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SUHRKAMP ROMAN ELENA FERRANTE DIE GESCHICHTE DES VERLORENEN KINDES

ELENA FERRANTE DIE GESCHICHTE DES VERLORENEN KINDES · ROMAN ELENA FERRANTE DIE GESCHICHTE DES VERLORENEN KINDES. Elena Ferrante Die Geschichte des verlorenen Kindes Reife und Alter

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Page 1: ELENA FERRANTE DIE GESCHICHTE DES VERLORENEN KINDES · ROMAN ELENA FERRANTE DIE GESCHICHTE DES VERLORENEN KINDES. Elena Ferrante Die Geschichte des verlorenen Kindes Reife und Alter

SUHRKAMP

RO M A N

ELENA FERRANTEDIE GESCHICHTE DES VERLORENEN KINDES

SUHRKAMP

RO M A N

ELENA FERRANTEDIE GESCHICHTE DES VERLORENEN KINDES

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Elena FerranteDie Geschichte desverlorenen Kindes

Reife und Alter

Band 4der Neapolitanischen Saga

Roman

Aus dem Italienischenvon Karin Krieger

Suhrkamp

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Von Oktober 1976 bis zu der Zeit, als ich, 1979, nachNeapel zurückzog, vermied ich es, wieder feste Beziehun-gen zu Lila aufzubauen. Das war nicht leicht. Sie versuch-te fast sofort, erneut in mein Leben einzubrechen, undich ignorierte sie, tolerierte sie, ertrug sie. Obwohl siesich so verhielt, als wollte sie mir lediglich in einer schwe-ren Zeit nahe sein, konnte ich nicht vergessen, mit wel-cher Geringschätzung sie mich behandelt hatte.

Heute denke ich, wenn mich nur die Beschimpfung ge-kränkt hätte – »du bist eine dumme Gans«, hatte sie amTelefon geschrien, als ich ihr von Nino erzählt hatte, undnie zuvor hatte sie so mit mir gesprochen –, dann hätteich mich schnell wieder beruhigt. Doch schwerer als dieseBeleidigung wog der Hinweis auf Dede und Elsa. »Denkdaran, was du deinen Töchtern damit antust«, hatte siemich zurechtgewiesen, und ich hatte das zunächst nichtweiter beachtet. Aber mit der Zeit bekamen diese Worteimmer mehr Gewicht, sie fielen mir häufig ein. Lila hattenie das geringste Interesse für Dede und Elsa gezeigt, mitziemlicher Wahrscheinlichkeit erinnerte sie sich nichteinmal an ihre Namen. Wenn ich am Telefon einen klu-gen Spruch von ihnen wiedergegeben hatte, war sie mirstets ins Wort gefallen und hatte das Thema gewechselt.Und als sie die beiden in der Wohnung von Marcello So-lara zum ersten Mal sah, hatte sie sich auf einen flüchti-

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gen Blick und auf ein paar allgemeine Bemerkungen be-schränkt, sie hatte nicht im mindesten darauf geachtet,wie hübsch angezogen und gekämmt sie waren und wiegut sie sich ausdrücken konnten, obwohl sie noch so kleinwaren. Dabei hatte ich sie zur Welt gebracht, ich hatte sieaufgezogen, sie waren ein Teil von mir, ihrer langjähri-gen Freundin. Sie hätte – wenn schon nicht aus Zunei-gung, so doch zumindest aus Höflichkeit – meinem müt-terlichen Stolz Raum lassen müssen. Stattdessen hatte sienicht einmal etwas gutmütigen Spott aufgebracht, sie hat-te Gleichgültigkeit gezeigt, mehr nicht. Nun erst – garan-tiert aus Eifersucht, weil ich mir Nino geangelt hatte –waren ihr die Mädchen wieder eingefallen, und sie hatteunterstreichen wollen, was für eine schlechte Mutter ichwar, die nur für ihr eigenes Glück deren Unglück ver-ursachte. Immer wenn ich daran dachte, wurde ich ner-vös. Hatte Lila sich etwa um Gennaro gekümmert, als sieStefano verlassen hatte, als sie den Jungen wegen ihrerArbeit in der Fabrik zur Nachbarin gebracht und als sieihn zu mir geschickt hatte, als ob sie ihn loswerden woll-te? Ja doch, ich hatte meine Fehler, aber ich war unzwei-felhaft eine bessere Mutter als sie.

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In jenen Jahren wurden solche Gedanken zur Gewohn-heit. Es war, als wäre Lila, die letztlich nur diesen einenhässlichen Satz über Dede und Elsa gesagt hatte, zum An-walt ihrer kindlichen Bedürfnisse geworden und als fühlteich mich jedes Mal, wenn ich die Mädchen vernachlässig-te, um mich mir selbst zu widmen, verpflichtet, ihr zu be-

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weisen, dass sie im Unrecht war. Aber das war nur eineStimme, die mein Unmut erfunden hatte, was Lila wirk-lich über mein Verhalten als Mutter dachte,weiß ich nicht.Sie ist die Einzige, die das erzählen könnte, falls es ihr tat-sächlich gelungen sein sollte, in diese lange Kette vonWörtern einzudringen, um meinen Text zu verändern,um fehlende Glieder geschickt einzufügen, um andere un-auffällig herauszulösen, um mehr, als mir lieb ist, von mirzu erzählen, mehr, als ich erzählen kann. Ich sehne michnach ihrer Einmischung, wünsche sie mir, seit ich ange-fangen habe, unsere Geschichte aufzuschreiben, doch ichmuss erst zum Ende kommen, um alle diese Seiten einerPrüfung unterziehen zu können. Wollte ich das jetzt ver-suchen,würde ich sicherlich steckenbleiben. Ich schreibeschon zu lange und bin müde, es wird immer schwerer,im Chaos der Jahre, der kleinen und großen Ereignisseund auch der Launen den roten Faden nicht zu verlieren.Daher neige ich dazu, entweder über meine Angelegen-heiten hinwegzugehen, um sofort wieder zu Lila und zuallen Komplikationen zu kommen, die sie mit sich bringt,oder aber, schlimmer noch, mich von den Ereignissenmeines Lebens mitreißen zu lassen, nur weil ich sie leich-ter aufschreiben kann. Aber ich muss mich dieser Ent-scheidung entziehen. Den ersten Weg darf ich nicht ge-hen,weil ich – da das Wesen unserer Beziehung es gebietet,dass ich nur durch den Weg über mich zu ihr gelangenkann – schließlich immer weniger Spuren von Lila findenwürde, wenn ich mich selbst außer Acht ließe. Und denzweiten Weg auch nicht. Denn dass ich immer ausführ-licher über meine Erfahrungen spreche, ist genau das,was sie garantiert unterstützen würde. »Komm schon«,würde sie fordern, »lass uns wissen, welche Wendung

