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73 Tattva Viveka 44 Tagung | Aufklärung und Erleuchtung D ie integrale Bewegung ist eine Zu- sammenkunft von Menschen, die sich für Spiritualität und Wissen- schaft interessieren und an einer evolutio- nären Entwicklung des Bewusstseins arbeiten. Sie sind stark von der Philosophie Ken Wilbers beeinflusst, der den Begriff der integralen Spiritualität prägte bzw. mit- prägte, stellen jedoch durchaus eine hete- rogene Gruppe von unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen dar. Integral bedeutet nach der selbst gegebenen Defi- nition u.a. den Umgang mit multiplen Per- spektiven sowie deren Integration und das Überschreiten der eindimensionalen Per- spektivität des Dogmas, in dem die eigene Weltanschauung, Religion oder Kultur als die einzig Wahre verstanden wird. Integra- lität integriert in diesem Verständnis die horizontale Vielfalt der Kulturen und reli- giösen bzw. spirituellen Herangehenswei- sen und differenziert zugleich vertikal im Sinne von mehr oder weniger integrierten Stufen des Verständnisses, etwa in der Un- terscheidung in egozentrisch, ethnozen- trisch, weltzentrisch und kosmozentrisch. Ein egozentrischer Mensch denkt nur an sich und sieht sich selbst als Mittelpunkt des Universums. Alles dreht sich nur um ihn, um seinen Genuss und seine Befriedi- gung. Andere werden als Feinde oder Kon- kurrenz interpretiert. Der ethnozentrische Mensch öffnet sich für ein Wir, im Sinne seiner kulturellen und ethnischen Zugehö- rigkeit, sein Land, seine Religion, seine Rasse. Nationalismus und das Verständnis der eigenen Religion als die einzige und höchste gehören hier dazu. Der weltzentri- sche Mensch schließlich sieht die Welt als Ganzes und alle Menschen als Teil einer großen Familie. Er überschreitet die Gren- zen zwischen Nationen, Religionen und politischen Bekenntnissen. Der kosmozen- trische Mensch wäre dann entsprechend einer, der auch den Planet Erde und den Menschen nur als einen Teil der Schöpfung erkennt und andere Wesen, auch geistige und den Schöpfer selbst integriert. Wichtig ist den Integralen dabei jedoch auch die Unterscheidung in mythischen Gott einerseits und den Gott eines inte- gralen Verständnisses andererseits. Wäh- rend der mythische Gott der alther- gebrachte Gott der alten Religionen ist, der durch das rationalistische Zeitalter der Auf- Ronald Engert Aufklärung und Erleuchtung Bericht von der Integralen Tagung in Berlin © Dennis Wittrock Vom 18.-20.6.2010 fand in Berlin die jährliche Tagung des Integralen Forums statt. In Vorträgen,Workshops und Gruppengesprächen wurde hier der aktuelle Stand der Integralen Bewegung diskutiert. Es wurde deutlich, dass die Integralen ihrem Postulat von der evolutionären Spiritualität alle Ehre machen. Diane Hamilton auf der Bühne Die non-duale Perspektive wurde von zwei Seiten relativiert, von der Seite des individuellen Selbst und von der Seite eines erweiterten Verständnisses von Gott.

Engert TV 44 – Aufklärung und Erleuchtung

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Berichte von den Tagung der Integralen Akademie und der Karma Konsum Konferenz / Twitter macht die Klugen klüger und die Dummen dümmer.

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Page 1: Engert TV 44 – Aufklärung und Erleuchtung

73Tattva Viveka 44 Tagung | Aufklärung und Erleuchtung

Die integrale Bewegung ist eine Zu-sammenkunft von Menschen, diesich für Spiritualität und Wissen-

schaft interessieren und an einer evolutio-nären Entwicklung des Bewusstseinsarbeiten. Sie sind stark von der PhilosophieKen Wilbers beeinflusst, der den Begriffder integralen Spiritualität prägte bzw. mit-prägte, stellen jedoch durchaus eine hete-rogene Gruppe von unterschiedlichenPerspektiven und Ansätzen dar. Integralbedeutet nach der selbst gegebenen Defi-nition u.a. den Umgang mit multiplen Per-spektiven sowie deren Integration und dasÜberschreiten der eindimensionalen Per-spektivität des Dogmas, in dem die eigeneWeltanschauung, Religion oder Kultur als

die einzig Wahre verstanden wird. Integra-lität integriert in diesem Verständnis diehorizontale Vielfalt der Kulturen und reli-giösen bzw. spirituellen Herangehenswei-sen und differenziert zugleich vertikal imSinne von mehr oder weniger integriertenStufen des Verständnisses, etwa in der Un-terscheidung in egozentrisch, ethnozen-trisch, weltzentrisch und kosmozentrisch.

Ein egozentrischer Mensch denkt nur ansich und sieht sich selbst als Mittelpunkt

des Universums. Alles dreht sich nur umihn, um seinen Genuss und seine Befriedi-gung. Andere werden als Feinde oder Kon-kurrenz interpretiert. Der ethnozentrischeMensch öffnet sich für ein Wir, im Sinneseiner kulturellen und ethnischen Zugehö-rigkeit, sein Land, seine Religion, seineRasse. Nationalismus und das Verständnisder eigenen Religion als die einzige undhöchste gehören hier dazu. Der weltzentri-sche Mensch schließlich sieht die Welt als

Ganzes und alle Menschen als Teil einergroßen Familie. Er überschreitet die Gren-zen zwischen Nationen, Religionen undpolitischen Bekenntnissen. Der kosmozen-trische Mensch wäre dann entsprechendeiner, der auch den Planet Erde und denMenschen nur als einen Teil der Schöpfungerkennt und andere Wesen, auch geistigeund den Schöpfer selbst integriert.

