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Redaktion M. Kunkel, Bochum H.-P. Ulrich, Lübeck MKG-Chirurg 2010 · 3:100–105 DOI 10.1007/s12285-009-0142-x Online publiziert: 6. Mai 2010 © Springer-Verlag 2010 T. Ratajczak Kanzlei Ratajczak & Partner Rechtsanwälte, Sindelfingen Endodontie und chirurgische Zahnerhaltung versus Implantation Unter Berücksichtigung des Wirtschaft- lichkeitsgebotes der GKV und Pflicht zur Aufklärung über Risiken und Alternativen Leitthema Das medizinische Behandlungsgeschehen hat, wenn es zum Rechtsfall wird, Ähnlich- keit mit einer Nahrungskette: Am Anfang steht der Patient mit seinen Beschwerden, am Ende der Richter. Für den Richter ist der Fall im Tatsächlichen durch Anwälte und Gutachter aufbereitet (vorgekaut). Er weiß, was passiert ist. Für ihn gibt es keine Schwierigkeiten in der Anamneseerhebung, nicht den Zweifel an der Diagnosestellung, keine Frage nach der sinnvolle(re)n Be- handlung. Er weiß alles, was man über den Behandlungsfall dieses Patienten wissen muss. Fragen nach den Alternativen der Behandlung kann er ebenso sicher beant- worten wie er weiß, was man hätte besser machen können. Das ist aus der Ex-post- Sicht auch keine Schwierigkeit. In dieser glücklichen Lage ist der Behandler nie, er muss ex ante abwägen, was er machen soll, darf sich dabei nur bedingt auf seine fachliche Erfahrung verlassen, weil an al- len maßgebenden Wegschranken fachliche Gebote stehen, die über Gutachten und auf ihnen fußenden Gerichtsurteilen zu recht- lichen Geboten werden. Die in der Überschrift gestellte Frage nach dem Verhältnis der (chirurgischen) Zahnerhaltung zu Endodontie und Im- plantation beantwortet sich im Grund- satz sehr einfach: Zahnerhaltung geht vor. Schwierig ist die Beurteilung im Behand- lungsfall, ob der Grundsatz Geltung bean- spruchen darf oder ob man die Ausnah- men bemühen muss. Grundsatz Der Vorrang der Zahnerhaltung ist ein allgemeiner Grundsatz der Zahnheilkun- de und findet sich auch in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Ver- sorgung (Behandlungsrichtlinie). Darin heißt es im Abschnitt B III 2: „Die kon- servierende Behandlung sollte ursachen- gerecht, zahnsubstanzschonend und prä- ventionsorientiert erfolgen. Jeder Zahn, der erhaltungsfähig und erhaltungswür- dig ist, soll erhalten werden.“ Für nicht er- haltungsfähige Zähne bestimmt die Richt- linie in Abschnitt B III 10: „In der Re- gel ist die Entfernung eines Zahnes ange- zeigt, wenn er nach den in diesen Richtli- nien beschriebenen Kriterien nicht erhal- tungsfähig ist. Ein Zahn, der nach diesen Richtlinien nicht erhaltungswürdig ist, soll entfernt werden. Eine andere Behand- lung von nicht erhaltungswürdigen Zäh- nen ist kein Bestandteil der vertragszahn- ärztlichen Versorgung.“ > Vorrang der Zahnerhaltung ist allgemeiner Grundsatz der Zahnheilkunde Die Behandlungsrichtlinie des Gemein- samen Bundesausschusses enthält nur Vorgaben für die Behandlung von Versi- cherten der gesetzlichen Krankenkassen und deren mitversicherten Angehörigen, den sog. Kassenpatienten. Diese Vorgaben orientieren sich u. a. an dem in § 12 SGB V verankerten Wirtschaftlichkeitsgebot und weiteren im SGB V enthaltenen Qualitäts- sicherungsvorgaben. Sie differenzieren, wie sich sehr gut z. B. an dem zitierten letzten Satz des Abschnitts B III 10 erse- hen lässt, explizit zwischen den Möglich- keiten, welche die (Zahn-)Medizin heute eröffnet, und den Behandlungsoptionen, welche die gesetzliche Krankenversiche- rung (nur) bezahlt. Gegen diese Differen- zierung ist rechtlich nichts einzuwenden. Es gibt keinen verfassungsrechtlich ver- bürgten Anspruch auf umfassende Be- handlung nach den neuesten Möglich- keiten der (Zahn-)Medizin zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung, sieht man von den Fällen ab, in denen der Pati- ent nach den Grundsätzen der sog. Niko- laus-Entscheidung des Bundesverfas- sungsgerichts (06.12.2005 – 1 BvR 347/98) auch als Kassenpatient die Optionen der modernen Medizin ausschöpfen darf: „Es ist mit den Grundrechten … nicht verein- bar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regel- mäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard ent- sprechende Behandlung nicht zur Verfü- gung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Be- handlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht 100 |  Der MKG-Chirurg 2 · 2010

