Einführung in die Germanistische Linguistik Prof. Dr. Wolfgang Wildgen Einführung in die Germanistische Linguistik 13. Sitzung Der Erwerb der Muttersprache
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Wolfgang Wildgen Migration von Sprachen und Kulturen – Überlegungen
zur kulturellen Dynamik von symbolischen FormenProf. Dr. Wolfgang
Wildgen
13. Sitzung
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Die Hauptstadien und -komponenten
Mit der Ontogenese der Sprachfähigkeit ist jene Entwicklungsphase
gemeint, in der die körperlichen Voraussetzungen einer Lautsprache
geschaffen und diese Fähigkeit, sprachliche Laute zu produzieren,
entwickelt wird. Sie umfasst den Zeitraum zwischen ersten
feststellbaren inter-uterinen Lautäußerungen und Gehörleistungen,
über den Geburtsschrei, die Entwicklung der Schreimuster und die
Reifung der auditiven Wahrnehmung (in den beiden ersten Monaten)
bis zur Lallperiode und der experimentellen Lautphase. Mit dem
Beginn der Anpassung der Laut- und Wortmuster an die Sprache der
Umgebung endet diese Phase, die Sprachfähigkeit ist voll entwickelt
und mit ihr die Fähigkeit zum Sprachlernen, wozu auch die
emotionalen, visuell-motorischen und sozialen Fähigkeiten gehören,
die für das Sprachlernen und den Sprachgebrauch konstitutiv
sind.
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Die Hauptaspekte sind:
die Atmung, insbesondere der Übergang von der Bauch- zur
Brustatmung,
das Gehör, das bereits im Mutterleib entwickelt ist und sich in den
ersten beiden Lebensmonaten des Säuglings rasch entfaltet,
das Gehirn, das sowohl für die Koordination dieser Teilfähigkeiten
wie auch für die Entstehung einer Beziehung zur Wahrnehmung und
Motorik und für das Gedächtnis zentral ist. Eine auffällige Rolle
beim Spracherwerb spielt dabei die Lateralisation des Gehirns (vgl.
Kap 1). Wir wollen die Entwicklung chronologisch
verfolgen:
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Inter-uterine Lautartikulation und Gehör
Im Uterus sind bereits orale Funktionen beim Kind entwickelt, es
trinkt, lutscht am Daumen und schreit beim Verlust des Daumens.
Diese drei Funktionstypen bilden allerdings noch eine funktionale
Einheit und verstärken sich gegenseitig.
„Trinken, Lutschen, Schreien sind orale Funktionen mit analogem
Funktionswert. Ihr gegenseitiger Austausch oder Ersatz dient der
Konstanterhaltung der Funktionen".
Das Kind ist in der Lage, Herztöne und Darmgeräusche der Mutter
wahrzunehmen.
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Die Geburt bedeutet einen radikalen Wechsel sowohl grundlegender
körperlicher Funktionen als auch in der Außenwelt. (Umstellung der
Atmung, der Nahrungsaufnahme, Luftmilieu statt Flüssigkeitsmilieu.)
Der Geburtsschrei aktiviert gleichzeitig die Lungenatmung und löst
die erste Wahr-nehmung der eigenen Lautproduktion (im Luftmilieu)
aus.
Im Schrei ist auch der Appell an die Mutter (instinktiv) ent-halten
und es beginnt mit dem Schrei und der Reaktion der Pflegeperson
(der Mutter) auf den Schrei die soziale Interaktion. Damit sind
Selbstwahrnehmung und sozialer Wirkungszusammenhang bereits in
dieser Startsituation gegeben. Sie werden im Folgenden funktional
und differenziert in der Art und Weise ihrer Realisierung
entfaltet.
