Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Reiner Engelmann (Hrsg.)

    Tatort Klassenzimmer

    Texte gegen Gewalt in der Schule

    Mit einem Vorwort von Dr. Helmut Willems

    Arena

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    Zu diesem Taschenbuch liegt eine

    Unterrichtserarbeitung vor.Informationen darber erhalten Sie

    beim Arena Verlag, Wrzburg

    In neuer Rechtschreibung

    6. Auflage dieser Anthologie 2000 als Originalausgabeim Arena-Taschenbuchprogramm 1994 by Arena Verlag GmbH, Wrzburg

    Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehaltenUmschlaggestaltung: Bernhard Hartlieb

    Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbHISSN 0518-4002

    ISBN 301-01784-5

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    Sind die heutigen Schlerinnen und Schler gewaltttiger als

    die Generation ihrer Eltern und Groeltern? KnnenSchlerinnen und Schler ihre Konflikte nicht mehr verbalaustragen? Bleibt nichts anderes brig als die Anwendung oftbrutaler Gewalt? Sind sie in ihrer Gewaltttigkeit auch einSpiegelbild unserer Gesellschaft? Sind die Erwachsenen nochin der Lage die Jugendlichen zu verstehen, sich mit ihnenauseinander zu setzen oder ihnen wenigstens zuzuhren?Zugehrt haben 20 Autorinnen und Autoren, die in denOriginalbeitragen dieser Anthologie die Situation vonJugendlichen in der Schule und im schulischen Umfeldbeschreiben. Die literarischen Texte und Sachbeitrge bildennicht nur die Realitt ab. Sie geben vielmehr Anste darbernachzudenken, warum Gewalt angewendet wird, und sie gebenAnste, vielleicht anders als mit Gewalt zu reagieren.

    Reiner Engelmann,1952 geboren, studierte Sozialpdagogik und absolvierte einesonderpdagogische Zusatzausbildung. Er arbeitet seit 1977 aneiner Schule fr Lernbehinderte und fhrt seit 1983Lehrerfortbildungen mit den Schwerpunkten Lesefrderung,Umweltbildung, Menschenrechtserziehung, Jugend undGewalt in verschiedenen Institutionen der Lehrerfortbildungdurch.

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    HELMUT WILLEMS

    Vorwort

    Die derzeitige intensive Diskussion ber Gewalt in unsererGesellschaft, die vor allem durch die Angriffe jugendlicher

    Banden und fremdenfeindlicher Cliquen auf Asylbewerber undAuslnder (in den letzten Jahren) ausgelst wurde, hat auch dieSchulen wieder ins Zentrum der ffentlichen Aufmerksamkeitgerckt. Sie sind zum einen dem Vorwurf ausgesetzt bei derVermittlung gesellschaftlicher Werte und zivilisatorischerTugenden versagt zu haben oder werden gar direkt alsVerursacher der rechten Gewalt von Jugendlichen angeklagt

    nach der Formel Linke Lehrer erzeugen rechte Schler. Siewerden zum anderen aber auch mit der Forderung konfrontiertsich ihrer erzieherischen Aufgabe und ihrer Verantwortung frdie Gesellschaft wieder strker bewusst zu werden.Zunehmend wird von den Schulen erwartet jenesozialisatorischen Defizite von Kindern und Jugendlichenauszugleichen und zu beheben, die durch die Vernderungenvon familiren Strukturen und Sozialisationsbedingungen

    verursacht sind. Zur gleichen Zeit mehren sich in den Mediendie Berichte ber eine Zunahme von gewaltttigenAuseinandersetzungen und Konflikten an den Schulen selbst:Immer hufiger werde an den Schulen massive krperlicheGewalt angewendet, immer brutaler wrden dieAuseinandersetzungen ausgetragen, immer niedriger seien dieHemmschwellen der Gewalttter. Sowohl quantitativ als auchqualitativ habe sich die Gewaltttigkeit an den Schulenverndert, sprich: verschlimmert. Nun muss man die

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    Medienberichterstattung zur Gewalt generell, somit auch derschulischen Gewalt stets mit der notwendigen Skepsis lesen:

    Wir wissen, dass Gewalt fr die Medien eine Ware mit hohemVerkaufswert ist. Sie erfllt diese Funktion jedoch nur dann,wenn sie in ihrer Form und in ihrem Ausma dramatisiert undskandalisiert werden kann. Folglich liegt derMedienberichterstattung stets eine Steigerungs-,Verschlimmerungs- und Brutalisierungsformel zu Grunde.Friedfertige Schler und Schulen, die Probleme und Konfliktezwischen Schlern oder zwischen Lehrern und Schlern aufkommunikative und daher auf unspektakulre Art und Weisezu lsen vermgen, sind fr die Medien uninteressant. Ob dieSituation an den Schulen generell so dramatisch ist, wie dies inden Medien dargestellt ist, ist daher schwer zu beurteilen.Wissenschaftliche Studien, die allein reprsentative undzeitvergleichende Aussagen ber das tatschliche Ausma undber lngerfristige Entwicklungstendenzen der Gewalt an

    Schulen ermglichen wrden, liegen zurzeit nicht vor. Sie sindin der Regel auch nicht in der Lage relativ kurzfristigeVernderungen zu erfassen, wie sie derzeit artikuliert werden.Als die von der Bundesregierung eingesetzte Anti-Gewaltkommission im Jahre 1989 ihre umfangreichenGutachten vorlegte, konnte man zum Thema Gewalt in derSchule noch nachlesen, dass eine deutliche Zunahmeentsprechender schulischer Gewaltereignisse nicht zu erkennen

    sei und dass Gewalt in der Schule hierzulande jedenfalls nochnicht die Dimensionen erreicht habe, die seit lngerer Zeit frdie USA berichtet werden. Heute wrden sich auch die meistenWissenschaftler mit einer entsprechenden Aussage schwer tun.Denn zum einen liegt mittlerweile eine Vielzahl von neuerenUntersuchungen, Umfragen und Einzelfallberichten ausSchulen vor, die zwar nicht generalisierbar sind, die aber

    erkennen lassen, dass zumindest fr einen Teil der Schulen

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    Gewalt zu einem groen Problem geworden ist. Zum anderenhat sich v. a. bei Lehrern, Schulleitern, Schlern,

    Elternvertretern und Schulpsychologen die Erfahrungverdichtet, dass das Schlerverhalten sich erkennbar vernderthat und dass vielfltige Formen der Aggression bis hin zurmassiven Gewaltanwendung zum Alltag vieler Schulengehren.

    Sicherlich wrde auch in den Schulen niemand leugnen, dassjugendtypische Raufereien und gewaltttigeAuseinandersetzungen schon immer zu einem gewissen Teilden Schulalltag gekennzeichnet haben. Wenn also hier voneiner dramatischen Vernderung der Gewalt an Schulen dieRede ist, so gilt es zunchst festzustellen, welche neuenGewaltphnomene und Vernderungen damit gemeint sind.Einige Aspekte seien hier dargestellt:

    1) Insbesondere in so genannten sozialen Brennpunkten bzw.stdtischen Problemgebieten verlagert sich ein Teil der

    auerschulischen jugendlichen Straen- undBandenkriminalitt in die Schulen hinein. Die Mitgliedschaftvon Schlern in gewaltaffinen Cliquen und delinquentenSubkulturen ist daher ein wichtiger Vorhersagefaktor auch frschulische Gewalt. Denn die Gruppen, die auf der Strae demEinzelnen Anerkennung und Schutz bieten und ihre eigenenRegeln und Gewaltverstndnisse haben, spielen zunehmendauch in den Schulen eine wichtige Rolle. Die Schulen stehen

    dieser Entwicklung hilflos gegenber. Die notwendigesozialpdagogische Betreuungsarbeit im Umfeld der Schulenkann von den Schulen selbst nicht geleistet werden.

    2) Neben der klassischen Bandendelinquenz werdengegenwrtig auch die Konflikte um die Integration vonAuslndern und um die Asylpolitik in die Schulenhineingetragen. Fremdenfeindlich motivierte Gewaltttigkeiten

    sind daher heute fr viele Schulen ein groes Problem. Zum

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    einen bernehmen Jugendliche die fremdenfeindlichenHaltungen und Vorurteile ihrer sozialen Umwelt, hufig in

    radikalisierter Form. Zum anderen aber werden die Schlerselbst auf Grund der vermehrten Integration von auslndischenSchlern zunehmend mit Problemen und Konfliktenkonfrontiert, die ernst genommen werden mssen. Wenn inSchulen die traditionellen Mehrheit-Minderheiten-Verhltnissezwischen deutschen Schlern und auslndischen Schlernumzukippen drohen, knnen rassistische Bedrohungs- undberfremdungsvorstellungen fr manche an Plausibilittgewinnen. Doch Konflikte zeigen sich auch schon dann, wenndeutsche Eltern und Schler auf Grund hoher Auslnderanteilein den Klassen um das Leistungsniveau und damit um dieKonkurrenzfhigkeit zu frchten beginnen und denAuslndern die Schuld daran geben. Und selbst gutgemeinte Bemhungen um Integration und Verstndnis frauslndische Jugendliche und ihre spezifischen Probleme

    knnen Folgen haben, die der eigentlichen Intentionentgegenwirken: Dann nmlich, wenn die fr auslndischeSchler geltenden schulischen Integrationshilfen undbesonderen Manahmen von den deutschen Schlern alsBenachteiligung interpretiert werden.

    3) Alltgliche Konflikte und Auseinandersetzungen zwischenSchlern werden nach den Erfahrungen der Lehrer heutehufiger und schneller mit gewaltttigen Mitteln ausgetragen.

    Gewalt wird von einer relativ starken Minderheit unter denSchlern als ein normales Mittel der Konfliktlsung undInteressensdurchsetzung akzeptiert; Alternativen zur Gewaltsind unter vielen Jugendlichen hufig nicht bekannt, Grenzendes Gewalteinsatzes (z. B. Fairnessregeln, Empathiefhigkeit)oft nicht mehr erkennbar.

    Im Diskurs um die Ursachen schulischer Gewalt werden in

    der Regel auerschulische Faktoren und Bedingungen in den

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    Vordergrund gestellt. Dabei spielen insbesondere dieBelastungen in den Herkunftsfamilien sowie v. a. die

    zunehmenden Vernderungen familirer Strukturen eineherausragende Rolle. Gestrte Familienbeziehungen,gewaltttig-autoritre Erziehungsstile, familiale Konflikte undProbleme durch Armut, Arbeitslosigkeit, schlechteWohnverhltnisse und deren unzulngliche Bewltigung sindals Risikofaktoren fr die Ausbildung aggressiverVerhaltenstendenzen bei Jugendlichen seit langem bekannt.Darber hinaus wird gerade in der jngeren Diskussionhervorgehoben, dass vor allem die Vernderungen familialerStrukturen (etwa die Zunahme von Einelternfamilien durchScheidung) sowie die Vernderung innerfamilialerBeziehungen als Folge vernderter Lebens- undBerufsperspektiven der Eltern eine zunehmend wichtige Rollespielen. Die angestiegene Berufsttigkeit beider Elternteilesowie die ber die Familie hinausweisenden

    individualistischen Emanzipations- undSelbstverwirklichungsinteressen der Eltern (etwa imFreizeitbereich) haben zur Folge, dass viele Kinder undJugendliche groe Teile des Tages sich selbst berlassen sind.Die elterliche Kontrolle und Erziehungswirkung wird dadurchdeutlich reduziert. Die fr die Schule notwendigen familialenErziehungsvorleistungen und sozialen Betreuungs- undUntersttzungsleistungen sind oft nicht mehr vorhanden.