Endodontie und chirurgische Zahnerhaltung versus Implantation

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RedaktionM. Kunkel, Bochum H.-P. Ulrich, Lübeck

MKG-Chirurg 2010 · 3:100–105DOI 10.1007/s12285-009-0142-xOnline publiziert: 6. Mai 2010© Springer-Verlag 2010

T. RatajczakKanzlei Ratajczak & Partner Rechtsanwälte, Sindelfingen

Endodontie und chirurgische Zahnerhaltung versus ImplantationUnter Berücksichtigung des Wirtschaft-lichkeitsgebotes der GKV und Pflicht zur Aufklärung über Risiken und Alternativen

Leitthema

Das medizinische Behandlungsgeschehen hat, wenn es zum Rechtsfall wird, Ähnlich-keit mit einer Nahrungskette: Am Anfang steht der Patient mit seinen Beschwerden, am Ende der Richter. Für den Richter ist der Fall im Tatsächlichen durch Anwälte und Gutachter aufbereitet (vorgekaut). Er weiß, was passiert ist. Für ihn gibt es keine Schwierigkeiten in der Anamneseerhebung, nicht den Zweifel an der Diagnosestellung, keine Frage nach der sinnvolle(re)n Be-handlung. Er weiß alles, was man über den Behandlungsfall dieses Patienten wissen muss. Fragen nach den Alternativen der Behandlung kann er ebenso sicher beant-worten wie er weiß, was man hätte besser machen können. Das ist aus der Ex-post-Sicht auch keine Schwierigkeit. In dieser glücklichen Lage ist der Behandler nie, er muss ex ante abwägen, was er machen soll, darf sich dabei nur bedingt auf seine fachliche Erfahrung verlassen, weil an al-len maßgebenden Wegschranken fachliche Gebote stehen, die über Gutachten und auf ihnen fußenden Gerichtsurteilen zu recht-lichen Geboten werden.

Die in der Überschrift gestellte Frage nach dem Verhältnis der (chirurgischen) Zahnerhaltung zu Endodontie und Im-plantation beantwortet sich im Grund-satz sehr einfach: Zahnerhaltung geht vor. Schwierig ist die Beurteilung im Behand-lungsfall, ob der Grundsatz Geltung bean-spruchen darf oder ob man die Ausnah-men bemühen muss.

Grundsatz

Der Vorrang der Zahnerhaltung ist ein allgemeiner Grundsatz der Zahnheilkun-de und findet sich auch in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Ver-sorgung (Behandlungsrichtlinie). Darin heißt es im Abschnitt B III 2: „Die kon-servierende Behandlung sollte ursachen-gerecht, zahnsubstanzschonend und prä-ventionsorientiert erfolgen. Jeder Zahn, der erhaltungsfähig und erhaltungswür-dig ist, soll erhalten werden.“ Für nicht er-haltungsfähige Zähne bestimmt die Richt-linie in Abschnitt B III 10: „In der Re-gel ist die Entfernung eines Zahnes ange-zeigt, wenn er nach den in diesen Richtli-nien beschriebenen Kriterien nicht erhal-tungsfähig ist. Ein Zahn, der nach diesen Richtlinien nicht erhaltungswürdig ist, soll entfernt werden. Eine andere Behand-lung von nicht erhaltungswürdigen Zäh-nen ist kein Bestandteil der vertragszahn-ärztlichen Versorgung.“