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dein Leben genommen hat, wen interessiert denn meins,gib’s doch zu, nicht einmal dich.« Und am Ende würdesie sagen: »Ich bin ein Klecks auf einem Gekleckse, abso-lut ungeeignet für eins deiner Bücher. Lass mich in Ruhe,Lenù, etwas Gelöschtes erzählt man nicht.«

Was also tun? Ihr wieder einmal recht geben? Akzep-tieren, dass Erwachsensein heißt, nicht mehr in Erschei-nung zu treten, zu lernen, sich zu verstecken bis hin zumvölligen Verschwinden? Eingestehen, dass ich, je mehrJahre vergehen, immer weniger von Lila weiß?

Heute Morgen halte ich meine Müdigkeit im Zaumund setze mich wieder an den Schreibtisch. Jetzt, da ichkurz vor dem schmerzhaftesten Punkt unserer Geschich-te bin, möchte ich auf dem Papier ein Gleichgewicht zwi-schen mir und ihr suchen, das ich im wahren Leben nichteinmal mit mir selbst gefunden habe.

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Von den Tagen in Montpellier weiß ich noch alles, nurnicht, wie die Stadt aussah, es ist, als wäre ich nie dort ge-wesen. Außerhalb des Hotels, außerhalb des gewaltigenAudimax, in dem die wissenschaftliche Tagung stattfand,an der Nino teilnahm, sehe ich heute nur noch einen win-digen Herbst und einen hellblauen, auf weißen Wolkenliegenden Himmel. Trotzdem ist mir der Name Montpel-lier aus vielen Gründen wie ein Signal der Flucht im Ge-dächtnis geblieben. Ich war schon einmal im Ausland ge-wesen, mit Franco in Paris, und meine eigene Kühnheithatte mich elektrisiert. Doch damals war es mir so vor-gekommen, als wären der Rione und Neapel für immer

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meine Welt und würden es auch immer bleiben, währendalles andere wie ein kurzer Ausflug war, eine Ausnahme-situation, in der ich mich fühlen konnte, wie ich in Wahr-heit nie sein würde. Dagegen war mir in Montpellier, ob-wohl es bei weitem nicht so aufregend wie Paris war, alswären alle meine Dämme gebrochen und als würde ichüber die Ufer treten. Schon allein die Tatsache, dass ichmich in dieser Stadt befand, war in meinen Augen der Be-weis dafür, dass der Rione, Neapel, Pisa, Florenz, Mai-land, ja ganz Italien nur winzige Splitter der Welt warenund dass ich gut daran tat, mich nicht mehr mit diesenSplittern zu begnügen. In Montpellier wurde mir die Be-grenztheit meines Blicks und auch der Sprache bewusst,in der ich mich ausdrückte und in der ich geschrieben hat-te. In Montpellier wurde mir klar, wie einengend es seinkonnte, mit zweiunddreißig Jahren Hausfrau und Mutterzu sein. In diesen Tagen voller Liebe fühlte ich mich erst-mals frei von den Fesseln, die im Laufe der Jahre entstan-den waren, von den Fesseln, die aus meiner Herkunft er-wuchsen,von denen, die sich aus meinen Studienerfolgenergaben, und von denen, die sich aus meinen Lebensent-scheidungen ableiteten, vor allem aus meiner Heirat. InMontpellier konnte ich auch besser nachvollziehen, war-um ich mich so gefreut hatte, als ich erfahren hatte, dassmein erstes Buch in andere Sprachen übersetzt wordenwar, und warum ich so niedergeschlagen gewesen war,nachdem ich außerhalb von Italien nur wenige Leser ge-funden hatte. Es war wunderbar, Grenzen zu überschrei-ten, sich in anderen Kulturen treiben zu lassen, die Vorläu-figkeit dessen zu entdecken,was ich für endgültig gehaltenhatte. Wenn ich den Umstand, dass Lila nie aus Neapelherausgekommen war – sogar San Giovanni a Teduccio

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hatte ihr schon Angst gemacht –, früher für eine fragwür-dige Entscheidung gehalten hatte, die sie allerdings fürgewöhnlich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen verstand,so schien er mir jetzt nur ein Zeichen geistiger Enge zusein. Ich reagierte, wie man auf jemanden, der einen be-leidigt, reagiert, indem man dieselben Worte verwendet,die einen beleidigt haben. »Du hast dich in mir ge-täuscht? Nein, meine Liebe, ich bin es, ich, die sich indir getäuscht hat: Du wirst dein Leben lang den vorbei-fahrenden Lastwagen auf dem Stradone nachschauen.«

Die Tage verflogen. Die Organisatoren der Tagung hat-ten für Nino schon vor geraumer Zeit ein Einzelzimmerim Hotel gebucht, und da ich mich zu spät entschlossenhatte, ihn zu begleiten, war es nicht mehr möglich gewe-sen, stattdessen ein Doppelzimmer zu bekommen. Wirwaren getrennt untergebracht, aber jeden Abend nahmich eine Dusche, machte mich für die Nacht fertig undschlüpfte mit einigem Herzklopfen in sein Zimmer. Wirschliefen zusammen, eng aneinandergeschmiegt, als fürch-teten wir, eine feindliche Macht könnte uns im Schlaftrennen. Morgens ließen wir uns das Frühstück ans Bettbringen, wir genossen diesen Luxus, den ich nur aus demKino kannte, lachten viel, waren glücklich. Tagsüber leis-tete ich ihm in dem großen Sitzungssaal Gesellschaft,doch obgleich die gelangweilten Redner Seite um Seiteherunterleierten, war ich begeistert, denn ich war mit ihmzusammen, saß neben ihm, doch ohne ihn zu stören.Nino verfolgte die Beiträge aufmerksam, machte sichNotizen und flüsterte mir hin und wieder eine ironischeBemerkung oder Liebesworte ins Ohr. Zum Mittag undzum Abendessen gesellten wir uns zu den Gelehrten ausaller Welt, fremde Namen, fremde Sprachen. Natürlich

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hatten die angesehensten Redner einen separaten Tisch,wir saßen mit jüngeren Wissenschaftlern zusammen aneiner langen Tafel. Ninos Gewandtheit beeindrucktemich, sowohl während der Arbeit als auch im Restau-rant. Wie anders als der Student von damals er war undauch als der junge Mann, der mich vor fast zehn Jahrenin der Mailänder Buchhandlung verteidigt hatte. Seinenpolemischen Ton hatte er abgelegt, taktvoll überwand erdie akademischen Barrieren und knüpfte mit ernster undzugleich gewinnender Miene Kontakte. Mal auf Englisch(ausgezeichnet), mal auf Französisch (gut) führte er geist-reiche Gespräche und tat sich mit seiner alten Vorliebefür Statistiken hervor. Ich war stolz darauf, dass er so vielBeifall fand. Nach wenigen Stunden war er bei allen be-liebt, man zog ihn hierhin und dorthin.