    Grundlagen des sozialen Zusammenlebens knnen in vielenFamilien nicht mehr erfahren und eingebt werden. Zugleichwchst die Bedeutung, die Gleichaltrigen-Gruppen sowie dieMedien fr die Sozialisation Jugendlicher einnehmen. Washier gelernt wird, ist aber weder vom Elternhaus noch von derSchule kontrollierbar und korrigierbar; so lange jedenfallsnicht, wie die entsprechenden Erfahrungen und Eindrcke der

    Jugendlichen nicht systematisch in der elterlichen oder

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    schulischen Erziehung thematisiert werden. Dies drfte v. a.fr die Schulen eine wichtige Herausforderung fr die Zukunft

    darstellen. Die Suche nach mglichen Ursachen der Gewalt anSchulen darf jedoch nicht bei der Betrachtung auerschulischerFaktoren stehen bleiben. So wichtig diese auch sind und soschwerwiegend ihre Konsequenzen fr die Schulen auch seinmgen: Es sollte nicht bersehen werden, dass Gewalt in derSchule keineswegs allein auf auerschulische Ursachen, wieetwa die Integration in delinquente Subkulturen oder auchsozialisatorische Defizite, zurckzufhren ist. Die Schuleselbst als gesellschaftliche Institution stellt heute einenzentralen Lebensbereich der Kindheit und des Jugendalters darund kontrolliert daher eine Vielzahl von Bedingungen, dieAggression und Gewalt hervorheben knnen. Sie beeinflusstber die Vergabe von Zertifikaten mageblich die zuknftigenberuflichen und sozialen Chancen der Schler undproduziert Sieger und Verlierer, Auf- und Absteiger,

    Erfolgsbewusste und Versager. Sie beeintrchtigt daher instarkem Mae das Selbstwertgefhl und Geltungsbedrfnis derLeistungsschwachen, ohne die so erzeugten Frustrationen,Versagensngste und Selbstwertbeeintrchtigungen schulinternaufarbeiten zu knnen. Wir wissen, dass insbesondere Schler,die den Leistungsanforderungen der Schule und oft auch denLeistungserwartungen der Eltern nicht gerecht werden, sichhufiger aggressiv und gewaltttig in den Schulen verhalten.

    Auch wenn fehlende Begabungen und Leistungsschwchenvon den Schulen nur zu einem geringen Teil korrigiert werdenknnen, so werden doch Programme zu schulischerLeistungsfrderung auch in Zukunft bei der Prvention vonGewalt eine wichtige Rolle spielen.

    Darber hinaus jedoch haben die Schulen durchaus auch dieMglichkeit auf eine Reihe von problematischen und

    tendenziell aggressionsfrdernden Situationen und

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    Verhltnissen an den Schulen unmittelbar Einfluss zu nehmen.Die Verbesserung des Schulklimas und die Aufstellung klarer

    und einsichtiger Normen und Regeln fr den Schulbereich sindhier hervorzuheben. Von besonderer Bedeutung aber wird dieQualitt der Schler-Lehrer-Beziehungen sein. Hier wird es inerster Linie darauf ankommen, neue und offenere Formen derKommunikation zu finden. Dies setzt die Bereitschaft voraussich mitzuteilen, Erfahrungen auszutauschen, einanderzuzuhren. Nur so kann man das notwendige Vertrauenaufbauen, um gemeinsam gegen Gewalt an Schulenvorzugehen. Der vorliegende Band zeigt durch dieZusammenstellung von alltagsnahen Texten und Berichten,wie komplex sich die Gewaltproblematik darstellt und wievielfltig und unterschiedlich die Erfahrungen von Schlernund Lehrern sind. Er leistet daher einen sinnvollen Beitrag zurberwindung der Sprachlosigkeit und stellt einen wichtigenSchritt zur Verstndigung zwischen Schlern und Lehrer dar.

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    ARNULF ZITELMANN

    ACH JA

    IR ZWNGEN UNS IN KONVENTIONENTUN UNS TGLICH GEWALT AN

    UM WEITER MITHALTEN ZU KNNENLEISTUNG ZU BRINGENDRAUF ZU SEINVERGEWALTIGEN UNS AM LAUFENDEN BANDMIT FITNESSPROGRAMMEN HUNGERDITENRAMMEN UNS SCHROTT INS GEHIRNBEI SO VIEL GEWALT GEGEN UNS SELBST

    ESKALIERT GEWALTBEREITSCHAFTZUR GEWALT GEGENBER ANDERENDIE NOCH WEHRLOSER SIND ALS WIR

    W

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    HANS-MARTIN GROSSE-OETRINGHAUS

    Faustrecht

    Der Fnfklang des Gongs lie ihn zusammenzucken, obwohler so weich und harmonisch klang wie immer. Ungeduldig

    hatte Tobias auf die erlsenden fnf Gongschlge gewartet, diedas Ende der Pause und den Beginn des Unterrichts anzeigten.Nicht, dass Tobias gerne Mathematik gemacht htte. ImGegenteil. Eigentlich zhlte Prozentrechnung zu den Dingen,vor denen er sich am liebsten drckte. Aber das war jetztunwichtig. Hauptsache, der Unterricht wrde jetzt schnellwieder beginnen. Was und bei wem, war ihm vllig egal.

    Whrend der Unterrichtsstunde war er vor Sebastian sicher. Inden Pausen dagegen musste man sich vor ihm in Acht nehmen.Da war er unberechenbar. Darum hatte Tobias dasGongzeichen kaum erwarten knnen. Als es endlich ertnte,war er doch zusammengezuckt. Er wusste ganz genau, dasshinter der Ecke im Flur, dort wo der Gang zu ihrer Klasse nachrechts abbog, Sebastian auf ihn warten wrde.

    Zgernd setzte sich Tobias in Bewegung. Pltzlich hatte er es

    nicht mehr eilig. Wie konnte er nur an Sebastianvorbeikommen? Die anderen wrden ihm nicht helfen.Entweder machten sie alles, was Sebastian wollte. Oder sieblickten fort und taten so, als ob sie nichts mitbekommenwrden. Die hatten doch genauso viel Angst vor Sebastian wieer. Selbst Arne. Warum sogar der einen Bogen vor Sebastianmachte, verstand Tobias nicht. Arne war zwar nicht grer alser, aber ein Kreuz hatte der! Und Muskeln! Der musste dochdoppelt so stark sein wie Sebastian. Leicht knnte der ihn aufs

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    Kreuz legen. Oder gegen die Schulhofmauer klatschen. Abernein. Arne wich ihm genauso aus wie alle anderen. Und selbst

    wenn Sebastian ihn provozierte, hielt er sich zurck. Wenn ichsolche Arme htte wie Arne, dachte Tobias, dann wrde ichjetzt

    Tobias hatte den Eingang erreicht und trat in den Flur. Vonhier aus konnte er die Ecke, hinter der Sebastian stehen wrde,bereits sehen. Unwillkrlich wurden seine Schritte langsamer.Die meisten Schlerinnen und Schler waren bereits in ihrenKlassenrumen verschwunden. Eine aus der Klasse unter ihmlief noch zum Papierkorb neben dem Eingang und warf ihrzusammengeknlltes Butterbrotpapier hinein. Tobias sprteseinen Magen knurren. Sein Butterbrot lag zerquetscht auf demAschenboden hinten am Schulhofzaun. Als er gerade zubeienwollte, war Sebastian von hinten gekommen, hatte seine Handum seine gelegt und dann ganz fest zugedrckt. Immer fester,bis das Brot mit der Butter und der Salami aus seiner Hand

    herausgequetscht wurde und auf den Boden fiel. Tobias hattedas Gefhl, als wrde er ihm alle fnf Finger brechen. Lauthatte er aufgeschrien und dann versucht sich loszureien. AberSebastian hatte ihn so fest im Griff gehabt, dass er keineChance hatte. Ein paar aus seiner Klasse hatten sich zwar umdie beiden gestellt, um zu sehen, was es da gab. Aber geholfenhatte ihm niemand. Als das Brot in der Asche lag, hatteSebastian es mit dem Fu direkt vor Arne gekickt. Fr dich!,

    hatte er gelacht. Damit deine Muskelpakete platzen! AberArne war ganz ruhig geblieben. Mit einem einzigen Schlaghtte er Sebastian auf den Boden werfen knnen. Aber er hattenur Du langweilst gesagt und war weitergegangen, ohneSebastian oder ihn weiter zu beachten.

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    Jetzt beeil dich! Die Stunde hat lngst begonnen. DieStimme des Mathematiklehrers hinter ihm klang verrgert.

    Hier, nimm mir mal die Hefte ab. Als Tobias sie auf demLehrertisch ablegte, merkte er, wie der Blick von HerrnSalomo auf seine blutunterlaufenen Fingerngel fiel. Habt ihreuch schon wieder geschlagen! Frher hatte er nach solchenBemerkungen laut geseufzt. Das hatte er sich inzwischenabgewhnt.

    Im Gegensatz zu meinem groen Namensvetter bin ich mitmeiner Weisheit langsam am Ende. Dass manAuseinandersetzungen auch anders fhren kann, werde icheuch wohl nie vermitteln knnen! Er schob den Stapel Heftevon der linken Seite des Tisches auf die rechte. Schade, dassihr so wenig Vorbilder habt, Frauen und Mnner, denen ihrnacheifern wollt. Von denen ihr sagen knntet: So wie die, somchte ich auch werden. Als ich so alt war wie ihr, da warendas fr mich Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi oder Martin

    Luther King. Aber ihr Er unterbrach sich, griff nach denHeften und verteilte sie. bungsarbeit.

    Sonst ging Herr Salomo bei Arbeiten immer zwischen denTischen umher, um sicherzugehen, dass niemand abschrieb.Jetzt sa er die ganze Zeit an seinem Tisch und schaute durchsFenster nach drauen. Tobias warf zwischen den einzelnen

    Rechenaufgaben immer wieder einen Blick zu ihm hinber.Wie versteinert, starrte der Lehrer in den wolkenverhangenenHimmel. In Gedanken schien er ganz woanders zu sein.Irgendwo. Auf jeden Fall nicht beim Mathematikunterricht.

    Kurz bevor das Gongzeichen ertnen musste, sammelte er die

    Hefte wieder ein.

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    Whrend ihr ber den Aufgaben gebrtet habt, habe ichauch nachgedacht, sagte er und sein Blick wanderte dabei von

    einem zum anderen. ber die Vorbilder. Ihr wisst schon.Dass ihr keine habt. Vllig falsch! Natrlich habt ihr welche.Uns! Er klemmte sich den Heftstapel unter den Arm. UnsErwachsene! Gibts Probleme, dann schlagen sie zu. Wie imGolfkrieg. Knallhart. Ohne Rcksicht. Wollen die was haben,holen sie es sich. Und gibt man es ihnen nicht freiwillig, dannwird nachgeholfen. Gegenber der Dritten Welt funktioniertdas doch ganz gut. Oder Umwelt. Ozonloch. Ohne an dieFolgen zu denken, wird weitergemacht, als ob nichts wre.Anders machen? Fehlanzeige! Immer nur an sich selbstdenken. Heute konsumieren, auf Teufel komm raus. Ob sptereGenerationen dann noch auf diesem Planeten leben knnen,interessiert nicht. Wenn die Erwachsenen die Ellenbogenbenutzen, wieso solltet ihr es anders machen? Wenn dieErwachsenen euch vormachen, dass man rcksichtslos

    zerstren kann, warum ihr dann nicht? Obs die Umwelt oderdas Klassenmobiliar ist, wo ist da schon der Unterschied?Das Gongzeichen ertnte. Der Lehrer ging zur Tr. Dann

    drehte er sich noch einmal um: Mathematik kann ich euchbeibringen. Mit etwas Glck, Geduld und ein paar Ideen. Aberwie ich euch die wichtigen Dinge des Lebens nahe bringensoll, das wei ich immer weniger. Langsam trat er auf denFlur hinaus. So resigniert hatte Tobias seinen Lehrer noch nie

    gesehen. Tobias sah ihm nach, selbst als er lngst im Flurverschwunden war und die anderen ihre Sachen in dieSchultaschen und Beutel packten. Als vor ihm Arnes Etui aufden Boden fiel, wachte er aus seinen Gedanken auf. Er sah,wie Sebastian zwei Schritte nach vorne kam, wie zufllig mitder Hacke auf Arnes Etui trat und seinen Absatz noch einmalkrftig hin- und herdrehte. Ein leises Knacken war zu hren.

    Dann sickerte blaue Tinte aus dem Etui auf den Boden.

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    Du httest dein Heft ruhig etwas mehr rberhalten knnen,sagte er grinsend. Meinst du, ich will mir den Hals

    verrenken? Nein! Merk dir das! Frs nchste Mal. Tobiasblickte gespannt auf Arne. Jetzt musste doch was passieren!Jetzt musste Arne doch zuschlagen. Das konnte der sich dochnicht einfach so gefallen lassen. Der brauchte nicht kleinbeizugeben. Der nicht! Aber Arne hob nur das Etui auf,klappte es auseinander und stellte in einem betont sachlichenTon fest: Fller, Bleistift, Lineal. Etwa 35 Mark. Dann nochdie Mappe. Zusammen 55 Mark. Du kannst mir das Geldgleich geben. Aber wie ich dich kenne, wirst du zu dumm dazusein und warten, bis ich es dem Salomo gemeldet habe. Aberdu kannst es dir ja noch mal berlegen. Die Pause dauertfnfzehn Minuten.

