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Prof. Ralph Abelein Improvisierte Liedbegleitung 1 © 2007, Ralph Abelein 1 Einführung in die internationale Akkordsymbolschrift Eines muss ich gleich vorwegschicken: Was die Überschrift vermuten lässt, nämlich eine international verbindliche Konvention der Akkordsymbolschrift, gibt es nicht. Immer wieder wurden Versuche unternommen, ein logisch aufgebautes, verständliches und darüber hinaus flexibles System der Symbolschrift zu entwickeln aber keines konnte sich gänzlich durchsetzen 1 . In der Praxis existieren deshalb zahlreiche Modelle nebeneinander. Trotz aller teils offensichtlicher, teils subtiler Differenzen sind aber doch weit reichende Übereinstimmungen zu beobachten. Vom Interpreten wird also eine gewisse Flexibilität und Interpretationsfähigkeit bei der Deutung von Akkordsymbolen verlangt, außerdem das Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten der Darstellung. Mit dieser Einführung versuche ich, einige Grundprinzipien dieser Griffschrift darzulegen, Varianten aufzuzeigen und ggf. Empfehlungen zu geben. Sie ist nicht dogmatisch gemeint, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und stellt den aktuellen Stand meiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem System dar, der sich naturgemäß kontinuierlich verändert. Insofern stehe ich einer kritischen Auseinandersetzung durchaus offen gegenüber. 1. Dreiklänge Akkordgrundtöne werden nach internationalem Standard mit Großbuchstaben bezeichnet. B steht dabei für H, Tiefalteration wird durch Hinzufügung von b, Hochalteration durch # bezeichnet. Buchstaben ohne weitere Angaben stehen für Durakkorde in Grundstellung 2 . Wird als tiefster Ton ein anderer als der Grundton verlangt, muss dieser nach einem hinzugefügten Schrägstrich angegeben werden. Die Zahl der Stimmen sowie die Lage sind frei wählbar. Bsp. 1 Zahlreiche Symbole werden äquivalent verwendet. Innerhalb eines Stücks jedoch sollten Akkorde gleichen Typs immer auf die gleiche Weise bezeichnet werden. Für Mollakkorde stehen folgende Symbole zur Verfügung. Kleinbuchstaben finden keine Verwendung 3 . 1 Das 1976 veröffentliche Buch Standardized chord symbol notation: A uniform system for the music profession der beiden Amerikaner Carl Brandt und Clinton Roemer hatte unter diesen Publikationen vielleicht den größten Einfluss auf die Praxis. 2 Manche Publikationen bezeichnen Durakkorde mit maj (z.B. Bbmaj für B-Dur). Weitestgehend hat sich aber der Verzicht auf dieses Kürzel durchgesetzt, indem dem Stammtonbuchstaben gleichzeitig Dreiklangsbedeutung gegeben wurde. 3 Wie den angegebenen Beispielen zu entnehmen, werden die dem Stammton hinzugefügten Kürzel (m, mi, min usw.) und Versetzungszeichen (#, b) manchmal hochgestellt. Für die handschriftliche Notation empfehle ich, zumindest die Moll-Kürzel nicht hochzustellen. Ziel sollte immer eine möglichst leichte Lesbarkeit sein.

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Einführung in die internationale Akkordsymbolschrift