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Die nachgeburtliche Entwicklung bis zur Lallphase
Die Schallwahrnehmung entwickelt sich sehr schnell. Bereits nach
sechs Stunden reagiert der Säugling auf Schall. In der zweiten und
dritten Woche reagiert es auf Sprache als spezielles Geräusch,
diese Differenzierung ist bereits in der dritten Woche deutlich
ausgeprägt; der Säugling reagiert auf die Wahrnehmung menschlicher
Sprache durch verstärktes Saugen. Dies zeigt, dass die
Sprachwahrnehmung subjektiv an die instinktive Bewegung der
Nahrungsaufnahme gekoppelt ist. In der weiteren Entwicklung
differenziert sich das Schreien des Kindes in:
das Hintergrundschreien (etwa wenn der Säugling vier Stunden keine
Nahrung erhalten hat),
der Schmerzensschreien,
das Plappern, als Austausch des Wohlgefühls (etwa ab dem dritten
Monat.
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Die differenzierten Schreie des Säuglings und seine individuelle
Eigenart können von den Müttern identifiziert werden, außerdem
geben sie dem Arzt Auskünfte über die Entwicklung und evtl. Störung
des Kindes. Die Bezugspersonen reagieren allerdings nicht alle
gleich gut, d.h. es gibt Unterschiede der Aufnahmefähigkeit und
einen Lernprozess bei den Bezugspersonen. In Wasz-Hokert, (1981)
wurde anhand von Hauttemperatur-Messungen eine sog. „Risikogruppe"
von Müttern definiert, die auf die Provokation von Hunger- und
Schmerz-geschrei geringer reagierte als eine Gruppe normaler Mütter
(erhoben anhand von 600 Erstgebärenden). Eine nicht genügende
Reaktion der Bezugsperson kann zu Störungen des
Entwicklungsverlaufs beim Säugling führen. Eine Mutter kann unter
neun Neugeborenen ihr eigenes am Schreien identifizieren, außerdem
zeigten Unter-suchungen in Sheffield an Müttern, die zu fünft mit
ihren Säuglingen in einem Raum schliefen, dass meist nur die Mutter
des schreienden Kindes aufwachte. Das Schreien des Kindes ist also
sowohl als Appell als auch als Identifikationssignal eine sehr
effektive Kommunikation.
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Der Säugling lässt sich durch Streicheln oder Stillen beruhigen
(Neugeborenes).
Beim Erblicken eines Gesichts hält er kurz inne (1. Monat).
Beim Ansprechen der Mutter reagiert das Kind durch Fixieren des
Blicks und durch ein flüchtiges Lächeln (Ende des 2. Monats).
Das Kind folgt einer sich bewegende Person mit den Augen, Einsetzen
des sog. „sozialen Lächelns" (Ende des 3. Monats).
Lautes Lachen, wenn das Kind von Erwachsenen geneckt wird (Ende des
4. Monats).
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Die Entwicklung des Sprachverstehens und der Sprachpro-duktion
(inklusive Schreien und Laute) ist parallel zur Entwicklung anderer
Verhaltensformen und kann mit diesen korreliert werden. Für die
Diagnose von Entwicklungsstörungen sind einige Asynchronien
aufschlussreich. Hellbrüge und seine Mitarbeiter haben eine
statistische Normalitätstabelle ent-wickelt, nach der für jedes
einzelne Verhalten das Standard-alter bestimmt werden kann.
Asynchronien der jeweiligen Altersstufen sind aussagekräftig für
Retardierungen und deren Ursachen. Ich gehe kurz auf das Schema der
„Münchener funktionalen Entwicklungsdiagnostik" ein. Sie
unterscheidet (neben den realen Alter in Jahren) die folgenden
Stufen:
Krabbelalter — Perzeptionsalter — Sitzalter — Sprachalter
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Die zur Sprache führende kognitive und soziale Entwicklung des
Kindes
Es gibt zwei extreme Positionen, welche im Forschungsprozess der
Psycholinguistik disqualifiziert wurden und deshalb außerhalb
unserer Betrachtung bleiben:
Der extreme Nativismus. Die Grammatik (als Universalgrammatik) ist
dem Kinde angeboren und tritt nach Ablauf der körperlichen
(normalen) Reifung schlagartig in Erscheinung. Lernprozesse sind
lediglich Filter, welche nicht zur Umgebungssprache passende Regeln
eliminieren (in einer Art Falsifikationsprozess à la Popper).