Wichtig ist den Integralen dabei jedochauch die Unterscheidung in mythischenGott einerseits und den Gott eines inte-gralen Verständnisses andererseits. Wäh-rend der mythische Gott der alther-gebrachte Gott der alten Religionen ist, derdurch das rationalistische Zeitalter der Auf-

Ronald Engert

Aufklärung und ErleuchtungBericht von der Integralen Tagung in Berlin

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Vom 18.-20.6.2010 fand in Berlin die jährliche Tagung des Integralen Forums statt. In Vorträgen, Workshops und

Gruppengesprächen wurde hier der aktuelle Stand der Integralen Bewegung diskutiert. Es wurde deutlich, dass die

Integralen ihrem Postulat von der evolutionären Spiritualität alle Ehre machen.

Diane Hamilton auf der Bühne

Die non-duale Perspektive wurde von zwei Seiten relativiert,von der Seite des individuellen Selbst und von der Seite eines

erweiterten Verständnisses von Gott.

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Tattva Viveka 44

klärung entthront wurde, ist der Gottesbe-griff des integralen Verständnisses »trans-rational«, er fußt auf einer bewussten Spi-ritualität, die nicht auf blindem Folgen be-ruht, sondern auf einer eigenen Erfahrung.Es ist kein autoritärer Gott, der mit Be-strafungen die moralischen Sünden derMenschen reglementiert, sondern eine spi-rituelle Kraft. Wie diese genau zu verste-hen ist, war ein Thema auf der Tagung.

Die integrale Bewegung und Ken Wil-ber als ihre Gallionsfigur kommen aus derbuddhistischen Tradition und/oder ausdem hinduistischen Advaita, in denen einpersonales Gottesbild nicht akzeptiert ist.Aus der Perspektive dieser non-dualen Tra-ditionen ist jede Vorstellung von Gott my-thischer Natur. Sie ist eher eine subtileIllusion, da eine solche Gottesvorstellungnoch auf Getrenntheit basiert. Und wie dienon-dualen Tradition proklamiert, ist esdas abgetrennte Selbst, dass das Leiden er-schafft. Erst wenn wir alle Formen undIdentifizierungen überwunden haben, inder formlosen Leere der non-dualen Er-leuchtung angekommen sind, wo »alleseins« ist, hört das Leiden auf.

Interessanterweise wurde diese non-duale Perspektive auf der Tagung gleichvon zwei Seiten relativiert, zum Einen vonder Seite des individuellen Selbst und zumAnderen von der Seite eines erweitertenVerständnisses von Gott.

Im Sinne der non-dualen Erleuchtungexistiert keine Ego, und in der klassischenbuddhistischen Tradition wird die Existenzjeder Art von individuellem Selbst demen-tiert. Es wurde jedoch auf der Tagung dieExistenz eines individuellen Selbst wiederrehabilitiert. Die Integralen nennen diesesindividuelle Selbst nun – im Unterschiedzum Ego des narzisstischen Selbst – »theUnique Self«, zu Deutsch also das »einzig-artige Selbst«. Es bedeutet, dass zwar dasnarzisstische Ego nach wir vor zu dekon-struieren ist und sich in der Ungetrennt-heit der Leere auflöst, danach jedoch sehrwohl ein Selbst weiter existiert und diesesSelbst ist dann unsere wahre spirituelleNatur. Nach Angabe von Dennis Wit-trock, dem Geschäftsführer der IntegralenAkademie (DIA), ist dieses »einzigartigeSelbst« erst seit eins bis zwei Jahren in dieDiskussion gekommen.Für mich ist das eine sehr erfreuliche undatemberaubende Entwicklung. Es ist durch-aus ein grundlegender Unterschied, ob ich

Aktuelle Informationen und Anmeldemöglichkeiten unter:[email protected] | Tel. 0421-69 62 05-33

DIE INTEGRALE AKADEMIE

www.dieintegraleakademie.org

Terry PattenTerry Patten(Trainer, Integral Institute & Co-Autor „ILP“)

„Integrale Lebenspraxis“ Workshop mit Terry Patten vom 08.-10.10.08.-10.10. in Berlin„Integrale Lebenspraxis“

ILP Buch-Tour, Abendworkshops12.10.12.10. in Hamburg, 13.10.13.10. in Dortmund, 14.10.14.10. in Tübingen

„Integrale Spiritualität“Abendworkshop am 11.10.11.10. in Berlin

04.09. „Ich-Zustände & Big Mind“mit Andreas Schröder in Bad Homburg

04.-05.09. „ILP – Sein und Werden, Schwerpunkt: Schatten“mit Michael Habecker & Helmut Dörmann in Minden

15.-17.10. „5. Spirituelle Herbstakademie“ in Frankfurt29.-31.10. „Enneagramm Integral“ mit Veit Lindau in Frankfurt06.-07.11. „Integrale Politik und Ökologie“

mit Michael Habecker & Hilde Weckmann, Berlin19.-20.11. „Einführung Ken Wilber“ mit Rolf Lutterbeck in Bad Homburg

Weitere DIA Termine 2010:

Dr. Susanne Cook-GreuterDr. Susanne Cook-Greuter„Selbstentwicklung – Leadership Maturity Framework“

vom 01.- 02.1001.- 02.10 (+ MAP Coachingtag am 03.10.03.10.)in Berlin – erster Teil einer dreigliedrigen Ausbildungzur/m zerti�zierten LMF-Entwicklungs-BegleiterIn

Fortbildung„Integral informierte Psychotherapie“mitWulf-Mirko WeinreichWulf-Mirko Weinreich(4 Wochenenden, 8 Tage) in Frankfurt.