    Die nchste Stunde hatten sie wieder bei Herrn Salomo. Arnestand im Flur, um ihn abzufangen. Tobias konnte durch diegeffnete Tr sehen, wie er auf den Lehrer zutrat. Whrend

    Arne von dem Vorfall berichtete und sein Etui zeigte, kamendie beiden in den Raum. Finde ich gut, dass du kommst,damit wir die Sache gemeinsam bereden und klren knnen,sagte der Lehrer. Dann hielt er inne und sah Arne fragend an.Aber warum hast du Sebastian eigentlich keine geknallt? Ichmuss gestehen, ich htte gedacht, dass du ihn verprgelnwrdest. So wie du gebaut bist!

    Ich bin im Boxverein. Es sah so aus, als ob Arne nicht

    wsste, wo er seine Hnde lassen sollte. Wenn ich bei einerSchlgerei mitmache, fliege ich raus. Das musste ich sogarunterschreiben.

    Solche Regeln habt ihr?, staunte der Lehrer. Ich kennemich da wirklich zu wenig aus. Vielleicht solltest du uns damal mehr von erzhlen. Oder uns einfach mal mitnehmen,wenn das erlaubt ist und welche von den anderen Interesse

    haben.

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    Und ob sie Interesse hatten! Sogar einige der Mdchenwollten mitkommen. Nur Sebastian fand den Vorschlag

    tzend. Doch als die meisten zusagten, brummelte er auch einvon mir aus, damit es nicht so aussah, als ob er kneifenwrde.

    Arnes Boxlehrer hatte nichts gegen den Besuch. Sie durftensogar in den Ring steigen. Einer nach dem anderen. AlsSebastian sich durch die Seile schob und Arne geschmeidigvor ihm hin- und hertnzelte, mit der einen Faust das Gesichtdeckte und mit der anderen angriff, konnte Tobias genausehen, wie Sebastians Knie zitterten. Nach diesem Nachmittagwar es irgendwie anders in der Klasse.

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    ROLF KRENZER

    Morgen mehr Knete!

    Fabian brauchte unendlich lange, bis er heute nach der Schulenach Hause kam. Immer wieder blieb er stehen, fuhr sich mit

    der Hand durch sein Stoppelhaar und hielt fr kurze Zeit denAtem an, bevor er sich mit einem tiefen Seufzer dann weiterauf den Weg machte. Wenn er Glck hatte, wrde die Mutternoch in der Kche mit dem Vorbereiten des Mittagessensbeschftigt sein und nicht sehen, dass er ohne die blaue Jackenach Hause kam, die sie letztes Wochenende im Supermarkterstanden hatte und die er heute zum allerersten Mal

    angezogen hatte. Mutter hatte heute Morgen protestiert, aberFabian hatte sich zuletzt doch durchgesetzt. Wie htte er auchahnen knnen, dass sie es heute nicht nur auf sein Geld,sondern auch auf seine neue Jacke abgesehen hatten. Geldhatte er die ganze Woche noch nicht mit in die Schulegenommen. Er wusste nur zu gut, wie gefhrlich das war, undriskierte lieber ein paar Boxschlge oder Futritte, wenn sieihn untersucht und kein Geld bei ihm gefunden hatten. Sie. Das

    waren sechs oder acht groe Jungen, die wohl die gleicheSchule wie er besuchten. Fabian kannte noch nicht einmal ihreNamen, wusste auch nicht, in welche Klasse sie gingen. Siestanden pltzlich vor ihm, einmal zu zweit, dann zu fnft undein anderes Mal zu noch mehr. Mochte sich Fabian auchvorher noch so sorgfltig davon berzeugt haben, dass dieStrae leer war, sie standen, wie aus dem Boden gestampft, vorihm, hielten ihm diese rostige Klinge vor das Gesicht unddrohten ihm die Klinge in den Arm oder in das Gesicht zu

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    bohren, wenn er nicht freiwillig alles herausrckte, was er anGeld oder sonstigem Kram bei sich hatte, der fr sie

    interessant war.Philipp, sein bester Freund, hatte sich heute sogleich

    verdrckt, als sie pltzlich wieder vor ihnen aufgetauchtwaren. Sie hatten Philipp laufen lassen, weil sie es anscheinendnur auf Fabians neue Jacke abgesehen hatten, die ihm dann derGrte mit einem Ruck von der Schulter heruntergezerrt hatte.Nur zu deutlich hatte Fabian gesprt, dass dabei der rechtermel eingerissen war. Verzweifelt hatte Fabian um die neueJacke gekmpft. Und als er in blinder Wut dem nchstbestenJungen vollholz gegen das Bein getreten hatte, hatten sie ihmmit der Klinge blitzschnell den oberen Knopf seiner Hoseabgeschnitten, sodass sie dann heruntergerutscht war.

    Schneiden wir ihm den Schwanz ab!, hatte einer geschrienund bereits an seiner Unterhose gezerrt. Da hatte sich Fabianlosgerissen, hatte ihnen die funkelnagelneue Jacke berlassen

    und war davongerannt. Erst als er sicher war, dass sie ihn nichtverfolgten, blieb er stehen. Sie hatten ja die Jacke. Um ihnkmmerten sie sich einen Dreck.

    Ich htte nicht weglaufen sollen!, sagte er sich immerwieder und war sich doch nur zu sicher, dass er gar keineChance gegen die Gang gehabt htte. Philipp hatte das einzigVernnftige getan. Er war ausgerissen vor ihnen. Sonst httensie ihn auch geschnappt. Nun gut, Philipps Jacke war noch

    vom letzten Jahr. Vielleicht htten sie ihm die gelassen. Wiewrde er das nun Mutter beibringen knnen? Es wrde einenganzen Haufen rger geben. Da war er sich nur allzu sicher.rger, fr den er nichts konnte. Die hatten ja keine Ahnung zuHause von dem, was sich in der Schule und auf dem Schulwegabspielte. Fabian biss die Zhne zusammen und schlucktegewaltsam die Trnen herunter, die sich einfach nicht mehr

    zurckhalten lieen. Er wischte an seinen Augen herum und

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    berlegte dann, wie er auf dem schnellsten Weg von derWohnungstr in sein Zimmer gelangen knnte, ohne von

    Mutter gesehen zu werden. Sie wrde sonst als Erstes nach derJacke fragen.

    Und wie er den abgeschnittenen Knopf der Mutter erklrenwollte, das wusste Fabian beim besten Willen nicht. Als er vorder Haustr stand, tauchte pltzlich Philipp neben ihm auf.Anscheinend war er vorausgelaufen, um Fabian nochabzufangen, bevor er nach oben ging. Mit unglcklichemGesicht reichte er Fabian einen Zettel.

    Morgen noch mehr Knete? Fabian sah Philipp erstaunt an.Was bedeutet das? Philipps Augen schwammen in Trnen.Sie haben dir den Zettel gegeben? Philipp nickte stumm.

    Was wollen sie von mir?, fragte Fabian und las den Satzimmer wieder. Steht doch da!

    Sie haben mein ganzes Taschengeld! Und klauen kann ichnichts!

    Philipp schttelte stumm die Schultern. Vielleicht musst dudoch!, sagte er nach langem Schweigen. Sie meinen esernst!

    Was sollen sie mir schon tun, wenn ich nichts dabeihabe?Wieder zuckte Philipp stumm die Schultern. Ich bring die

    Knete fr sie mit!, sagte er dann leise. Hast du denn nochwas?

    Philipp schttelte den Kopf. Meine Oma lsst ihr Geld

    berall herumliegen. Sie hat noch nie bemerkt, dass etwasfehlte.

    Und da hast du dich schon fter bedient? Philipp verzogden Mund und nickte schlielich. Ich muss jetzt heim!Fabian zgerte noch einen Moment, dann drckte er dreimalhintereinander auf den Klingelknopf. Zweimal kurz, einmallang. Das verabredete Zeichen fr die ganze Familie. So

    brauchte man oben nicht durch die Sprechanlage nachzufragen,

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    sondern konnte die Tr gleich ffnen. Als das leise Summendes Trffners ertnte und Fabian leicht gegen die Tr drckte,

    ging Mutter oben sicher bereits wieder zur Kche zurck.Fabian schlich die Treppen hinauf und stahl sich in seinZimmer.

    Fabian! Bist du es?Ja, Mutti!Du bist heute spt!Hmhm!War etwas?Mmmm!Dann wasch dir die Hnde. Papa und Anne haben bereits

    angefangen. Papa muss gleich wieder weg! Fabian atmetekurz durch! Im Augenblick war alles gut gegangen. Aber daswar ja doch erst der Anfang. Irgendwann wrde Mutter dochdahinter kommen, dass die Jacke fehlte.

    Fabian zog schnell seine Hose aus und versteckte sie ganz

    hinten in seinem Schrank unter den Winterpullovern. Dann zoger eine andere Hose an.

    Wie wars heute in der Schule?Der Vater stellte mittags beim Essen immer die gleiche

    Frage. Doch er hrte kaum zu, was man darauf antwortete. Sowar es auch heute. Bevor Fabian sich eine einigermaen

    passende Antwort zurechtlegen konnte, meinte der Vaterschon: Naja, dann lass es dir jetzt mal schmecken!

    Doch dann kam die Sache mit der Jacke viel schneller heraus,als Fabian gedacht hatte.

    Da war dieser verflixte Frisrtermin am Nachmittag. Vatersollte Fabian mit dem Wagen mitnehmen und beim Frisrabsetzen. So war es bereits gestern Abend verabredet worden.

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    Aber mit Jacke!, rief Mutter hinter Fabian her, bevor er dieTreppen hinunterflitzen konnte. Ist doch nicht kalt!

    Bitte!Der Ton in Mutters Stimme gestattete keine Widerrede.

    Mrrisch ging Fabian in sein Zimmer zurck und zog diedunkelrote Wolljacke an.

    Die neue Jacke!, sagte Mutter und schickte ihn zurck.Heute Morgen wolltest du sie unbedingt anziehen!

    Ich wollte sie mir nur fr die Schule lassen! Einschchterner Einwand, der keine Beachtung fand. Nochschlimmer: Die Mutter kam bereits hinter ihm her. Fabian,wo ist die neue Jacke?

    Da warf sich Fabian auf sein Bett und brach in Trnen aus.Hast du sie in der Schule vergessen?Verloren?Sie hockten neben ihm auf der Bettkante. Papa und Mutti.

    Mit vorwurfsvoller Stimme wurde alles abgefragt, was in

    Frage kommen konnte:Hast du sie beim Umkleiden in der Sporthalle liegenlassen?

    In der Klasse?Bei einem Freund? Sie kamen nicht drauf.Sie haben sie mir abgenommen!, brach es endlich aus

    Fabian heraus. Wer?Groe Jungen!

    Und du hast sie dir so ganz einfach abnehmen lassen? DerVater plusterte sich auf. So tat er es immer, wenn er mit einerneuen Situation nicht ganz fertig wurde, es aber auf keinen Falleingestehen wollte. Ich versteh das nicht!, sagte er dann.Du kannst dich doch wehren! Stark genug bist du doch!

    Sie waren viel mehr. Und sie hatten ein Messer! EinenKnopf haben sie mir auch abgeschnitten!

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    Du gehst morgen frh gleich zu deinem Klassenlehrer. Erwird dir schon helfen die Jacke wieder zurckzubekommen.

    Mutter wusste immer einen Ausweg. Ich habe Angst!Das war so leise, dass es kaum einer hren konnte. Vater

    hatte es doch gehrt.Quatsch! Vater rusperte sich. Dann gehst du halt zu

    deinem Klassenlehrer und erzhlst es ihm. Die Jungen mssendoch herauszufinden sein. Oh, wie Fabian dieses Geslzehasste! Papa brauchte ja nicht mitzukommen. Und Frau Korn,seine Klassenlehrerin, wrde sich bestimmt nicht mit denJungen einlassen. Sie war ja schon froh, wenn sie von ihnen inRuhe gelassen wurde.

    Also! Morgen ist die Jacke wieder da! Damit schloss derVater das Thema ab. Jetzt komm! Schlielich hab ich auchnicht ein paar Ewigkeiten Zeit! Er strmte die Treppe zuseinem Wagen hinunter und Fabian folgte ihm.

    Als sie bereits unterwegs waren, fiel Fabian ein, dass er das

    Geld fr den Frisr vergessen hatte. Der Vater griff nachhinten in seine Gestasche, fischte nach dem Geldbeutel undholte whrend der schnellen Fahrt einen Fnfzigmarkscheinheraus. Er reichte ihn Fabian und meinte: Gib Mutti den Rest,den du herausbekommst! Fabian fiel ein Stein vom Herzen.