> Vorrang der Zahnerhaltung ist allgemeiner Grundsatz der Zahnheilkunde

Die Behandlungsrichtlinie des Gemein-samen Bundesausschusses enthält nur Vorgaben für die Behandlung von Versi-cherten der gesetzlichen Krankenkassen

und deren mitversicherten Angehörigen, den sog. Kassenpatienten. Diese Vorgaben orientieren sich u. a. an dem in § 12 SGB V verankerten Wirtschaftlichkeitsgebot und weiteren im SGB V enthaltenen Qualitäts-sicherungsvorgaben. Sie differenzieren, wie sich sehr gut z. B. an dem zitierten letzten Satz des Abschnitts B III 10 erse-hen lässt, explizit zwischen den Möglich-keiten, welche die (Zahn-)Medizin heute eröffnet, und den Behandlungsoptionen, welche die gesetzliche Krankenversiche-rung (nur) bezahlt. Gegen diese Differen-zierung ist rechtlich nichts einzuwenden. Es gibt keinen verfassungsrechtlich ver-bürgten Anspruch auf umfassende Be-handlung nach den neuesten Möglich-keiten der (Zahn-)Medizin zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung, sieht man von den Fällen ab, in denen der Pati-ent nach den Grundsätzen der sog. Niko-laus-Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts (06.12.2005 – 1 BvR 347/98) auch als Kassenpatient die Optionen der modernen Medizin ausschöpfen darf: „Es ist mit den Grundrechten … nicht verein-bar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regel-mäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard ent-sprechende Behandlung nicht zur Verfü-gung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Be-handlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht

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auf Heilung oder auf eine spürbare posi-tive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“ „Lebensbedrohliche oder regel-mäßig tödliche Erkrankungen“ sind in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde eher die Ausnahme. Die in den Richtlinien ent-haltene, im Grundsatz als trennscharf ge-dachte Abgrenzung zwischen privat- und vertrags(zahn)ärztlichen Leistungen wird in der Theorie nur selten verwischt.

Einzelfall

So einfach die Dinge auch im Grund-satz darstellbar sind, so schwierig werden sie im konkreten Behandlungsfall. Der Patient darf nicht einfach nach dem Mot-to „Befund – Diagnose – Therapie sind Sache des (Zahn-)Arztes“ behandelt wer-den, er ist kein leidendes Werkstück, son-dern der eigentliche Entscheidungsträger. Er darf sich in seinen Entscheidungen ver-nünftig und unvernünftig verhalten. Will er sich einen Logenabszess gegen (zahn-)ärztlichen Rat nicht behandeln lassen, darf er nicht zwangsweise behandelt wer-den. Allerdings darf sich der (Zahn-)Arzt dann auch nicht einfach achselzuckend dem nächsten Patienten zuwenden, son-dern muss eindringlichst über die mög-lichen Folgen der Weigerung belehren, z. B. dass sich ein unbehandelter Logen-abszess zu einer lebensbedrohlichen Situ-ation entwickeln kann. Unvernunft auf-seiten des Patienten erhöht das Haftungs-risiko für den Behandler.

Die Übergänge von der einen zur an-deren Behandlungsoption sind in der Theorie abgegrenzt, in der Praxis flie-ßend. Stellt sich bei einem Patienten die (häufige) Frage, ob noch zahnerhalten-de Maßnahmen indiziert sind oder eine Extraktion mit anschließender Neuver-sorgung angezeigt ist, öffnen sich fach-lich wie rechtlich viele potenzielle Alter-nativen, die aufklärungspflichtig und haf-tungsträchtig sind (. Abb. 1).

Kommt es zur Extraktion, gibt es heu-te erst recht eine Vielzahl von Optionen, vom Belassen der Lücke bzw. der Frei-endsituation über den Lückenschluss per Brücke oder – je nachdem – herausnehm-baren Zahnersatz bis hin zur implantatge-tragenen festsitzenden Versorgung. Dabei differenzieren sich die Ausführungsvarian-ten je nach ästhetischem Empfinden des Behandlers bzw. des Patienten und Kön-nen des zahntechnischen Labors immer weiter aus.

Die Ausfüllung der für die Frage der Zahnerhaltung so wichtigen Begriffe er-haltensfähig und erhaltenswürdig ist nicht geklärt. Man sollte eigentlich annehmen, dass jeder Zahn erhaltensfähig ist, der per konservativer Behandlung ohne Rück-sicht auf den damit verbundenen Kos-tenaufwand erhalten werden kann. Aber das sind keine exakten Kriterien. Was ist ein noch zu rechtfertigender Kosten-aufwand? Wie lange macht das Aufbe-reiten und Spülen etc. Sinn, um feststel-len zu können, es geht noch oder es geht