Erster Teil und Start der Ausbildungist vom 20.-21.11.201020.-21.11.2010

11.-12.02. „The Holacracy Experience“mit Brian Robertson (USA) in Frankfurt

Ausblick 2011:

So wie Ken Wilber versucht, mit seiner IntegralenPhilosophie die zentralen Erkenntnisse der Menschheit

in einen Gesamtentwurf zusammenzuführen, ist die Integrale Psychotherapieangetreten, sämtliche Erkenntnisse der Psychologie in ein allgemeines undumfassendes Therapiemodell zu integrieren.

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75Tattva Viveka 44 Tagung | Aufklärung und Erleuchtung

Individuums ausstrahlt, das nun ebensosein darf.

Einige Diskussionen betrafen die Un-terscheidung des getrennten Selbst vomeinzigartigen Selbst. Natürlich würde sichdas postmoderne narzisstische Ego mitVergnügen auf die Idee eines einzigartigenspirituellen Selbst stürzen, um es sich ein-zuverleiben. Wie können wir sicher gehen,dass hier nicht etwas verwechselt wird?Hierzu gibt es innerhalb des integralen La-gers unterschiedliche Positionen und aufder Tagung konnte man Zeuge werden,wie hier die Forschenden richtiggehend aufder Suche sind und wie sich die integraleeorie und Praxis fortwährend weiterent-wickelt. Es geht nicht um fertige Positio-nen und feststehende Glaubenssysteme.Das wurde deutlich. Die Integralen sindselbst Teil des evolutionären Feldes, vondem sie im Sinne einer evolutionären Spi-ritualität sprechen. Das Bewusstsein ent-

wickelt sich immer weiter und wirMenschen sind die Pfeilspitze, mit derGott in die Bewusstwerdung vordringt.

Die ca. 200 Teilnehmer der Tagung dis-kutierten in einer »Integrales Worldcafé« ge-nannten Form in Fünfergruppen mitei-nander, die in verschiedenen Runden sich je-

völlig dekonstruiert wird. Wir werden zuDienern Gottes. Natürlich klingt hier dasabendländische Gottesverständnis an, wiees in der jüdisch-christlichen Tradition zufinden ist. Die westlichen, oft akademischgeschulten Integralen vollziehen nun nachder Integration der non-dualen Traditio-nen des Fernen Ostens eine Reintegrationdes westlichen Gottesverständnisses aufeiner fortgeschrittenen Stufe. Integral istdies in dem Sinne, dass nun beide Gottes-verständnisse, bzw. alle drei in einer Meta-position integriert werden und alle gültigsind. Es geht also nicht mehr um denStreit, welches von diesen das Richtigesein, wonach dann die verbliebenen die fal-schen zu sein hätten.

In diesem Sinne haben wir hier mit derintegralen Bewegung wirklich eine welt-zentrische und kosmozentrische Perspek-tive, die die alten Kampflinien im Kriegder Religionen überflüssig macht. Hier istein starkes emanzipatorisches Potential, daseben gleichzeitig auch auf die Ebene des

jede Art von Individualität als Illusion be-trachte, oder ob ich von der nicht-reduzier-baren Individualität und Einzigartigkeitmeiner Person im spirituellen Sinn ausgehe.Aus dieser Einzigartigkeit wird in der Folgeauch die Möglichkeit von Beziehung zwi-schen diesen Selbsten möglich, und dies er-öffnet auch die Möglichkeit, sich auf Gottals einen Anderen zu beziehen. Der Gottder Hingabe, dem wir uns als dem großenAnderen zuwenden und mit dem wir nichteins sind, wird in der integralen Bewegungmit dem Terminus »das zweite Gesicht Got-tes« bezeichnet. Und hier kommen wir zurFrage nach Gott und seinem nicht non-dua-len Aspekt. Ken Wilber und die Integralenunterscheiden mittlerweile zwischen drei»Gesichtern Gottes«.

Das erste Gesicht Gottes ist Gott als Ich.Zwischen Ich und Gott gibt es keine Tren-nung. Ich bin selbst das Göttliche. Gottwird in diesem Verständnis als das Göttli-che, als eine Eigenschaft, verstanden, je-doch nicht als Person oder Höhere Macht.

Das zweite Gesicht ist Gott als Du. Die-sem Du kann man sich in Demut zuwen-den. Vor ihm gehen wir auf die Knie undbeten um Führung. Dieser Gott wird alsSubjekt adressiert.

Das dritte Gesicht Gottes ist Gott als Es.Gott als Es ist etwas im objektiven Raum,die ganze Natur, die ganze Schöpfung.

Die integrale Bewegung war bisher sehrstark von dem Gott der ersten Person ge-prägt, der in der non-dualen Tradition alsdas unpersönliche, formlose Unbennbareerfahren wird, als Urgrund der Bewusstheitohne jegliche Individualität, als Raum, indem die Phänomene auftauchen und wie-der verschwinden.