    Vater wrde sicher die ganze Geldgeschichte schnell wiedervergessen. Und Fabian htte etwas Geld in der Tasche, was erden Jungen geben knnte. Besser noch: Er wrde einen Teil

    des Geldes zurcklegen. Mutter hatte vorige Woche erstgesagt, dass auch der Frisr immer teurer wrde. Fabian httedann immerhin noch Knete in der Tasche und die Jungenwrden seinen guten Willen erkennen.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Am Abend kam dann die Sache noch einmal auf den Tisch.Und am nchsten Morgen auch, bevor sich Fabian fr die

    Schule fertig machte.Da gibt es kein WENN und ABER!, sagte Vater noch

    einmal nachdrcklich. Wenn du nicht selbst zu den Jungengehen willst, musst du dich an deine Lehrerin wenden. Ich willjedenfalls die Jacke sehen, wenn du heute Abend nach Hausekommst! Und Mutter fgte gleich hinzu, dass er doch dabeigewesen war, als sie die Jacke gekauft hatten. Also!, riefVater aufmunternd und schlug ihm tchtig auf die Schulter.Du bist doch kein Feigling, mein Junge! Zeige ihnen, was indir steckt! Fabian war sich nur zu sicher, dass er die Jackeniemals wieder sehen wrde. Sicher hatten die Jungen dieJacke auch lngst nicht mehr. Sie war verkauft und jeder hatteein bisschen daran verdient. Sie hatten ihr Geschft mit seinerJacke gemacht. Irgendwann wrden Vater und Mutter sichdaran gewhnen mssen, dass die Jacke fr immer weg war.

    Fabian jedenfalls hatte nicht die geringste Hoffnung sie jemalswiederzubekommen.

    Hast du die Knete?, fragte Philipp, der an der Ecke zurKnieriemstrae auf ihn gewartet hatte. Fabian nickte stumm.

    Wie viel?Sieben!

    Hundert?Red keinen Quatsch! Wo soll ich hundert Mark herhaben?Sie wollen aber so viel!Und wie viel hast du?Fast achtzig! Scheie, dass man das schne Geld hergeben

    muss!Du wirst ihnen doch nicht alles geben!

    Weit du was Besseres?

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Meine Eltern wollen unbedingt, dass ich die Jacke wiedermitbringe!

    Dann frag sie doch einmal, ob du sie wiederhaben kannst.Sag ihnen, du kriegtest sonst rger mit deinen Leuten!

    Und wenn sie das bei dir zu Hause mit den zweihundertMark rauskriegen?

    Es gibt Schlimmeres! Philipp seufzte leise. Mensch, wirsind schon an der Schule!, sagte Fabian pltzlich. Und siewaren nicht da!

    Haben wir ein Glck!, rief Philipp und seine Stimme klangauf einmal wieder sicher wie sonst. Sie beeilten sich auf denSchulhof zu den Klassenkameraden zu kommen. Wenn sie allebeieinander waren, fhlten sie sich immer noch am sichersten.

    Als an diesem Tag Fabian immer noch nicht nach Hause kam,obwohl es lngst Zeit gewesen wre, rief seine Mutter zunchst

    in der Schule und dann bei seiner Klassenlehrerin an.In der Schule war niemand mehr. Und die Lehrerin, die siedann endlich zu Hause erreichte, wusste von nichts. Sie konntesich nur erinnern, dass Fabian heute sehr fahrig gewesen war.Sie hatte ihn schon fragen wollen, ob irgendetwas nicht inOrdnung sei, war aber dann wieder davon abgelenkt wordenund hatte es zum Schluss vergessen.

    Er wird sicher bald kommen!, sagte sie trstend. Was sollte

    sie sonst auch sagen?Der Vater wartete noch zehn Minuten ab, dann machte er sich

    selbst auf den Weg. Er ging die Straen ab, die Fabiankommen musste, wenn er keinen Umweg machte.

    Kurz vor dem Kiosk kam ihm dann sein Sohn entgegen.Hinkend und blutend, als kme er direkt aus einem dieserFilme, die er so gern im Fernsehen sah. Aber das war hier kein

    Spiel, sondern echte, grausame Wirklichkeit.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Was haben sie mit dir gemacht?, rief Vater und nahm dasheulende, blutende Etwas in seine Arme, drckte es an sich,

    nahm es hoch und trug es auf beiden Armen nach Hause.Das war lange her, seit Vater Fabian auf seinen Armen

    getragen hatte.Mein Junge!, flsterte er immer wieder und konnte nichts

    dagegen tun, dass er weinen musste. An diesem Nachmittagbegriffen Fabians Eltern, was sich Tag fr Tag auf demSchulweg abspielte. Der Vater nahm einen halben Tag Urlaubund fuhr, nachdem Fabian gesubert war und auch etwasgegessen hatte, als Erstes mit ihm zur Polizeistation. UndFabian packte aus. Er erzhlte alles, was er sich bisher nichtgetraut hatte seinen Eltern zu beichten. Diese Burschenzwingen die Kinder also dazu, zu Hause Geld zu stehlen undihnen zu geben. Und diese tun es, weil sie vor Angst nichtmehr aus noch ein wissen!

    Vater konnte es nicht fassen. Immer wieder schlug er sich mit

    der flachen Hand gegen die Stirn. So etwas kann es dochnicht geben!, sagte er. So etwas darf es doch nicht geben.Wir leben hier doch in einem zivilisierten Land!

    Das ist vielleicht nur der Anfang!, sagte die Polizistin, diesich viel Mhe mit Fabian und seinem Vater machte und allesgewissenhaft zu Protokoll nahm. Und was machen Siejetzt?, wollte Vater wissen. Gibt das Jugendgefngnisoder?

    Die Polizistin zuckte zgernd mit den Schultern. Erstenshaben wir die Jungen noch nicht, zweitens mssen wir unsgenau berlegen, wie wir gegen sie vorgehen knnen.Schlielich wollen wir ja nicht, dass Fabian noch mehr unterihnen zu leiden hat.

    Das bringen Arbeitslosigkeit und die Hoffnungslosigkeit mitsich!, meinte sie dann. Haben Sie einmal die Berichte aus

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    den Staaten gesehen? Wir knnen nur hoffen, dass es hier nichtnoch schlimmer wird. So wie in den USA!

    Wir sind hier Gott sei Dank nicht in Amerika!, sagte Vater.Und was wollen Sie jetzt tun? Als die Polizistin ihm keineAntwort gab, polterte er los. Geben Sie mir doch einenvernnftigen Rat, was wir tun sollen, damit der Junge morgennicht wieder zusammengeschlagen wird!

    Er holte tief Atem. Als die Polizistin immer noch schwieg,sagte er schlielich: Wir knnen doch nicht einfachfortziehen!

    Das wre vielleicht eine Lsung!, meinte die Frau. Aberwer kann das schon. In ganz kleinen Orten und auf manchenDrfern ist die Gewalt in der Schule noch nicht so ausgeprgtwie hier.

    Tun Sie was!, sagte der Vater beschwrend, als sie endlichgingen. Tun Sie doch etwas fr unsere Kinder! Es klang wieein Hilferuf.

    Der Rektor der Schule, den Vater dann noch aufsuchenwollte, war nicht zu Hause oder lie sich verleugnen. Daskommt immer wieder vor!, sagte seine Frau an der Haustr.Es hat meinen Mann ganz krank gemacht, weil er so hilflosist und nichts dagegen tun kann!

    Aber etwas muss er doch fr diese Kinder tun! Vater hobverzweifelt die Arme.

    Was denken Sie, was er nicht alles schon probiert hat! Die

    Stimme der Frau klang resigniert. Er kann sich ja noch nichteinmal auf seine Kollegen verlassen. Da hat einer mehr Angstals der andere!

    Vor wem?, fragte Vater. Vor den Kindern?Sind das noch Kinder?, fragte die Frau zurck. Sie

    erzhlen doch selbst, dass sie Ihren Sohn so zugerichtet haben.Das sind Monster, brutale Gangster!

    Und was wird Ihr Mann tun?

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Was soll er tun? Das alles hat ihn so krank gemacht, dass ereinen Antrag auf vorzeitige Pensionierung gestellt hat. Er wird

    sich, wenn alles klappt, zum Ende des Schuljahres in denRuhestand versetzen lassen!

    Und die Schule? Die Kinder? Nach und nach begann Vaterzu begreifen, dass er hier auch nicht weiterkam.

    Irgendwann muss mein Mann auch einmal an sich denken,sagte die Frau leise und blickte Vater nicht an. Sie strichFabian leicht ber das Haar. Sie sind nicht der Einzige, derdeshalb zu meinem Mann kommt!, sagte sie und hobbedauernd die Arme. Ja, das war es dann!, sagte Vaterschlielich, als er hinter sich und Fabian das Gartentor schloss.Aber wir sind doch nicht in Amerika!

    Als sie heimkamen, hatte Vater wirklich begriffen, was FabianTag fr Tag auszustehen und welche Angst er hatte.

    Angst, die ihn oft nachts nicht schlafen lie. Jetzt verstandVater auf einmal, warum Fabian nachts oft noch im Hausherumgeisterte.

    Ich knnte ihn jeden Tag bringen und abholen!, meinteMutter, doch da waren Vater und Fabian strikt dagegen.Meinst du, sie lassen sich von dir einschchtern? Am Endegehen sie noch auf dich los! Und denen bist du nichtgewachsen!

    Ein Schulwechsel? Das schlug Fabian selbst vor, obwohl erwusste, dass es ihm sehr schwer fallen wrde, seine Klasse zuverlassen. Auerdem war er hier einer der besten Schler. Werkonnte ihm versprechen, dass das in einer anderen Schule auchso sein wrde. Er msste mit dem Bus oder der S-Bahnfahren!, sagte Vater nachdenklich. Zu Fu schafft er esbestimmt nicht. Fabian wusste, was das bedeutete: frher

    aufstehen, frher losgehen und spter nach Hause kommen.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Und wer konnte ihm denn versprechen, dass es in der anderenSchule wirklich keine von diesen Typen gab, die ihn auch dort

    anmachten.Die Monatskarte kostet auch ihr Geld!, meinte Vater. Und

    Mutter kramte in dem Stapel alter Illustrierten herum, bis siedie gefunden hatte, die sie suchte. Sie bltterte kurz und knalltedann den aufgeschlagenen Artikel auf den Tisch. Gewalt inder Schule!, las sie laut. Den Artikel hatte damals auch Vatergelesen. Niemals htte er daran gedacht, dass sein eigenerSohn selbst einmal in solche Schwierigkeiten geraten wrdeund ihn vor solche Probleme stellte.

    Ich werde schon damit fertig!, sagte Fabian schlielich. Esgab ja keine andere Mglichkeit. Wenn du es nicht schaffst,mssen wir an die andere Schule denken! Vater sagte es undlegte den Arm um Fabians Schulter.

    Das tat so gut, dass Fabian vor Glck htte weinen mgen.Wie schn knnte das Leben sein, wenn diese blden Typen

    nicht wren, von denen Fabian nicht einmal die Namen wusste.

    Los jetzt! Gib die Jacke her!Die beiden Jungen hatten den Kleineren so fest im

    Wrgegriff, dass er sich nicht mehr befreien konnte. Ich habnur die eine!, schluchzte der Kleine. Dein Problem!, sagtePhilipp und riss sie ihm von den Schultern. Ich sage es

    morgen in der Schule!Wrde ich nicht tun!, sagte Fabian und schlug dem Jungen

    mit der flachen Hand hart ins Gesicht, dass sogleich die Nasezu bluten begann. Ein strahlender Sommervormittag. BlauerHimmel mit ganz wenigen Schfchenwolken davor. Und einbitterlich weinender Junge, der immer wieder seine Hand nachder Jacke ausstreckte und schlielich mit hngendem Kopf und

    schlurfenden Schritten davonschlich.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Nchste Woche bringst du uns noch Knete mit! Philipphatte die Jacke um sich geschlungen und tanzte mit ihr herum.

    Ja, das war eine gute Idee gewesen, am Mittwoch, wenn siefrher aushatten, mit dem Bus zur Frbelschule im nchstenStadtteil zu fahren. Hier kannte sie keiner. So gelang es ihnen,an diesem Vormittag vier Jacken zu erbeuten.

    Fabian fand sogar eine Jacke, die ganz hnlich der Jacke war,die sie ihm abgenommen hatten. Super!, sagte Philipp leise,als sie dann nebeneinander im Bus saen.

    Und nchsten Mittwoch, wie besprochen, zur Rathausstrae.Da ist auch noch eine Grundschule! Fabian nickte. Dortkennt uns kein Mensch. Das war nun endlich die Lsung.Selbst wenn sie ihren Peinigern abgeben mussten, blieb ihnenselbst doch auch etwas brig. Nachschub gab es immer wieder.Und einmal wrden sie auch grer sein. So gro wie jene, vordenen sie sich heute noch frchteten.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    ANKE HANSCH/THOMAS KULISCH/

    ALEXANDER NOWACK/JRN VOGEL/OTTO HERZ

    Und wurde die Liebe gelehrt?