Der extreme Behaviorismus. In Reiz-Reaktions-Situationen „lernen"
Kinder akzeptables Sprachverhalten. Es gibt kein (wissenschaftlich
zugängliches) allgemeines System, d.h. die „black box“ der
Kognition und der Sprachverarbeitung ist uneinsehbar.
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Piaget hat eine dynamische Sicht auf den Spracherwerb, den er als
Fließgleichgewicht (Äquilibration) von zwei, teilweise konträren
Prozessen ansieht:
Die Assimilation. Alles Wahrgenommene, Gelernte wird in bereits
vorhandene Schemata oder Operationen integriert. Dabei wird in
erster Linie der Input modifiziert (interpretiert).
Die Akkomodation. Das System der Schemata und Operationen wird
verändert, wodurch eine bessere Auswertung von Wahrnehmungen und
Lernchancen erreicht wird.
Das Gleichgewicht (Äquilibration) definiert Entwicklungsstufen, die
allerdings individuell sehr variabel realisiert werden (in
verschiedenen Zeitstufungen). Diese Grundvorstellung ist vielfach
kritisiert und modifiziert worden, bleibt aber als dynamischer
Ansatz relevant.
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Die sensomotorische Stufe
Sie dauert bis 1 ½ oder 2 Jahre und enthält eine erste Periode der
Zentrierung auf den eigenen Körper (sieben bis neun Monate) gefolgt
von einer Periode, in der die praktische Intelligenz an den Raum
angepasst wird.
Nach Piaget erwirbt das Kind mit ca. 2 Jahren den Plan des
konstanten Objektes. Eine ganze Reihe von im Anschluss an Piaget
durchgeführten Experimenten zeigt, dass die Objektkonstanz stark
von den Objekten und den Kontexten ihres Auftretens bzw.
Verschwindens abhängt. So sucht das Kind bei Verdunkelung bereit
mit 5 bis 7 Monaten nach dem „verschwundenen Objekt“; ein
Verschwinden hinter der Wand wird eher als Weiterexistenz
interpretiert als ein Zudecken (Verschwinden in).
Selbst Erwachsene glauben manchmal, der im Wasser aufgelöste Zucker
habe aufgehört zu existieren. Zusammengefasst heißt dies, es wird
nicht so sehr eine formale Konstanzeigenschaft als vielmehr eine
inhalts- und kontextbezogene Eigenschaft gelernt, die zudem von der
Entwicklung des Gedächtnisses abhängig ist und deren Nachweis
außerdem die Fähigkeit zur zielorientierten Bewegung
voraussetzt.
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Die präoperationale Phase
In dieser Phase wird die sogenannte "Vorstellungsintelligenz"
weiter entwickelt. Im Alter von etwa zweieinhalb Jahren bilden sich
sensomotorische Prozesse zu inneren Bildern und zur Sprache weiter;
dabei sind Spiel und Traum wichtige Stadien des Übergangs. In ihnen
wird die Imitation kreativ gestaltet und zur Repräsentation
weiterentwickelt. Piaget sagt in seinem Buch "Nachahmung, Spiel und
Traum" (Piaget, 1969: 273):
"In den großen Linien kann man also sagen, dass sich mit der
geistigen Entwicklung die nachahmende Akkommodation und die
spielerische Assimilation immer enger koordinieren, nachdem sie
einmal differenziert worden sind [...] ; im Symbolspiel liefern die
zuvor nachahmenden Vorstellungsbilder die "Zeichen" und die
spielerische Assimilation die Bedeutungen; im angepassten Denken
integriert, beziehen sich Vorstellungsbild und Assimilation
schließlich auf die gleichen Gegenstände."