Nur einmal veränderte er sich plötzlich, das war amAbend vor seiner Rede auf der Tagung. Er wurde abwei-send und unfreundlich, er schien mir sehr aufgeregt zusein. Er begann seinen vorbereiteten Text schlechtzuma-chen,wiederholte mehrmals, dass ihm das Schreiben nichtso leichtfalle wie mir, ärgerte sich, weil er keine Zeit ge-habthatte,umgründlich zuarbeiten. Ichbekameinschlech-tes Gewissen – hatte unsere komplizierte Geschichte ihnabgelenkt? – und wollte es wiedergutmachen, indem ichihn umarmte, küsste und drängte, mir seine Rede vorzu-lesen. Er tat es, und seine Miene eines ängstlichen Schul-jungen rührte mich an. Sein Beitrag klang für mich nichtweniger langweilig als die der anderen, die ich auf der Ta-gung gehört hatte, doch ich lobte ihn sehr, und Nino be-ruhigte sich. Am folgenden Vormittag trat er mit gespiel-tem Eifer auf, man applaudierte ihm. Am Abend lud ihneiner der renommierten Tagungsteilnehmer, ein Ameri-

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kaner, an seinen Tisch ein. Ich blieb allein zurück, aberdas störte mich nicht. Wenn Nino bei mir war, redete ichmit niemandem, während ich ohne ihn gezwungen war,mich mit meinem kümmerlichen Französisch zu behel-fen. Ich kam mit einem Paar aus Paris ins Gespräch. Diebeiden gefielen mir, denn ich hatte schnell bemerkt, dasssie in einer ganz ähnlichen Situation waren wie wir. Fürsie hatte die Institution der Familie etwas Bedrückendes,beide hatten, wenn auch mit großem Bedauern, ihrenEhepartner und ihre Kinder verlassen, beide wirkten glück-lich. Er, Augustin, war um die fünfzig, hatte ein rotes Ge-sicht, sehr lebhafte, hellblaue Augen und einen großen,ins Blonde spielenden Schnauzbart. Sie, Colombe, warkaum über dreißig wie ich, hatte sehr kurzes, schwarzesHaar, ein kleines Gesicht mit stark geschminkten Augenund Lippen und war von einer bezaubernden Eleganz.Ich unterhielt mich vor allem mit ihr, sie hatte einen sie-benjährigen Sohn.

»Meine Älteste wird erst in ein paar Monaten sieben«,sagte ich, »aber sie kommt dieses Jahr schon in die zweiteKlasse, sie ist sehr gut in der Schule.«

»Mein Sohn ist äußerst aufgeweckt und phantasie-voll.«

»Wie hat er denn die Trennung verkraftet?«»Gut.«»Hat er gar nicht darunter gelitten?«»Kinder sind nicht so festgefahren wie wir, sie sind an-

passungsfähig.«Sie kam immer wieder auf die Anpassungsfähigkeit zu-

rück, die sie den Kindern zuschrieb, es schien sie zu be-ruhigen. Sie sagte weiter: »In unserem Bekanntenkreiskommt es ziemlich oft vor, dass Eltern sich trennen, die

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Kinder wissen, dass das passieren kann.« Aber als ich ihrerzählte, dass ich keine weiteren getrennt lebenden Frau-en kannte außer meiner Freundin, schlug sie plötzlich ei-nen anderen Ton an, sie beklagte sich über ihr Kind: »Erist gut in der Schule, aber langsam«, platzte sie heraus.»Die Lehrer sagen, er ist unordentlich.« Ich war betrof-fen, weil sie nun ohne jede Zärtlichkeit sprach, beinahemit Groll, als wollte ihr Sohn sie mit diesem Verhalten är-gern, und das beunruhigte mich. Ihr Freund bemerktedas offenbar und schaltete sich ein, er prahlte mit seinenzwei Söhnen,vierzehn und achtzehn Jahre alt, und erzähl-te lachend, dass sie sowohl bei den jungen als auch beiden reiferen Frauen großen Anklang fanden. Als Ninowieder zu mir kam, begannen die beiden Männer – undAugustin besonders – auf üble Weise über viele der Red-ner herzuziehen. Mit einer etwas aufgesetzten Heiterkeittat Colombe es ihnen kurz darauf nach. Die Lästerei wirk-te sofort verbindend, Augustin redete und trank den gan-zen Abend viel, seine Freundin lachte, sobald es Nino ge-lang, etwas zu sagen. Sie luden uns ein, in ihrem Autonach Paris mitzufahren.

Die Gespräche über die Kinder und diese Einladung,die wir weder annahmen noch ablehnten, brachten michauf den Boden der Tatsachen zurück. Bis dahin warenmir Dede und Elsa ständig in den Sinn gekommen, undauch Pietro, doch wie in einem Paralleluniversum ange-halten, reglos am Küchentisch in Florenz, vor dem Fern-seher oder in ihren Betten. Plötzlich traten meine und ih-re Welt miteinander in Verbindung. Mir wurde bewusst,dass die Tage in Montpellier fast vorbei waren, dassNino und ich unweigerlich zu unseren Familien zurück-kehren würden, dass wir unsere jeweilige Ehekrise wür-

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den durchstehen müssen, ich in Florenz, er in Neapel. DieKörper meiner Mädchen verbanden sich wieder mit mei-nem, diese Berührung war heftig. Seit fünf Tagen hatteich nichts von ihnen gehört, und als mir das bewusst wur-de, überkam mich eine starke Übelkeit, und meine Sehn-sucht wurde unerträglich. Ich hatte keine Angst vor derZukunft im Allgemeinen, die nunmehr unweigerlich vonNino besetzt zu sein schien, sondern vor den nächstenStunden, vor dem Morgen, dem Übermorgen. Ich konntenicht an mich halten und versuchte anzurufen, obwohl esfast Mitternacht war. ›Na wenn schon‹, dachte ich, ›Pie-tro ist sowieso immer wach‹.