Mit der Hinwendung zum Gott derzweiten Person, dem Gott als Du, kom-men ganz neue Aspekte in den Blick. Esgibt wieder eine Verschiedenheit zwischenmir und Gott. Gott ist eine höhere Macht,der Schöpfer, dem ich mich in Demut nä-here und von dem ich Gnade erfahrenkann. Das Ego wird hier im Angesichteiner höheren Macht seiner Herrschaft ent-hoben, ohne dass es auf non-dualen Weise

Mit der integralen Bewegung haben wir eine weltzentrischeund kosmozentrische Perspektive, die die alten Kampflinien

im Krieg der Religionen überflüssig macht.

Bild ganz oben: Alle Referenten zum Abschluss der Tagung auf der BühneBild oben: Blick ins Publikum

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Es ist durchaus ein grundlegender Unterschied, ob ich jedeArt von Individualität als Illusion betrachte, oder ob ich von

der nicht-reduzierbaren Individualität und Einzigartigkeitmeiner Person im spirituellen Sinn ausgehe.

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76 Tagung | Aufklärung und Erleuchtung Tattva Viveka 44

munikation mit ihm, ist immer noch einBereich, über den man schamhaftschweigt. Ich outete mich dann etwas,indem ich von meiner Gebetspraxis be-richtete und prompt kam nach dem Vor-trag eine junge Frau auf mich zu undsprach mit mir über ihre Beziehung zumpersönlichen Gott. Unser beider Augen be-gannen zu leuchten, angesichts der Liebeund Freude, die ein solches vertrauensvol-les gegenseitiges Be- und Erkennen unse-rer Beziehung zu Gott bewirkt.

Alles in allem eine schöne Tagung mitkompetenten Referenten und Teilneh-mern. Die erwähnte Scham ließ viele indeswohl eher im Reden darüber verweilen, an-statt es wirklich zu tun. Eine gewisse Kopf-lastigkeit kann demzufolge nicht ganzverhehlt werden. Die Elemente der Medi-tation und der spirituellen Praktikenmachten das teilweise wett. Meine Emp-fehlung wäre noch, etwas mehr die Emo-tionen ins Boot zu holen, die leider inintellektuell-spirituell ausgerichteten Krei-sen schnell ein Schattendasein führen.

Dann könnte aus der Integralen Bewe-gung noch mehr Integralität hervor schei-nen, als es ohnehin schon der Fall ist, undsie könnte in der kulturellen Landschaft zueinem wirksamen Unterschied mit großemPotential werden.

Homepage des Integralen Forums:www.integralesforum.orgHomepage von DIA - Die Integrale Aka-demie:www.dieintegraleakademie.org

gle«, soll Ken Wilber konstatiert haben.Einzigartigkeit wird also nicht mehr nur alsgetrenntes Ego interpretiert, sondern alsdas Eine und Singuläre. Als getrenntes Egowar es die Ursache für Leid und uner-wünscht. Als das Eine und Singuläre wirdes der Grundbaustein der Wirklichkeit.Diane Hamilton sprach vom »Big Heart«in Ergänzung zum »Big Mind«. Erst in derEinzigartigkeit unseres individuellen Selbstkönnen wir als Menschen im Herzen be-rührt werden und berühren.

Bewertung und Verurteilung, wie sie imEgo-Zustand der Fall ist, ist im UniqueSelf nicht gegeben. Das Ego ist der Drangzur Evolution. Im Big Mind ist keine Evo-lution. Aber das Unique Self bringt beideszusammen. Im Unique Self kann man erstden Anderen erkennen. Im Ego und imnon-dualen Zustand kann man das nicht.Wenn das Selbst sein darf, kann ich es ineinem neuen Licht sehen und mich demanderen damit zuwenden. Die Verteidi-gung fällt dann weg. Wenn wir einzigartigsind, kann man niemanden vergleichen.Jeder geht in seiner Einzigartigkeit in dieBetrachtung ein und ich öffne mich demspirituellen, leuchtenden Wesen in der kör-perlichen Form.

Schön war in diesem Sinne auch derBeitrag des spirituellen Lehrers omasHübl, der sehr radikal und sehr offen dieBeziehung und den Dialog mit Gott the-matisierte. Er fragte am Beginn seinesWorkshops die Teilnehmer, warum sie hierseien. »Das, was Dich hierher kommenlässt, ist der Impuls des Erwachens an sich.Die Intelligenz des heiligen Raumes istgrößer als die erlernte Perspektive. Erwa-chen führt zu einer Veränderung der In-tentionsquelle. Nicht mehr die Vergan-genheit ist unser Intention, sondern Gott.«Dann erlangen wir ein »Update der An-bindung an die innere Wirklichkeit.«

Das Unique Self ist damit in der Ver-bundenheit mit der Höheren Macht Got-tes die große Verantwortungethik. Das hatnichts mit den neurotischen Egos zu tun,die nur um sich selber kreisen.

