org oderTel. 056 430 12 30

Neue Horizonte(er) Nach der Gründung 1973liess sein Repertoire schnell aufhorchen: Das Kronos-Quartet ging nicht den klassi-schen Weg von Haydn bisBartók, sondern der Borderlinenach zwischen E- und U-Musik. Dabei überschreiten die Musiker (zwei Violinisten,ein Bratschist, ein Cellist) dieGrenzen oft gehörig. Damitwurde das in San Francisco be-heimatete Streichquartett welt-berühmt. Zum 40. Geburtstaglädt es, etwas verspätet, zu einermusikalischen Weltreise ein. Sie führt von Schweden überSyrien, China, Vietnam, Äthio-pien, Afghanistan, Indien nachIrland: 15 Preziosen aus 14Ländern, eingespielt in den ver-gangenen Jahren. Schon der erste Track – das schwedischeVolkslied «Tusen Tankar» (Tau-send Gedanken) – zeigt, wasdiese Kompilation auszeichnet:Songs, die mit ihrer elegischen,auch mal melancholischenIntensität neue Horizonte öff-nen. Zu den vielen Gänsehaut-Momenten haben Ausnahme-könner beigetragen wie diemittlerweile 81-jährige indischeBollywood-Sängerin AshaBhosle, der 2006 verstorbeneCountrysänger Don Walser oder der Frauenchor «LeMystère des Voix Bulgares».Kronos Quartet: «A ThousandThoughts» (Nonesuc/Warner)

Besonderer Desert Blues (er) Da erhebt sich eine strah-lend klare Stimme: anmutig undliebevoll, traurig und wehkla-gend, expressiv und emotional.

ServiceFilme Musik

Filme für eine nachhaltige Welt (dg) Die Filmtage21 – vormals Filmtage Nord/Süd – stel-len bereits zum 19. Mal neue Filme vor, die sich für denEinsatz in der Bildungsarbeit eignen. Das aktuelleProgramm geht im März auf landesweite Tournee und beinhaltet elf nach Qualitätskriterien geprüfte Filme, dieverschiedene aktuelle, entwicklungspolitische Themenaufgreifen. Den Auftakt macht ein Film über Plastikmüll in den Weltmeeren und die Suche nach Alternativen zurVermeidung der damit verbundenen Umweltprobleme.Mehrere Filme handeln von den Chancen und Heraus-forderungen der multikulturellen Gesellschaft sowie vom(Kinder-)Recht auf Bildung. Zum Abschluss thematisiert«Billig. Billiger. Banane» soziale, ökologische und ökono-mische Folgen der globalisierten Wirtschaft und stelltEinflussmöglichkeiten von Konsumentinnen undKonsumenten zur Diskussion.Filmtage21; im März in St. Gallen, Kreuzlingen, Brugg,Basel, Brig, Luzern, Zug, Zürich und Bern; Auskunft undProgramm: www.education21.ch/de/filmtage

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Fernsucht

Skulpturen des Leidens

Der Genfer Tom Tirabosco schreibtund zeichnet Comics. Sein jüngstesAlbum «Kongo» thematisiert dieKongo-Reise des polnischenSchriftstellers Joseph Conrad. .

Ende 2013, nachdem meinComics «Kongo» erschienen war,wurde ich an die erste Buchmessevon Kinshasa, organisiert von derAlliance française, eingeladen.Dort lernte ich den BildhauerFreddy Tsimba kennen, einOriginal aus dem populärenQuartier Matonge. Seine monu-mentalen Werke bestehen ausAltmetall und Recyclingware:Hunderte zusammengeschweissteMacheten bilden ein richtiges be-gehbares Haus. Patronenhülsen,verlorene Schlüssel, Gabeln undanderer Schrott formen sich zuKörpern schwangerer Frauen mitaufgerissenen Bäuchen. Oft tra-gen die «Shégués» – so nenntman die Strassenkinder – demKünstler Material zu, das sie fürihn aus dem Abfall von Kinshasagefischt haben. Freddy TsimbasSkulpturen strahlen eine selteneKohärenz und Aussagekraft aus.Sie sind Zeugen des Leidens undder Gewalt, die auf Afrika lasten.Der Plastiker hat in zahlreichenLändern ausgestellt, die Schweizkennt ihn allerdings noch nicht.Ich wünsche mir sehr, dass erseine Arbeit eines Tages in Genf,der Stadt des Friedens, zeigenkann.

Eine Welt Nr.1 / März 2015 35

E-Mail: [email protected]. 058 462 44 12Fax 058 464 90 47Internet : www.deza.admin.ch

860215346

Der Umwelt zuliebe gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier

Gesamtauflage: 51200

Umschlag: Personentransport naheDolisie/Kongo; Christoph Bangert/laif

ISSN 1661-1667

Impressum«Eine Welt» erscheint viermal jährlich in deutscher, französischer und italienischerSprache.