Es war ziemlich mühsam, aber schließlich kam ichdurch. »Hallo«, sagte ich. »Hallo«, sagte ich noch einmal.Ich wusste, dass Pietro am Apparat war, ich sagte seinenNamen: »Pietro, ich bin’s, Elena, wie geht es den Mäd-chen.« Das Gespräch wurde unterbrochen. Ich warteteein paar Minuten, dann bat ich die Vermittlung um eineneue Verbindung. Ich war entschlossen, es die ganzeNacht zu versuchen, aber diesmal antwortete Pietro.

»Was willst du.«»Wie geht es den Kindern.«»Sie schlafen.«»Das weiß ich, aber wie geht es ihnen.«»Was kümmert dich das.«»Es sind meine Töchter.«»Du hast sie verlassen, sie wollen nicht mehr deine

Töchter sein.«»Haben sie dir das gesagt?«»Sie haben es meiner Mutter gesagt.«»Du hast Adele zu uns geholt?«»Ja.«

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»Sag ihnen, dass ich in ein paar Tagen zurückkomme.«»Nein, komm nicht. Weder ich noch die Mädchen,

noch meine Mutter wollen dich wiedersehen.«

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Ich weinte, beruhigte mich wieder und ging zu Nino. Ichwollte ihm von dem Anruf erzählen, wollte, dass er michtröstete. Aber als ich an seine Zimmertür klopfen wollte,hörte ich ihn mit jemandem sprechen. Ich zögerte. Ertelefonierte, ich verstand nicht, was er sagte, und auchnicht, in welcher Sprache er redete, doch ich vermutetesofort, dass er sich mit seiner Frau unterhielt. Geschahdas demnach jeden Abend? Telefonierte er immer mitEleonora, wenn ich mich in meinem Zimmer für dieNacht fertig machte und er allein war? Suchten sie nacheinem Weg, um sich friedlich zu trennen? Oder versöhn-ten sie sich gerade, und sie würde ihn sich nach dem In-termezzo in Montpellier zurückholen?

Ich entschloss mich, zu klopfen. Nino unterbrach dasGespräch, Stille, dann redete er weiter, diesmal noch lei-ser. Ich wurde nervös, klopfte erneut, nichts geschah. Ichmusste ein drittes Mal und laut klopfen, bevor er mir öff-nete. Als er es tat, stellte ich ihn sofort zur Rede, warfihm vor, dass er seiner Frau nichts von mir erzählte,schrie, dass ich mit Pietro gesprochen hätte, dass meinMann mich daran hindern wolle, die Mädchen wieder-zusehen, dass ich mein ganzes Leben in Frage stellte,wäh-rend er am Telefon mit Eleonora flirtete. Es war eineschlimme Nacht voller Streit, und es fiel uns schwer, unswieder zu vertragen. Nino versuchte alles mögliche, um

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mich zu beruhigen. Er lachte nervös, regte sich darüberauf, wie Pietro mich behandelt hatte, küsste mich, ichstieß ihn zurück, er flüsterte, ich sei ja verrückt. Aber so-sehr ich ihn auch bedrängte, gab er doch nicht zu, dass ergerade mit seiner Frau gesprochen hatte, im Gegenteil, erschwor bei seinem Sohn, dass er seit seiner Abreise ausNeapel nichts mehr von ihr gehört habe.

»Und mit wem hast du dann gesprochen?«»Mit einem Kollegen hier im Hotel.«»Um Mitternacht?«»Um Mitternacht.«»Du lügst.«»Das ist die Wahrheit.«Ich weigerte mich lange, mit ihm zu schlafen, ich konn-

te es nicht, hatte Angst, dass er mich nicht mehr liebte.Dann gab ich nach, um nicht denken zu müssen, dassschon alles zu Ende war.

Am nächsten Morgen wachte ich nach fünf Tagen Zu-sammensein erstmals schlechtgelaunt auf. Wir musstenabreisen, die Tagung war so gut wie vorbei. Doch ichwollte nicht, dass Montpellier nur ein Intermezzo war,fürchtete mich davor, nach Hause zu fahren, fürchtetemich davor, dass Nino nach Hause fuhr, fürchtete, meineMädchen für immer zu verlieren. Als Augustin und Co-lombe uns erneut anboten, uns im Auto nach Paris mit-zunehmen und uns sogar zu beherbergen,wandte ich michfragend an Nino, ich hoffte, auch er würde sich nichtssehnlicher wünschen, als diese Zeit zu verlängern unddie Heimkehr hinauszuzögern. Aber er schüttelte düsterden Kopf, sagte: »Unmöglich, wir müssen zurück nachItalien«,und sprach von Flugzeugen,Tickets, Zügen,Geld.Ich war sehr empfindlich, spürte Enttäuschung und Wut.

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›Wusste ich’s doch‹, dachte ich, ›er hat mich angelogen,die Trennung von seiner Frau ist nicht endgültig.‹ Er hat-te wirklich jeden Abend mit ihr telefoniert, hatte verspro-chen, nach der Tagung nach Hause zu kommen,und konn-te das nicht mal ein paar Tage hinausschieben. Und ich?