    Gewalt unter Jugendlichen mittlerweile ein Muss fr jede Schule?

    Ich glaube eigentlich von mir behaupten zu knnen schon bereiniges in unserer Schlerzeitung KRAKE der 1.Gesamtschule Cottbus geschrieben zu haben. Bei dem ThemaGewalt in der Schule verschlug es mir aber beim Sammelnvon Hintergrundinfos teilweise die Sprache. Da werdenMdchen von Mitschlern zu sexuellen Handlungengezwungen; es werden jngere Schler schikaniert, bis zumLetzten provoziert und anschlieend krankenhausreifgeschlagen. Es wird erpresst, geprgelt und gedemtigt, wo esnur irgend geht. Wo sind die Zeiten hin, wo man sichgegenseitig bei den Hausaufgaben half, zusammen denNachmittag mit Freunden auf dem Fuballplatz verbrachteoder wo man ganz einfach Verstndnis und Freundschaft den

    Vorrang lie? Aber es hilft uns nicht, der Vergangenheitnachzutrauern. Wir mssen uns mit der Realitt abfinden. Unddas heit, dass wir uns damit abfinden mssen, dassSechstklssler, bewaffnet bis an die Zhne, Wegzoll von unsverlangen, dass man abends nicht mehr allein zu einerSchulveranstaltung gehen kann, weil man Angst haben musseventuell im Krankenhaus aufzuwachen, dass Lehrer mit HeilHitler begrt werden, dass die gesamte Lehrerautoritt

    verloren geht, dass man sich nicht mehr mit auslndischen

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Freunden unterhalten darf, dass das Leben in der Schule zumtglichen Horrortrip wird!

    Aber mssen wir uns wirklich damit abfinden? Ich glaubenicht! Im Gegenteil, wir mssen endlich begreifen, dass daskeine Einzelflle bleiben werden, dass das Gewalt ist, die vonKindern ausgeht(!), dass wir nicht lnger daneben stehendrfen!

    Bei all dieser Gewalt stellen sich mir immer wieder diegleichen Fragen. Wo kommt diese Gewalt her? Wer ist derVerursacher? Wer ist verantwortlich fr diesesGewaltpotenzial an Schulen? Einen Teil meiner Antwort fandich in einem Gedicht, das Schler meiner Schule geschriebenhaben.

    Schmellwitz

    In Cottbus gibt es ein Wohngebiet,Das ist so trist und grau.Hier wohnen 20 000 Mann,Auch Kind und Greis und Frau.

    Vor Jahren war ein heier Herbst,Die Wende nennt man ihn.Fr dieses graue Stck Stadt

    War keine Wende drin.

    Die Hfe sind noch trist und grau,Die Kinder spieln im Dreck.Nur ganz vereinzelt gibt esHier auch mal nen grnen Fleck.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Geschfte gibt es jetzt paar mehr,Auch Buden zum Verkauf.

    Die Htte namens JugendklubNimmt hundert Leute auf.

    So stehn sie in den Ecken rum.Beschimpft und nicht geliebt.Die Teens, die Kids, die Kinderschar,Von denen es so viele gibt.

    Man mag sie nicht, sie sind so laut,Man schimpft und jagt sie fort.Wo aber sollen sie denn hin,In diesem tristen Ort.

    Ihr Groen hier in dieser Stadt,Seht doch mal richtig hin,

    Das ist ein groer Teufelskreis,Und wir sind mittendrin.

    In Cottbus gibts ein Wohngebiet,Das ist so trist und grau.Hier wohnen 20 000 Mann,Auch Kind und Greis und Frau.

    Thomas KulischAlexander NowackJrn Vogel

    Passend zu diesem Gedicht, fiel mir ein Zitat ein, das ichirgendwo einmal gehrt hatte und das da hie: Die Kinder

    von heute brauchen Platz zum Spielen! Wie wahr! Aber

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    diesen Platz gibt es nicht fr Jugendliche aus Kasernengettoswie in Berlin-Mahrzahn oder eben in Cottbus-Schmellwitz.

    Denn diesen Platz findet man nicht auf heruntergekommenenSpielpltzen, auf dunklen Hinterhfen und schon gar nicht inberfllten Jugendklubs.

    Wir verbringen den grten Teil unserer Zeit in der Schule,und das sind meist ungepflegte, hssliche Kastenbauten, durchdie unsere Laune nicht gerade ihr Maximum erreicht. DiesesAbstoende macht Schler aggressiv. Sie lernen nicht viel,aber eins lernen sie schnell, nmlich, wie sie sich behaupten,wie sie berleben in diesem Wettbewerbsleben, in dieserunberschaubaren Anonymitt an groen viel zu groenSchulen. Bei solchen Verhltnissen lassen Aggressivitt,Unverstndnis und Intoleranz nicht lange auf sich warten.Schuldirektoren, Sozialarbeiter und Pdagogen fangen an zuresignieren, obwohl sie oft selbst Auslser unkontrollierterHandlungen bei Schlern sind. Unfaire Leistungsbeurteilung,

    Leistungswettbewerb, mangelhafte Anerkennung vonLeistungsschwcheren, Chancenungleichheit und das ThemaLieblingsschler sind nur einige Punkte, die dabei eine Rollespielen. Natrlich sind die Lehrer nicht das Hauptproblem.Whrend und nach der Wende verloren viele Eltern ihrenArbeitsplatz. Wut und Verzweiflung machten sich in manchenFamilien breit. Das ach so hoch gelobte Zusammenwachsenbeider Teile Deutschlands lief pltzlich nicht mehr so, wie es

    sich die Mehrheit vorgestellt hatte. Es begannen sichunbersehbare Schnheitsfehler in dem Geflecht vonEuphorie, aufstrebenden Politikern und unrealisierbarenZukunftsplnen zu zeigen. Der Plan der deutschen Einheit gingnicht ganz so auf, wie er eigentlich geplant war. Die schonvorhin erwhnte Wut lieen Eltern oft zu Hause raus benutzten ihre Kids als Wutventile. Viele Kinder suchten dann

    woanders Halt und angebliche Liebe. Und die fanden sie in

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    solchen Gruppen, die Alte, Schwchere und Andersdenkendeangreifen, die ihre neue Art der Macht andere nur allzu

    deutlich spren lassen. Aber es wird uns nichts ntzen, wennwir nur nach den Ursachen suchen. Wir mssen gegen dieseGewalt angehen, berlegen, was wir als Schule dagegenunternehmen knnen.

    An meiner Schule ist das Problem der Gewalt nicht allzugro, dachte ich, bis vor ein paar Tagen ein Mdchen brutalvon Mitschlerinnen der eigenen Klasse zusammengeschlagenwurde, und das nur aus einem der primitivsten Grnde, die ichgehrt habe. Susanne, so heit das Mdchen, war gerade nichtin. Sie trug zur falschen Zeit die falschen Klamotten, dachteund sagte zur falschen Zeit das Falsche! Whrend dieses Aktsunentschuldbarer Anwendung von krperlicher Gewalt standennoch mehrere Schlerinnen daneben und johlten, was das Zeughielt. Auch Jungen aus dieser Klasse standen dabei, aber keinerbesa die Courage dazwischenzugehen. Keiner sprach auch

    nur eines der Wrter Halt! oder Stopp! aus. Susanne hatauch noch Tage danach neben einem verschwollenen undblutig getretenen Krper einen Schock, der so tief in ihremInnersten sitzt, dass es mehr als nur ein paar freier Schultagebedarf, ihn zu heilen. Ihre uerlichen Narben werden schnellheilen, aber das, was sich in ihrem Kopf und in ihrem Herzenabspielt, wird Narben hinterlassen, die nie heilen werden. DasSchlimmste fr mich zeigte sich allerdings erst in der darauf

    folgenden Aussprache mit der Klassenlehrerin und unseremSozialarbeiter. Die Mdchen und Jungs, die da vor mir saen,empfanden das Ganze nicht als schlimm, fr sie war es normal.Sie sahen nicht die Brutalitt und Gewalt in ihrem Tun. Siesahen das, was sie getan hatten, nicht als Gewalt an. ImGegenteil, sie fanden es als gerechte Strafe dafr, dass Susannedas Opfer war und sie die Tter. Sie wollten es nicht verstehen,

    nicht akzeptieren. Fr sie war eindeutig Susanne die Schuldige.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Nur ein einziges Mdchen formulierte die Worte Es tut mirLeid! Abgesehen von einer laufenden Strafanzeige und einer

    angekndigten Schulstrafe, erwartet sie alle auch noch dieAussprache mit ihren Eltern. Aber wird das helfen? Ich glaubekaum, wenn eine Mutter schon im Vorfeld verlauten lie: Eswar richtig, was meine Tochter tat. Es war die einzigeMglichkeit! Wenn Eltern schon nicht die Falschheit vonGewalt erkennen, wie wollen wir es erst dann den Kindern klarverstndlich machen? Ohne die volle Untersttzung seitens derEltern wird sich meines Erachtens absolut nichts in dieserRichtung bewegen. Da Gewalt auch mit Worten zu fhren ist,bleibt Susannes Schicksal nicht das einzige Beispiel unserertraurigen Statistik. Und um nicht tiefer in diesen Sumpf zuversinken, musste auch unsere Schule sich etwas einfallenlassen.

    An unserer Schule gibt es einen so genannten Schulklub,den Schler leiten und fhren, die am Nachmittag nicht

    wissen, wohin mit ihrer Zeit. Kinder, die am Nachmittagniemanden haben, auer sich selbst. Sie laufen in endlosenStatistiken unter dem kalten Wort Schlsselkinder. Indiesem Klub, eingerichtet mit Sesseln, Couch, Tischen,Schrankwand und Fernseher, knnen sie mit Freunden berihre Probleme quatschen, sich beschftigen oder ganz einfachrelaxen. Unter anderem luft momentan der Antrag jedenMonat eine Disko veranstalten zu drfen. Letzten Monat

    bekam der Schulklub sogar eine Spende von einer Firma inHhe von DM 500,-. Dies alles lsst sich natrlich auch ananderen Schulen realisieren, vorausgesetzt, man findet Leute,die sich wirklich mit vollem Herzen dafr einsetzen, so wie beiuns. Der Schulklub ist wei Gott nur ein Tropfen auf denheien Stein, aber man bekommt die Kids fr ein paar Stundenvon der Strae, und wenn nicht direkt bei den Kindern, wo

    dann sollte man anfangen?

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Ein zweites durchaus akzeptables Lsungsangebot bekamenwir von der Stadt, nmlich einen Sozialarbeiter. Die Sache an

    sich ist ja ganz gut und schn, aber meiner Meinung nachbraucht jede Schule so einen Sozialarbeiter. Einer an jedersechsten Schule reicht bei weitem nicht aus. Aber wie immerist die einzige Hrde das Geld, denn in dieser unsererGesellschaft steckt man es lieber in neue Brogebude. Es istnicht so, dass ich Brogebude unwichtig finde, aber sind dieMenschen der Zukunft nicht um etliches wichtiger? An unsererSchule haben sich auch viele Interessengemeinschaftenformiert. Arbeitsgemeinschaften, ein Gesprchsforum, unsereSchlerzeitung KRAKE, ein Videoklub, ein Fotografieklub,eine demnchst stattfindende Projektwoche alles gute Mittelzur Durchsetzung des Mottos unseres Sozialarbeiters An der1. Gesamtschule Cottbus wird es in Zukunft keine Gewaltmehr geben!

    Aber nicht an allen Schulen gibt es so viele Mglichkeiten

    wie bei uns. Und nicht immer nehmen die Schler dieseFormen der Gewaltbeseitigung an. Auch bei uns nicht.Wie man sieht, haben wir also noch einiges zu tun und wir

    werden es nur schaffen, wenn Schler, Lehrer und Elternzusammenarbeiten, denn ansonsten wird nichts mit der Schuleals gewaltfreie Zone. Natrlich brauchen wir auch Politiker,die z. B. Gelder fr Jugendklubs etc. freimachen, denn dierentieren sich bestimmt besser als irgendwelche

    Dreisternehotels. Ich hoffe, wirklich, dass sich endlich etwas indiesem Land bewegt, denn wir haben schon zu lange nurdaneben gestanden. Denken wir an Kinder wie Susanne! Siesollen endlich wieder ohne Angst in die Schule gehen und sichin Ruhe auf ihr spteres Leben vorbereiten knnen. Seien wiralso nicht lnger Zuschauer, seien wir einer von denen, dieHalt sagen, egal, ob es gegen Gewalt gegen Deutsche oder

    Auslnder geht! Denn Gewalt bleibt Gewalt, ob nun im Kopf

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    oder in der Hand, bei Kindern oder Skins, ob zu Hause oder inder Schule, ob mit Worten oder Fen, ob gegen einen

    Deutschen oder Trken, ob bei uns oder in Amerika Gewaltbleibt Gewalt und wird es immer bleiben, wenn wir nichtendlich etwas unternehmen! Es ist unsere Zukunft denktimmer daran, bei allem, was ihr tut!