Er fragte dann die Teilnehmer, inwiefernsie Scham empfänden, von ihrem persön-lichen Dialog mit Gott zu sprechen, undberührte damit ein gängiges Tabu in derspirituellen Szene. Man spricht zwar gernevon Energien und Schwingungen, von spi-rituellem Selbst und göttlicher Kraft, aberGott selbst, als Du, und die direkte Kom-

weils wieder neu zusammensetzten. Dabeikamen in den Gruppen, wo ich dabei war,viele schöne Erkenntnisse zu Tage:

Während wir im Westen mit dem indi-viduellen Ego den Bereich der Humanitätund Menschenwürde entwickelt haben, fo-kussierte sich der Osten mit dem Auflösendes getrennten Selbst auf das Ende des Lei-dens. Diese Auflösung des Selbst nannteder Osten »Erleuchtung«. Die alte Er-leuchtung war jedoch hart und schmerz-haft. Wie Chögyam Trungpa gesagt habensoll: »Die Erleuchtung ist die größte Ent-täuschung für das Ego.«

Mit der Rehabilitation des »einzigarti-gen Selbst« nun wurde die Sache von denTeilnehmern als wohltuend empfunden,da dieses Selbst auch auf dem spirituellenWeg existieren darf. Es ist entspannend,weil jeder in seiner Einzigartigkeit seinkann und somit einer Intuition folgenkann, die schon zuvor bestand (»Ich bineinzigartig«). Das Unique Self kann auchden Anderen in seiner Einzigartigkeit seinlassen und wertschätzen. Seine Besonder-heit und Schönheit kann akzeptiert wer-den und so können wir erst in Verbindungtreten. Das öffnet das Herz und die Liebekann fließen. So berichteten auch die ausden USA angereisten Vortragenden, Zen-Lehrerin Diane Hamilton und Rabbi MarcGafni: »Das menschliche Herz wird zueinem auf natürliche Weise funktionieren-den Organ. Anstatt das Herz zuzumachen,weil ich privilegiert bin, öffne ich das Herzund schließe alle mit ein. Ich entwickle denWunsch, dass alle Wesen frei von Leidensein mögen.« Dies, so wiesen sie hin, sei imGrunde nichts anderes als das klassischeBoddhisattva-Verständnis. »Everythingwhat looks separate, is actually one and sin-

tv

Artikel zum Thema in früherenAusgaben:

TV 16: Wolfgang Schmidt-Rein-ecke: Die Kulturell Kreativen

TV 29: Ken Wilber – Das zweite Ge-sicht Gottes

TV 29: Ken Wilber – Kommentar zu»What the bleep do we know?«

TV 29: Ronald Engert – Die drei Ge-sichter Gottes

TV 37: Tom Amarque – Boomeritis.Ken Wilber über Pluralismus

TV 42: Steve McIntosh – Integrale Phi-losophie und die Evolution des Bewusstseins

Die Tagung fand in der Werkstatt der Kulturenin Berlin-Neukölln statt.

Page 5: Engert TV 44 – Aufklärung und Erleuchtung

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Als ich das erste Mal von der KarmaKonsum Konferenz hörte, hatte ichzugegebenermaßen ein etwas am-

bivalentes Bild von der Sache. Konsum?Es geht hier um konsumieren? Ich hattedas Bild von einer konsumorientiertenVeranstaltung. Karma? Aha, ethisch kor-rekt genießen usw., nachhaltiger Lifestyle,Wellness für das alternative Establish-ment. Das waren so die Vorurteile mei-nerseits. Ich stellte mir eine Veranstaltungmit viel Blabla vor, Reden von angepass-ten Menschen, die das schön reden, wasdie Ursache von all den Problemen mitder Umwelt und der Armut ringsum ist:dem materialistischen Konsum, der Un-ersättlichkeit der luxurierten Wohlstands-bürger, die sich nun mit Öko und Un-terstützung der heimischen Produzenteneine ruhiges Gewissen verschaffen wollen.

Was ich aber vorfand, war doch andersals erwartet und überraschend. Zunächstist da die pragmatische Einsicht, dass wirnatürlich alle konsumieren und konsumie-ren müssen, um leben zu können. Allebrauchen Strom, Essen, Mobilität usw.Wie gehen wir also mit diesem unver-meidlichen Konsum um? Wir können

nicht immer nur dagegen sein. Dann gibtes da die vielen, ja unzähligen guten An-sätze in alle Bereichen des praktischen Le-bens, die oft nicht bekannt werden, aber soviel Hoffnung und Zuversicht für eine bes-sere Welt vermitteln. Und dann gibt es

noch die Querverbindungen zum Beste-henden, zu der Welt der Banken, Unter-nehmen, dem Geld, der Technologie.

Und so war es einerseits verwunderlich,andererseits entzückend für mich, im Ge-bäude der Frankfurter Börse zu tagen, mit-ten im Herzen des Kapitals, in wohlausgestatteten und technisch auf dem bes-

ten Stand befindlichen Räumen, die zu-gleich von eine Feng Shui Experten in eineenergetisch angemessene Form gebrachtwurden, z.B. durch einen gut plaziertenBrunnen im Ausstellungsbereich usw. Eswar erstaunlich, wie gut die Atmosphäre in

Tattva Viveka 44 Konferenz | Karma-Konsum

Bereits zum vierten Mal, vom 25.-26. Juni 2010, fand

diese Konferenz in Frankfurt/M. statt, diesmal in

den Räumen der Frankfurter Börse und der IHK. Hier

trafen sich alternative Unternehmer und Aktivisten

der ökologischen und nachhaltigen Erneuerung

im professionellen Ambiente und verbreiteten hoch

motivierte Aufbruchstimmung.

Ronald Engert

Das Lohas-BiotopBericht von der Karma Konsum Konferenz

Blick auf das Podium der Karma Konsum Konferenz

Sind meine asketischen Verzichtsübungennichts anderes als Opferspiele? Ist die Welt

gar nicht so hoffnungslos verdorben?