Mir fiel der Verlag in Nanterre wieder ein und meinkleiner, gelehrter Text über die Erfindung der Frau durchden Mann. Bislang hatte ich mit niemandem über michgesprochen, auch nicht mit Nino. Ich war die lächelnde,aber weitgehend stumme Frau gewesen, die mit dem bril-lanten Professor aus Neapel schlief, die Frau, die stets anihm klebte und auf seine Bedürfnisse, seine Gedanken ein-ging.Doch nunsagte ichmit gespielterFröhlichkeit:»Ninomuss zwar zurück, aber ich habe noch einen Termin inNanterre; demnächst erscheint ein Buch von mir – viel-leicht ist es auch schon erschienen –, ein Mittelding zwi-schen einem Essay und einer Erzählung; ich fahre sehrgern bei euch mit, dann kann ich einen Abstecher zum Ver-lag machen.« Die beiden sahen mich an, als hätte ich erstin diesem Moment begonnen, real zu existieren, und er-kundigten sich nach meiner Arbeit. Ich erzählte ihnen da-von, und es stellte sich heraus, dass Colombe mit der Che-fin des kleinen, doch, wie ich nun erfuhr, angesehenenVerlags gut bekannt war. Ich kam in Fahrt, redete über-schwenglich und bauschte meine literarischen Erfolgevielleicht ein wenig auf. Doch das tat ich nicht für die bei-den Franzosen, sondern für Nino. Ich wollte ihn daran er-innern, dass auch ich ein befriedigendes Leben hatte unddass ich, wenn ich fähig war, meine Töchter und Pietrozu verlassen, auch auf ihn verzichten konnte, und zwarnicht in einer Woche, nicht in zehn Tagen, sondern gleich.

Er hörte mir zu, dann sagte er ernst zu Colombe und

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Augustin: »Gut, wenn es euch keine Umstände macht,kommen wir gern mit.« Aber als wir allein waren, erklär-te er mir der Form nach gereizt und dem Inhalt nach lei-denschaftlich, dass ich ihm vertrauen müsse, dass wir un-sere Lage, so schwierig sie auch sei, sicherlich meisternwürden, dass wir dazu aber nach Hause zurückkehrenmüssten, wir dürften nicht von Montpellier nach Parisund danach in wer weiß welche Stadt flüchten, wir müss-ten uns mit unseren Ehepartnern auseinandersetzen undein gemeinsames Leben beginnen. Plötzlich schien er mirnicht nur vernünftig, sondern auch aufrichtig zu sein. Ichwar verwirrt, umarmte ihn und flüsterte: »Ist gut.«Trotz-dem fuhren wir nach Paris, ich wollte nur noch ein paarweitere Tage.

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Die Reise war lang, es war sehr windig, manchmal regne-te es. Die blasse Landschaft war wie mit Rost überzogen,doch hin und wieder brach der Himmel auf, und alles be-gann zu glitzern, zuallererst der Regen. Ich schmiegtemich die ganze Zeit eng an Nino, manchmal schlief ichan seiner Schulter ein, und wieder hatte ich das Gefühl,weit über meine Grenzen hinausgegangen zu sein, unddas voller Genuss. Mir gefiel die fremde Sprache, die imAuto erklang, mir gefiel, dass ich auf dem Weg zu einemBuch war, das ich auf Italienisch geschrieben hatte, dasaber durch Mariarosa zunächst in einer anderen Spracheerschien. Wie ungewöhnlich das war, und was für er-staunliche Dinge ich erlebte. Mein Buch kam mir vor wieein Stein, den ich auf eine unberechenbare Flugbahn ge-

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schickt hatte, mit einer Geschwindigkeit, die nicht mitder der Steine vergleichbar war, mit denen Lila und ichin unserer Kindheit die Jungsbande beworfen hatten.

Doch die Reise war nicht nur angenehm, manchmalwurde ich traurig. Außerdem hatte ich schon bald denEindruck, dass Nino in einem Ton mit Colombe sprach,den er bei Augustin nicht hatte, ganz zu schweigen da-von, dass seine Fingerspitzen zu oft ihre Schulter berühr-ten. Meine schlechte Laune wuchs, ich sah, dass die bei-den zunehmend vertraut miteinander wurden. Als wir inParis ankamen, verstanden sie sich bereits bestens undredeten angeregt miteinander, Colombe lachte häufig,wobei sie sich mit einer unbewussten Geste ihr Haar zu-rechtzupfte.

Augustin hatte eine schöne Wohnung am Canal Saint-Martin, Colombe war vor kurzem zu ihm gezogen. Siezeigten uns unser Zimmer, ließen uns dannaber noch nichtins Bett gehen. Sie schienen nicht gern allein bleiben zuwollen, sie redeten und redeten. Ich war müde und ner-vös, die Fahrt nach Paris hatte ich mir gewünscht, undnun fand ich es absurd, mit Nino, der mich kaum beach-tete, und weit entfernt von meinen Töchtern, bei frem-den Leuten in dieser Wohnung zu sein. Später, in unse-rem Zimmer, fragte ich ihn:

»Gefällt dir Colombe?«»Sie ist nett.«»Ich habe gefragt, ob sie dir gefällt.«»Suchst du Streit?«»Nein.«»Dann denk doch mal nach: Wie kann mir denn Co-

lombe gefallen, wenn ich dich liebe?«Ich erschrak, sobald sein Ton auch nur ein bisschen

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schroffer wurde, fürchtete, einsehen zu müssen, dass et-was zwischen uns nicht so gut lief. ›Er ist bloß freundlichzu jemandem, der freundlich zu uns war‹, sagte ich mirund schlief ein. Doch ich schlief schlecht. Irgendwannhatte ich das Gefühl, allein im Bett zu sein, ich versuchte,wach zu werden, sank aber erneut in den Schlaf. Nacheiner Weile fuhr ich wieder auf. Diesmal stand Nino imDunkeln, so schien es mir jedenfalls. »Schlaf«, sagte er.Und ich schlief wieder ein.

Tags darauf brachten uns unsere Gastgeber nach Nan-terre. Die ganze Fahrt über alberte Nino anspielungs-reich mit Colombe herum. Ich zwang mich, nicht daraufzu achten. Wie konnte ich daran denken, mit ihm zu le-ben, wenn ich meine Zeit damit verbringen musste, ihnzu kontrollieren? Als wir unser Ziel erreichten und er auchzu Mariarosas Freundin, der der Verlag gehörte, und zuderen Geschäftspartnerin charmant und verführerischwar – die eine um die vierzig, die andere um die sechzigund beide bei weitem nicht so attraktiv wie AugustinsFreundin –, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus.›Es ist nichts dabei‹, sagte ich mir schließlich, ›er ist zuallen Frauen so.‹ Und endlich fühlte ich mich wiederwohl.