doch nicht mehr? Woher nimmt der Be-handler die prospektive Gewissheit, dass es mit noch mehr Aufwand an Behand-lungsleistung möglich sein wird? Für wie lange muss ein Zahn prospektiv erhalten werden können, damit er als noch erhal-tungsfähig, erst recht als noch erhaltungs-würdig beurteilt werden kann? Entschei-det der vom Patienten leistbare Kostenbei-trag über die Beurteilung der Erhaltens-fähigkeit? Das ist zwar gerade kein zahn-medizinisches, aber dafür ein für die Pra-xis umso wichtigeres Kriterium, und man muss diese Frage redlicherweise bejahen. Hinzu kommt, dass die Frage nach der Er-haltungswürdigkeit auch noch situations-bezogen ist. Nicht jeder erhaltungsfähige Zahn ist erhaltungswürdig, wobei es bei dieser Beurteilung erst recht Unterschiede zwischen Kassen- und Privatpatienten gibt. Ein Zahn, der im ansonsten gut er-haltenen Gebiss verloren herumsteht, kann nicht erhaltenswürdig sein, während man denselben Zahn im desolaten Gebiss u. U. dringend brauchen würde. Medizi-nischen Entscheidungen ist notwendiger-weise eine Unschärfe zu eigen. Es ist mög-lich, für ein und denselben Fall zu ganz unterschiedlichen Therapievorschlägen zu kommen, ohne dass dies als fehlerhaft gebrandmarkt werden kann.

E Das Recht verweist den Zahnarzt in seinen Entscheidungen auf das Aufklärungsgespräch mit dem Patienten und die Fachlichkeit.

Es lässt ihm als Ausweg aus der Unschär-fe der fachlichen Beurteilungsoptionen die Berufung auf die Vertretbarkeit sei-nes Handelns. Fehlerhaft ist es nur, wenn es fachlich nicht vertretbar ist (BGH, 10.03.1987 – VI ZR 88/86 –; instruktiv dazu OLG Koblenz, 18.06.2009 – 5 U 319/09: „Das Sachverständigengutachten und die Befragung der Zeuginnen hat dem Land-gericht die Überzeugung vermittelt, dass die Beklagte bei ihren Maßnahmen im März 2006 einen Zahnstatus vorfand, der den gewählten Behandlungsweg vertret-bar erscheinen ließ. Das ist nach Auffas-sung des Senats nicht zu beanstanden.“). Diesen Beurteilungsspielraum räumt die Rechtsprechung bereitwillig ein, was aber im Streitfall nur nützt, wenn auch der Gutachter bereit ist, die Bandbreite der

Maßnahme

1. Ist der Zahn erhaltungsfähig?

Mit den vertragszahnärztlichen Möglichkeiten? Weiter mit Frage 2 

Mit den privatzahnärztlichen Möglichkeiten?  Extraktion

Wünscht der Patient diese?  Extraktion

2. Ist der Zahn erhaltungswürdig? Extraktion

3. Ist eine Wurzelbehandlung ausreichend? Wurzelspitzenresektion

Endodontie

Ja

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Ja

Ja

Ja

Ja

Abb. 1 8 Entscheidungsbaum zur Abklärung der Behandlungsoptionen

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Leitthema

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Möglichkeiten zu akzeptieren und nicht seine im zu beurteilenden Fall für rich-tig gehaltene, also meist die hypothetisch getroffene Therapiewahl anstelle der des Behandlers im selben Fall als die (einzig) richtige anzusehen. Das ist ein in der Ge-richtspraxis leider immer wieder zu mo-nierender Umstand.

Aufklärung

Der Patient ist über alle für ihn in der kon-kreten Behandlungssituation aus fach-licher Sicht ernsthaft in Betracht kom-menden Behandlungsalternativen auf-zuklären (und natürlich über deren Ri-siken). Diese Alternativenaufklärung ist gerade im Bereich der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde sehr weitgehend. Die Wahl der Behandlungsmethode ist zwar anerkanntermaßen primär Sache des (Zahn-)Arztes. Aber wenn es – wie in keinem medizinischen Fachgebiet häu-figer als in der Zahnheilkunde – mehre-re medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsmethoden gibt, die wesentlich unterschiedliche Ri-siken und Erfolgschancen aufweisen, be-steht eine Aufklärungspflicht des (Zahn-) Arztes (OLG Köln, 17.10.2007 – 5 U 46/05). Stehen mehrere medizinisch sinnvolle und angezeigte Behandlungsmethoden zur Verfügung, so muss der Patient selbst prüfen und mitentscheiden können, was er an Belastungen und Gefahren im Hin-blick auf möglicherweise unterschied-liche Erfolgschancen der verschiedenen Behandlungsmethoden auf sich neh-men will (OLG Naumburg, 20.12.2007 –1 U 95/06).