    Mit diesem Text habe ich vor ein paar Tagen einenSonderpreis der I. R. beim Literaturwettbewerb derKulturwerkstatt P 12 gewonnen. So einen Text zu schreibenberuhigt unheimlich das Gewissen, weil man das Gefhl hatetwas gegen die Gewalt getan oder sich wenigstens damitbeschftigt zu haben. Aber nach ein paar Wochen ist diesesGefhl vorbei und man steht erneut vor dem gleichen Problem.Mich erwischte es diesmal aber noch viel zeitiger.

    Gestern (26.11.1993) trat eine Klassenlehrerin unserer Schulean die KRAKE-Redaktion heran, mit der Bitte etwas zu demThema Gewalt an der Schule zu verffentlichen, denn in

    ihrer Klasse ist dieses Thema zur rohen Realitt geworden. Ichfrage euch jetzt, wie kann man mit ruhigem Gewissenjemanden so schlagen, dass dieser ins Krankenhaus eingeliefertwerden muss? Wie, um alles in der Welt, kann man so weitgehen? Ich glaube, dass wir alle schon recht zeitig, ob nun vonunseren Eltern oder Lehrern, gelernt haben, dass Gewalt keineLsung ist. Ich wei, dass ich mit meiner Schreiberei wenigausrichten kann, aber vielleicht versetzt sich der eine oder

    andere einmal in die Rolle derer, die da geschlagen oderseelisch geqult werden, und vielleicht stellt der eine oderandere an euch fest, wie verdammt hart es sich in dieser Rolleleben lsst!

    Anke Hansch Klasse 12,1.Gesamtschule Cottbus-Sandow

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Ein Brief an Anke H. Thomas K. Alexander N. Jrn V. in

    Cottbus und nach anderswo

    Liebe Anke, lieber Alexander, lieber Jrn, lieber Thomas!Kennt ihr das Gedicht von Erich Fried

    Fragen nach den MenschenFr E. B.

    Und wurde die Liebe gelehrt?Ja, aber schlecht und heimlich.Und wurde der Tod gelehrt?Ja, aber nur zum Teil.

    Wieso zum Teil?

    Es wurde nur Tten gelehrt,gelehrt und gebt,und das Sterben totgeschwiegen.

    Und wurde der Hass gelehrt?Ja. Gelehrt und geschrt,aber nur auf den, der Feind genannt wurde,und nicht auf das eigene Unglck.

    Und was taten sie mit ihrem Leben?Fast alle nur das,was zu erwarten war,nach einer solchen Lehrzeit.

    Erich Fried, Fragen nach den Menschen aus: Am Rand unserer Lebenszeit Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1987 s. a. Gesammelte Werke 1993

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Ich musste spontan an dieses Gedicht denken, als ich euerGedicht, als ich deinen Bericht, Anke, in E&W plus 2/94 (das

    steht fr Erziehung und Wissenschaft, die Zeitung derGewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW) las.

    Ihr habt mich mit eurem Text sehr beeindruckt. Ich bin beimLesen tief erschrocken. Und dann war ich auch wiederermutigt dadurch, dass ihr so genau beobachtet, so przisebenennt, ohne berheblichkeit Ursachen aufsprt, blesschreibend aus dem Stillschweigen herausholt und dann soeinfach und eindeutig sagt: So geht es nicht; dulden wir diesealltgliche Gewalt, die gerade nicht Alltag werden darf, danngehen wir ber kurz oder lang alle kaputt, werden vielleichtselbst zu Ttern, weil wir zu Opfern geworden sind.

    Mssen wir uns wirklich damit abfinden?, fragt ihr euch.Und in eurer Frage steckt ja schon die Antwort: Nein!

    Analysen ber die Ursachen der Gewalt gibt es viele. Ihrnennt die Ursachen ja auch. Sie reichen von A bis Z. Von

    Armut und Anonymitt, von Ausgrenzung und selbsterfahrener Aggressivitt, von Ausweglosigkeit und Alkohol,von Angeberei bis zur Anomie: Das ist der Zustand in Gruppenund Gesellschaften, in denen die Regellosigkeit zur zuletztverbliebenen Regel geworden ist. Vom Mangel an Zeit bis zumMangel an Zrtlichkeit, vom Mangel an Zuwendung bis zumMangel an Zuversicht. Ein Mehr an Analysen ist wenigerwichtig als eine unerschrockene Entschiedenheit, fr das

    andere einzutreten. Ich nenne es: Wohl-be-finden. Und hierhabt ihr, hat die Schule so viele Mglichkeiten. Nicht dieabstrakte Schule, sondern die konkrete Schulgemeinde imZusammenwirken von Schlerinnen und Schlern,Lehrerinnen und Lehrern, Eltern, den Nachbarn und an SchuleInteressierten. Die Schule kann nicht die Gesellschaft ndern.Aber in der Schule kann ein anderes Zusammenleben

    ermglicht, erprobt, erarbeitet, entwickelt und also erlebt

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    werden. Ein Zipfel der besseren Welt. Die wichtigsteAufgabe der Schule besteht nicht darin, Stoffmengen sich

    reinzuziehen. Das fhrt bei vielen zur geistigen Verstopfung,die ihrerseits dann leicht wieder zur Ursache der Apathie oderder Aggressivitt wird.

    Die wichtigste Aufgabe von uns allen ist die Schule als einenErfahrungs- und Lebensraum zu gestalten, von dem ich, vondem du, von dem immer mehr sagen knnen: Hier wird aufmeine Fragen eingegangen; hier erfahre ich Anregung undUntersttzung fr mich selbst einmal begreifen zu knnen, wasoft in mir unklar, unerkannt, unbewusst brtet und brodelt; hierkann ich mich mit anderen zusammensetzen, damit wir unsgemeinsam mit unserer Situation auseinander setzen; hierwerde ich erst einmal so akzeptiert, wie ich bin, mit allenmeinen Ecken und Kanten, die mich ja gerade ausmachen, jaauszeichnen, einzigartig machen, die mir deswegen nichtabgeschliffen werden, wie es eine alte, wenig menschliche

    Erziehungsvorstellung zum Ziel hatte; hier kann ich mich mitanderen zusammenschlieen, weil gemeinsam ist besser alseinsam; hier ist gerade nicht alles festgelegt, vorgeschrieben,vorentschieden, verbindlich und verpflichtend, sondern offenfr Anregungen, offen fr Alternativen, offen fr die selbstausgedachten und dann angepackten Gestaltungswnsche. Undweil es immer Unterschiedliches gibt, wo diese Offenheitbesteht, gilt es, die Auffassungen und Vorstellungen

    gegeneinander zu prfen: Was bringen sie mir, was bringen siedir, was bringen sie uns allen; denn in der Regel tut nur daswirklich gut, das keine Verlierer, Unterlegene, Abgeschobeneproduziert.

    Das gilt fr die (schulischen) Inhalte, die unserem Leben auch dem gegenwrtigen dienlich sein mssen. Ich erzhlegerne die Geschichte aus der Bronx, keinem einfachen

    Stadtteil in New York. Ein Lehrer fragt einen Schler: Ja, nun

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    sage mir doch, wie viele Beine hat eine Heuschrecke? DerJunge berlegt und berlegt. Dann schaut er zum Lehrer hin

    und hoch und antwortet: Wissen Sie, Ihre Probleme mchteich mal haben!

    Das gilt fr die Formen des Lernens und Handelns. Es ist jakein Zufall, dass ihr in eurem Bericht positiv vom Videoklubsprecht, vom Fotografieklub, von der Schlerzeitung, derProjektwoche.

    Das gilt auch fr die Orte des Lernens. Gestaltete Rume sindSchutz vor innerer und uerer Verwahrlosung.

    Ein Wohngebiet das ist so trist und grau. Hier wohnen20000 Mann, auch Kind und Greis und Frau lsst sich nichtim Handstreich ansprechend ausmalen. Aber einKlassenzimmer, das schon durch seine Atmosphre ausstrahltund einldt, das ist doch auch mit einfachen Mitteln zu ent-grau-en. Ihr nennt den Beweis, indem ihr auf eurenSchulklub hinweist. Ein Trpfchen auf den heien Stein.

    Wahr. Steter Tropfen hhlt den Stein heit diedazugehrende Einsicht. Ich schreibe euch diesen Brief, weilich auch dies untersttzend besttigen will: Damit dieInitiativen, die nicht nur anfangs, sondern oft auch lange Zeiteher eine Minderheit sind, initiativ bleiben, sich von den ganzunvermeidbaren Widerstnden und manchmal auchWiderlichkeiten nicht abschrecken, unterkriegen, entmutigenlassen, brauchen wir natrlich eine Politik, die auf Seiten der

    Kinder, der Jugendlichen, auf Seiten der Entfaltung derMenschen steht und nicht ihrer Abrichtung und Ausbeutung.

    So verstehe ich meine Aufgabe als Pdagoge in einerGewerkschaft. ber die Generationen hinweg mssen wirBndnisse schlieen, um nchtern und kritisch die Welt zuerfahren, wie sie ist: ohne uns ihr zu unterwerfen, wie sie ist.

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    Mit einem Gedicht von Erich Fried habe ich begonnen. Miteinem Gedicht von Erich Fried will ich auch schlieen. Auch

    dieses Gedicht stellt Fragen.

    Wo lernen wir?

    Wo lernen wir lebenund wo lernen wir lernenund wo vergessenum nicht nur Erlerntes zu leben?Wo lernen wir klug genug seindie Fragen zu meidendie unsere Liebe nicht eintrchtig machenund wolernen wir ehrlich genug seintrotz unserer Liebe

    und unserer Liebe zuliebedie Fragen nicht zu meiden?

    Wo lernen wiruns gegen die Wirklichkeit wehrendie uns um unsere Freiheitbetrgen willund wo lernen wir trumen

    und wach sein fr unsere Trumedamit etwas von ihnenunsere Wirklichkeit wird?

    Erich Fried, Wo lernen wir?aus: Einbruch der Wirklichkeit Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1991s. a. Gesammelte Werke 1993

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    Ich hoffe, dass wir in Gemeinsamkeit etwas dafr tun, dasseine Antwort heien kann: in meiner Schule, in deiner Schule,

    in immer mehr Schulen, in Schulen ohne Gewalt, in Schulender Menschlichkeit fr heutige Menschenkinder. HerzlichenDank euch! Euer

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    SIGRID ZEEVAERT

    Frhlingstage

    24. April

    Heute ist Sonntag. Gott sei Dank, da ist wenigstens mal Ruheund ich bin mit Mama allein. Am allerliebsten wre ich immermit ihr allein, ohne Tim, der nervt meistens ja nur. Und immerbekommt er Recht, weil er angeblich noch so klein ist. Der undklein. Aber das kapieren die Erwachsenen ja nicht. SelbstMama nicht. Wenn Tim heult, wird sie weich. Naja. Gleichgehe ich mit ihr in die Eishalle. Wenigstens etwas.

    25. AprilDen Mathetest kann ich, glaube ich, vergessen. Vier von neunAufgaben habe ich nicht. Suse auch nicht. Aber typisch, Svenhat sie alle und lsst keinen abschreiben.

    Damit er der Beste ist. Den msste man mal hngen lassen,diesen Bldmann. Schmeichelt sich berall ein und tut wie dieUnschuld persnlich. Klar, die Lehrer fallen auf so was ja rein.Die merken ja auch nichts. Die meisten jedenfalls. Und derKistermann ist doch nur froh, wenn er einen reinlegen kann.Was anderes interessiert den sowieso nicht. Bitte, dann kriegeich eben eine Fnf. Wird doch garantiert eine. Mama sage ichbesser erst gar nichts.

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    27. AprilPapa hat angerufen. Kann man sich auch rot im Kalender

    anstreichen. Gestern dachte ich, ich htte ihn auf der Straegesehen. War mir aber nicht sicher. Nchstes Wochenende holter mich ab. Mama war nicht gerade begeistert. Weil der sichimmer nur um mich kmmert, wenn es ihm passt. Wenn ichehrlich bin, wre mir Tims Vater auch lieber. Aber na ja. Ohnegeht auch.