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Page 6: Engert TV 44 – Aufklärung und Erleuchtung

den Räumen war. Die Kapitalisten habennicht nur Geschmack und Sinn für Quali-tät, anders als viele der Rebellen der Alter-nativszene, sie haben auch etwas Sattvi-sches und Gesundes. Ich erinnerte mich andas Medizinrad-Teaching der Cherokee, indem auf dem Platz des Spirits im Osten

heute nur die Unternehmer sitzen, anstattder spirituellen Lehrer, die da eigentlich hin-gehören. Warum? Weil die Unternehmerdie einzigen sind, die etwas auf den Bodenbringen und erfolgreich wirklich etwas tun.

Meine ganzen mentalen und ideologi-schen Vorbehalten und Negativurteile überdie bösen Kapitalisten – sollten sie vielleichtnur Ergebnisse einer Verblendung undeiner emotionalen Weigerung sein, die Ver-antwortung für mein Leben zu überneh-men und mich anzunehmen, als einMensch, der dazu berechtigt ist, gut zuleben und sich etwas zu verdienen und dasdann auch verdient zu haben? Sind meineasketischen Verzichtsübungen nichts ande-res als Opferspiele? Ist die Welt gar nicht sohoffnungslos verdorben? Es ist immer eineFrage der Perspektive, des Durchblicks (lat.:perspectare – hindurchschauen). Und sokonnte man auf der Tagung eine sehr posi-tive und konstruktive Haltung finden. EinFeuerwerk an kreativen Ideen und Projek-ten, vieles bereits Umgesetztes, eine hoheKompetenz bei den Fachleuten in ihren Be-reichen, viel Initiative und Inspiration, eine

Konzentration auf das Positive und Mach-bare, eine Präsentation des bereits Gemach-ten. Echte Macher waren hier zugegen.

Und das Beste fand ich diesen Schulter-schluss von wirtschaftlichem und wissen-schaftlichem Establishment mit den Freaksund Querdenkern bzw. Querlebern. Chris-

toph Harrach und Noel Klein-Reesink, dieInitiatoren und Veranstalter der Konferenz,wirkten unprätentiös und jugendlich. Läs-sig gekleidet und unrasiert standen sie amRednerpult. Zugleich organisierten sie eineKonferenz auf hohem professionellem Ni-veau mit illustren Koryphäen und Größenaus der Finanzwelt, der Wirtschaft und derKultur. So war der Chefreporter der taz,Peter Unfried, der Moderator, omas D.von den Fantastischen Vier der Laudatorfür den Gründer-Preis, die IHK Frankfurtgehörte zu den Sponsoren, es gab Gruß-worte der Umweltdezernentin und desWirtschaftsdezernenten der Stadt Frank-furt. Mercedes Benz waren mit einem teilsgläsernen Demomodell eines Fahrzeugsmit Brennstoffzelle zugegen (Hightech imgroßen Sattelschlepper herbeigekarrt). (Ex-)Manager aus großen Firmen und Bank-fachleute berichteten über nachhaltigesWirtschaften und ökologische Finanzen.

Dann kamen die Leute von der Gue-rilla-Meditation auf die Bühne und wirmeditierten für zehn Minuten – es wareine meiner starken Meditiationserfahrun-

gen. Oder Martin Unfried von Ökosexsang kämpferische Lieder über Ökologie,Strom und Nachhaltigkeit (nach eigenenAngaben das erste deutschen Lied überNachhaltigkeit, mit schönen Reimen). Esgab feinstes vegetarisches Essen aus kon-trolliert biologischem Anbau, freie Bionadeund Rhabarber-Limo von Völkel, sowiedas kostspielige Wasser von St. Leonhardin unerschöpflicher Menge, sowie Kaffeeund Tee. Alles im Preis inbegriffen.

Der erste Tag war den Profis und erfah-renen Machern vorbehalten. Die Teilnah-megebühr betrug analog auch den durch-aus saftigen Preis von 490 Euro. Nichtsdes-totrotz war der Saal am ersten Tag mit ca.300 Teilnehmern gut gefüllt. Dafür war derzweite Tag kostenlos und stellte als »Green-camp« eine Veranstaltung von Teilnehmernfür Teilnehmer dar. Im Vorfeld der Konfe-renz konnten Workshops vorgeschlagenund abgestimmt werden, von denen danndie beliebtesten ausgewählt und im Green-camp veranstaltet wurden. Am zweiten Tagwaren demzufolge die Leute etwas jünger.Es ging um Start-Ups und junge Projekte.Auch hier waren geschätzte 400 Teilnehmeranwesend. Es gab eine Spendenbox nachdem Motto »Zahl, was du kannst«. DieRäume, Getränke und das Equipment wur-den von der Konferenz gestellt.

Das Durchschnittsalter an beiden Tagenzusammengenommen lag wohl kaumhöher als 35 Jahre. Und so waren auch dieneuen Medien präsent und selbstverständ-

78 Konferenz | Karma-Konsum Tattva Viveka 44

Es zeigt sich, dass die neuen Möglichkeitendes interaktiven Internets zu ganz neuen basisdemokra-

tischen Ansätzen führen.