E Besteht eine solche Behandlungs-alternative, darf der (Zahn-)Arzt ohne Weiteres eine konkrete Empfehlung abgeben.

Dabei bemüht sich die Rechtsprechung mit im Einzelnen unterschiedlichen An-sätzen um Augenmaß. Liegt die Empfeh-lung unter Berücksichtigung aller Um-stände des Krankheitsbildes im Rahmen des Vertretbaren, ist die Aufklärung nicht zu beanstanden (OLG Koblenz, 12.02.2009 –5 U 927/06 –).

Schwer tut sich die Rechtsprechung aber mit der sich systembedingt in der

Zusammenfassung · Abstract

MKG-Chirurg 2010 · 3:100–105 DOI 10.1007/s12285-009-0142-x© Springer-Verlag 2010

T. Ratajczak

Endodontie und chirurgische Zahnerhaltung versus Implantation. Unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebotes der GKV und Pflicht zur Aufklärung über Risiken und Alternativen

ZusammenfassungDie Entwicklungen der modernen Zahnheil-kunde bringen dem Zahnarzt sowohl eine Vielzahl von neuen Behandlungsoptionen als auch eine zunehmende Unschärfe bei den fachlichen Entscheidungsvorgaben. Das lässt sich exemplarisch an der Abgrenzung zwi-schen Endodontie und chirurgischer Zahner-haltung erkennen. Die Varianzbreite der Be-handlungsoptionen wird durch die Relativie-rung der Behandlungsentscheidungen mit-hilfe des Vertretbarkeitsprinzips aufgefan-gen, sofern die Gutachter dieses Prinzip be-achten. Die neuen Behandlungsoptionen werden in den Sicherungssystemen der ge-setzlichen Krankenversicherung nur teilweise und in den Sicherungssystemen der privaten

Krankenversicherung und der Beihilfe zuneh-mend beschränkter abgebildet. Auf die damit verbundenen Limitierungen nimmt die Zahn-arzthaftungsrechtsprechung im Behand-lungsfehlerbereich kaum Rücksicht. Die Auf-klärungspflichten sind in der Zahnheilkunde mittlerweile sogar so weit entwickelt, dass sie keine Rücksicht auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme mehr nehmen, sondern ihre Anforderungen allein auf das fachlich Machbare richten.

SchlüsselwörterEndodontie · Chirurgische Zahnerhaltung · Wirtschaftlichkeitsgebot · Behandlungsfeh-ler · Aufklärungspflichten

Endodontics and surgical tooth conservation versus implantation. Considering the economic limitations and obligation to counseling on risks and alternatives

AbstractThe progress of modern dental medicine of-fers a multitude of new treatment options as well as an increasing uncertainty in pro-fessional decision making. This is evident re-garding the borderlines between endodon-tics and surgical tooth preservation. The vari-ety of treatment options is supplemented by the concept of tenability if the dental experts honor this principle. The new treatment op-tions are only partially included in the pub-lic health security systems and are even fac-ing more and more limitations in the private health insurance systems as well as in the

treatment coverage provided for government employees. These limitations are barely rec-ognized by malpractice jurisdiction regard-ing errors in treatment. The development of counseling obligations neglects any limita-tions with respect to the financial stability of health security systems and relies only on the professional state of the art.

KeywordsEndodontics · Surgical tooth preservation · Economic limitations · Errors in treatment · Failures in counseling