    28. AprilHeute war vielleicht was los. Auf den Jungenklos gabs eineRiesensauerei. Alles stand unter Wasser. Da haben welcheKlopapierrollen in die Klos geworfen. Alles war verstopft undist bergelaufen. Aber keiner wei, wer es war. Auf demRckweg war brigens wieder der nette Junge im Bus.

    2. Mai

    Es ist oberschrecklich zu Hause. Mama hat die beste Launealler Zeiten. Wenn man sie nur schon schief anguckt, geht siehoch. Aber was kann ich dafr, wenn sie lieber eine andereArbeit htte als die, die sie hat. Klar. Wir sind wieder malschuld. Weil Mama wegen uns die Ausbildung nichtweitermachen konnte. Von mir aus htte sie uns auch nichtkriegen mssen. Ich knnte gut verzichten. Wenn ich nichtgeboren wre, dann wrde ich wenigstens auch nichts mehr

    merken.

    3. MaiHeute ist es warm. Wie im Sommer. Ich gehe nachher mit Suseins Freibad. Mal sehen. Der nette Junge war heute wieder imBus. Einmal hat er zu mir rbergeguckt und gegrinst. Ich habeweggeguckt.

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    5. MaiSven, unser Streber, hat sich in Sport den Arm gebrochen.

    Ganz verdreht sah der aus. Frau Damm war kreidewei. Klar,jetzt ist sie dran. Auerdem hat sie Sven fast gezwungen berden Kasten zu springen. Und Mike ist in Englisch rausgeflogenund spter spurlos verschwunden. Ist einfach nicht mehraufgetaucht. Wahrscheinlich ist er mal ein bisschen in die Stadtgegangen. Oder ins Kino. Der Krumbach hat vielleichtrumgebrllt. Zum Schluss htte er beinahe geheult.

    6 .MaiIch fasse es nicht. Suse geht mit Andy. Jetzt hat sie nur nochAugen fr ihn. Dabei finde ich ihn nicht besonders. Der tutimmer so gro. Obwohl er auch nur zwei Klassen weiter ist alswir. Suse hat gesagt, dass er abends so lange weggeht, wie erwill, und dass seine Eltern ihm sowieso nichts mehr sagen. Aufder Tr vom Mdchenklo steht in Grobuchstaben: A & S.

    Drum herum ist ein Riesenherz gemalt. Alles mit Filzstift.Klar, von wem.

    9. MaiBei Papa war es ganz gut. Obwohl seine neue Freundin auchda war. Wollte mich unbedingt kennen lernen. Ich finde siebld. So aufgemotzt. Papa hat mir fnfzig Mark geschenkt.Dafr soll ich mir was kaufen. Mach ich auch. Mama hat kein

    Wort gesagt, als ich zurckkam. Und sie wollte nichts wissen.Morgen darf ich bei Suse schlafen. Und ihre Eltern sind denganzen Abend nicht da. Ich wei schon, was wir dann machen.Tim nervt die ganze Zeit schon. Der hat wahrscheinlich wiederLangeweile. Kommt andauernd an, reit die Tr auf und renntwieder weg. Oder er spritzt vorher schnell noch mal mit seinerWasserpistole in mein Zimmer. Oder mit seinem Schei-

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    Maschinengewehr. Ich drehe gleich durch. Und wenn das soweitergeht, bringe ich ihn eines Tages noch um.

    10. MaiWir haben fast berhaupt nicht geschlafen. In der Schule istSuse dann auch mal eingenickt. Ich nicht. Obwohl ich ganzschn mde war. Demnchst gehe ich wieder zu Suse. DasVideo, das wir geguckt haben, war komisch. Klar, eigentlichganz gut. Nur, was die gemacht haben, die ganze Knutschereiund so, htte ich mir gar nicht so vorgestellt. Suse schon.Jedenfalls behauptet sie das. Danach habe ich ganzdurcheinander getrumt. Ehrlich gesagt, ist es mir gar nicht sowichtig, ob ich einen Freund habe oder nicht. Im Video hatteder Mann zwei Freundinnen auf einmal. Und mit beiden hat ergeknutscht, aber so komisch. Und am nchsten Tag kam nocheine dritte dazu. Vielleicht gehe ich auch nach Australien,sobald ich Geld habe. Zum anderen Ende der Welt, ganz weit,

    einfach weg.

    11. MaiSuse steht neuerdings immer hinter den Fahrradstndern undraucht. Ich habe es auch mal probiert. Mir war ganz schlecht.Andy hat ganz viel Geld, hat Suse gesagt. Ich mchte nur malwissen, woher. Auf dem Schulhof hat es heute gebrannt. Einerhat einen alten Autoreifen hingelegt. Das hat vielleicht

    gequalmt. Und gestunken hat es auch. Diesmal haben sie aberrausgekriegt, wer es war. Der fliegt natrlich. Und er konntenicht mal erklren, warum. Hat es einfach gemacht. DenReifen angesteckt.

    13. MaiMama hat gerade mit mir geredet. Wegen Tim. Und weil der

    neuerdings so komisch ist und immer losheult, wenn er zur

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    Schule muss. Aber was soll ich dazu sagen? Ich wei dochauch nichts. Gerade luft mein Lieblingslied im Radio. Und

    heute war der nette Junge wieder im Bus. Ich dachte schon, derkommt nicht mehr.

    14. MaiTim hat Mama beklaut. Mama hat ihn berrascht, als er sichGeld aus ihrem Portmonee nehmen wollte. Sie ist stocksauer.Und Tim sitzt da und heult wieder nur. Ich fasse das allesnicht. Mit allem htte ich gerechnet, nur nicht damit. Mamabeklauen! Die hat es doch sowieso schon schwer genug. Aberdas sieht Tim wieder mal hnlich. Der denkt an so was ja nicht.Der denkt wohl nur an seine Sigkeiten und Ritter. AnMamas Stelle wrde ich dem aber mal eine ordentliche Strafeaufbrummen. Zehn Tage nicht mehr vor die Tr gehen und mitniemandem reden. Fernsehverbot fr zwei Wochen. Ein paarTage nichts mehr zu essen und eine gehrige Tracht Prgel.

    Aber Eltern drfen Kinder ja nicht schlagen!

    15. MaiTim weigert sich in die Schule zu gehen. Bitte. Ich zerre ihnjedenfalls nicht hin. Und wenn ich Mama wre, wrde ich ihmauch keine Entschuldigung schreiben. Soll er doch selbstsehen, wie er da rauskommt. Jedenfalls war das einoberschrecklicher Sonntag heute und ich bin froh, dass morgen

    wieder Schule ist.

    16. MaiSuse hat Schluss mit Andy. Weil sie ihm zu jung ist, hat ergesagt. Und weil sie nicht alles machen wollte, was er will. Naja. Suse sah ganz schn verheult aus. Und der bldeKistermann hatte natrlich nichts Besseres zu tun als sie an die

    Tafel zu holen. Und als sie es nicht konnte, musste er dann

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    auch noch seinen Senf dazu abgeben. Der macht so wasgarantiert mit Absicht. Hat seinen Spa dabei, wenn andere

    dastehen und nicht weiterwissen. Aber eines Tages bekommtder noch seine Quittung. Eines Tages ist er nmlich mal dran.Und dann guckt der aber. Und jammert und winselt. Tim istbrigens richtig krank. Hat Fieber gekriegt. Mchte nurwissen, was das alles soll. Aber wenigstens ruhig ist es jetztmal.

    17. MaiMama ist heute nicht arbeiten gegangen. Wegen Tim. Als ichkrank war, hat sie das nicht gemacht. Dabei hatte ich fastvierzig Fieber. Auf dem Schulhof haben sich heute welchegeprgelt, aber wie. Der eine hat dem anderen ins Gesichtgetreten und der fiel glatt um und blutete aus der Nase.Manchmal knnte ich heulen. Ich wei auch nicht, warum.

    18. MaiDer Teufel ist los. Mama hat schon berall angerufen. In derSchule, bei Tims Vater und allen mglichen Eltern. Das ist jaauch die absolute Schweinerei. Und klar, keiner hat wasgemerkt. Wie auch? Tim durfte ja nichts sagen, die haben ihmja mit dem Messer gedroht. Da hat er sich natrlich in die Hosegemacht vor Angst. Und dann kamen sie immer wieder, habensich Tim geschnappt und gesagt: Morgen kommst du wieder

    mit Geld. Wenn nicht, bist du dran! Und wenn du was sagst,auch. Ist das klar? Da konnte Tim gar nichts machen.Jedenfalls hatte er zu viel Angst. Der rmste. Kann einemrichtig Leid tun. Aber das knnen sie: auf Kleine losgehen, dieallein viel zu schwach sind. Mama hat geheult wie verrckt.Die, die das gemacht haben, gehen brigens in unsere Schule.

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    19. MaiIch muss die ganze Zeit daran denken. Es ist eine Schweinerei.

    Sie haben Tim das Messer direkt vor die Nase gehalten unddamit rumgefuchtelt. Mama hat gesagt, dass einer von denender Sohn vom Biermann ist. Vom Biermann, der istErdkundelehrer bei uns. Ich hasse die Schule.

    20. MaiWir haben mit Frau Schlebusch ber alles geredet. Die ganzeKlasse. Tim war nicht der Einzige, der bedroht worden ist, dashaben sie jetzt rausgekriegt. Alle waren ziemlich geschockt.Nur Lisa und Matze haben gegrinst. Typisch. Und in dernchsten Stunde bei Herrn Kistermann war dann auch alleswieder wie sonst. Tim ist heute zu Hause geblieben. Der hatimmer noch Angst.

    23. Mai

    Gleich fahren wir mit Mama und Tims Vater ins Spabad. Dashaben wir alle ntig, hat Mama gesagt. Heute ist Pfingsten(gestern auch) und irgendwie hat es ja auch sein Gutes. Timnervt neuerdings nicht mehr so, der ist irgendwie anders.Mama gefllt das nicht. Ich finde es gut. Tims Vater bringtbrigens Kartoffelsalat mit.

    25. Mai

    Der Biermann fehlt, wer wei, wann der wiederkommt.Vielleicht ja berhaupt nicht mehr. Bei dem Sohn, da ist erirgendwie ja auch dran schuld. Htte er den mal anderserzogen. Suse hat schon wieder einen Freund. Zuerst wollte sienicht sagen, wer es ist. Dann aber doch. Er heit Markus undgeht in Andys Klasse. Morgen schreiben wir eineEnglischarbeit. Ich kann die Vokabeln noch nicht. Heute haben

    sie Sven die Schultasche geklaut und aus dem Fenster gehngt.

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    Sven hat sie natrlich nicht gefunden. Er hat vor Wut geheult.Aber er hat es verdient.

    27. MaiIch wusste es. Papa ruft mal wieder nicht an, obwohl er esversprochen hat. Ich habe mir vorgenommen nicht mehr mitihm zu reden. Auch nicht, wenn er anruft, dann lege icheinfach auf. Ich habe schlechte Laune. Ich glaube, ich guckmal, was im Fernsehen kommt.

    30. MaiMir fllt irgendwie nichts ein. Es ist total hei. Den Jungen ausdem Bus finde ich bld. Der sa gleich hinter mir und hatseinem Nebenmann die ganze Zeit so komische Witze erzhlt.Wenn Mama von der Arbeit kommt, gehe ich mit ihr in dieStadt. Kriege neue Sandalen. Tim spielt nebenan mit seinemFreund. Aber wie. Klingt, als wrde jemand abgestochen. Ich

    gehe nicht hin. Bin ja auch kein Kindermdchen. Und wo Timneuerdings sowieso darauf besteht, dass ich mit ihm zur Schulegehe. Und ihn sonst berall hinbringe, wenn Mama es nichttut. Jedenfalls hatten wir heute frher Schluss. Es gab nmlicheine Bombendrohung. Da haben sie uns erst mal nach Hausegeschickt.

    31. Mai

    Manche Lehrer schnallen das nie. Die kommen an und denken,wenn sie die Beatles mit uns durchnehmen, htten sie uns. Unddann reden sie und zerpflcken alles. Das macht doch auchkeinen Spa mehr. Aber die denken wahrscheinlich, lernendarf keinen Spa machen, blo nicht. Am besten ist es, wennman vom Lernen die Krtze kriegt, dann hat man es richtiggemacht. Knnte brigens gut sein, dass ich die Klasse

    wiederholen muss.

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    3. Juni

    Ich wei nicht, was ich machen soll. Suse hat mir was erzhlt.Zuerst habe ich ihr nicht geglaubt. Es geht um ihren neuenFreund, aber ich kann es hier nicht reinschreiben. Wenn dasjemand liest. Jedenfalls musste ich Suse versprechenniemandem auch nur ein Sterbenswort davon zu erzhlen. Mirwird ganz schlecht, wenn ich daran denke. Und ehrlich gesagt,kriege ich langsam Angst um Suse. Wo die noch mal landet.Ob ich es doch sagen soll? Aber wem?