Eines muss ich gleich vorwegschicken: Was die Überschrift vermuten lässt, nämlich eine international verbindliche Konvention der Akkordsymbolschrift, gibt es nicht. Immer wieder wurden Versuche unternommen, ein logisch aufgebautes, verständliches und darüber hinaus flexibles System der Symbolschrift zu entwickeln aber keines konnte sich gänzlich durchsetzen1. In der Praxis existieren deshalb zahlreiche Modelle nebeneinander. Trotz aller teils offensichtlicher, teils subtiler Differenzen sind aber doch weit reichende Übereinstimmungen zu beobachten. Vom Interpreten wird also eine gewisse Flexibilität und Interpretationsfähigkeit bei der Deutung von Akkordsymbolen verlangt, außerdem das Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten der Darstellung. Mit dieser Einführung versuche ich, einige Grundprinzipien dieser Griffschrift darzulegen, Varianten aufzuzeigen und ggf. Empfehlungen zu geben. Sie ist nicht dogmatisch gemeint, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und stellt den aktuellen Stand meiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem System dar, der sich naturgemäß kontinuierlich verändert. Insofern stehe ich einer kritischen Auseinandersetzung durchaus offen gegenüber. 1. Dreiklänge Akkordgrundtöne werden nach internationalem Standard mit Großbuchstaben bezeichnet. B steht dabei für H, Tiefalteration wird durch Hinzufügung von b, Hochalteration durch # bezeichnet. Buchstaben ohne weitere Angaben stehen für Durakkorde in Grundstellung2. Wird als tiefster Ton ein anderer als der Grundton verlangt, muss dieser nach einem hinzugefügten Schrägstrich angegeben werden. Die Zahl der Stimmen sowie die Lage sind frei wählbar. Bsp. 1

Zahlreiche Symbole werden äquivalent verwendet. Innerhalb eines Stücks jedoch sollten Akkorde gleichen Typs immer auf die gleiche Weise bezeichnet werden. Für Mollakkorde stehen folgende Symbole zur Verfügung. Kleinbuchstaben finden keine Verwendung3.

1 Das 1976 veröffentliche Buch Standardized chord symbol notation: A uniform system for the music profession der beiden Amerikaner Carl Brandt und Clinton Roemer hatte unter diesen Publikationen vielleicht den größten Einfluss auf die Praxis. 2 Manche Publikationen bezeichnen Durakkorde mit maj (z.B. Bbmaj für B-Dur). Weitestgehend hat sich aber der Verzicht auf dieses Kürzel durchgesetzt, indem dem Stammtonbuchstaben gleichzeitig Dreiklangsbedeutung gegeben wurde. 3 Wie den angegebenen Beispielen zu entnehmen, werden die dem Stammton hinzugefügten Kürzel (m, mi, min usw.) und Versetzungszeichen (#, b) manchmal hochgestellt. Für die handschriftliche Notation empfehle ich, zumindest die Moll-Kürzel nicht hochzustellen. Ziel sollte immer eine möglichst leichte Lesbarkeit sein.

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Bsp. 2

Verminderte und übermäßige Dreiklänge werden wie folgt ausgedrückt. Obwohl mitunter praktiziert, wird die Verwendung von #5 für übermäßige Dreiklänge nicht empfohlen, da es zu Verwechslungen kommen kann, wie unten näher erläutert werden wird. Für Septakkorde (s. unten) jedoch kann ohne weiteres #5 bezeichnet werden. Bsp. 3

2. Indexziffern Ab der Sexte werden die dem Dreiklang hinzuzufügenden Töne durch sog. Indexziffern bestimmt4. Diese Methode der Akkordbezeichnung bedient sich der Terzschichtung des diatonischen Materials. Die im Akkord enthaltenen Töne werden ihrem Intervallabstand vom Akkordgrundton entsprechend beziffert. Bsp. 4

Wie schon bei den Stammtönen wird auch bei den durch Indexziffern bestimmten Zusatztönen Tief- bzw. Hochalteration durch b und # kenntlich gemacht, diesmal jedoch durch Voranstellung des Versetzungszeichens5. Eine Ausnahme bildet die Kennzeichnung der zur großen Sept erhöhten 7.

4 Indexziffern werden hochgestellt. Bei mehreren Indexziffern s. u. 5 Die Alteration von Indexziffern mithilfe von + und – (z.B. C79+ oder C7+9 bzw. C79- oder C7-9) ist mitunter gebräuchlich. Da das Plus- und Minus-Zeichen jedoch unter Umständen mit den oben genannten Abkürzungen für übermäßige Dreiklänge und Mollakkorde verwechselt werden kann und außerdem keine Notwendigkeit besteht, außer den beiden Versetzungszeichen # und b noch weitere einzuführen, rate ich von dieser Schreibweise ab.