Die zwei Frauen empfingen mich mit viel Wertschät-zung und erkundigten sich nach Mariarosa. Ich erfuhr,dass mein Text erst seit kurzem in den Buchhandlungenwar, aber schon einige Rezensionen erschienen waren.Die ältere der beiden zeigte sie mir, offenbar erstaunt,wie gut ich besprochen wurde, und wies Colombe, Au-gustin und Nino darauf hin. Ich überflog die Artikel,mal zwei Zeilen hier, mal vier Zeilen dort. Sie stammtenvon Frauen – im Gegensatz zu Colombe und den beiden

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Verlegerinnen hatte ich ihre Namen noch nie gehört –und lobten mein Buch wirklich vorbehaltlos. Ich hätte zu-frieden sein müssen, noch am Vortag hatte ich mich ge-zwungen gesehen, mich selbst zu beweihräuchern, nunwar das nicht mehr nötig. Trotzdem konnte ich michnicht freuen. Seit ich Nino liebte und er mich, war es,als ließe diese Liebe alles Gute, was mir geschah und nochgeschehen würde, lediglich zu einem angenehmen Ne-beneffekt werden. Ich zeigte mich maßvoll erfreut undäußerte mich mit matter Zustimmung zu den von meinenVerlegerinnen geplanten Werbemaßnahmen. »Sie müssenbald wiederkommen«, rief die ältere der zwei Frauen,»jedenfalls wünschen wir uns das.« Die jüngere fügte hin-zu: »Mariarosa hat uns von Ihrer Ehekrise erzählt, hof-fentlich überstehen Sie sie ohne allzu großen Kummer.«

Auf diese Weise erfuhr ich, dass die Nachricht vomBruch zwischen Pietro und mir nicht nur zu Adele ge-drungen war, sondern auch Mailand und sogar Frank-reich erreicht hatte. ›Umso besser‹, dachte ich, ›so wird esleichter, die Trennung zu besiegeln.‹ Ich sagte mir: ›Ichwerde mir nehmen, was mir zusteht, und darf nicht inder Angst leben, Nino zu verlieren, darf mir keine Sorgenwegen Dede und Elsa machen. Ich bin ein Glückspilz, erwird mich immer lieben, meine Töchter sind meine Töch-ter, alles wird gut.‹

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Wir flogen nach Rom zurück. Beim Abschied schworenwir uns alles mögliche, wir schworen unablässig. Dannfuhr Nino nach Neapel und ich nach Florenz.

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Ich kam geradezu auf Zehenspitzen nach Hause, da-von überzeugt, dass mich eine der schwersten Prüfungenmeines Lebens erwartete. Stattdessen begrüßten mich dieMädchen mit erschreckter Freude, und beide folgten mirin der Wohnung überallhin, als fürchteten sie, ich könnteerneut verschwinden, sobald sie mich aus den Augen ver-loren; Adele war freundlich und erwähnte den Grund,der sie zu uns geführt hatte, mit keiner Silbe; Pietro, krei-debleich, beschränkte sich darauf, mir eine Liste mit denAnrufen zu geben, die für mich eingegangen waren (LilasName tauchte nicht weniger als vier Mal auf), murmelte,er müsse dienstlich verreisen, und war bereits zwei Stun-den später weg, ohne sich auch nur von seiner Mutterund den Mädchen verabschiedet zu haben.

Es dauerte einige Tage, bis Adele ihre Meinung deut-lich zum Ausdruck brachte: Sie wollte, dass ich wiederzur Besinnung kam und an die Seite meines Mannes zu-rückkehrte. Und es dauerte einige Wochen, bis sie ein-sah, dass ich weder das eine noch das andere wollte.In dieser Zeit wurde sie nie laut, verlor nie die Ruheund machte nicht eine ironische Bemerkung über meinehäufigen und langen Telefongespräche mit Nino. Sie inte-ressierte sich mehr für die Anrufe der zwei Frauen ausNanterre, die mich über die Erfolge meines Buches undüber eine Lesereise informierten, die mich durch Frank-reich führen würde. Sie wunderte sich nicht über die posi-tiven Rezensionen in den französischen Zeitungen, warsich sicher, dass mein Buch in Italien schon bald die glei-che Aufmerksamkeit erhalten würde, und sagte, wasunsere Zeitungen anging, würde sie noch mehr erreichenkönnen. Beharrlich lobte sie vor allem meine Intelligenz,meine Bildung, meinen Mut und nahm kein einziges Mal

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ihren Sohn in Schutz, der sich übrigens nie blickenließ.

Ich hielt es für ausgeschlossen, dass Pietro wirklich be-rufliche Verpflichtungen außerhalb vonFlorenzhatte. Aberwütend und mit einem Anflug von Verachtung mussteich feststellen, dass er seine Mutter mit der Beilegung un-serer Krise betraut und sich irgendwo verkrochen hatte,um an seinem nicht enden wollenden Buch zu arbeiten.Einmal konnte ich mich nicht beherrschen und sagte zuAdele:

»Es war wirklich nicht einfach, mit deinem Sohn zu-sammenzuleben.«

»Das ist mit keinem Mann einfach.«»Glaub mir, mit ihm war es besonders schwer.«»Meinst du, mit Nino wird es besser?«»Ja.«»Ich habe mich erkundigt. Was man in Mailand über

ihn redet, ist wirklich schlimm.«»Das Mailänder Gerede brauche ich nicht. Ich liebe

ihn seit zwei Jahrzehnten, verschone mich mit Klatschund Tratsch. Ich weiß mehr über ihn als alle anderen.«

»Wie gern du sagst, dass du ihn liebst.«»Warum auch nicht?«»Du hast recht, warum nicht. Ich habe mich geirrt:

Einem verliebten Menschen kann man nicht die Augenöffnen.«

Von nun an erwähnten wir Nino nicht mehr. Und als ichihr die Mädchen anvertraute, um nach Neapel zu hasten,zuckte sie mit keiner Wimper. Und das tat sie auch nicht,als ich ihr sagte, dass ich nach meiner Rückkehr aus Nea-pel für eine Woche nach Frankreich fahren würde. Siefragte mich nur mit einem leicht ironischen Unterton:

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»Und was ist mit Weihnachten? Wirst du dann bei denMädchen sein?«

Diese Frage war geradezu beleidigend, ich antwortete:»Selbstverständlich.«Ich packte vor allem Unterwäsche und elegante Klei-

der ein. Dede und Elsa, die übrigens nie nach ihrem Vaterfragten, obwohl sie ihn nun schon eine Weile nicht ge-sehen hatten, nahmen die Ankündigung, dass ich wiederwegfahren würde, sehr schlecht auf. Dede schleudertemir Worte entgegen, die garantiert nicht ihre waren, sieschrie: »Ja, hau bloß ab, du bist widerlich!« Fragendsah ich Adele an, ich hoffte, sie würde die Aufgabe über-nehmen, die Kinder abzulenken und mit ihnen zu spielen,doch sie tat nichts. Als die zwei mich zur Tür gehen sa-hen, fingen sie an zu weinen. Zunächst Elsa, sie brüllte:»Ich will mitkommen!« Dede widerstand, sie bemühte sich,mir ihre ganze Gleichgültigkeit und vielleicht sogar Ver-achtung zu zeigen, aber am Ende hielt sie es nicht mehraus und jammerte noch mehr als ihre Schwester. Ich muss-te mich von ihnen losreißen, sie hielten mich am Kleidfest, wollten, dass ich den Koffer abstellte. Ihr Weinenverfolgte mich bis auf die Straße.