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Ein konstitutives Merkmal dieser Phase, der Egozentrismus des
Kindes, war einer breiten Kritik ausgesetzt. Als vorläufiges
Resultat dieser Kritik kann man nur noch von einer Zunahme der
inhaltlichen Dezentralisierung sprechen. Zeil-Fahlbusch (1983: 34)
beschreibt diese Konzeption wie folgt:
„Von einer Stufe der Zentrierung auf ein Ich, das sich selbst nicht
erkennt, weil Subjektives und Objektives nicht geschieden sind,
führt die allmähliche Dezentrierung des Subjektes zur doppelten
Bewegung der ‘Exteriorisation‘, die auf die physikalische
Objektivität bzw. soziale Reziprozität hinzielt, und der
‘Interiorisierung‘, die auf die logisch-mathematische Kohärenz bzw.
moralische Autonomie hinzielt.“
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Auf dieser Stufe, welche eine Reihe klassenlogischer Strukturen
(Klassifikation, multiple Klassifikation, Inklusion, Transitivität)
und geometrischer (vorwiegend euklidischer) Konzepte hervortreten
lässt, ist das Lernen offensichtlich je nach Inhalt und Kontrast
der Vergleichsobjekte bzw. je nach Prägnanz der Eigenschaften sehr
unterschiedlich, so dass die grundlegende Strukturgenese nur als
abstrakte Generalisierung gültig ist. Diese Stufe wird etwa mit
sieben bis acht Jahren erreicht.
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Die formal-operationale Stufe
Der Heranwachsende (zwischen dem 11. und dem 15. Lebensjahr) wird
fähig, abstrakte Denkoperationen, in denen Hypothesen und mögliche
Konsequenzen ins Auge gefasst werden, auszuführen. Er nützt dabei
die logische Kombinatorik und das Denken in Proportionen (relativen
Größen und Gewichten). Die Vertrautheit der Inhalte scheint auch
auf dieser Stufe eine wesentliche Determinante zu sein; außerdem
wird diese Stufe selbst von Erwachsenen nur sehr unvollständig
erreicht.
Insgesamt ergibt die Auseinandersetzung mit dem Werk von Piaget
(besonders seit den 60er Jahren, als seine Arbeiten in den USA
rezipiert wurden) eine revidierte Stufentheorie.
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- enaktive Repräsentation von Prozessstrukturen.
Die formal-abstrakte Phase:
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Primär für Bruner ist :
Die Zielgerichtetheit der kindlichen kognitiven Tätigkeit.
Der außerordentlich kommunikative und soziale Charakter des
kindlichen Handelns und Sprechens in den ersten eineinhalb Jahren
sowie die Einbettung in eng umgrenzte Situationen der
Familie.
Prinzipiell kann Bruners Hypothese als eine pragmatisch erweiterte
genetische Theorie angesehen werden. Wir wollen kurz die
wichtigsten Züge seines Ansatzes charakterisieren.
Als Basis der eigentlichen Entwicklung nimmt Bruner instinktive
biologische Prozesse an, wie Saugverhalten, ursprüngliche
Anhänglichkeit gegenüber der Bezugsperson, erste sensorische
Kontakte mit der Welt.
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Bruner unterscheidet drei Phasen
Das Hinweisen und die Aufmerksamkeitsbewegungen
Die Blickbewegungen von Mutter und Kind durchlaufen nach Bruner die
folgenden Phasen der Koordination:
Die Mutter folgt der Blickbewegung des Kindes.
Das Kind folgt (ab dem 4. Monat) der Blickbewegung der
Erwachsenen.
Die Blickbewegungen von Mutter und Kind sind koordiniert, so dass
eine gemeinsame Fokussierung der Aufmerksamkeit erreicht
wird.
Aus dieser Koordination der Blickbewegungen entwickelt sich die
greifende, die gerichtete und schließlich die hinweisende
Geste.
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Das Kind befreit sich zunehmend von situativen Reizen und
spezifischen Ablaufmustern. Es versucht, ein feldunabhängiges
Bezugssystem zu entwickeln.