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Zahnheilkunde besonders oft stellenden Frage, wann Kassenpatienten darüber auf-zuklären sind, dass sie unter Einsatz u. U. erheblicher eigener finanzieller Mittel ei-ne bessere privat(zahn)ärztliche Behand-lung erhalten könnten. Forderte man dies seitens der Rechtsprechung zu rigoros, hätte dies (so die Befürchtung) zur Folge, dass das System der gesetzlichen Kranken-versicherung aus Patientensicht in einem sehr ungünstigen Licht erscheinen würde. So meinte etwa das LG Aachen (17.05.1999 –11 O 318/97): „Auch wenn ein Zahnarzt eine einzelne Maßnahme, nämlich eine Funktionsanalyse, bei einem Kassenpatien-ten als Privatleistung abrechnet, muss er den Kassenpatienten nicht (auch) vor je-der einzelnen (sonstigen) Maßnahme über eine alternative und teurere privatärztliche Behandlung aufklären und ihn vor die Wahl stellen, ob er diese privat bezahlen will. Der Zahnarzt kann bei einem Kas-senpatienten davon ausgehen, dass dieser grundsätzlich soweit wie möglich Kassen-leistungen in Anspruch nehmen will.“ Da-gegen hat das OLG Oldenburg (14.11.2007 – 5 U 61/07) acht Jahre später schon sehr weitgehend entschieden: „Bietet eine zahnprothetische Behandlungsalternative (hier: Teleskopprothese gegenüber Mo-dellgussprothese) höhere Erfolgschancen, so muss der Zahnarzt auch einen Kassen-patienten auf die Möglichkeit hinweisen, gegen Zahlung eines höheren Eigenanteils eine zahnprothetische Versorgung zu wäh-len, die über den für gesetzlich Versicher-te als Regelversorgung vorgesehenen Stan-dard hinausgeht. Es ist allein Sache des Pa-tienten zu entscheiden, welche Versorgung er sich leisten kann oder will.“

> Der Patient entscheidet, welche Versorgung er sich leisten kann oder will

Jedenfalls in der Zahnheilkunde wird man heute diese umfassende Aufklärungs-pflicht bejahen müssen. Das bedeutet, den Patienten, dessen Zähne konserva-tiv u. U. mit einer sehr aufwendigen und von ihm selbst zu zahlenden Endo erhalt-bar erscheinen (garantieren kann dies niemand), auf diese Option hinzuweisen. Ebenso ist heute geklärt, dass in den Fäl-len, in denen anstelle von herkömmlichem auch implantatgetragener Zahnersatz in

Betracht kommt, der Patient auch darüber aufzuklären ist: „Kommen zur zahnärzt-lichen Versorgung einer Zahnlücke meh-rere Alternativen des Zahnersatzes (vier-gliedrige, bogenförmige Brücke, implan-tatgetragene Einzelbrücken oder heraus-nehmbare Prothese) in Betracht, die aus Ex-ante-Sicht des Zahnarztes eine gleich-wertige Versorgungschance bieten, aber insbesondere eine deutlich unterschied-liche Beanspruchung des Patienten durch die Behandlung zur Folge haben, so hat der Zahnarzt seinen Patienten über diese Behandlungsalternativen aufzuklären und die Therapiewahl unter Berücksichtigung der subjektiven Gründe des Patienten vor-zunehmen“ (OLG Naumburg, 05.04.2004 – 1 U 105/03).

E Wo die Grenzen der Aufklärungspflicht liegen, ist unklar.

Das OLG Koblenz (20.07.2006 – 5 U 180/06) entschied: „Stehen einem Zahnarzt für eine prothetische Kieferneu-versorgung mehrere verschiedene medi-zinisch indizierte Behandlungsmöglich-keiten zur Verfügung, die sich in ihren Belastungen, Risiken und Erfolgschan-cen wesentlich unterscheiden, dann muss er den Patienten darüber aufklären, damit dieser selbst prüfen kann, was sinnvoll ist und worauf er sich einlassen will. Unter-bleibt die nötige Aufklärung und lässt der Arzt sein Konzept alternativlos im Raum stehen, schuldet er dem Patienten sowohl ein Schmerzensgeld als auch materiellen Schadensausgleich.“

Bemerkenswert an dieser Entschei-dung sind vor allem die im Urteil zitierten und vom Gericht übernommenen Aus-führungen des Gerichtsgutachters: „Es sind zahlreiche Alternativen denkbar, so wäre z. B. auch die Entfernung der wur-zelbehandelten Zähne und damit die Re-duktion auf drei Restzähne und eine aus-gedehntere Teilprothese eine Möglichkeit gewesen. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Befestigung der Prothese über Klam-mern oder weniger stabile, weniger starre Geschiebe und damit eine geringere He-belwirkung bei etwas lockerem Sitz der Prothese. Auch außerhalb des vertrags-zahnärztlichen Gebührenrahmens lassen sich noch zahlreiche weitere Möglich-keiten, von einer durch Teleskopkronen