    4. JuniIch sage es keinem, ich habe es Suse ja auch versprochen. Undvielleicht macht sie es ja auch nicht: mal probieren. Sie wei jaselbst, wie gefhrlich das ist und was dann vielleicht mit ihrpassiert. Und wenn sie es trotzdem macht? Am liebsten wremir, ich wsste gar nichts davon. Gar, gar nichts. Es ist alles so

    schwierig. Und komisch. Das ganze Leben. Und man istirgendwie allein. Vielleicht gehe ich spter wirklich nachAustralien, nur weg von hier. Aber was bld ist, in Australienkriegt man von diesem Ozonloch gleich Hautkrebs. Vielleichtwerde ich ja auch Tierrztin. Mal sehen.

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    HERBERT FRIEDMANN

    Mademoiselle Butterfly

    Typisch fr Mutter mir diesen Schrott anzudrehen!Tanja hmmerte mit den Fusten gegen das Gehuse des

    tragbaren Fernsehers, den ihre Mutter beim letzten Besuchmitgebracht hatte. Kein Bild, kein Ton, ausgerechnet heute,Rauschen und Flimmern. In zehn Minuten startete eine neueFolge ihrer Lieblingsserie. Wie in Panik drehte sie die Antennein alle Richtungen, bearbeitete die Tastatur und fhlte sich aufeinmal angeschmiert: von ihrer Mutter, von von allen. Siewarf sich buchlings aufs Bett, weinte Selbstmitleidstrnen,

    kuschelte sich in die Decke und fand keine Ruhe. Auch nacheinem halben Jahr hatte sie sich nicht an das Gefngnislebengewhnt. Tagsber war es auszuhalten. Die Arbeit an derNhmaschine machte Spa. Und wenn alles klappte, konnte siedemnchst eine Lehre beginnen. Dafr reichte die Zeit imKnast, noch drei Jahre, dann war sie neunzehn und frei

    Sie schaltete den Fernseher aus, das Radio an, tanzte mitgeschlossenen Augen durch die Zelle: acht Quadratmeter,

    schleuderte den Kopf nach links und nach rechts, nach vornund nach hinten, wedelte wild mit den Armen, tanzte sich indie Turnhalle ihrer alten Schule.

    Mist, ich habe meine Sporttasche im Umkleideraumvergessen, sagt Tanja.

    Na und, die klaut doch niemand, gibt Sandra zurck. Inder Tasche ist mein Geldbeutel. Sie trennt sich von ihrer

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Freundin, eilt in die Umkleidekabine. Ihre Gedanken sind beinal, der im Caf ROSE auf sie wartet. nal ist ihre erste

    groe Liebe, seit einem halben Jahr, ein Trke aus derParallelklasse. Die Tasche steht unberhrt unter der Bank.Tanja klemmt sie unter den Arm, will gerade die Tr hintersich zuziehen, als sie in ein schrges Grinsen schaut. Ihr Herzschlgt hart. Schon wieder dieser Typ. Seit Wochen verfolgt ersie mit unfltigen Ausdrcken. Ein paar Mal ist er schonhandgreiflich geworden. Du musst ihn einfach ignorieren,hat Tanjas Mutter gemeint. Spter hat sie ihr eine DoseTrnengasspray gekauft, fr alle Flle Hast du es dirberlegt?, fragt Olaf. Was soll ich mir berlegt haben?,sagt Tanja mit einem Steingesicht.

    Sie hebt den Kopf ein bisschen hher. Der Kerl soll nichtmerken, dass sie Angst hat.

    Tanja schlug die Stirn gegen die Eisentr. Sie wusste, es wrdewieder eine schlaflose Nacht werden, eine der ungezhlten.Wachtrume, ein Horrorfilm in Schwarzwei, eineWiederholung nach der anderen. Sie versuchte sich in ihrElternhaus zu trumen. Die Butzenscheibenwrme und diejgerzaungeschtzte Sicherheit hatte sie stets belchelt. Jetztsehnte sie sich danach. Sie setzte sich an den Tisch, versuchteeinen Brief zu schreiben. An wen? Der Vater lebte getrennt

    von der Mutter. Sie hatte nur eine verschwommene Erinnerungan ihn. Zweimal im Jahr schickte er einen Scheck, verbundenmit flchtig hingeschriebenen Geburtstagswnschen oderWeihnachtsgren. Die Karten zerriss sie sofort, das Geldsparte sie fr den Fhrerschein. Vielleicht wusste ihr Vater garnicht, dass seine Tochter im Knast hockte. Er brauchte es auchnicht zu wissen!

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Und nal? Vor dem Prozess hatte sie ihn nicht sehen wollen,danach hatte er sich nicht mehr gerhrt, kein Brief, keine

    Besuche. Sie atmete tief ein und aus. Der Film lief weiter.

    Tanja hlt die Tasche wie einen Schutzschild hoch, schiebt dierechte Hand in die Auentasche, tastet nach der Spraydose.Blitzschnell muss es gehen: rausziehen, abdrcken, direkt indie Augen, losflitzen Bin ich vielleicht weniger wert als derTrke, sagt Olaf.

    Sie presst die Lippen zusammen. Olaf greift nach ihremHandgelenk, sie weicht einen halben Schritt zurck.

    Hab dich nicht so.Verschwinde!So gut wie dein Trke bin ich schon lange, sagt Olaf. Er

    behlt das schiefe Grinsen, holt eine Packung Zigaretten ausder Hosentasche, bietet ihr eine Zigarette an. Sie schttelt den

    Kopf.

    Tanja zerknllt das Briefpapier. Niemand schien ihr wichtigihre Gedanken zu erfahren. Vielleicht der Schulleiter, dem ihreMutter von Olaf und seinen Freunden erzhlt hatte.Kindereien, hatte er geantwortet. Man solle das nichthochspielen. Gewalt sei an seiner Schule kein Thema.

    Arschloch!, sagte Tanja.Sie versuchte noch einmal den Fernseher zum Laufen zu

    bringen, vergebliche Mhe. Sie hatte keine andere Wahl,morgen musste sie einen Antrag stellen, dass ihre Mutter denFernseher beim nchsten Besuch mitnehmen und reparierenlassen durfte. Die nchsten Wochen konnte sie nur dieZellenwand anglotzen. Sie wnschte sich rckwrts leben zu

    knnen. Wenigstens bis zum Tag in der Turnhalle.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    Verstehe, du rauchst lieber das Zeug, das dein Trke dirbesorgt, sagt Olaf.

    Bldmann.Auf einmal ist die Wut grer als die Angst. Sie will weg,

    will zu nal. Verschwinde endlich!, schreit sie. Olaf lacht.Es scheint ihm zu gefallen, dass er sie wtend gemacht hat. Erverschrnkt die Arme, spreizt die Beine. Er ist gro und starkund er zeigt Tanja, dass er gro ist und stark. Alle in derSchule haben Angst vor Olaf und seinen Freunden, die sich aufdem Schulhof mit dem Hitlergru gren.

    Tanja umklammert die Spraydose, wird unsicher. Wer wei,ob das Trnengas bei Olaf wirkt. Die Hand berhrt pltzlichden Griff eines Messers. Tanja zuckt zusammen. An dasButterfly-Messer hat sie gar nicht mehr gedacht. Das istbesser als Trnengas, hat nal gesagt. Ich hab nicht ewigZeit, sagt Olaf. Er fasst sich mit beiden Hnden an seinGeschlecht. Tanja umschliet den Griff des Messers. Sie

    schluckt heftig, atmet durch den Mund. Es wird Zeit, demSchwein einen Denkzettel zu verpassen, schiet es ihr durchden Kopf. Vor der Turnhalle fahren Mofas vor. MeineFreunde wollen auch ihren Spa haben, sagt Olaf. Er drehtTanja den Rcken zu, macht ein paar stolpernde Schritte zurTr

    Tanja frstelte. Sie kroch unter die Decke, fhlte eine groeLeere in sich, keine Schuld. Sie htte zustechen mssen, als ervor ihr stand. Dann wre es Notwehr gewesen. Ein Journalisthatte sie Mademoiselle Butterfly genannt. Das gefiel ihr heutenoch. Sie grub das Gesicht ins Kopfkissen und wartete auf dasEnde der Nacht.

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    INGE MEYER-DIETRICH

    Zwerge heien nicht Max

    Heute war er mit einem guten Gefhl aufgewacht. Es regnete.Die Tropfen schlugen gegen sein Fenster und trommelten laut

    auf das schrge Dach. Wenn es weiter so regnete, wrden siein der groen Pause nicht auf den Schulhof mssen. Gleich inder ersten Stunde gab Frau Stober die Aufstze zurck. Erhatte eine Zwei geschrieben. Schon wieder ein gutes Gefhl.Er sah aus dem Fenster. Es regnete immer noch. Der Windzerrte und schubste die Wolken ber den Himmel.

    Er schloss die Augen. Hrte Kreide quietschen. Frau Stober

    schrieb wieder einmal ihre Endlosstze an die Tafel.Max dachte an Kim. Gestern hatte er sie im Supermarkt imCitycenter gesehen.

    He, Zwerg, was trumst du denn Schnes? Erzhl dochmal!

    Das war Christian. Gleich in Sport wrde er wiederirgendeine Show abziehen. Und dann in der Pause? Aber esregnete doch!

    Max war nicht schlecht in Sport. Gerteturnen konnte er undLeichtathletik und in Schwimmen war er einer der Besten.

    Das half aber nichts, wenn die Mannschaften fr Basketballoder Fuball gewhlt wurden. Der dicke Ulf und er, derZwerg, die kamen immer als Letzte dran.

    Heute wurden keine Mannschaften gewhlt. Heute hatte Maxschon wieder Glck. Und sein Felgaufschwung war wirklich

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    gut. Das fand auch Herr Neumann. Max guckte nicht hin, alsChristian an der Sprossenwand seine Mtzchen machte. Er sah

    zu den hochgelegenen Fenstern der Sporthalle hinauf, sahdicke Tropfen an den Scheiben runterlaufen.

    Auf dem Weg aus der Halle in den Umkleideraum war Maxeinen zu langen Moment mit seinen Gedanken woanders. Undschon knallte er der Lnge nach in den Flur. He, nicht soschnell!

    Das war Christian, der ihm ein Bein gestellt hatte. DerZwerg, spottete er, rennt einfach so durch die Gegend! Demmssen wir erst mal beibringen, wie man richtig luft.

    Max schluckte. Er rappelte sich hoch. Das linke Knie tat weh.Von gestern noch. Und jetzt erst recht.

    Was ist denn los?, fragte Herr Neumann. Wollt ihrvielleicht hier im Flur bernachten? Raus mit euch, es ist keineRegenpause angesagt.

    Beeil dich blo, Zwerg, flsterte Christian und Benno

    grinste ber sein breites Gesicht. Wir haben heute noch garnicht gespielt, wir warten auf dich! Max schwitzte. Manchmalvergessen sie es wieder, sagte es in seinem Kopf. Sieinteressieren sich pltzlich fr ganz was anderes. Vertrdelndie Pause an der Schulbude Wenn es blo nicht aufgehrthtte zu regnen!

    Sie warteten schon, als er auf den Schulhof kam. Komm,Zwerg, wir zeigen dir was!, rief Christian. Max sah FrauStober in der Nhe der Fahrradstnder. Sie hatte alsoPausenaufsicht. Wenn sie wsste Ein Wort zu der Stober,zischte Benno, dann kannst du gleich dein Testament machen,das weit du doch! Der Wind zerrte und schubste die Wolkenimmer noch wie verrckt ber den Himmel. Dennis war jetzt

  • 7/22/2019 Engelmann, Reiner (Hrsg) - Tatort Klassenzimmer

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    auch da. Die drei. Immer die drei. Komm, Zwerg, einbisschen Tempo, sonst ist die Pause gleich rum!

    Sie hatten sich wieder den besten Platz ausgesucht. Hinterden Toiletten bekam niemand mit, was passierte. Und wenn, eswar ja nur ein Spiel! Sie spielten Ball, spielten mit ihm, demZwerg. Er war ihr Ball. Sie warfen ihn, jagten ihn, zerrten ihnhin und her. Jetzt zu mir rber, los, macht schon!, riefBenno. Er stand am Rand einer groen Pftze. Max wehrtesich. Er hatte doch schon nasse Fe. Dabei wusste er lngst,dass es sinnlos war, sich zu wehren. Drei gegen einen! Willstdich wohl