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Bsp. 5

Enharmonische Verwechslung ist im Jazz an der Tagesordnung. Die Gründe hierfür liegen zum einen in einer zuweilen einfacheren Darstellung, zum anderen in bestimmten Lesegewohnheiten. Solange die leichte Lesbarkeit der Symbol- bzw. Notenschrift nicht eingeschränkt ist, sollte man immer die harmonisch korrekte Darstellung wählen. Bei der Notenschrift ist diese Grenze für Jazzmusiker oft ab der Verwendung von Doppelvorzeichen gegeben, bei der Symbolschrift werden chromatisch veränderte Stammtöne „jenseits“ des Quintenzirkels meist umgedeutet (Beispiele: Aus D#m9 würde dann Ebm9 und aus Fb7b9 würde E7b9). 3. Vierklänge Anders als in der klassischen Harmonielehre bilden für die Jazzharmonik (und die ist die „Mutter“ des hier erklärten Systems) nicht drei sondern vier in Terzen übereinander geschichtete Töne die Basis für harmonische Vorgänge. Die wichtigsten dieser Vierklänge sind folgende. Die markierten Töne bilden die Wesenstöne des Akkordtyps und dürfen nicht verändert werden! Zu Übungszecken sind die Stammtöne im nachfolgenden Beispiel unterschiedlich gewählt. Bsp. 6

Solange die Terzschichtung durchgängig beibehalten wird, genügt es, den obersten Ton der Struktur als Indexziffer zu nennen. Ab9 schließt also die 7 ein, Am11 enthält 7 und 9. Einzig die 11 darf bei Major- und Dominantseptakkorden nicht zusammen mit der Terz auftreten, da die Gleichzeitigkeit von Terz und Quarte den funktionalen Charakter des Akkords stört.6 Die hochalterierte 11 kann jedoch problemlos eingesetzt werden, muss aber, wie alle Alterationen, benannt werden.

6 Fortgeschrittenen Studierenden mag auffallen, dass im Modern Jazz mitunter durchaus Terz und Quarte bei einem Durseptakkord (als Spezialform eines 7sus4) vorkommen können. In aller Regel liegt dabei die Terz eine große Sept über der Quarte. Im umgekehrten Fall hingegen würden sich sehr dissonante Intervalle ergeben (kleine Sekunde oder kleine None). Solche Akkorde sind, sofern nicht ausdrücklich erwünscht, eher unbrauchbar.

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Bsp. 7

Alterationen werden dem Index hinzugestellt. Es existieren auch hier alternative Schreibweisen (Einklammerung, Schrägstrich, keine Trennung). Alterationen können horizontal (Indexziffern aufsteigend von links nach rechts) oder auch vertikal (aufsteigend von unten nach oben) bezeichnet werden. Im folgenden Beispiel wird auch die Praxis der enharmonischen Verwechslung deutlich. Dominantseptakkorde bieten bei weitem die meisten Alterationsmöglichkeiten. Bsp. 8

Zu beachten ist, dass niemals nur Stammton und Alteration angegeben werden, sondern immer auch die höchste unalterierte Terz des Septakkords. Hierdurch werden Falschinterpretationen ausgeschlossen. Der übermäßige Dreiklang sollte deshalb auch nicht mit #5 benannt werden, wie schon oben erwähnt. Hier kann es Verwechslungen mit terzlosen Dreiklängen geben, die manchmal mit 5 bezeichnet werden (aber ebenfalls anders benannt werden sollten, wie unten noch erläutert werden wird). Bsp. 9

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Wird die Sexte bezeichnet, ergänzt sie den Dreiklang (Sixte ajoutée), die Quinte bleibt also enthalten7. Soll die Quinte fehlen, muss der Akkordgrundton umgedeutet werden. Hieran ist zu erkennen, dass die Akkordsymbolschrift für die Zwecke einer harmonischen Analyse vollkommen ungeeignet ist. Sie ist eine reine Griffschrift. Bsp. 10