getragenen Teilprothese bis zu implantat-gestützten Brücken zu sehr unterschied-lichen Kosten finden.“ Wenn man ernst-haft fordern wollte, mit dem Patienten die Frage der Stabilität, also im eigentlichen Sinne der zahntechnischen Auslegung der Prothetik zu erörtern, würde man sowohl die Behandler- als auch die Patientenseite überfordern. Die Patienten wollen sowohl stabilen als auch grazilen Zahnersatz, kein „Pferdegebiss“. Von Ausnahmen abgese-hen wird wohl keiner einer Aufklärung folgen können, die versucht, die Vorteile einer im µ-Bereich liegenden Verände-rung der Gerüstdicke, die Auswirkungen möglicher Gerüstlegierungen und was es in diesem Bereich so alles an Besonder-heiten der Zahntechnik geben mag, zu erklären. Die Aufklärung soll nach stän-diger Rechtsprechung „im Großen und Ganzen“ (BGH, 28.11.1972 – VI ZR 133/71) erfolgen, aber keine wissenschaftliche Fortbildung sein. Nur dann, wenn kei-ne allseits anerkannte Standardmethode, sondern eine relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit neu-en, noch nicht abschließend geklärten Ri-siken angewendet werden soll, ist der Pa-tient auch darüber aufzuklären und dar-auf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszuschließen sind (BGH, 13.06.2006 – VI ZR 323/04).

> Die Alternativenauf-klärung rechnet zur Selbstbestimmungsaufklärung

Die Aufklärung über Behandlungsalter-nativen rechnet der Bundesgerichtshof zur Selbstbestimmungsaufklärung (BGH, 15.03.2005 – VI ZR 313/03). Das bedeu-tet, dass der Patient nur behaupten muss, nicht aufgeklärt worden zu sein. Der (Zahn-)Arzt muss beweisen können, dass er es doch getan hat. Hier hilft – wie fast immer – eine gute Dokumentation, für die es, was oft übersehen wird, ausreicht, wenn man den „Immer-so-Beweis“ antre-ten kann. Wenn Qualitätsmanagement in der Praxis einen wirklichen Sinn macht, dann hier, wenn es darum geht, zu bewei-sen, wie wann worüber aufgeklärt wird. Wenn diese Dinge standardisiert sind, ge-lingt dieser Beweis mühelos.

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Leitthema

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Grenzen durch das Wirtschaftlichkeitsgebot?

In § 12 Abs. 1 SGB V sind zwei lapidare Sätze enthalten, die es in sich haben: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweck-mäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht über-schreiten. Leistungen, die nicht notwen-dig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dür-fen die Leistungserbringer nicht bewir-ken und die Krankenkassen nicht bewil-ligen.“

F Im Klartext markiert das Wirtschaft-lichkeitsgebot beim Kassenpatienten die Grenze zwischen vertrags- und privat(zahn)ärztlicher Behandlung.

Dem ausschließlich an die Behandlerseite gerichteten Gebot des 1. Satzes entspricht das gleichermaßen an Behandler, Patient und Krankenkasse gerichtete Verbot des 2. Satzes. Diese als Wirtschaftlichkeitsgebot bezeichneten Sätze markieren die finan-ziellen Grenzen, die der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung von der Belastbarkeit der Beitragszahler und der Leistungsfähigkeit der Volkswirt-schaft gezogen sind. Sie begrenzen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bei der Therapiewahl kostenmäßig (BVerfG, 05.03.1997 – 1 BvR 1068/96 –; BVerfG, 05.03.1997 – 1 BvR 1071/95 –). Eine The-rapiefreiheit in dem Sinne, dass Untersu-chungs- oder Behandlungsmaßnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung beliebig allein nach (zahn)ärztlichem Fachwissen eingesetzt werden können, kennt das deutsche Recht nicht (BSG, 25.09.2000 – B 1 KR 24/99 R –). Insofern steht der gesamte Leistungsinhalt der ge-setzlichen Krankenversicherung unter dem Vorbehalt des Wirtschaftlichkeits-gebots, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist (BVerfG, 06.12.2005 –1 BvR 347/98 –). Für Vertrags(zahn)ärzte ist die Verletzung des in Satz 2 enthaltenen Verbots („nicht bewirken“) u. a. durch die Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach § 106 SGB V sanktioniert. Für Kassenpatienten bedeutet die Verletzung („nicht beanspru-chen“), dass sie die Behandlung selbst be-zahlen müssen. Für die Krankenkassen gibt es zwar ein korrespondierendes Ver-

bot („nicht bewilligen“), die dafür in § 12 Abs. 3 SGB V vorgesehene Sanktion ist aber praktisch wirkungslos.