„Wenn das Verhalten immer geschickter werden soll, muss es sich im
zunehmenden Maße von der unmittelbaren und sequenziellen
Regulierung durch Stimuli der Umwelt befreien. Ich meine, dass
diese ‘Freiheit‘ dann erreicht wird, wenn nicht mehr bloße
Reaktionen erfolgen, sondern Lokalisierungen in einem Bezugssystem
gelernt werden.“ (Bruner u.a., 1971: 41)
Die Orientierung durchläuft folgende Stadien (wobei eine
Diskontinuität möglich aber nicht notwendig ist):
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ich — du
Aus der Koordination der Blickrichtung entsteht die räumliche und
personale Deixis.
Im reziproken Spielverhalten wird die Perspektive und deren
Umkehrung (z.B. auch das Geben und Nehmen) gelernt.
Die sprachliche Deixis bildet die Basis für die semantischen Rollen
(Tiefenkasus).
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Das Benennen
In diesem Stadium der Objektfixierung kann das Kind mit dem
Benennen beginnen. Dieses führt in seiner Ausbauphase zur
Prädikation. Sie hat pragmatisch eine Topic-Comment-Struktur.
Der „Topic“ setzt die Konstitution von Gegenständen der gemeinsamen
Aufmerksamkeit voraus. Diese können durch Augenbewegungen
(vgl. 1), durch gemeinsames, koordiniertes Handeln oder durch
explizite Deixis (gestisch, verbal) bestimmt sein.
Der „Comment“ hat als Basis eine intersubjektive Anteilnahme am
Topic und kann beim Kind durch eine Rückversicherung, z.B. als
Blickkontakt zum Erwachsenen, als Geplapper oder als verbaler
Kommentar, der an den Partner gerichtet ist, zum Ausdruck
kommen.
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Die kommunikativen Routinen, aus denen später Modi, Sprechakte und
Kasusrollen werden, sind für Bruner ebenfalls im Vorsprachlichen
bereits vorgeprägt als:
Modus des Verlangens (z.B. realisiert im Schreien des Babys),
Modus der Aufforderung (Schreien, Pause mit Erwartung einer Antwort
der Mutter),
Modus des Austausches mit Rollentausch (Geben, Nehmen,
Spielen),
Modus der Ergänzung. Die Aktivität des Kindes ist an einer
gemeinsamen Aufgabe orientiert; so hält etwa die Mutter eine
Schachtel hin, das Baby füllt sie.
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Die Sprachentwicklung bis zum dritten Lebensjahr lässt sich in vier
Phasen einteilen (zu diesem Zeitpunkt wird die
Verständigungsfähigkeit in der Muttersprache erreicht):
Die Lall- oder Plapperphase.
Die Phase der Ein-Wort-Sätze.
Die Phase der Mehr-Wort-Sätze.
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Der perzeptuelle Ausgangspunkt der Lall- oder Plapperphase
Die sehr frühe Sprachwahrnehmung wurde in Eimas (1985)
experimentell untersucht, und wir wollen als Ergänzung der
phänomenologisch leichter nachvollziehbaren Beobachtungen die
Ergebnisse dieser Studie und die dabei angewandten Methoden näher
betrachten. In einer ersten Serie von Experimenten wurde geprüft,
ob die Kleinkinder im Alter von einem und von vier Monaten
Unterschiede zwischen Sprachlauten wahrnehmen. Die
Lautunterscheidung wurde indirekt durch körperliche Reaktion auf
neue Reize gemessen; bei Eimas u.a. (1971) durch die Nuckel-Rate,
d.h. dem Saugdruck auf einen Nuckel und dessen Frequenzveränderung,
bei Lasky u.a. (1975) an der Erhöhung der Herzfrequenz und von
Patricia Kuhl (1983) durch die Kopfbewegung des Säuglings hin zum
Stimulus
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Nichtlineare kategoriale Schwelle der Lautwahrnehmung (vgl. Bild 3
in Eimas u.a., 1985:79).
Unterscheidung zwischen stimmhaft (BAH) und stimmlos (PAH)
Die Stimmansatzzeit ist der mess-Parameter der
Stimmhaftigkeit.