HerausgeberinDirektion für Entwicklung und Zusammen-arbeit (DEZA) des Eidgenössischen Departe-mentes für auswärtige Angelegenheiten (EDA)

RedaktionskomiteeManuel Sager (verantwortlich)Catherine Vuffray (Gesamtkoordination)Marie-Noëlle Bossel, Beat Felber, Sarah Jaquiéry, Pierre Maurer, Özgür Ünal,Christina Stucky

RedaktionBeat Felber (bf – Produktion)

Gabriela Neuhaus (gn) Jane-LiseSchneeberger (jls) Mirella Wepf (mw) ErnstRieben (er) Luca Beti (italienische Version)

GestaltungLaurent Cocchi, Lausanne

Lithografie und Druck Vogt-Schild Druck AG, Derendingen

WiedergabeDer Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilli-gung durch die Redaktion, unter Quellenan-gabe gestattet. Belegexemplare erwünscht

Abonnemente und Adressänderungen«Eine Welt» ist gratis (nur in der Schweiz)erhältlich bei: EDA, Informationsdienst,Bundeshaus West, 3003 Bern

funden. Diese wird mit seinemdritten Album garantiert wach-sen. Dabei pflegt der argentini-sche Produzent Pedro Canalealias Chancha Via Circuito, ein-zigartige Klangvorlieben: Er fu-sioniert futuristische, elektroni-sche Sounds mit Cumbia-An-sätzen oder Andine-Musik wiedie Murga, prägend im urugua-yischen und argentinischenKarneval. Der Soundtüftler lässtzu seinen locker dahintrotten-den Beats auch mal paraguayi-sche Harfen- oder Flötentöneerklingen. Den letzten Schliffverleihen die Sängerin LidoPimienta mit ihrer klaren hohenStimme, ihre Kollegin MiriamGarcia mit empathisch vorgetra-genen Versen und die RapperinSara Hebe mit eindringlichenLyrics. Dabei bleibt es immereine faszinierende Mixtur ausVersatzstücken, in der sich derMystizismus der Anden mit denHöhen ihrer Berggipfel und dieWeiten der Pampas mit einemHauch von Einsamkeit finden.Chancha Via Circuito: «Amansara»(Crammed Discs/Musikvertrieb)

Hunger – ein Skandal(gn) Die heutige Getreidepro-duktion würde ausreichen, um12 bis 14 Milliarden Menschenzu ernähren, stellt Jean Feyder inder Einleitung zu seinem Buch«Mordshunger» fest. Tatsache istjedoch: Täglich sterben 25 000Menschen an Unterernährung.Der luxemburgische Diplomatund Entwicklungsfachmann

Feyder nennt in seinem anschaulich geschriebenenSachbuch klare Gründe. Anhandvon Beispielen zeigt er, wie etwader internationale Handel oderdie Agrarpolitik der Industrie-länder die Hungerproblematikverschärfen. Der Autor kritisiertdas Versagen der internationalenPolitik und fordert einen radika-len Umbau des Welternährungs-systems. Dazu gehören etwa dieAufwertung des Landwirt-schaftssektors zugunsten einerökologischen Landwirtschaftoder die Durchsetzung vonHandelssystemen, die denBauern und Bäuerinnen einAuskommen ermöglichen. Auch hier zeigt Feyder auf, dassHunger ein menschengemachtesÜbel ist, das – mit entsprechen-dem politischem Willen – be-siegt werden könnte.«Mordshunger» von Jean Feyder,Westend Verlag GmbH.Frankfurt/Main 2014

Politthriller aus Nairobi(bf ) In Mapple-Bluff, einem rei-chen, überwiegend von Weissen

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bewohnten Vorort vonMadison/Wisconsin, wird eineblonde Frau auf der Veranda eines Hauses tot aufgefunden,das ein Schwarzer, ein Professoraus Kenia, bewohnt. Ishmael,Kommissar der Polizei vonMadison, ermittelt. Der zunächstverdächtige Afrikaner hat einAlibi, vor allem aber stellt sich heraus, dass eben dieserProfessor einer der Helden imKampf gegen den Völkermordin Ruanda war und Hundertevor dem Tod bewahrt hat.Nachdem der Kommissar einenTipp erhält, dass die Aufklärungdes Falls nur in Afrika zu findensei, fliegt er nach Nairobi. Dortwird er als Schwarzer aus denreichen USA kommend, als«weisser Mann» begrüsst. In derFolge entwickelt sich eine heisseJagd nach den Hintergründendes Mordes und den kriminellenStrukturen einer Hilfsorganisa-tion für Ruanda. «Nairobi Heat»ist der ebenso bemerkenswertewie tiefgründige erste Romandes in Kenia aufgewachsenenund heute in den VereinigtenStaaten als Literaturprofessor ar-beitenden Mukoma wa Ngugi.Die Geschichte ist nicht nurspannend wie ein Krimi erzähltund verbindet seinen aktuellenLebensmittelpunkt mit seiner alten Heimat, sie liefert auchEinsichten in gesellschaftlicheZustände in Amerika wie inAfrika. «Nairobi Heat» von Mukoma waNgugi, Transit Verlag 2014

Page 36: Eine Welt 1/2015 - eda.admin.ch · der Präsentation des Berichts. 012 lag diew t Suz - rate bei 11,4 Fällen pro 100 000 Menschen. Eine Rate von über ... Minnesota haben in Zusam-menarbeit

«Gute Planung führt zu einer Reduktion der Mobilität.»Patrick Kayemba, Seite 13

«In der reichen mündlichen Überlie-ferung Burkina Fasos kennen wir den Sinnspruch: Die Butter schläft, sie ist nicht tot.» Martin Zongo, Seite 22

«Deine Trompetensounds klingen wieMaschinengewehre und Helikopter.»Franz Hautzinger, Seite 32