Die Sexte (6) ersetzt die Sept. Soll sie dies nicht tun, sondern zusätzlich zur Sept gespielt werden, muss sie als Tredezime (13) beziffert werden. Bei Mollakkorden wäre in diesem Fall (z.B. Gm13) automatisch auch die 11 enthalten. Soll diese nicht gespielt werden, muss die 13 mit dem Kürzel add (addieren) versehen werden. Die 11 wird durch Hinzufügen der 13 zum Mollseptnonenakkord damit „übersprungen“. Bsp. 11

Die Quarte (4) ersetzt die Terz. Sie wird immer mit dem Kürzel sus4 oder sus (suspended fourth, also Quartvorhalt) bezeichnet, da sie auch im Jazz meist als Vorhalt eingesetzt wird. Seit den 60er Jahren haben sich solche Klänge jedoch emanzipiert und werden oft ohne Auflösung verwendet. (vgl. Mayden Voyage von Herbie Hancock). Soll die Terz im Akkord enthalten sein (nur bei Moll üblich, vgl. oben), schreibt man hingegen 11.8

7 Dieser Punkt stellt für „klassisch“ vorgebildete Musiker einen regelmäßigen „Stolperstein“ dar. In der traditionellen Harmonielehre bezeichnet die Indexziffer 6 einen Sextakkord, während hier der Quintsextakkord gemeint ist. 8 Es mag die Frage aufkommen, warum der Quartvorhalt nicht bei Durseptakkorden Anwendung findet. Durch den zwischen Quarte und großer Sept entstehenden Tritonus entsteht zusammen mit der Quinte der Eindruck eines über den Grundton gespielten Dominantseptakkordes. Klänge solcher Art werden deshalb nahe liegender Weise als Slashakkorde geschrieben. Dennoch gibt es mitunter Fälle von recht ausgefallenen Strukturen, deren Benennung das sus-Kürzel in Verbindung mit ma7 erleichtert.

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Bsp. 12

Wie in den beiden vorangegangenen Beispielen zu sehen, kann einem Akkord durch die Verwendung des Kürzels add ein beliebiges Intervall hinzugefügt werden. 4. Besonderheiten Selten soll keine Terz (etwa bei Bordunquinten oder Power Chords für Gitarre) oder Quinte gegriffen werden. Das Akkordymbol muss hierfür mit dem Zusatz omit oder no, gefolgt vom wegzulassenden Intervall, versehen werden. Wie oben schon erwähnt, bezeichnen manche Songbooks den Stammton mit einer 5 (z.B. C5) und meinen damit terzlose Akkorde. Dies sollte vermieden werden, da etwaige Stammtonalterationen dann falsch interpretiert werden könnten (vgl. die Verwechslung mit einem übermäßigem Dreiklang). Bsp. 13

Falls ein Melodieton gar nicht harmonisiert werden soll, schreibt man N.C. (für No chord) über den Takt. Falls lediglich ein einzelner Basston gespielt werden soll, schreibt man den Notennamen und bass, also z.B. Ab bass. 5. Anmerkungen Akkordsymbole werden frei erweitert: Besonders im Jazz werden Akkordsymbole regelmäßig mit Nonen und Tredezimen (bei Dominanten) ergänzt, auch wenn diese im Symbol nicht verlangt werden. Im sog. alten Realbook z.B. wird auf die Bezeichnung der None, sofern unalteriert, meist verzichtet (obwohl diese natürlich ständig zu spielen sind, um ein angemessenens Ergebnis zu erzielen). Jazzmusiker nehmen sich zudem die Freiheit, Akkordfolgen ggf. zu verändern, neue Akkorde einzufügen oder welche auszulassen. Dieses Prinzip nennt man Reharmonisation. Im Pop oder Rock muss man sich hingegen sehr viel enger an die gegebenen Akkorde halten, um einen authentischen Klangeindruck zu erreichen.

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Da die Quinte (sofern unalteriert) nicht viel zum Akkordcharakter beiträgt, wird sie regelmäßig im Voicing weggelassen, wodurch der Griff einfacher und der Klang weniger wuchtig werden.