Artikel zum Thema in früherenAusgaben:

TV 04: Symposium – Spirituelle Ökolo-gie mit Vertretern von fünf Weltreligionen

TV 07:Andreas Bummel – Der Club ofBudapest

TV 18: Gernot Jochum-Müller –Tauschringe, ein Musterbeispiel für Kultu-rell Kreative

TV 24: Marianne von Putten –Regionalwährungen, ein neuer Umgangmit Geld

TV 33: Jörg Chemnitz – Spirituelle Po-litik. Die Partei der Violetten

TV 41: Hardy Fürch – Green Yoga. Plä-doyer für ein öko-yogisches Bewusstsein

Blick ins Publikum

Page 7: Engert TV 44 – Aufklärung und Erleuchtung

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licher Bestandteil der Veranstaltung. EineTwitterwall wurde im Konferenzsaal aufeinem großen Bildschirm präsentiert. Mitdem Hash-Tag #kkk10 konnte man Si-multankommentare zur Konferenz ein-spielen (das bedeutet, alle Beiträge, Tweets,zu dem ema können in einer Liste aufdem Bildschirm dargestellt werden). Über-all saßen Leute mit Mac-Books oder iPho-nes und twitterten oder luden Bilder undFilmchen auf Facebook hoch (unter ande-rem ich). Überhaupt hörte ich viele neueWorte auf der Konferenz aus dieser jungen,dynamischen Web 2.0 Community. ZumBeispiel lernte ich, was ein »Carrot Mob«ist. Online verabreden sich die Menschenz.B. dazu, an einem bestimmten Tag allezu einem bestimmten Naturkostladen zugehen und dort einzukaufen, um diesemeinen guten Umsatz zu bescheren, den die-ser dann prozentual in energieeffizienteUmbauten im Laden investiert. Das ist ak-tives Verhalten auf der Konsumentenseite,das Bewusstsein für alternative Möglich-keiten im Lebensalltag schafft und das so-gleich auch in Handlung umgesetzt wird.Es zeigt sich immer mehr, dass die neuenMöglichkeiten des interaktiven Internets,wie es sich in den letzten drei bis vier Jah-ren herausbildet, zu ganz neuen basisde-mokratischen Ansätzen führen. Dazu gabes sowohl am ersten wie am zweiten Tagspannende Beiträge.

Insgesamt war es ein Networking-Eldo-rado, ein ink-Tank und eine sprudelndeInspirationsquelle. Es ermutigte mich sehr,diese vielen kreativen Leute zu erleben undmit vielen von ihnen zu sprechen. Dasmacht Hoffnung. Die Szene der »Lohas«(Lifestyle of Health and Sustainabilty), derÖko- und Nachhaltigkeitspraktiker, ist mirhier wie ein sehr lebendiges Biotop unterdem Mikroskop offenbart worden. Geradeauch der hohe Anteil an jungen und jün-geren Leuten lässt eine Ahnung von derEntwicklung der nächsten Jahre bekom-men. Hier formiert sich ein stabiles undlangfristiges Potential für eine neue Gesell-schaft. Das Einsickern der alternativen undspirituellen Ansätze in den Mainstreamkonnte hier in vielen Facetten beobachtetwerden. Mir scheint da ganz vieles nun zu-sammenzukommen und die alten Grenzenzwischen den Genres und Lagern zu fallen.Zen im Management, ökologisches Geld,meditierende Linke. Davon habe ich bis-her nur geträumt.

Seit 22. Oktober 2009 bin ich beiTwitter.

Ich finde dieses Werkzeug im Grunde einegeniale Sache. Es wird jedoch wie ein Kin-derspielzeug benutzt, und das meiste, wasdamit gemacht wird, ist in meinen AugenQuatsch. Es ist ein geniales Medium, aberdie Inhalte und der Umgang damit sind oftnicht gerade sinnvoll.

Eigentlich sehe ich in Twitter die Mög-

Tattva Viveka 44 Computer-Media | twitter

tv

Das Web 2.0 und der Begriff »Social Media« ist in aller Munde.

Eine ganze neue Kommunikations- und Gemeinschaftskultur zeichnet sich

am Horizont des Internet ab. Was bringen die neuen Medien?

Der Chefredakteur der Tattva Viveka machte sich dazu Gedanken.

Ronald Engert

macht dieKlugen klüger und die

Dummen dümmerZum Phänomen Twitter

die Tattva Vivekapage von Twitter

Page 8: Engert TV 44 – Aufklärung und Erleuchtung

kann. Als eine der Spielarten in meinerkompetenten Beziehungspflege einerseitsund als reiner Informationskanal anderer-seits kann Twitter durchaus ein wunderba-res Werkzeug sein.

Nun gibt es aber Menschen in Twitter,die 5500 Leuten folgen (following) und5000 Folger (followers) haben. Wer, bitteschön, kann 5500 Leuten folgen, d.h. ihreNachrichten lesen? Das ist unmöglich.Eine Gepflogenheit scheint es zu sein, nachdem Motto vorgehen: »Wenn du mirfolgst, folge ich dir.« Es geht den Leutennur um Quantität, um die möglichst großeZahl an Folgern. Das scheint mir doch daszentrale Motiv der Meisten zu sein. Jemehr Folger ich habe, umso ein größererFisch bin ich. Dass dies mit dem Mittel dergegenseitigen Hinzufügung zu meiner fol-lowing-Liste geschieht, ist meines Erach-tens ein Raubbau an dem WerkzeugTwitter und eine Bankrotterklärung des In-halts. Man folgt zwar 5500 Leuten, aberman liest ihre Tweets nicht.