Die Fahrt nach Neapel schien mir endlos zu sein. Kurzvor dem Ziel sah ich aus dem Fenster. Je langsamer derZug auf seinem Weg ins Stadtgebiet wurde, umso stärkererfassten mich Unruhe und Erschöpfung. Mir fiel dieHässlichkeit der Außenbezirke mit ihren grauen Häusernhinter den Gleisen auf, mit den Gittermasten, den Signal-lichtern, den steinernen Brüstungen. Als der Zug in denBahnhof einfuhr, hatte ich den Eindruck, dass das Nea-pel, mit dem ich mich verbunden fühlte, das Neapel, indas ich nun zurückkehrte, nur noch Nino beinhaltete.

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Ich wusste, dass er in größeren Schwierigkeiten steckteals ich. Eleonora hatte ihn rausgeworfen, auch für ihnwar alles provisorisch geworden. Er wohnte seit einigenWochen bei einem Kollegen von der Universität, nur einpaar Schritte vom Dom entfernt. Wohin würde er michbringen,was würden wir tun? Und vor allem, welche Ent-scheidungen würden wir treffen, hatten wir doch nichteinmal eine leise Ahnung davon, in welche Richtung un-sere Geschichte gehen sollte. Ich wusste nur, dass ichvor Verlangen brannte, ich musste ihn unbedingt wieder-sehen. Mit der Befürchtung, er könnte verhindert sein undmich nicht am Bahnsteig abholen, stieg ich aus dem Zug.Aber da stand er: Hochgewachsen, wie er war, ragte eraus dem Strom der Reisenden heraus.

Das beruhigte mich, und noch mehr beruhigte mich,dass er ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Mergellinareserviert hatte und damit zu erkennen gab, dass er nichtdie geringste Absicht hatte, mich in der Wohnung seinesFreundes zu verstecken. Wir waren verrückt vor Liebe,die Zeit flog davon. Am Abend spazierten wir eng anei-nandergeschmiegt die Uferstraße entlang, er hatte seinenArm um meine Schulter gelegt und beugte sich hin undwieder zu mir, um mir einen Kuss zu geben. Ich versuchteauf jede erdenkliche Weise, ihn zu überreden, nach Frank-reich mitzukommen. Er hätte es gern getan, doch dannmachte er einen Rückzieher und verschanzte sich hinterseiner Arbeit an der Universität. Über Eleonora und Al-bertino sprach er nie, als könnte ihre bloße Erwähnunguns die Freude des Zusammenseins verderben. Ich dage-gen erzählte ihm von der Verzweiflung meiner Mädchen,sagte, wir müssten so schnell wie möglich eine Lösungfinden. Ich merkte, dass er nervös war, ich reagierte auf

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jede noch so leichte Spannung und fürchtete, er könntevon einem Augenblick zum anderen sagen: Ich kann nichtmehr, ich kehre nach Hause zurück. Aber ich irrte mich.Als wir essen gingen, erzählte er mir, wo das Problem lag.Plötzlich ernst geworden, sagte er, es gebe eine unerfreu-liche Neuigkeit.

»Schieß los«, brummte ich.»Heute Morgen hat mich Lina angerufen.«»Aha.«»Sie will uns sehen.«

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Der Abend war gelaufen. Nino sagte, meine Schwieger-mutter habe Lila verraten, dass ich in Neapel war. Ersprach mit großer Verlegenheit, wählte seine Worte sorg-fältig und betonte Informationen wie: »Sie hatte keineAdresse von mir; sie hat meine Schwester nach der Privat-nummer meines Kollegen gefragt; kurz bevor ich michauf den Weg zum Bahnhof gemacht habe, hat sie angeru-fen; ich habe es dir nicht gleich gesagt,weil ich Angst hat-te, du würdest dich aufregen, und das würde uns den Tagruinieren.« Zum Schluss sagte er düster:

»Du weißt doch, wie sie ist, ich konnte einfach nichtnein sagen. Wir sind morgen um elf mit ihr verabredet,sie wartet an der U-Bahn-Station Piazza Amedeo aufuns.«

Ich konnte mich nicht beherrschen:»Seit wann seid ihr wieder in Kontakt? Habt ihr euch

getroffen?«»Wie kommst du denn darauf? Natürlich nicht.«

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»Das glaube ich dir nicht.«»Elena, ich schwöre dir, dass ich seit 1963 nichts mehr

von Lina gehört und gesehen habe.«»Weißt du, dass das Kind nicht von dir ist?«»Sie hat es mir heute Morgen gesagt.«»Also habt ihr euch ausführlich über sehr persönliche

Dinge unterhalten.«»Sie hat doch von dem Kind angefangen.«»Und in der ganzen Zeit hattest du nie den Wunsch,

mehr über es zu erfahren?«»Das ist mein Problem, ich sehe keine Notwendigkeit,

das zu erörtern.«»Deine Probleme sind jetzt auch meine. Wir haben viel

zu bereden, unsere Zeit ist kurz, und ich habe meine Töch-ter nicht zurückgelassen, um diese Zeit mit Lina zu ver-geuden. Wie konntest du dich nur mit ihr verabreden?«

»Ich dachte, du freust dich. Und außerdem: Da ist einTelefon. Ruf deine Freundin an, sag ihr, dass wir zu tunhaben und du sie nicht treffen kannst.«