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Die Phase der Ein-Wort-Sätze
Die einzelnen Phasen folgen nicht strikt aufeinander, und es gibt
keine festen Altersstufen, die zwingend zu einer bestimmten
Entwicklungsstufe gehören. Die Untersuchungen von Stern und Stern
(1928) und Miller (1976) legen einen durchschnittlichen Zeitraum
zwischen 1;0 und 1;8 Jahren nahe. Miller (1976: 132) unterscheidet
mit Bloom (1973) noch zwei Subphasen: in der ersten bildet das Kind
im Zusammenhang des Erwerbs senso-motorischer Schemata einzelne
Äußerungen, die quasi das benützte Handlungsschema nur übersetzen
oder begleiten, in der zweiten fügt es eine Folge mehrere
Ein-Wort-Sätze zu einer zielgerichteten Sequenz zusammen.
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Die Tochter von Miller, Meike, sagt z.B. im Alter von 1;7 zu ihrer
Mutter:
Mama — (weint) M.: Was denn?
Mehr — (quengelnd) M.: Mehr?
Auto — (hält ein Spielzeugauto in der Hand) M.: Auto?
Auto — (quengelnd, schaut zum Kühlschrank) M.: Ja, wir haben keine
SchokoAutos mehr.
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Die Phase der Zwei-Wort-Sätze
Der Übergang zwischen den beiden Phasen ist natürlich fließend;
dabei spielen die relationalen Wörter eine wichtige Rolle. Sie
erlauben die Realisierung grundlegender semantischer Funktionen,
die dann in der Zwei-Wort-Äußerung als Pivot (Stamm), der durch das
relationale Wort besetzt ist, und Ergänzung (z.B. ein Nomen)
realisiert werden.
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Grundlegende semantische Funktionen (vgl. Szagun, 1996: 32).
Vorhandensein / Nicht-Vorhandensein / Wieder-Vorhandensein
Besitzer und Besitz
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Die Phase der Mehrwortsätze und die frühe
Grammatikentwicklung
Die Entwicklungen im Lexikon, in der Satzsemantik und in der Syntax
sind ab der Zwei-Wort-Phase eng verbunden, so dass man den
Spracherwerb eigentlich nicht mehr nach der mittleren Länge der
Äußerungen in Wörtern bestimmen kann, sondern von
Grammatikentwicklung sprechen muss.
Clahsen (1988) schlägt in Anlehnung an Brown (1983) fünf Phasen der
Grammatikentwicklung (bis ca. 3;5 Jahre) vor. In der
Phase II der frühen Zwei- und Mehrwort-Äußerungen verfügen die
Kinder bereits über die wichtigsten Wortarten. „Als nominale
Elemente kommen Pronomen oder Nomen vor. Nominalphrasen (NPn)
können auch Determinationselemente (Det) oder attributive Adjektive
enthalten.“ (ibidem: 42)
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Beispiele (ibidem: 43 f.):
schinken aufgessen (Der Purzel hat den Schinken aufgegessen.)
boden mitter (Auf dem Boden sind die Schnipsel.)
Für das Verb wird die Endstellung bevorzugt.
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Stufe III: Es treten grammatische Funktionswörter auf,
zusammengesetzte Verben, eine weitgehend korrekte Verb-Stellung und
mit Adverbien erweitere Satzstrukturen.
Stufe IV: Die Verb-Zweit-Stellung im Hauptsatz wird beherrscht,
Personen- und Numerusformative treten auf und die Kongruenz von
Subjekt und Verb wird gelernt. Relativ spät tritt die Endung -st
beim Vern (Kongruenz mit der zweiten Person Singular auf (Beispiel:
du tust, du kommst usw).
Stufe V: Mit 3; 5 Jahren
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Nennen Sie drei wichtige Phasen bei der Entwicklung des
Sprechens.
Geben Sie Beispiel für die Grammatik-entwicklung.
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und Morphologie, Benjamins, Amsterdam
Eimas, P. D., 1985. The Equivalence of Cues in the Perception of
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Dritter Abschnitt: Die Sprachentwicklung), 6. Auflage, Quelle
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Psychologie Verlags Union, Weinheim.