Es lässt sich nämlich beobachten, dassdie Zahl der Gefolgten (following) immerdie Zahl der Folger (followers) übersteigt.Das ist symptomatisch. D.h. sie folgenmehr Leuten, als ihnen Leute folgen. Beimir erlebe ich das so: Oft folgen mirLeute. Ich gehe dann auf ihre Seite undschaue, was sie schreiben. Wenn mich dasnicht interessiert, folge ich ihnen auchnicht. Nach ein paar Tagen entfolgen siemich wieder. Ich deute das so, dass siemich wieder löschen, weil ich ihnen nichtim Gegenzug auch folge. Auf diese Weiseerreichen diese Leute riesige Zahlen vonFolgern und Gefolgten. Die Zahl der Ge-folgten ist aber zwangsläufig immerhöher, weil sie natürlich einigen wichti-gen Tweetern folgen, die ihnen nicht imGegenzug auch folgen und die sie abertrotzdem nicht löschen, und weil sie na-türlich in der Flut der Gefolgten auchimmer mal den einen oder anderen, dersich nicht bei ihnen anschließt oder sei-nerseits nach einiger Zeit wieder entfolgt,beim Entfolgen übersehen. Eine Liste von5500 Gefolgten kann man unmöglichpflegen. Das ist technisch und vor allemzeitlich nur mit sehr hohem Aufwand zubewältigen. Man lässt sie deshalb einfachals Karteileichen liegen. Ich vermute mal,dass diese Leute das auch nicht so genaunehmen.

Eine echte und überzeugende Sache ma-

chen hingegen die Leute, die z.B. 5000Folger haben und selbst nur 10 oder 50Leuten folgen. Das zeigt, dass diese Twee-ter was zu bieten haben. Auch ohne dasssie ein Gegengeschäft machen, folgenihnen 5000 Leute. Zum Beispiel hat derDalai Lama 100.000 Folger, und folgtselbst nur 3 Leuten. Oder Michael Moore,der us-amerikanische Filmemacher, hat500.000 Folger und folgt selbst nur 12Leuten. Derartige Beispiele gibt es viele.Solche Zahlenverhältnisse sind Qualitäts-merkmale. Die Zahl der Folger kann un-begrenzt wachsen. Die Zahl der Gefolgten,deren Meldungen ich sinnvoll verfolgenkann, kann meines Erachtens maximal umdie 100 sein, wenn jeder von denen allezwei Tage einen Tweet reinstellt.

Davon abgesehen kann Twitter auch fürnicht berühmte Menschen ein schönesWerkzeug sein, wenn sich echte Menschen,die sich kennen und sich etwas zu sagenhaben, vernetzen und gegenseitig folgen.Dann kann Twitter eine Bereicherung sein.

Leider stelle ich fest, dass die Menschenaus meiner Szene, denen ich gerne folgenwürde, überhaupt nicht in Twitter sind,weil sie sich von dem Quatsch, der dortmassenhaft verbreitet wird, nicht angezo-gen fühlen.

Ich plädiere deshalb dafür, dass wir unsinnerhalb von Twitter unsere eigenen,qualitativen Netzwerke aufbauen. Auchwenn viele Twitter nur wie ein Kinder-spielzeug dafür benutzen, um Masse zumachen und Quatsch zu posten, bedeutetdas noch lange nicht, dass das Werkzeugselbst Quatsch ist. Frei nach einemSpruch von Reich-Ranicki übers Fernse-hen könnte man deshalb sagen: »Twittermacht die Klugen klüger und die Dum-men dümmer.«

Für mich ist Twitter ein Übungsfeld, dasmir hilft, meine Entdeckungen, Erfahrun-gen und Erkenntnisse bewusst wahrzuneh-men und Kompetenz darin zu entwickeln,das Wichtige vom Unwichtigen zu unter-scheiden. Indem ich diese Inhalte notiereund ins Netz stelle, muss ich darüber re-flektieren und mir die Dinge bewusst ma-chen. Mir fällt es nicht so schwer, dasUnwichtige wegzulassen, als vielmehr, dasWichtige und Wesentliche zu erkennenund festzuhalten anstatt es zerrinnen zulassen.

Indem ich mich mit meiner Spur (track)zeige, werde ich.

80 Computer-Media | twitter Tattva Viveka 44

tv

lichkeit, auf täglicher Basis ohne großenAufwand meine Reise durch das Meer derInformation zu dokumentieren. Ich kannNachrichten tweeten (engl.: zwitschern),interessante Links posten, mitteilen, wasich gerade für ein Buch lese, philosophi-sche Zitate reinstellen, spirituelle Verwirk-lichungen teilen usw. Es ist eine Mög-lichkeit, meine Entdeckungen zu speichernund gleichzeitig anderen die Möglichkeitzu geben, daran teilzunehmen.

Umgekehrt kann ich anderen Menschenfolgen, um an ihren Entdeckungen teilzu-haben. So könnte eine schöne, wenn auchlockere Art der Verbindung mit Menschengepflegt werden. Diese Art der Verbindungsollte sicher nicht die einzige sein, die ichpraktiziere. Diese sozialen Netzwerke imInternet bergen die Gefahr, dass der Ab-stand zwischen den Menschen größer wird,weil man sich von der Begegnung im rea-len Leben zurückzieht. Aber das wäre nureine dysfunktionale Form der Anwendung,die die Sache an sich nicht in Frage stellen

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