Da hatten wir’s, plötzlich hatte er die Geduld verloren,ich schwieg. Ja, ich wusste, wie Lila war. Seit ich ausFrankreich nach Florenz zurückgekehrt war, hatte siehäufig angerufen, aber ich hatte andere Dinge im Kopfgehabt, hatte jedes Mal aufgelegt und zudem Adele gebe-ten – falls sie es war, die das Gespräch entgegennahm –,ihr zu sagen, dass ich nicht zu Hause sei. Aber Lila hattenicht aufgegeben. Es konnte also durchaus sein, dass Ade-le ihr von meinem Aufenthalt in Neapel erzählt hatte, eskonnte sein, dass sie davon ausgegangen war, ich würdenicht in den Rione kommen, und es konnte sein, dass sienach einem Weg gesucht hatte, mit Nino Kontakt auf-zunehmen, nur um mich zu treffen. Was war schon da-

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bei? Und vor allem, was erwartete ich? Ich wusste dochbereits, dass er Lila geliebt hatte und sie ihn. Na und?Das war lange her, jetzt noch eifersüchtig zu sein,war un-angebracht. Ich streichelte seine Hand, flüsterte: »Ist gut,wir gehen morgen zur Piazza Amedeo.«

Beim Essen redete Nino ausführlich über unsere Zu-kunft. Er nahm mir das Versprechen ab, gleich nach mei-ner Rückkehr aus Frankreich die Trennung zu verlangen.Zugleich versicherte er mir, dass er bereits Kontakt zueinem befreundeten Anwalt aufgenommen habe und er,auch wenn alles kompliziert sei und Eleonora und ihre El-tern ihm garantiert das Leben schwermachen würden,entschlossen sei, die Sache durchzuziehen. »Du weißt ja«,sagte er, »dass so was in Neapel schwieriger ist. Wasrückständiges Denken und schlechtes Benehmen angehen,sind die Eltern meiner Frau nicht besser als meine oderdeine, obwohl sie Geld und hochangesehene Berufe ha-ben.« Wie um dies zu erläutern, begann er meine Schwie-gereltern zu loben. »Anders als du habe ich es leider nichtmit so anständigen Leuten wie den Airotas zu tun«, riefer aus und bezeichnete sie als Familie mit einer großenkulturellen Tradition und Menschen mit bewundernswer-tem Anstand.

Ich hörte ihm zu, aber nun war Lila zwischen uns, anunserem Tisch, und ich konnte sie nicht verjagen. Wäh-rend Nino redete, erinnerte ich mich an die Schwierigkei-ten, in die sie sich gebracht hatte, um mit ihm zusammenzu sein, und das, ohne sich darum zu scheren, was Stefa-no ihr antun könnte oder ihr Bruder oder Michele Solara.Und die Erwähnung unserer Eltern brachte mich für denBruchteil einer Sekunde zurück nach Ischia, zu demAbend am Maronti-Strand – Lila mit Nino in Forio, ich

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im feuchten Sand mit Donato –, und ich schauderte. ›Die-ses Geheimnis‹, dachte ich, ›kann ich ihm niemals offen-baren.‹Wie viele Worte bleiben selbst in der vertrautestenLiebesbeziehung unsagbar, und wie groß ist die Gefahr,dass andere sie aussprechen und es vernichten. Sein Vaterund ich, er und Lila. Ich riss mich aus meinem Abscheuund kam auf Pietro zu sprechen, darauf, wie sehr er litt.Nino regte sich auf, nun war es an ihm, eifersüchtig zusein, ich versuchte, ihn zu beruhigen. Er verlangte ent-schiedene Einschnitte und Schlusspunkte, und die ver-langte ich auch, sie schienen uns unabdingbar zu sein,um ein neues Leben anzufangen. Wir beratschlagten dasWann, das Wo. Nino war durch seine Arbeit unweiger-lich an Neapel gebunden, ich durch meine Mädchen anFlorenz.

»Zieh wieder her«, sagte er plötzlich. »So schnell wiemöglich.«

»Ausgeschlossen, Pietro muss die Gelegenheit haben,die Kinder zu sehen.«

»Ihr könnt euch doch abwechseln. Mal bringst du sieihm, mal kommt er her.«

»Das wird er nicht akzeptieren.«»Doch, das wird er.«So verging der Abend. Je mehr wir dem Problem auf

den Grund gingen, desto komplizierter schien es uns zusein; je stärker wir uns unser gemeinsames Leben – jedenTag, jede Nacht – ausmalten, desto mehr begehrten wiruns, und die Schwierigkeiten verschwanden. Inzwischenunterhielten sich die Kellner im leeren Restaurant mit-einander, gähnten. Nino zahlte, wir gingen wieder dienoch sehr belebte Uferstraße entlang. Während ich aufdas dunkle Wasser schaute und dessen Geruch wahrnahm,

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schien es mir für einen kurzen Moment so, als wäre derRione viel weiter weg als damals, als ich nach Pisa, nachFlorenz gegangen war. Auch Neapel schien mir plötz-lich sehr weit weg von Neapel zu sein. Und Lila von Lila,ich hatte das Gefühl, nicht sie bei mir zu haben, sondernmeine eigenen Ängste. Nahe, sehr nahe waren nur Ninound ich uns. Ich raunte ihm ins Ohr: »Lass uns ins Bettgehen.«

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Am nächsten Tag stand ich früh auf und schloss mich imBad ein. Ich duschte lange, trocknete mir sorgfältig dieHaare, fürchtete, der Hotelföhn mit seinem viel zu star-ken Gebläse könnte meine Frisur verderben. Kurz vorzehn weckte ich Nino, der mich, noch vom Schlaf benom-men, mit Komplimenten für das Kleid, das ich angezogenhatte, überhäufte. Er versuchte, mich wieder zu sich zuziehen, ich entwand mich ihm. Sosehr ich mich auch be-mühte, so zu tun, als ob nichts wäre, so schwer fiel es mir,ihm zu verzeihen. Er hatte unseren neuen Tag der Liebezu Lilas Tag gemacht, und jetzt war die Zeit vollkommendurch das bevorstehende Treffen beeinträchtigt.

Ich schleppte ihn zum Frühstück, gefügig folgte er mir.Er lachte nicht, zog mich nicht auf, sagte, wobei er mirmit den Fingerspitzen übers Haar fuhr: »Du siehst phan-tastisch aus.« Offensichtlich spürte er, dass ich in Auf-ruhr war. Na und ob, ich fürchtete, Lila könnte in Best-form zu unserer Verabredung erscheinen. Ich war, wieich war, sie war von Natur aus anmutig. Außerdem hattesie wieder Geld; wenn sie wollte, konnte sie sich so pfle-

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