E Das Wirtschaftlichkeitsgebot limitiert die Behandlungsoptionen bei Kassenpatienten.

Die Frage nach der Erhaltungsfähigkeit und Erhaltungswürdigkeit von Zähnen ist beim Kassenpatienten, der sich keine pri-vatzahnärztliche Behandlung leisten will, anders und restriktiver zu beantworten als beim Privatpatienten. Die Konsequenzen ziehen sich durch die gesamte Behand-lung bis hin zu der Frage, wie schnell man zur WSR greifen muss, um den Zahn we-nigstens noch teilweise zu retten, bzw. wel-che Behandlungsoptionen der Kassenpa-tient nach der Extraktion hat. Das Einzel-zahnimplantat und alle damit zusammen-hängenden chirurgischen Leistungen ein-schließlich der sog. Begleitleistungen sind von ihm selbst zu zahlen.

Es hieße allerdings die Augen vor der Realität zu verschließen, wenn man beim Privatpatienten die finanziellen Aspekte als Kriterien der Therapiewahl außer Acht ließe. Das Erstattungsverhalten der priva-ten Krankenversicherungen hat in vielen Praxen dazu geführt, sich bei der Aus-wahl möglicher Therapieangebote beim privat versicherten Patienten, erst recht beim Beihilfepatienten, ähnlich restriktiv zu verhalten wie beim Kassenpatienten. Das ist zwar nicht sinnvoll, weil sich da-mit korrespondierend das Haftungsrisiko unter dem Aspekt der Alternativenaufklä-rung erhöht, aber nachvollziehbar.

An die Stelle des Wirtschaftlichkeitsge-bots tritt beim Beihilfepatienten das Bei-hilferecht mit zunehmend umfassenderen Leistungsausschlüssen. Hier gibt es be-sonders viele offene Rechtsfragen. So hält etwa das VG Düsseldorf (16.01.2009 – 26 K 4142/07 –) die Regelung in § 4 Abs. 2 lit. b Satz 1 der nordrhein-westfälischen Beihilfeverordnung, wonach Aufwen-dungen für implantologische Leistungen nur bei den fünf dort genannten Indika-tionen beihilfefähig sind, für unwirksam, weil mit der Fürsorgepflicht des Dienst-herrn unvereinbar.

Künftige Entwicklungen

Es zeichnen sich zwei Entwicklungslinien ab, welche die Zahn-, Mund- und Kiefer-heilkunde anders treffen dürften als die all-gemeine Medizin. Die erste Entwicklung geht hin zur weitgehenden, wenn nicht gar völligen Privatisierung der Zahnheilkun-de. Sehr viele Indikatoren sprechen dafür, dass die Zahnheilkunde aus BEMA und EBM sukzessive verschwinden und in die private Vorsorge-/Versicherungspflicht des Einzelnen übertragen werden wird. Diese Entwicklung kreuzt sich mit einem Dilem-ma, vor dem sich die Arzthaftungsrecht-sprechung gestellt sieht, nämlich der Fra-ge, wer den Nachteil zu tragen hat, dass die Leistungen der gesetzlichen Kranken-versicherung zunehmend hinter dem me-dizinischen Standard zurückbleiben. Hier gibt es eine Tendenz, das Dilemma zuguns-ten des Patienten auf dem Rücken des be-handelnden Arztes/Krankenhauses und deren Berufshaftpflichtversicherer zu lö-sen. So unvertretbar eine solche Entwick-lung wäre – warum sollte der Patient sich nicht mit den finanziellen Gegebenheiten des Systems und dessen Folgen für sei-ne Gesundheit abfinden müssen, welches den Arzt zwingt (s. § 12 SGB V), ihn in die-sem Rahmen zu behandeln –, so könnte es doch sein, dass es erst quasi parallel zur Herauslösung der Zahnmedizin aus dem gesetzlichen Krankenversicherungssystem kommt und damit dieser Kelch an den Zahnärzten weitgehend vorbeigehen wird.

Fazit

Gute Fachkenntnisse sind notwendig für den Behandlungserfolg. Wenigstens be-friedigende Rechtskenntnisse erleichtern die (auch monetäre) Sicherung des Be-handlungserfolges.

KorrespondenzadresseDr. T. Ratajczak

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Sozialrecht, Kanzlei Ratajczak & Partner Rechtsanwälte Posener Str. 1, 71065 Sindelfingen [email protected]

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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